Christoph Simon
Roman
Excellence is a habit, not a single act.
Stephen R. Covey
LUNA LLENA
Rahel König: Wirtin der Gelateria Luna Llena. Ungesellig und launisch. Freut sich, anderen dabei zuzusehen, wie sie alles verkehrt machen.
Kurt König: Eismacher der Gelateria und Rahels Bruder. Hängt sehr an seinen Leuten: Wenn er die Aare überqueren muss, bekommt er Heimweh. Bedauert aufrichtig, wenn er einem lebenden Wesen Schmerz zufügen muss.
Bodmer: Spieler, Verführer, Langzeitarbeitsloser. Vertraut mit der Bibel – namentlich mit der Vielweiberei Abrahams, Isaaks, Salomons und Davids. Hält Spitzenleistungen für etwas Selbstverständliches.
Fisch: Kellner auf Rollschuhen und bemerkenswerter Schütze. Hat einmal anlässlich einer Wette im Luna Llena mit einer Untertasse auf einen Spatz gezielt und diesen zur Überraschung aller Anwesenden glatt vom Fensterbrett geschossen.
Marjorie: Versicherungsvertreterin und Schneiderin. Strebt nach Ehre und Anerkennung. Sprüht vor Geist, wo es ihr angebracht erscheint, ist vulgär, wo es die Situation erfordert.
Jost Matter: Bodybuilder aus Leidenschaft (Tragen, Heben und Ziehen von Lasten). Will ohne Alexandra nicht leben.
Alexandra Jenk: Treuhänderin. Bildhübsch, schminksicher, hintergründig. Zieht bei Jost ein und wieder aus.
Gäste, Pack, Gefolge
Am Breitenrainplatz im Breitenrain, dem Nordquartier von Bern, gab es einen Kiosk, verwehte Gratiszeitungen, überfüllte Müllbehälter, Menschen, die auf die Tram stadteinwärts warteten, Herumtreiber und Herumtreiberinnen. Zum Beispiel Bianca Testasecca, die kleingewachsene, schielende Tochter eines Hilfsmechanikers und Praktikantin in einem Fotolabor, gelangweilt und draufgängerisch, was ihrem späteren Urteil nach darauf zurückzuführen war, dass sie noch nie eins auf die Nase gekriegt hatte und nicht wusste, wie weh das tat. Es war eine dieser günstigen Gelegenheiten, die Bianca dazu verführen sollte, einen Mann im Feierabendgeschiebe an der Haltestelle zu berauben.
Sommer 1997: In Schweden kippte ein Auto der A-Klasse von Mercedes-Benz bei einem Fahrtest, der russische Schachweltmeister unterlag einem 1,4 Tonnen schweren amerikanischen Computer, in Paris starb eine ehemalige Prinzessin im Auto ihres Liebhabers und die Wirtin Rahel König, beseelt vom Wunsch nach stählenden Ferien, verliess die Küste am Roten Meer in Ägypten mit zwanzig Liter Trinkwasser und dem Plan, durch die Steinwüste zum Berg Sinai zu wandern, eine Strecke von fünfzig Kilometern. Nach vier Kilometern hatte Rahel König die Hälfte des Wasservorrats verbraucht. Als sie die erste wilde Palme erblickte, ein kleines Erfolgserlebnis immerhin, kehrte sie um. Kehrte zurück in die Schweiz, in den Breitenrain, die Palme im Gepäck.
Bianca Testaseccas Opfer, ein Mann um die Sechzig, trug ein kariertes Jackett und war betrunken. Er stand am Ticketautomaten und versuchte den Hausschlüssel in den Entwerter zu stecken. Fisch, ein stellenloser Eisenleger auf Rollschuhen, mit gekreuzten Armen an den Zeitschriftenständer beim Kiosk gelehnt, war nicht der einzige, der Bianca dabei beobachtete, wie sie sich hinter den Betrunkenen stellte und die Hand in dessen Jackett steckte. Der Mann sah die Hand, stutzte, drehte sich um, blickte Bianca an. Drei Sekunden später lief Bianca mit der Brieftasche, die sie im Laufen durchwühlte, zwei Polizisten in die Arme. Die Haltestelle und die Tramschienen lagen im Schatten. Die Strahlen der untergehenden Sonne erreichten noch die Herzogstrasse, die von Leuten bevölkert war, die sich vor dem Restaurant Ticino angeregt unterhielten.
«Wie alt sind Sie?» fragte der Polizist, der nicht zum ersten Mal am Breitenrainplatz eine Taschendiebin verhaftete.
«Zu jung fürs Gefängnis», antwortete Bianca.
Der andere Polizist wedelte mit der Identitätskarte, die er ihrem Portemonnaie entnommen hatte. «Nach der hier alt genug.»
«Hat der da was mit Ihnen zu tun?» fragte der erste und wies mit dem Kinn auf den Rollschuhläufer, der sie, ohne den Blick von ihnen abzuwenden, in einer guten Distanz für Messer- oder Steinwürfe, umkreiste. Der zweite Polizist sah jetzt ebenfalls zum Rollschuhläufer hin.
Bianca lenkte ab. «Was ist, meine Herren? Bleiben wir an dieser beknackten Haltestelle stehen, bis wir sterben?»
Bianca wurde abgeführt, in eine Zelle beim Amthaus gesteckt und einige Stunden festgehalten. Sie erledigte ein paar Anrufe und brach, wie sie selber mit Verwunderung feststellte, in Tränen aus. Als man sie freiliess, wartete Fisch mit zwei Paar Rollschuhen vor dem Gebäude, und dann rollten sie gemeinsam durchs Quartier. Sie schnitten Personenwagen in waghalsigen Manövern den Weg ab, drehten rekordbrechende Runden in der Markuskirche, sprangen in voller Fahrt in die kühle Aare. Sie wetteiferten beim Eisessen in Rahel Königs Gelateria und schliefen miteinander im Rosengarten, ohne die Rollschuhe auszuziehen. Am Tag darauf schlug Bianca Fisch resigniert in den Bauch und teilte ihm mit, dass sie nach Italien gehen würde, um eine Lehrstelle als Köchin anzutreten, die ihr ein Verwandter angeboten hatte, als sie in Haft gewesen war. Sie hatte den Breitenrain, Bern überhaupt, satt.
«Verbrenn die Stadt», sagte sie zu Fisch am Bahnsteig. Sie sah ihn an, schielte seiner Meinung nach hinreissender denn je.
«Ja», sagte Fisch, schien einen Moment darüber nachzudenken. «Bern taugt wohl nichts.»
Bianca drückte ihm den Arm, stieg in den Zug.
Fisch schickte sich an davonzurollen, als Bianca sich umdrehte, sich aus der Zugstür lehnte und rief: «Fisch, es hat mir nicht gefallen, wie du dich an die Polizei rangemacht hast. Aber du hast ihnen ganz schön Angst eingejagt, gottverdammter Rollschuhläufer, die hatten die Hosen voll! Mach’s gut. Du wirst mir fehlen.» Worauf sie im Innern des Zuges verschwand.
Fisch begann in der Gelateria Luna Llena zu kellnern. Er verlor Bianca aus den Augen, vergessen konnte er sie nicht.
Rahel Königs Gelateria Luna Llena an der Scheibenstrasse waren sieben mal vier Meter Parkett, vollgestellt mit Holztischen, Stühlen, einem abgewetzten Sofa, der ägyptischen Palme beim Eingang, einem mexikanischen Kaktus beim Ausgang und einem türkisfarbenen Eiskasten, an dessen transparenter Kunststoffwand sich die Leute die Nasenspitze abfroren, wenn sie die Eissorten begutachteten. Neben dem Eiskasten stützten sich Gewohnheitstrinker auf die Bar, schoben halbleere Biergläser von der einen in die andere Hand und suchten ein Gespräch mit Rahel König, wer’s schafft zehn Franken. Wieder andere untersuchten den Zigarettenautomaten im Flur auf liegengebliebenes Rückgeld oder tappten die enge Treppe hinunter in den Keller zu Rahels Bruder, Kurt König, der hier Eis produzierte und lauthals «Da muss ich protestieren!» rief, wenn unhygienisches Volk ihm beim Austüfteln eines neuen Rezepts Gesellschaft leisten wollte. Neben biologischem Erstklasse-Speiseeis gab’s im Luna Llena Focaccias, Salatteller, Kleinigkeiten aus der Konditorei und Alkohol, das ganze Sortiment. Die Gelateria war keine Goldmine, aber immerhin rentabel, und die Qualität des Angebots war etwas, auf das die Königs stolz sein konnten.
Jeden Morgen hinkte Rahel übellaunig und gereizt zur Tür herein. Sie ging unverzüglich hinter die Bar, wo sie die Eisbecher sortierte, die Kaffeemaschine bediente und Focaccias zubereitete. Sie arbeitete von acht Uhr morgens bis nachts halb eins, Punkt Mitternacht rief sie: «Raus jetzt, ab nach Hause!», und über die Theke flog ein feuchter Lappen. Rahel König war eine äusserlich ganz und gar unscheinbare Frau, wenn man von ihrer Gehbehinderung absah, die so zustande gekommen war: Vater König am Lenkrad hatte sich nach hinten gedreht, den Schnuller zurück in Klein-Rahels Mund gesteckt und den Wagen an einen Brückenpfeiler gesetzt. Klein-Rahel hatte fünf Stunden auf dem Operationstisch gelegen und jahrelang keinen Fuss in ein Auto gebracht. Der Vater war noch am Unfallort gestorben.
In der ganzen Zeit, die Fisch dort kellnerte – immer auf Rollschuhen –, fragte ihn Rahel nicht ein einziges Mal, ob ihm die Kellnerei gefalle oder ob ihn die Kundschaft ermüde. Mit den Leuten vom Service – Fisch und Schmied und Teilzeitkräfte, die häufig wechselten, weil sie mit Rahel nicht zurechtkamen –, verständigte sie sich, indem sie ihnen bestimmte Blicke zuwarf. Dieser Blick sagte ihnen, dass sie an Tisch soundso einkassieren, jener Blick, dass sie schneller, aufmerksamer bedienen sollten. Sobald ein Gast nur leicht die Karte berührte, kriegte Rahel es mit und dirigierte jemanden dorthin. Sie war unfreundlich und ungesellig, aber Fisch liess sich nicht einschüchtern.
«Willst du hören, was Tisch drei über Kurts Zitronensorbet gesagt hat?» fragte Fisch zwei Monate nach seinem ersten Arbeitstag, gewillt, eine Plauderei anzufangen.
Rahel musterte ihn argwöhnisch.
«Sie finden es ausgezeichnet.» Er wagte einen kühnen Vorstoss. «Habe gehört, der Kauf der Gelateria soll deinen Bruder und dich das ganze Erbe gekostet haben.»
Rahel starrte ihn an. «An Tisch sieben fehlt ein Stuhl», sagte sie schliesslich.
«Anscheinend hat deine Chefin noch keinen gefunden, der ihr mal die Meinung sagt», meinte Jost Matter, Vorarbeiter Bau und Bodybuilder, regelmässiger Gast in der Gelateria und jemand, mit dem Fisch über alles mögliche redete. Jost und Fisch hatten zusammen auf Baustellen gearbeitet (in La-Chaux-de-Fonds, nahe der französischen Grenze, wo sie im Nieselregen die Schubkarre schoben für Leute, die mit Zigarettenschmuggel hinzuverdient hatten und sich nun ein Haus bauen konnten), bevor Fisch Rollschuhläufer und Kellner geworden war.
«Also, du würdest Rahel so richtig auf die Finger klopfen?» fragte Fisch, der sich hingesetzt hatte, um einen Espresso zu trinken.
«Klar würde ich das», behauptete Jost Matter. «Hinschmeissen würde ich den Job. Weiss nicht, was dir daran so gefällt.» Er winkte Rahel und zeigte auf sein leeres Glas. «Jedenfalls, an meine Taube kommt deine Chefin nicht ran. Keine wie meine. Wie findest du sie?»
«Wie finde ich wen?»
«Alexandra. Meine Taube.» Jost drückte Fisch ein Automatenfoto in die Hand. «Treuhänderin bei Rossi. Macht die Buchhaltung der Gelateria …»
Fisch blickte auf das makellose, feingeschnittene Gesicht einer jungen Frau. «Ich kenne Alexandra.» Er schob das Foto zurück. «Bringt den Königs bei, wie das Geld in der Kasse bleibt. Woher kennst du sie?»
«Jogging an der Aare, vor ein paar Wochen.» Jost klaubte das Foto vom Tisch und betrachtete es eingehend. Er raunte etwas, das Fisch ziemlich überraschte. «Du verstehst nicht, wie befriedigend es ist, geliebt zu werden.»
Fisch betrachtete Jost. Ein gedrungener, verschwitzt riechender Mann, der beim Krafttraining zu weit gegangen war. «Erzähl mal», zog Fisch ihn auf, «was Alexandra gemeint hat, als sie dich zum ersten Mal nackt gesehen hat.»
«Im Ernst?» Jost konnte nicht über sich selbst lachen, sowenig wie über andere. Er lachte nur in schlechten Filmen. Nachdem er einen Augenblick über die Frage nachgedacht hatte: «Was sie gesagt hat, war … dass ich rieche. Gut rieche.»
«Dein Geruch gefällt ihr, Jost?»
«Was sollte sie gegen meinen Geruch haben?»
«Nichts, Sportsfreund.»
Rahel rief: «Mineral für Tisch zwei!» Warf Fisch über die Theke hinweg einen scharfen Blick zu.
Jost hob angewidert den Kopf. «So sollte mein Chef mit mir umspringen.»
Fisch zuckte die Schultern. Seine Gedanken schweiften zurück zu Bianca, der schielenden Taschendiebin, die abgereist war, als er gerade angefangen hatte, sich grossartig zu fühlen. «Vielleicht will ich einfach feststellen, wieviel Mühsal die menschliche Seele ertragen kann, ohne zu verrecken», sagte er.
Ungefähr ein Jahr nach seinem ersten Arbeitstag gewann Fisch Rahels Vertrauen. Im Keller barst eine Wasserleitung. Kurt König kam händeringend heraufgestürmt und stürzte mit Geschirrtüchern bewaffnet in den Keller zurück. Fisch organisierte Absaugpumpen und Blastrocknungsgeräte, telefonierte mit der Versicherung und füllte das Schadensformular aus. Als er am nächsten Morgen ins Luna Llena kam, sass Rahel über einen Katalog gebeugt. Sie schaute nicht auf, als sie sagte: «Wir brauchen ein neues Fass für die Palme beim Eingang. Was hältst du von dem da? Zu gross?»
Die Geschwister König teilten sich mit Felix Bodmer eine helle, geräumige Wohnung in einem baufälligen Vorkriegshaus am Waffenweg, einer kurzen Strasse, die im Norden ungefähr bei der Gelateria beginnt und im Süden in den Schützenweg mündet.
Es war ein warmer Augustabend im Jahr 2000. Im Treppenhaus zur Wohnung der Königs roch es nach Tomatensauce, feuchtem Hund, Zigarettenrauch und Dingen, die Alexandra nicht sofort zuordnen konnte. Alexandra Jenk, diplomierte Treuhänderin, zweiundzwanzig Jahre alt, Jost Matters «Taube», bildhübsch, schminksicher und hintergründig, in Basel aufgewachsen und gestraft mit jenem Sprachfehler, der es ihr unmöglich machte, ein kratzendes, bernisches CH zu sprechen («Alex, sag Charakterchopf!» –« Karakterkopf …»), stieg die Stufen hinauf und trat in die Wohnung. Rahel sass in der Küche, ihr üblicher Aufenthaltsort, wenn die Gelateria geschlossen hatte. Sie ging nörgelnd Rechnungen und Prospekte durch, während Kurt und Bodmer vom Fernsehsessel aus ins Weltgeschehen eingriffen.
Alexandra grüsste recht unfreundlich – sie wusste, wie sehr es Rahel ärgerte, wenn man sie merken liess, dass man sie mochte – und legte eine persönliche Einladung für ihr Wohnungseinweihungsfest auf den Stapel unerledigter Post. Alexandra lebte in der verkehrsreichen, lauten Rodtmattstrasse, allerdings nur noch wenige Tage, denn Jost hatte sie nach langem Hin und Her endlich überredet, zu ihm an den verkehrsarmen Schützenweg zu ziehen. Die Regale waren zerlegt, die Bilder abgehängt, die Kartons beschriftet – alles bereit zum Umzug.
Rahel blickte skeptisch auf die Einladung. «Und du erwartest, dass ich an dieses Fest gehe und mich vergnüge?»
«Das tu ich.» Alexandra nahm Eiswürfel und Schweppes aus dem Kühlschrank, ein Glas vom Hängebord und schenkte sich ein. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. Sie erkundigte sich nach Kurt.
«Frag ihn doch selbst.» Mit einer Handbewegung scheuchte Rahel Alexandra aus der Küche.
«Alex!» rief Kurt erfreut, als sie im Wohnzimmer auftauchte. «Komm rein, setz dich!» Mit betroffener Stimme: «Du bist dünn angezogen, Alex. Du wirst dich erkälten.» Kurt König, weit in den Dreissigern, fiel auf durch ein weiches Gesicht, ein wulstiges Kinn, schelmische Augen und eine Stirnglatze. Er hatte ein friedliebendes, gutherziges Wesen, trank keinen Alkohol, verabscheute Publikumssportarten und mischte sich voller Anteilnahme in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Nach der einsamen Schufterei als Eismacher im Keller der Gelateria war sein «häusliches Leben» eine einzige gemütliche Veranstaltung. Mit seinen stets willkommenen Gästen reizte er Rahel, die bereits nervös wurde, wenn die Gäste oder Bodmer die Fernbedienung und sonstige ruhestörende Gegenstände zur Hand nahmen. Ausser im Notfall nahm Bodmer (Spieler, Verführer, Langzeitarbeitsloser) jedoch nichts zur Hand.
«Treuhänderin, kannst du mir hundert Franken pumpen?» fragte Bodmer mit seiner erstaunlich hohen, näselnden Stimme. Er trug einen speckigen nussbraunen Trainingsanzug, versank im Polstersessel und zinkte Spielkarten: Mit einer Stecknadel stach er kleine Löcher und rauhte Ränder auf. Die Vorbereitung seiner Jagd nach dem schnellen Geld.
Alexandra setzte sich und überlegte, ob sie ihm den Gefallen tun wollte. «Zwanzig kann ich geben», sagte sie schliesslich, stöberte in ihrer Handtasche und förderte eine Fünfzigernote zu Tage. Sie zögerte.
«Ich kann wechseln», sagte Bodmer leutselig.
«Bestimmt kannst du das.» Alexandra reichte ihm das Geld. Nicht dass sie glaubte, jemals Wechselgeld zu sehen.
«Fünfzig!» Bodmer liess den Geldschein verschwinden. «Das ist nett von dir. Kurt, hol ihr was zu trinken.»
«Hab schon», erwiderte Alexandra und zeigte mit dem Glas auf Kurts Fuss. «Was macht dein Fuss?» fragte sie. Ein mit Bandagen umwickelter, den Geruch von Essig und Salbe verbreitender Fuss lagerte auf dem Couchtisch und nahm Kurt im Sitzsack mindestens die halbe Sicht auf den Fernsehschirm.
«Es quält mich, darüber zu sprechen», winkte er ab. (Am Tag zuvor hatte sich eine Wespe den Ausgang freigestochen, als Kurt in der Gelateria in seine Arbeitsschlarpen geschlüpft war.) «Wie kommt ihr mit dem Umzug voran, Jost und du?» fragte Kurt. «Braucht ihr Hilfe? Bananenschachteln? Teppichklebeband?» Kurt pflegte Alexandra mit freundschaftlichem Respekt zu behandeln: Ihre buchhalterischen Fähigkeiten bewahrten die Gelateria vor Chaos und der Steuerbehörde und ihm selbst war sie eine wertvolle Freundin: Zu Weihnachten schenkte sie ihm Dessertrezeptbücher, ausgeliehene CDs brachte sie ausnahmslos zurück. Sie holte Zeitschriften vom Kiosk, wenn er die Grippe hatte, von den Wochenendausflügen in den Jura schickte sie Grusskarten und – was Kurt am meisten schätzte – sie wollte nie etwas Scharfsinniges über seine asoziale Schwester loswerden.
Alexandra ignorierte Kurts Frage, blickte in den Fernseher. «Worum geht’s?»
«Politik», antwortete Bodmer, ohne aufzublicken. «Schalt um, Kurt.»
«Es freut mich sehr, dass du mit Jost zusammenziehst», sagte Kurt freundlich. «Der Beginn einer grossen Liebe.»
«Ich weiss nicht.» Alexandra nahm einen Schluck samt Eiswürfel, beugte sich nachdenklich vor. Im Fernsehen lief die Übertragung einer Pressekonferenz aus Madrid. Männer und Frauen in ordentlichen Anzügen sassen vor Schildern mit Ländernamen und äusserten sich. Alexandra spuckte den Eiswürfel, den sie im Mund gedreht hatte, ins Glas zurück.
Kurt sah sie besorgt an. «Stimmt etwas nicht?»
Alexandra schaute ins Glas, klimperte mit den Eiswürfeln. «Ich frage mich, ob ich dabei bin, einen schwerwiegenden Fehler zu machen. Seit ich im Breitenrain lebe, wohne ich allein. Und ich bin gern allein. Ich mag Jost, seine Art. Aber ich vermisse ihn kaum, wenn er nicht in der Nähe ist.»
«Dann verstehe ich nicht, wie du es zwei Jahre mit ihm ausgehalten hast», sagte Kurt behutsam. «Weshalb du jetzt mit ihm zusammenziehst.»
Alexandra lächelte matt. Es war eine Frage, auf die sie sich selbst keine befriedigende Antwort geben konnte. Wenig überzeugt sagte sie: «Jost ist ein unbändiger Junge, auf den jemand aufpassen muss.»
«Jost ist kein Junge, er ist ein ganzes Stück älter als du», sagte Bodmer, mischte ungerührt Spielkarten. «Klein und dick.»
«Muskulös», korrigierte Kurt.
«Er liest nichts ausser Fitnesszeitschriften», sagte Bodmer. «Seine Freunde vom Bau sind verstockt und dumm. Experten im Rechnen mit den Fingern.»
«Das stimmt», pflichtete Alexandra ihm bei. «Jost kann seinen Namen schreiben, aber in jeder anderen Hinsicht ist er ungebildet.»
«Ich bin entrüstet!» rief Kurt. «Du und Jost, ihr seid ein Liebespaar. Paare stehen zueinander, verteidigen sich. Ziehen zusammen, zeugen Kinder und machen Kurt zum Paten. Es wird schön sein, mit Jost zusammen heimzugehen. Du wirst neben ihm einschlafen und neben ihm aufwachen. Ich sehe nicht …»
Bodmer betrachtete die Fernbedienung, die auf Kurts ausgestrecktem Bein lag. «Wenn mir ein fester Partner wichtig wäre», sagte er, «würde ich mich nicht zu einem ins Bett legen, der schnarcht und schwitzt im Schlaf.» Er legte die Spielkarten weg und griff nach der Fernbedienung.
«Jost schnarcht nicht», widersprach Alexandra.
«Nein», sagte Kurt. Er nahm Bodmer die Fernbedienung weg und verstaute sie unter seinen verschränkten Armen.
«Verfickter Eismacher. Glaubt, dass ihm die Stadt gehört.»
«Bodmer, was glaubst du», gab Kurt zu bedenken, «liessen sich solche Obszönitäten nicht vermeiden, wenn man sich anstrengt? Wenn man übt?»
«Vielleicht liegt’s an mir», räumte Alexandra ein. «Vielleicht haben meine Zweifel nichts mit Jost zu tun. Manchmal möchte ich einfach meine Sachen packen und eine Reise machen. Alles hinter mir lassen. Ein neues Leben anfangen.»
«Du bist erst zweiundzwanzig», sagte Kurt erstaunt. «Was brauchst du ein neues Leben?»
Alexandra schaute grübelnd in den Fernseher.
Kurt schüttelte den Kopf. «Also, wenn du mich fragst, ich verstehe Reiselust nicht einmal, wenn ich deprimiert bin. Ich glaube an die Sesshaftigkeit. Ich vergesse nie, dass wir von friedlichen Baumaffen abstammen. Wenn ich die Aare überqueren muss, bekomme ich Heimweh.»
Und dann, ohne Vorwarnung, kam der grosse Wirbel. Bodmer stürzte sich auf Kurt. In der Küche musste Rahel einen Aufschlag gehört haben – den Aufschlag von Kurts bandagiertem Fuss, der vom Couchtisch hinunter auf das Riemenparkett krachte. «Ruhe!» gellte sie aus der Küche.
«He, Bodmer!» rief Kurt, ehrlich empört. «Mein Fuss!» Er fuhr aus dem Sitzsack hoch und rettete sich humpelnd in die Küche.
Ruhig suchte Bodmer die präparierten Spielkarten zusammen, die im Gefecht um die Fernbedienung zu Boden gefallen waren und legte sie auf einen Haufen. Alexandra sah ihn befremdet an.
In der Küche wurden Stimmen laut. «Abscheulich, die Gewalt in diesem Haushalt. Was bezweckt Bodmer damit? Hirnschäden? Zerschlagung des häuslichen Lebens?» –« Kurt, halt die Klappe.» –« Man sollte Bodmer die Arme auf den Rücken binden. Ihn in einen Koffer sperren. Nach Bangladesch schicken, wo er über Dinge nachdenken kann, die jenseits seiner eigenen Interessen liegen.» –« Ich kann dich ganz gut leiden, aber je weniger Leute wissen, dass du mein Bruder bist, desto besser.»
«Du hast Kurt geschlagen», sagte Alexandra vorwurfsvoll zu Bodmer.
«Yep.» Bodmer zappte befriedigt. «Ich spiele nach Möglichkeit immer auf Sieg.»
In Jost und Alexandras neuer gemeinsamer Wohnung waren – wie rätselhafterweise häufig bei Einweihungspartys – sehr viel mehr Gäste, als nach der Anzahl der draussen stehenden Fahrräder und Motorroller zu vermuten war.
Bodmer und die Geschwister König kamen zusammen. Rahel, kaum eingetreten, pflanzte sich auf den Teppich im Wohnzimmer, eine Flasche Bier in der Hand. «Partyscheiss», sagte sie.
«Ich will mich gratis betrinken», erklärte Bodmer. Unter dem Arm trug er einen in Folie eingewickelten Truthahn, den er Jost und Alexandra versprochen, aber im Ofen schwarz gebraten hatte. «Schmutzige Witze hören.»
«Ich will die Wohnung sehen», sagte Kurt. «Dem jungen Paar das Beste wünsch …»
«Leute kennenlernen», fiel ihm Rahel ins Wort. Spuckte auf ihren Schuh, zerrieb die Spucke. «Ein besserer Mensch werden.»
Die Gäste hatten sich überall hingesetzt, wo’s ungemütlich war. Aufs Doppelbett im Schlafzimmer, zwischen die Trainingsgeräte in Josts Arbeitszimmer, auf den Herd in der kleinen Küche. Da waren Josts tumbe Arbeitskollegen vom Bau, Geschäftsleute und Studentinnen aus Alexandras Kreisen. Einige Bauarbeiter versammelten sich auf dem engen Balkon (Wolken, die sich auflösten, Mond und Sterne, die gegen Rechaudkerzen auf dem Geländer und die Strassenlaternen am Schützenweg ankämpften), tranken unmässig, lachten laut und kippten die Asche der Zigaretten in leere Trinkbecher, wie es Leute tun, die nichts von Aschenbechern halten. Alexandras Kolleginnen verloren sich in Gesprächen über Randgruppen: «Sieht man heute Berichte über Schwerstbehinderte, handeln sie von Querschnittgelähmten mit muskulösem Oberkörper …» Josts Plattenleger, Maurer, Dachdecker und Gipser erinnerten sich an bessere Partys, besonders an Richtfeste im privaten Wohnungsbau im Welschland, wo die Sitten lockerer waren und das Besäufnis schon vormittags begann. Mit dem Resultat, dass am Nachmittag jeder mit jedem Sex hatte. Jost Matter, Gastgeber und Kraftsportler aus Leidenschaft, hatte ein paar Kollegen ins Arbeitszimmer geführt, wo er sie die Flachbank, den Kabelzug, die Beinpresse bestaunen, das Eisen beschnuppern, die Kurzhantel heben, den Bizeps pumpen und die Worte sagen liess: «Eh, Jost, bald so hart wie deiner!»
Kurt stellte den Korb mit Zierkürbissen – sein Geschenk für das hoffnungsvolle Paar – neben den Tisch in der Mitte des Wohnzimmers und hielt Ausschau nach Alexandra. Auf dem Tisch stand Tupperware mit Chips, getrockneten Tomaten und mit Schafskäse gefüllten Oliven. Dazwischen war eine grosse Lücke: Platz für Bodmers Truthahn. Bodmer wickelte ihn aus und plazierte ihn feierlich auf dem Tisch. Kurt und Umstehende betrachteten stirnrunzelnd das verkohlte Ding. Kurt erhob Zweifel an der Identität des Tiers, worauf sich herausstellte, dass die Kohle da gar kein Truthahn, sondern ein enthaupteter Schwan war, den Bodmer unter den Blicken von erstaunten Spaziergängern am Nachmittag an der Aare gewildert hatte. Das Geld, mit dem er den Truthahn habe kaufen wollen, habe er beim Pokern im Hotel Excelsior verloren, erläuterte Bodmer dem Publikum. Ob es schwierig sei, einen Schwan zu erlegen, wurde er von einer Frau mit attraktiven, langen Wimpern gefragt. «Genau betrachtet», erläuterte ihr Bodmer aufgeräumt, «ist eine erfolgreiche Schwanenjagd die Summe von vielen gewonnenen Zweikämpfen.» Er legte den Arm um ihre Schulter. «Wie heisst du und wie gefällt dir das Fest?»
Jemand fand heraus, wie der CD-Wechsler im Hi-Fi-Turm funktionierte. Nothing gives me pleasure. Bodmer und seine neue Bekanntschaft verliessen plaudernd den Raum und liefen dabei Alexandra über den Weg, die hereinwankte und angestrengt ihre Füsse betrachtete. Alexandra war betrunken wie Dorothy Parker an der Tafelrunde im Hotel Algonquin, jedoch weit davon entfernt, sich entsprechend zu amüsieren. Sie stützte sich gegen den Türrahmen und nippte an ihrem Drink.
«Alexandra!» rief Kurt und ging ihr entgegen, umhalste sie. Er machte ein aufrichtig gemeintes Kompliment zur Einrichtung.
Alexandra starrte ihn an, sah wieder zu Boden, um nicht umzufallen. «Ja, das Wohnzimmer ist gefällig», bestätigte sie knapp. «Die Küche auch. Rest ist Ekel und Täuschung.»