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Roland Heer

FUCKING FRIENDS

Roman

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Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr.

Dieser Punkt ist zu erreichen.

Franz Kafka

für Nicole

Anfangen muss ich auf dem Gipfel, weil es dort aufhörte und etwas anderes seinen Anfang nahm. Davon wusste ich aber noch nichts. Ich schreibe: Wir waren ganz oben, es war kalt, wir waren kaputt. – Chapeau, Greg, sagte Sepp, 7546 Meter über dem Meer, du Anfänger. Er keuchte. – Gleichfalls chapeau, sagte ich und keuchte auch: Lass dich umarmen, großer Bruder. Wir setzten uns in eine Kuhle zwischen gefrorenen Schneeriefen, die der Wind in das Plateau gefräst hatte, und versuchten unsere Glieder warm zu schlagen. Über uns wölbte sich der Himmel, erschreckend groß. – Schau dir das an, sagte ich, mein Atem ging noch immer, als ob er fortgegangen wäre: Wie blau angemalte Leere. Nicht zu fassen. Krasser als blau. – Sehr blau, ja, sagte Sepp. Aber halt blau, was hast du denn. Ist eben Luft oder Äther. Es rasselte in seinem Mund, während die Wörter herauskamen. – Genau, sagte ich, alkoholisch irgendwie. Zu viel des Guten jedenfalls, wenn du mich fragst. Vielleicht spürte ich die Höhe mehr, als ich dachte. – Du, Sepp: Du und ich! – Ja, wir: Und? – Nichts.

Neben uns klotzte schattig der Kongur, sieben-sieben brachte der auf die Waage. Hinter uns, fern und merkwürdig nah zugleich, glühten die Kollegen vom Karakorum rot in der aufgehenden Sonne. – K2! Broad Peak! Hidden Peak! Gasherbrum! Als ob sie sich schämten. – Was erzählst du denn: Das sind alles Achttausender, Kleiner, unsere Vorgesetzten. Sepp lachte. – Weiß ich doch! Ich drehte mich einmal langsam um mich selber, ich schnaufte: Macht exakt 360 Grad, Cinemascope vom Feinsten. Sepp lachte wieder: Genau, fehlt bloß der gescheite Ton dazu. Sein Lachen war irgendwie anders als sonst, leichter, mehr in die Länge gezogen, löchriger.- Und mach Winkewinke, sagte Sepp, dem Kunlun dort, dem Pamir, dem Tien Shan da drüben. Alles Gebirge, gegen die die Alpen einpacken können. – Du redest wie ein Verkäufer oder wie ein Bergführer, sagte ich. - Und du schaust wie ein Tourist, sagte Sepp, er klang plötzlich müde. Da lagen oder standen sie jedenfalls im Rund, aneinandergekettet, schweigend, wer immer sie sein und wie auch immer sie heißen mochten: vergletscherte Klötze, Schultern, Rücken, Kämme, Köpfe, Hörner, Zacken, in scharfen Strichen gezeichnet, gleißende, glitzernde, matt schimmernde Flächen, dazwischen Einschüsse von felsigem Schwarz wie fremde Buchstaben – Berg an Berg, Reihe hinter Reihe, Zeile für Zeile, ein Text mit sinnlos viel Weiß, großzackig auskristallisiert. Ich spürte, dass ich gerne daran geleckt hätte, Zucker oder Salz, das ist die Frage, aber das dachte ich nicht mehr. Zu unseren Füßen, in tiefem Schatten noch, lag die Hochebene, auf deren scheckiges Braun wir in den vergangenen Tagen öfters hinuntergestarrt hatten. Kahl war sie, groß oder riesig, etwas trostlos auch, fleckig erstreckte sie sich bis an den Horizont und wohl darüber hinaus. Autonome Republik Xinjiang: Sei gegrüßt! Gefrorenen guten Morgen allerseits, ihr Kirgisen, Uiguren, Tadschiken, Kasaken, Mongolen, Tuwiner! Wer hat eine solche Gegend erfunden? Eine Verschwendung eigentlich. Der Wortwurm, der mich während der letzten Stunden des Aufstiegs in sinnloser Wiederholung gekitzelt hatte (höllblau – gebetweiß – karawanenbraun, so ähnlich jedenfalls), war in der Zwischenzeit offenbar erfroren. Unsere gezackte Spur zog sich den langen Schlusshang hinab wie eine fahrig hingeworfene Unterschrift: Viele Grüße vom Muztagh Ata, dem Vater der Eisriesen. Wir sind gesund und glücklich. Hoffentlich geht es euch gut. Die Aussicht ist großartig. Gegen hinten wird sie zwar immer kleiner.

Ich merkte plötzlich, dass ich gegen die Tränen ankämpfen musste, das kam einfach so, es rumorte flüssig in mir. Zugleich war mir auch zum Lachen, oder zum Grölen, vielleicht auch nur zum Stillsein, so sehr, dass daraus erst recht ein Schrei würde. Vor allem war es noch immer kalt, verdammt kalt. Ich spürte, wie mir Eiszapfen aus den Nasenlöchern wuchsen, an Sepps Bart hingen Kristalle, blitzend wie Zähne, es sah drollig aus, und traurig ebenso.

– Das hat mich ganz schön fertiggemacht. – Mich auch. War hart, bei dem Neuschnee. – Ein Wahnsinn, wir hier, zusammen! – Ja. – Ich danke dir. – Wofür? – Für das. Weiß nicht. – Unglaublich, diese Leere! – Als hätte alles aufgehört. – Rundherum alles tot, schau! Wie im Himmel. – Schau nicht so viel! – Wie meinst du? – Einfach so. Zu viel ist zu viel. – Und doch kommt man schnell wieder runter. – Ja. – Es zieht einen zurück. Als wäre da ein Gummiband. – Das ist's dann also gewesen. – Mehr nicht? – Nein. Aber schau, dieses Licht: Jetzt erst fängt es richtig an.

Wir blieben etwa eine Stunde auf dem Gipfel, tranken, was wir noch hatten, schossen Bilder. Wir zogen die Felle ab, pinkelten in den Schnee, dann stiegen wir wieder in die Skier und fuhren los. In der Nacht war frischer Pulverschnee gefallen, das Fahren war wegen der dünnen Luft dennoch nicht wirklich ein Genuss – sieben, acht Schwünge, dann hecheln, auf die Stöcke gestützt. Im Lager drei wartete Sepp auf die vier aus unserer Gruppe, die einen Tag nach uns losgegangen waren, ich fuhr alleine weiter. Wie immer in der letzten Zeit begann sich im oberen Teil des Berges bereits am Vormittag Nebel zu bilden. Trotz der roten Fähnchen, die wir beim Aufstieg zu Ehren der chinesischen KP alle hundert Meter in den Schnee gesteckt hatten, war es schwierig, nicht die Orientierung zu verlieren, unsere Spuren der letzten Tage waren längst verweht.

Zum ersten Mal am Berg beschlich mich eine große Angst: Ja nicht zu weit rechts an den Abbruch heranfahren! Nur jetzt nicht in eine Gletscherspalte fallen! Als ich unsere vier Nachzügler von weitem sah, war ich bereits zu tief unten, wir winkten uns zu und riefen etwas. Im Lager zwei legte ich eines unserer Zelte zusammen und schnallte es auf den Rucksack mit den Schlafsäcken, den Iso-Matten, dem Kocher, einem Seil, den übriggebliebenen Esswaren, von da an machte ich nur noch Spitzkehren. Im Eisbruch hätte ich dringend mal müssen, getraute mich aber wegen der vielen Spalten nicht, den Rucksack abzulegen. Die letzten 400 Höhenmeter ins Basecamp stieg ich mit aufgebundenen Skiern zu Fuß ab, der Schnee war mittlerweile weggeschmolzen. Von oben schon sah ich Wing winken. Er stand neben der großen Mannschaftsunterkunft, um die herum die neongelben Polygone unserer Einzelzelte lagen. Ich schwitzte, ich war erschöpft, aber unendlich erleichtert: Vier Tage war ich mit Sepp am Berg gewesen, fast drei Wochen waren vergangen seit dem Abflug in Zürich, der gefährlichste Teil der Expedition war überstanden.

Über das Geröll stolperte ich auf Wing zu. Ich sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Er stand merkwürdig schief und wie in Abwehr, vor dem Zelt, Tränen liefen ihm aus den Augen. Greg, stammelte er, your wife, your daughter, something very sad has happened, I'm so sorry for you!

Dann sagte er es mir. Es war der 21. Juni 2002.

Am nächsten Tag trat ich die Rückreise in die Schweiz an, sie dauerte ewig und war schlimm, soweit ich mich überhaupt erinnere. Dass Leonardo mich am Flughafen in Zürich abholte, weiß ich noch. Nachher litt ich unter Seh- und Gleichgewichtsstörungen, ich hörte lange nur zwei Töne: einen tiefen von meinem Blutkreislauf, einen hohen von meinem Nervensystem. Schließlich brach es aus mir wie eine Sturzflut, ich heulte, bis es sich leer geheult hatte.

Nina und Sophie waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, am Tag, als ich auf dem Gipfel war.

Wing hatte die Nachricht kurz vor meiner Rückkehr ins Basislager per Satellitentelefon erhalten. Die Cessna war während des Fluges nach Sète am Montblanc abgestürzt, Ninas Bruder Gèrard hatte sie gesteuert, durch den Nebel, der sich kurz darauf auflösen sollte. Das Wrack mit den Leichen wurde ein paar Stunden nach dem Absturz am Fuß einer vereisten Flanke von belgischen Bergsteigern gefunden. Einen Tag, bevor wir zum Gipfel losgingen, hatte ich Sophie am Apparat gehabt: Wo bist du, Papa? Wann kommst du heim? Du klingst so weit weg. Machst du mir die Zeichnung? Hast du die Schlümpfe gefunden?

Die Heimreise via Subash über den Kunjerabpass nach Pakistan hinüber, die Seidenstraße (Karakorum Highway) hinab bis Islamabad dauerte zwei oder drei Tage, ich weiß es nicht mehr. Sepp hatte mir vom Basislager aus einen Flug nach Zürich reserviert, er und die andern blieben noch ein paar Tage zum Abbauen der Hochlager. Ich saß mit dem uigurischen Fahrer im Jeep, er sprach kein Englisch, ich kein Uigurisch, umso besser. Wie in der verblassten Kopie eines alten Films zogen Berge, Schluchten, der Indus, verlotternde Dörfer, kahle Ebenen vorbei. Hinter jeder Kurve schlängelte die Straße sich weiter, es kam mir vor wie ein Wunder, von dem ich nur wusste, dass es böse gemeint war.

An der Beerdigung in Zürich teilte sich, zumindest für ein paar Stunden, der Vorhang, bevor er wieder zuging, für lange.

Ein großer und ein kleiner Sarg standen auf der Wiese (Gèrard wurde in Lausanne begraben), dahinter sah ich die zwei frisch ausgehobenen Löcher mit je einem Erdhaufen daneben, darüber hingen schlammig braune Zürcher Wolken. Korrekte Farbzusammenstellung, dachte ich, Ton in Ton in Ton in Ton, es hätte nicht sein müssen, oder vielleicht gerade doch. Vom Kirchturm her dröhnten die Glocken, es hatte in der Zwischenzeit zu regnen begonnen. Nina hatte eine Menge Freunde und Bekannte, viele von ihnen waren da, auch viele von den anderen, die wir zusammen kennengelernt hatten. Und natürlich waren meine alten Freunde gekommen, Leonardo mit Mercedes und ihren Kindern, und Winzi, und Cat. Da standen wir nun im Regen, ein großer, dunkler Haufen, der rasch immer nasser wurde. Ich fragte mich, ob sich vielleicht niemand getraute, zu einer Beerdigung einen Regenschirm mitzunehmen, oder ob bloß die Wettervoraussage falsch gewesen war – woran es auch lag, es empörte mich, ich spürte einen blinden Groll. Meine Eltern, die ich lange nicht mehr gesehen hatte, umarmten mich, ich begrüßte Ninas Großmutter, sie alle kamen mir merkwürdig jung und gebrechlich zugleich vor. Sonst gab es keine Verwandten – Ninas Eltern waren gestorben, bevor ich Nina kennengelernt hatte. Wie durch einen Schleier hindurch sah ich, wie zuerst der große, dann der kleine Sarg hinuntergelassen wurde. Mit einer Schaufel, die viel schwerer war, als sie aussah, nahm ich etwas Erde vom dafür vorgesehenen Hügel und warf sie auf Ninas Sarg, dann eine Schaufel voll auf den von Sophie. Es musste ein Stein darin gewesen sein, es gab ein hart schlagendes Geräusch, als der Klumpen auf den Deckel fiel.

Während ich zusah, wie die andern Blumen und Dreck in die Gruben schütteten, begann es zu donnern. Soll mich doch der Blitz erschlagen, bitte! Körper an Körper lagen Nina und Sophie in ihren Betten, die Schicht über ihnen wurde mit jedem Schaufelwurf dicker, meine Knie wurden weich, ich spürte, wie ich im Boden versank. Mich lass da unten liegen, lass sie frei! Leonardo stützte mich, der rettende Blitz blieb aus, das Gewitter verzog sich. In Gruppen standen die Trauergäste tropfend herum – Trauergäste, mein Gott, was für ein Wort! Wir Gäste auf dieser ungastlich triefenden Welt. Ich schüttelte Hände, ich wurde umarmt, ich hörte Beileidsworte. Eine Freundin von Nina, die mit ihr zusammengearbeitet hatte, Stella, mir vorher noch nicht bekannt, hielt in der Kapelle die Abdankungsrede. Am Tag zuvor hatten wir sie zusammen verfasst, genauer gesagt: geschrieben hatte sie Stella, ich wusste nicht mehr, wo die Wörter hingehören im Satz und auf dieser Welt. Sie war schön, fand ich, falls eine solche Rede überhaupt schön sein kann, zumindest pappte sie nichts zu mit kitschigem Trost. Darauf sagte ich auch etwas, das heißt, ich versuchte es, es ging aber nicht, peinlich vermutlich, doch das spielte keine Rolle. Später, beim Trauermahl im Gasthaus, brachte ich keinen Bissen runter, dafür stieg mir der Wein rasch in den Kopf. – Trink nicht so viel, lieber Greg, sagte Leonardo, als es bereits schlimm um mich stand. Lass uns besser gehen. – Ja, sagte ich, gehen wir, und ich spürte, wie sehr ich genau davor Angst hatte.

Die ersten Tage wohnte ich bei Leonardo und Mercedes, nachher kehrte ich nach Hause zurück. Dahin zurück jedenfalls, wo früher mein Zuhause gewesen war.

Es war Sommer, dann war noch immer Sommer, und plötzlich war er vorbei.

Natürlich redete ich viel mit meinen Freunden, das war zumindest tröstlich. Irgendwie musste ich die Tage füllen, zumal ich eine ganze Weile lang krankgeschrieben war. Aber die Gespräche mit ihnen zeigten vor allem, dass das Geschehene mit andern nur begrenzt zu teilen war – ich hatte Frau und Kind verloren. Ich fühlte mich auf mich selbst zurückgeworfen wie seit sehr vielen Jahren nicht mehr, oder überhaupt noch nie, ich verkroch mich in meiner Wohnung, führte endlose Selbstgespräche, verfluchte Gott, weiß der Teufel warum, wo ich an so was ja sicher nicht glaubte. Ich wünschte ihm alles Böse an den Hals: Vergewaltigt, enthauptet, kastriert, gevierteilt zu werden, in einer Gletscherspalte zu verrecken, selber bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen. Das findest du jetzt auch nicht mehr lustig, oder? Gott schwieg. Die einzige Entschuldigung dafür, dass er das mit Nina und Sophie (und Gèerard) zugelassen hatte, war, dass er nicht existierte. Und wenn es so war, konnte ich das auch als Chance sehen – ich wäre dann immerhin frei, ganz. Ich musste lachen, dann erschrak ich, weil ich es gedacht hatte, ich lachte über mein Erschrecken, ich erschrak, weil ich nicht mehr wusste, woran ich überhaupt dachte, dann dachte ich an etwas anderes, ich machte dies oder das. Von der Decke begann es zu schneien, es stöberte grau, dann weiß, die Flocken fielen immer dichter. Ich zog eine tiefe Spur durch die Wohnung, die Richtung änderte sich, sagt man Norden oder Morden? Es gab ein WUMM!Geräusch, die Lawine ging nieder, es stäubte lange. Die Anrissstelle verlief mitten durch den Teppich, den ich mit Nina in Marokko gekauft hatte, damals, als es sie noch gab.

Was mich zusätzlich quälte: Dass Nina und ich im Unfrieden auseinandergegangen waren. Nina war mit meiner Teilnahme an der Expedition zum Muztagh Ata nämlich keineswegs einverstanden gewesen. Es reiche ihr, sagte sie, dass ich vor zwei Jahren schon für sechs Wochen weg gewesen sei, zumal wir doch ein kleines Kind hätten. Ja, Sophie war klein und eine so lange Abwesenheit für Nina eine Zumutung, aber mich schmerzte es eben noch immer, dass Sepp und ich damals so kurz vor dem Gipfel des Cho Oyu (8201 m ü.M.) hatten umkehren müssen. Und als Sepp mich dann wegen des Muztagh Ata anfragte, wollte und konnte ich einfach nicht nein sagen. Klar, die Risiken einer solchen Reise waren nicht unbeträchtlich, und schon damals, im Frühling 2000, hatte ich viel Geld ausgegeben, das ich gar nicht besaß. Aber Sepps Vorhaben war zu verlockend – und eine kleine Auszeit zu nehmen schien mir nicht unangebracht, zumal das Leben mit Sophie und Nina mitunter auch anstrengend war. Überhaupt: Ich wollte wieder einmal richtig weg. Und dann über die Besteigung einen Comic zeichnen, eine Graphic Novel oder ein Manga, jedenfalls hatte ich ein paar gute Ideen, ich versuchte sie Nina nahezubringen, sie fand, es sei jetzt nicht die Zeit für so etwas. Ich bin dennoch gegangen.

In den Wochen vor meiner Abreise berührten wir uns fast gar nicht mehr, in den letzten Tagen redeten wir kaum noch miteinander. Sophie, klein wie sie war, realisierte zwar nicht recht, was vier Wochen Wegsein bedeutete, aber dass etwas in der Luft lag, spürte sie, und auch, dass das irgendwie böse sein musste, sie war sehr anhänglich in den Tagen, bevor ich ging. Es war, wie es war, wahr jedenfalls: Nina und Sophie sind nicht mit zum Flughafen gekommen. Ich machte die Haustür zu, und weil sie nicht richtig einklickte im Schloss, schlug Nina sie hinter mir zu, Sophie war an dem Morgen in der Kinderkrippe. Lange Zeit kam es mir vor, als sei ich schuld am Absturz. Hätte ich meinen egoistischen Dickkopf nicht durchgesetzt und wäre nicht zum Muztagh Ata aufgebrochen, hätten wir zusammen etwas unternommen. Dann wären sie nicht allein in die Ferien gefahren und nicht in die Cessna gestiegen. Jetzt hast du sie verloren, beide.

Der Himmel ist leichter als Luft, darum ist er so weit oben.

Nachdem der Neuschnee in meiner Wohnung sich gesetzt hatte, nahm ich die Schäden erst wahr, die das Unglück angerichtet hatte. Um mich zu trösten oder abzulenken, versuchte ich es zuerst mit Trinken, was mir nicht guttat. Dann probierte ich es mit Zeichnen – für mich, nicht für den Nebelspalter, für den ich seit einer Weile gearbeitet hatte. Mein Chef drängte auf Rückkehr, es ging aber nicht, nicht zu der Zeit. Auch beim züritipp musste ich passen, das ging noch weniger – mein wöchentlicher Comic, den ich seit drei Jahren mit einigem Erfolg für dieses Magazin gezeichnet hatte, wurde nach dem Unglück vorübergehend durch eine andere Rubrik ersetzt, bis sie einen Nachfolger fanden, der eine neue Ära eröffnete.

Ich hockte in meiner Wohnung, krallte mich am Tisch fest, füllte Dutzende von Blättern mit krakeligen Filz- und Bleistiftstrichen, ohne zu wissen, was ich eigentlich zeichnete – Cartoons? Einen Comicstrip? Figuren oder Ornamente? Zeichne oder schreibe ich? Nennt man das suchen oder finden? Ohne Story-Board, ohne Strategie, einfach immer weiter hineintappend ins tosend Schalltote, vor mir das Papier, das ich malträtierte, Stift um Stift verbrauchend, bearbeitete ich die Leere. Ich wusste nur: Es geht um Nina und Sophie. Das meiste zerknüllte ich, wenn es dunkel zu werden begann: Crash am Weißen Berg, den ich mit schwarzem Dreck besudelt hatte. Absturz. Papierkorb.

Einzelne Blätter überlebten. Es rettete mich nicht, überbrückte aber immerhin Zeit, ich klebte sie an eine der Wände im Arbeitszimmer. Schließlich begann ich wieder von vorne, großformatig, und damit, die neuen Blätter so zu füllen, dass sie fugenlos an die bereits vorhandenen passten – Panel an Panel, mit Pfeilen da und dort, mit Wegweisern, Fußnoten, Handzeichen, Überbrückungen, Unterführungen, Traversen: M.C.Escher-Schlaufen, wie ich sie für mich nannte, weil gewisse Verbindungen, die sich ergaben, räumlich unmöglich waren – wenn man wieder bei dem anlangt, was auch vorher nicht zu verstehen gewesen ist; eine Rückversetzung zur Strafe, wie beim Eile mit Weile – leere Felder, vergletschert, felsige Einschüsse in massivem Schwarz, es wurde immer komplexer und chaotischer, ein Gewucher in alle Richtungen. Ich stellte mir vor: Am Schluss wäre DAS ALLES geschlossen – ohne Anfang und ohne Ende, alle Wände, den Boden, die Decke vollständig ausfüllend, in sich verdreht, zwei-, genauer gesagt, dreidimensional, verschlauft wie ein Möbiusband, dazu musste ich das Arbeitszimmer natürlich räumen, ganz. Ein Labyrinth entstand aus Hunderten von Panelgängen, Irrwegen, Sackgassen, ein Mischmasch aus Storyfetzen, Parallel-, Kreuzund Quergeschichten, ornamentalen Verkittungen – die Sachen für die Decke etwas größer formatiert, damit man sie auf dem Boden stehend sehen oder lesen konnte; trocken bis nass gezeichnete Sequenzen, die in den nächsten Plot übergingen oder in bloße Lettern, in Piktogramme, in Zeichensumpf (Twomblyfelder, dachte ich – da hatte ich wieder einen meiner Wortwürmer); schwarz schraffierte Verzweiflung, weißes Entsetzen; Form, die vom Inhalt abblätterte, Inhalt, der zu Form verschmolz, etwas in der Art, ich wusste es nicht, aber ich machte weiter.

So wuchs mit der Zeit die beklebte Fläche an der Wand, an den Wänden, ein in alle Richtungen schwärendes, tumoriges Ding, das mich zunehmend umgab. Ich stellte mir vor, es würde, indem es wüchse, alle schädliche Strahlung von mir abhalten, mich ganz machen oder heilen, zumindest etwas zustopfen, einen Riss zukitten. Dieser aber tat sich immer wieder auf, vor allem, wenn ich einmal Pause machte. Trauer brach hervor, oder Kummer, oder wie ich das nennen soll, was herauskam, heftig und zerstörerisch – doch Triumph war es merkwürdigerweise auch, es roch danach, ich wusste zwar nicht, warum ausgerechnet Triumph, woher oder wozu. Wenn ich etwas verstand, dann bloß, dass ich nichts verstand. Es war sinnlos, was ich machte, ich wusste es, aber weniger Sinnloses fiel mir nicht ein. Immerhin spendete es fast so etwas wie Trost – solange ich dran war.

Ich ließ niemanden in die Wohnung. Raus ging ich nur, wenn ich alle paar Tage einkaufen musste. Und wenn ich zu Doktor Heller ging, bei dem ich auf Anraten von Leonardo mit einer Therapie angefangen hatte: Du kannst doch nicht einfach zu Hause hocken und saufen und zeichnen. Lass dir helfen! Dreimal die Woche ging ich also in die Englischviertelstraße zu Heller, manchmal half es. Doch meistens trat ich mit den gleichen schwarzen Gedanken (soll ich sagen: mit der gleichen weißen Gedankenleere?) wieder hinaus ins Freie, ins Sonnenlicht, das mein Leben verbrannte, oder in den Nebel, der mich verschluckte und vermutlich nicht nur mich. Aber was wusste ich, was interessierte mich das.

Leonardo war zu der Zeit in Buenos Aires, er drehte einen Dokumentarfilm über die einheimische Tanzszene. In dieser Stadt war er überhaupt öfters, Mercedes, seine Frau, stammte von dort, eine Tangotänzerin, mit der er schon eine halbe Ewigkeit zusammenlebte. Hin und wieder telefonierten wir – meistens schweigend, jeder mit seinem Hörer in der Hand. Wasser rauschte am Ohr (Was für ein Ozean lag zwischen uns? Der Atlantik, der Pazifik? Wieso heißen die Meere so blöd?), Wellen spielten stumpfsinnig mit der Leitung, ich hörte einen Haifisch schüchtern knabbern am Kabel (Wie dick es wohl war? Grau oder schwarz, muschelbesetzt, im Schlamm versunken? Glotzten Kraken?), welches gelegt worden war, um uns zu verbinden.

Am Tag, als ich dem Himmel am nächsten war, sind Nina und Sophie ums Leben gekommen. Eigentlich am Nachmittag des vorangegangenen Tages. Ich brachte aber die Vorstellung nicht aus dem Kopf, dass sie mich auf dem Gipfel des Muztagh Ata noch gesehen haben mussten. Während sie vom Himmel fielen, so meine wiederkehrende Vorstellung, die sich in den Monaten darauf zur quälenden Obsession entwickelte, die auch Heller nicht wegbrachte, lange jedenfalls nicht, sah ich das große Blau über dem Kunlun oder dem Karakorum, wie immer das schuldige Gebirge hieß. Während das, was von Nina und Sophie übrig geblieben war, am Gipfelhang des Mont Blanc festfror, furchte ich mit meinen Skiern den Vater der Eisriesen. Längster Tag, längste Nacht. Ich ganz oben, sie ganz unten – Schluss damit!

Und ein paar Tage vor dem Unglück hatte ich Nina mit der Kirgisin betrogen.

Gérard, Ninas jüngerer Bruder, war ein erfahrener Flieger. Aber eben doch nur ein Hobbypilot, gearbeitet hatte er bei einer großen Schweizer Bank. Nina und ich durften in den letzten Jahren zweimal mit auf einen Flug, einmal zum Matterhorn, einmal zum Eiger, beide Male war mir schlecht geworden, sehr schlecht sogar. Nina fotografierte mich nach dem Eigerflug in dem Zustand, in dem ich war, als wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten – ich mit reichlich Erbrochenem im Haar, das wohl ins Gelbgrüne changierte und sicher entsprechend roch, dazu Speichel, der mir fädig aus den Mundwinkeln troff, ein Bleichgesicht, dem Erschöpfung aus den Augen lugte, so etwas wie Erleichterung auch, ein transpirierender Zeichner, vermutlich leicht hyperventilierend, es ist lange her, das Bild hat sich nicht erhalten. Dennoch habe ich es in Erinnerung, merkwürdig exakt sogar, nur in Schwarzweiß allerdings. Die Route am Montblanc vorbei hatte Gérard vorher nie geflogen. Die Untersuchungen der Aviation Civile Française ergaben, dass nicht technisches, sondern menschliches Versagen zum Absturz geführt hatte, beziehungsweise zum Crash – Gérard hatte die Maschine im Nebel in den Gipfelhang gesteuert. Manchmal versuchte ich mich vergebens damit zu trösten, dass sie nichts mehr mitgekriegt haben konnten von allem. Ein Knall, dann das Ende des Knalls. Dann der Anfang des ganz anderen.

Das Zerwürfnis wegen der Expedition war nicht das erste gewesen zwischen Nina und mir. Die Geburt eines Kindes, zumal des ersten, ist ja nicht nur eine Freude, sondern für jede Beziehung auch ein umwälzendes Geschehen. Unsere vorherigen Rhythmen – ich kannte Nina schon viereinhalb Jahre, als Sophie zur Welt kam – gerieten durcheinander, auf nicht wenige Gewohnheiten und Rituale, auf schmerzlich viele Annehmlichkeiten hieß es plötzlich verzichten: Klar, dass das mitunter Streitereien nach sich zog. Und natürlich wurde unser Sex nicht besser, als die Kleine da war. Die üblichen Eifersüchteleien und sporadischen Ausgeschlossenheitsgefühle, dazu blödes, aber unvermeidliches Konkurrenzgebaren beiderseits, die chronische Übermüdung, dazu bei Nina die körperlichen Folgen der schwierigen Geburt, dazu je eigene Bedürftigkeiten, sich anstauend Triebhaftes: Mit solchen Problemen waren wir nicht die Einzigen, erschreckt hat es uns dennoch.

Als es Herbst wurde, ging es eine Weile lang nicht mehr mit Zeichnen, das Zimmer wollte etwas anderes. Ich fing stattdessen an, Briefe und Postkarten von Nina in die Panels hinein abzuschreiben. Dann versuchte ich, abzeichnend, aus Fotos von Nina und Sophie etwas zu entwickeln und ins Ganze zu montieren, Ein-Bild-Mangas, Zoom-Sequenzen, zum Teil ins größte Blow-up hinein, mit Zeitraffer und Zeitlupe, Serien und Serienbrüchen – die Blätter welkten, die Panels zerbrachen, die Sprechblasen platzten, die Storys zerfaserten, hörten auf, gingen in neue über oder in anderer Richtung weiter. Es gab zwar gar keine Richtung in diesem Zimmer, welche denn – ein orientierungsloses, flächiges Etwas war es, das ich aus mir herauswürgte, es wurde immer mehr zu etwas Räumlichem, das mich barg, aber auch erdrückte, ein schwarzweißer Kokon, in den ich mich einspann, ein irres Patchwork, das nur zum Ziel hatte, am Schluss alle Innenseiten des Sarges, in dem ich steckte, zu tapezieren, lücken- und fugenlos.

Ich erschöpfte mich mehr, als ich wahrhaben wollte. Das wimmelnde Zimmer beelendete mich, aus meiner Hand wuchsen, je länger desto mehr, nur noch Fratzen, mir schien, ich zeichne auf Neuschnee, unter dem sich trügerische Spalten verbargen, auf wunde Haut, auf einen verzerrenden Spiegel. Dazu kam dann eine Weile lang die schlimme Stimme.

Kaum war sie weg, setzten mir die vom Nebelspalter eine Deadline – die Zeit der Krankschreibung sei abgelaufen, seit langem schon, ob ich es nicht wieder versuchen wolle. Sie waren freundlich, doch, das ja. Ich schrieb ihnen eine ruppige Kündigung, mit einer peinlichen Karikatur als Beilage.

Wenn ich überhaupt an so etwas Ähnliches wie Überleben oder Durchkommen dachte, dann so: Das Geld, das ich von Nina geerbt habe, sinnlos verschwenden – und dann zum Sozialfall werden. Genau so machen wir es.

– Ob ich was? – Klar, du. – Das nicht, nein. –

Doch, schon. – Warum? – Mir auch. – Ja. –

Vielleicht darum. – Wir?

Wir sahen uns nach diesem ersten Wortwechsel (August 1993) perplex und ratlos an, verschreckt vor Freude, Nina und ich, während wir vor der Theaterkasse der Gessnerallee anstanden für Under Milkwood von Dylan Thomas. Ich weiß nicht mehr, wer von uns links, rechts, oben, unten, ich meine: wer hinten, wer vorne war – laut aber war es unter den Bögen und die Schlange lang. Es handelte sich um ein gegenseitiges Missverständnis, wir hatten uns verhört, einander erkannt, verwechselt übers Kreuz, wir hatten gemeint, was wir beide nicht meinten: das Gleiche nämlich – es war ein Lapsus, ein nicht vorgesehener Moment, ein Versehen im Weltgeschehen, eine plötzliche auftretende Singularität, oder der Zufall strauchelte über seine Beine. Wie auch immer, so war es passiert: ein gutes Dutzend Wörter – daraus folgte eine fast neunjährige Beziehung, mit Kind.

Nina und ich wurden nicht sofort ein Paar. Wir sahen uns zwar von Beginn an sehr häufig, spielten nach der Arbeit Pétanque auf dem Lindenhof oder hinter der Reithalle, tranken mit unsern Freunden bis spät in die Nacht, wir redeten viel. Nina sprach ausgezeichnet Englisch, wie ich erfuhr, sie hatte mehrere Jahre in Kanada gelebt – während für mich jenseits der einschlägigen englischen PENG-Wörter, die ich als Comiczeichner natürlich kannte, die sprachlose Wüste begann, ich verstand lange nicht einmal das Basic-English von Porno-Trailern. Jedenfalls sprach Nina meinen Vornamen genauso richtig unenglisch aus, wie es eben sein musste, damit ich es ertrug: War ich doch ein Gregor und nicht ein Gregory, darum also sicher kein Gräg, Gott bewahre!

Einmal nahm ich sie mit zum Klettern ins Bockmattli, die Namenlose Kante schien mir geeignet für eine erste Tour. Nina war begabt, dazu praktisch schwindelfrei, fürs Bergsteigen war sie dennoch nicht recht zu haben, egal. Wir beeindruckten, faszinierten einander, vielleicht verzauberten wir uns sogar – aber dass es Liebe würde, dass wir bereits ein Paar waren, wollten wir lange nicht wissen. Und als wir es merkten, es uns zugaben, waren wir einerseits überrascht, erfreut, womöglich entzückt – andererseits aber war es, weil uns eigentlich bekannt, doch nicht etwas wirklich Neues und fast schon banal. Neben unserer Begeisterung für Dylan Thomas teilten wir, wie wir längst herausgefunden hatten, die für Paul Auster, für T.C. Boyle, für Hérge und Uderzo, für Andrej Tarkowski, Peter Greenaway, Stanley Kubrick, Akira Kurosawa, für Catherine Breillat und und und – wir sahen die Welt ähnlich, lebten vergleichbare Leben, hatten beide wenig Geld, wir fanden die gleichen Menschen sympathisch, unsympathisch oder keines von beidem. Allerdings träumte ich, im Unterschied zu Nina, nicht von einem eigenen Haus, und von einem eigenen Garten auch nicht, schon gar nicht von einem Gärtner und, was sie mir einmal verschämt gestand, von einem uralten Butler ebenso wenig. Immerhin musste auch in ihrer Phantasie ein Whirlpool nicht sein, und keine Terrasse mit Seesicht, aber sie wünschte sich Gemüsebeete, Fruchtbäume und einen Wintergarten: Na, wenn es eben mal kalt wird oder wir alt sind, sagte sie. Wir rieben und ergänzten uns: Sie das Sonnenkind mit Schattenseiten – ich das Schattenkind mit Sonnenseiten. Sie die Sanguinikerin – ich der Choleriker. Sie Ratte – ich Hund. Und natürlich, klar: Sie Frau – ich Mann. Wir konnten, zu Beginn jedenfalls, nachher hatten wir es bereits ein bisschen verlernt, auch wunderbar streiten miteinander. Nina hatte es mit Astrologie, ihre Bücher von Wolfgang Döbereiner und ähnlich einschlägige Schinken füllten ein ganzes Regal (also gut, hole ich es eben nach: Sie war Widder, Aszendent Fisch – ich Schütze, Aszendent Fisch) – dabei war sie sonst ausgesprochen intelligent. Umgekehrt nervte sie immer wieder mein Defätismus gegenüber dem Leben, wie sie es nannte – der mich ab und an nicht nur übermanne, sondern den ich dann erst noch peinlich zur Schau trage.

Trotzdem, oder gerade deshalb: Wir konnten miteinander, wir wollten uns, wir brauchten einander. Wir hatten Vorstellungen von der Zukunft, die nahe beieinanderlagen. Vor Nina hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, jemals Vater zu werden, es war das in den längeren Beziehungen, die ich vor Nina hinter mich gebracht hatte, nie ein Thema, aber mit ihr änderte sich das, mit ihr zusammen wollte ich plötzlich ein Kind und sie eins mit mir – Spätberufene, Spätzünder, die wir beide waren, wie Ninas Eltern übrigens auch, im Unterschied zu meinen. Wir hatten Liebes- und Verlusterfahrungen, über die wir abende- und nächtelang reden konnten, ohne dabei an ein Ende zu kommen, dazu hatten wir es, eine lange Zeit jedenfalls, gut im Bett miteinander, wie man sagt – wir hatten so viele Berührungspunkte, gleichlaufende Linien, sich überlappende Reibungsflächen und Themenräume, dass es uns ein Leben lang nicht hätte langweilig werden müssen zusammen.

Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, auch wenn es etwas altmodisch klingt: Wir waren, nachdem wir einander das Herz geöffnet hatten, das, was man ein vielversprechendes Paar nennt.

– Hat doch keinen Sinn mehr, Greg. Vergiss es. – Eine Viertelstunde. Das kriegen wir hin. – Meine Zehen, Mann. Und dieser Wind! – Die Kuppe dort, schau, das ist er. – Wer? Ich seh nichts. – Komm, Sepp, weiter!

Das war im Mai 2000, zwei Jahre vor dem Muztagh Ata. Es war hart, so kurz unter dem Gipfel des Cho Oyu umkehren zu müssen, nachdem es die ganze Zeit am Berg so gut gelaufen war, bis fast zum Schluss. Wir hatten in den Wochen vorher die Hochlager installiert, alles zu zweit, ganz ohne Sherpas, wir fühlten uns bestens akklimatisiert und in Form. Als wir zum Gipfelgang aufbrachen – die Tage vorher hatte es geschneit –, waren die Wettervorhersagen etwas widersprüchlich, doch insgesamt nicht schlecht. Zeit vertrödeln war nicht angesagt, doch das hatten wir auch nicht vor. Der Killerhang, dessen berüchtigte Schutthalden zum Lager eins führen, kam uns, als wir ihn zum dritten Mal bewältigten, einigermaßen gemütlich vor, zumal jetzt Neuschnee den Schotter bedeckte und die Seilschaften der letzten Tage eine schöne Spur gelegt hatten – ziemlich bequem, fast, wenn die Höhe nicht gewesen wäre. Zum Abendessen kredenzten wir uns ein Fertigfondue. Ich bereute es, je mehr Crackers, von denen fädig der Käse troff, wir uns in den Mund schoben, umso mehr, den Flachmann mit dem Zuger Kirsch im Basecamp gelassen zu haben, aber auch so alberten wir lange herum. Unsere Gespräche wurden persönlicher, ich hatte wenig von dem gewusst, woran Sepp in seinem Leben laborierte, mein Verhältnis zu ihm war nie so eng gewesen wie zum Beispiel das zu Leonardo oder Cat oder Winzi. Gewusst hatte ich jedenfalls bis zu diesem Abend nicht, dass er kurz vor unserer Abreise in eine massive Verliebtheit gefallen war – so sehr anscheinend, dass er es fast nicht aushielt ohne seine Schnuckeline. Er habe sich dermaßen verguckt in sie, erzählte er etwas verschämt, dass er zum Verkehr, so nannte er es, bis dato gar nicht in der Lage gewesen sei, das war Sepps Ausdrucksweise. Cho Oyu, Göttin des Türkis, setz dich ein für meinen armen Freund, deklamierte ich blödsinnig: Auf dass Sepp ihn hochbringe in Ewigkeit Samen. - Und mach, o Gottheit, dass aus Greg doch noch was Gescheites wird, fuhr Sepp in schrägem Singsang fort: Und überhaupt, mach, dass wir beide hochkommen morgen, ganz. Wir mussten lachen, aber Sepp hatte auch ein bisschen geweint. Der Tag hatte sich in der Zwischenzeit, wir sahen es durch die Zeltwand hindurch, in Nacht verwandelt. Vom Hang über uns kam ein Kollern, eine Spalte knackte, dann eine andere. Seufzend rutschte Schnee zu Tal. Eine freche Windsbraut konnte nicht umhin, verführerisch unsere Nylonplane zu knuffen, immer wieder. – Du, sag mal, offen und ganz ehrlich … Da waren wir aber schon eingeschlummert, weggedämmert und angekommen in unserem je eigenen, bewusstlos wimmelnden Film, der – zerstückelt, bilderwirr, stroboskopisch wie er war – doch etwas von diesem unbegreiflichen Zustand hatte, den man gemeinhin Schlaf nennt.

Am nächsten Tag, spät erst, stiegen wir zum Lager zwei hoch – von ihm aus würden wir morgen direkt zum Gipfel aufbrechen, ohne wie die meisten noch ein drittes Lager dazwischen zu errichten. Um Kraft zu sparen, gingen wir nicht nur gemächlich und bedächtig, wir bewegten uns vielmehr so langsam, dass es mir wie eine Parodie auf einen Aufstieg vorkam. In sanft geschwungenen S-Kurven zog sich der bläulich leuchtende Firngrat hoch bis zum überhängenden Eisbruch, in dem noch immer unser Fixseil hing – da waren wir also wieder. Sepp klinkte seine Klemmen in den Strick und stieg los: Abwechselnd schob er einen der Bügel hoch und dann den anderen, Stück für Stück kam er prustend vorwärts, er baumelte in der Luft, arbeitete sich pendelnd höher, es schien anstrengend zu sein – eine Raupe mit Rucksack, die schlängelnd und wellend einen Spinnfaden hochkriecht, eine Sepp gewordene Ziehharmonika, die sich einer Notenlinie entlang hinaufspielt, ich musste lachen. Außer uns war niemand am Berg, Leere herrschte und tröstliche Ödnis, orange vor Freude stand unser Zelt noch immer auf der Ebene oberhalb der Spaltenzone. Wieder ein gemütlicher Nachmittag und ein ebensolcher Abend. Wir hatten beide noch nie auf über 7000 Meter übernachtet, schlimm war es dann aber nicht, nicht wirklich jedenfalls.

Aufstehn, ihr alten Kerle, fertig mit Träumen! Kochen! Raus aus dem Sack! Kleider anziehen! Packen! Steigeisen montieren! Auf geht's! Es war noch mitten in der Nacht, als wir losstiegen. Ein Gewusel von Sternen glitzerte, glühte, verglomm über uns. Wir benutzten die Spur, die eine baskische Gruppe vor zwei Tagen gelegt hatte, es ging alles fast unglaublich leicht. Der Mond machte den Bildschirm schwarzweiß flimmern, als wäre dies TV der 60er und nicht ein Steilhang am Cho Oyu. Ich bin ganz leicht, ich trage Siebenmeilenstiefel, ich fliege, dachte ich, oder es war Sepp, der das dachte, Hauptsache, wir kommen vorwärts. Als der Morgen graute, zogen Zirren auf, der Himmel im Osten färbte sich blutrot, wir waren aber schon weiter oben als erhofft. Weil die Basken es nicht bis ganz hinauf geschafft hatten, mussten wir ab jetzt selber spuren. Die Schlieren verdichteten sich, der Wind nahm zu, wir montierten unsere Skibrillen, im kniehohen Neuschnee wühlten wir uns weiter. Das Gelbe Band, die letzte Steilstufe, war kein Problem, der Schnee blieb im senkrechten Fels ja nicht haften, unsere Steigklemmen surrten am fest installierten Seil hoch, fast wie von selbst. Später wurde der Schnee noch tiefer, die Sicht rasch schlechter. In der ungegliederten Flanke hatten wir Mühe, uns zu orientieren, dennoch fanden wir irgendwie die Schulter, von der aus ein flacherer Grat zum Gipfel führt: – Bald, sagte ich. – Was bald, sagte Sepp. Wir keuchten: Schöne Scheiße – das nur zu denken half Atem sparen. Schritt für Schritt, mittlerweile bis zu den Hüften versinkend, japsend, schnappend nach etwas, das Luft hieß, kämpften wir uns dem Ende entgegen. Sepp schimpfte, ich tröstete, dann jammerte auch ich, schließlich husteten wir nur noch.

Als eine Bö uns umwarf und quer über den Hang mit sich schleifte, war klar: Nichts wie zurück! Wir krochen, um vom Jetstream nicht weggeblasen zu werden, auf allen vieren den Andeutungen unserer Aufstiegsspur entlang hinab. Zum Abseilen über die Felsstufe mussten wir das Ende des flatternden Seils mit einem Rucksack beschweren, unten sahen wir nichts mehr, es wurde verdammt knapp. Irgendwie schafften wir es aber doch, lebend ins Lager hinunterzukommen. Die Sturmnacht im knatternden Zelt werde ich nie vergessen, den weiteren Abstieg am nächsten Morgen hinab ins Basecamp auch nicht. – Mannomann, was für ein Brüllen, das ist mehr als nur vom Feinsten, sagte Sepp, ich wusste nicht, woher er seinen Humor holte bei diesem apokalyptischen Wetter. Der Monsun war früher als vorhergesagt hereingebrochen, massiv und plötzlich, mit sinnloser und unverständlicher Gewalt. Wir waren davongekommen – aber der fehlenden Viertelstunde bis hinauf zum Gipfel habe ich lange nachgetrauert, sie machte mich immer wieder ziemlich verrückt.

Sepp brachte von unserem gescheiterten Besteigungsversuch zwei schwarze Zehen nach Hause, er hatte aber doch Glück, sie mussten nicht abgeschnitten werden.

Nina arbeitete als Cutterin beim Schweizer Fernsehen, ich war Comiczeichner: Bingo! Es haute hin mit uns zweien, das fanden wir beide, es passte, es funktionierte, obwohl oder gerade weil wir nicht einer, sondern zwei waren: Wir zeigten uns die Bilder, die wir und andere von uns gemacht hatten. Nina schnitt sie in Stücke, daraus stellte ich einzelne Sequenzen zusammen, die sie ummontierte und in etwas Neues überführte. Dieses gruppierte ich zu Bildelementen, aus denen sie die Panels klebte, für die ich die Schnipsel lieferte, welche sie bunt ausmalte, ich gab die Sprechblasen dazu, worauf sie das auswählte, was wir schließlich zum Ganzen bauten und erkannten – als das, natürlich, oder: o Götter!, was es hatte werden dürfen, werden müssen, was man alleine aber nicht schafft und ohne den andern niemals sähe – wir erkannten es und hörten es darüber hinaus auch: als das Lied, das es war, das wir waren – die Melodie Nina&Greg.

Auf Serifos hatten Nina und ich unsere schönste Zeit. Viermal verbrachten wir dort einen ganzen Monat zusammen. Chora: In einem der weißgekalkten Häuschen des Inselhauptdorfs (auch die Gässchen, Treppen, Bruchsteinmauern, die Baumstämme, die Glatzen der Alten, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit der Bewohner: alles geweißelt) entstand an einem vor Farben explodierenden Frühlingstag Sophie, es war die Stunde des Pan. Beide wussten wir sofort: Jetzt ist es passiert! Selig erschöpft saßen wir im Schatten der Weinreben und blinzelten in die Welt: Wir sahen die Glyzinien, die sich um die hellblau gestrichenen Fensterläden rankten, wir sahen das betörende Rot und Orange der Bougainvillea, den stoischen Riesenoleander, den wuchtig fächernden Bananenbaum daneben, wir sahen auf die vom Dorf schräg abfallende Ebene, auf von Frühlingsgrün durchschossene Felder, wir sahen den Saum von felsigen Hügeln darüber, auf denen morgens und abends Ziegen herumkletterten, sahen die knorrig vor sich hin schweigenden Olivenbäume, den vor dem Stall ins Leere kauenden Esel neben der Badewanne, er hatte gerade wieder eine gewaltige Erektion und dahinter, darunter das Meer so blau so blau: Perfekter alles, fast noch unerträglicher als auf den allerkitschigsten Bildern.

Du bist in der schönsten Postkarte der Welt entstanden, haben wir Sophie später erzählt. Die Kleine strahlte vor Stolz und klatschte mit den Händen auf ihre Pampers: Po-kat önscht, O-ffi tammen. Wir lachten.

Mit Nina bin ich ein einziges Mal an einer Beerdigung gewesen: als Elpida von der oberen Taverne starb, wir sind noch immer auf Serifos. Nachdem wir aus der weihrauchgeschwängerten Kapelle ins Licht hinaustraten (Sommerhitze, 39 Grad oder mehr, flirrend), redeten wir mit Panajotis, dem Fischer, den wir einmal eine Nacht lang in seinem Boot begleitet hatten. Dort rauf, und er zeigte zum Himmel, dort rauf kommt keiner. Am Schluss landen alle immer hier, er zeigte auf den Boden, er lachte dazu ein breites Lachen, schlechte Zähne – da unten hab ich am Schluss jedenfalls alle gesehen. Papas Konstantinos, der dicke Pope, der auch bei uns stand (ich hatte ihn mehrere Wochen lang immer mit »Großväterchen« statt mit »Pater« angesprochen: pappou statt papà, bis ich den Fehler bemerkte), fand das nicht lustig. Er kraulte verdrießlich seinen langen Bart, rückte seinen Hut zurecht, schob seinen massigen Leib vom Dorfplatz weg und wankte wie eine Seekuh ins Kafeneion hinüber zum Tavli-Spielen.

Sophie war am 10. Januar 1998 zur Welt gekommen, fünf Tage darauf kamen wir nach Hause. Die erste Hälfte des Februars war viel zu warm, zu nass auch, es schüttete fast die ganze Zeit. Am 34. Tag sah Sophie ihren ersten Regenbogen, in der gleichen Nacht schlief sie sechs Stunden durch, am Abend danach reichte es Nina und mir zum ersten gemeinsamen Ausgehen. Mit 36 Tagen schenkte Sophie uns ihr erstes Lächeln, wir ihr eine Woche darauf die erste Fahrt im Auto. Nach 80 Tagen bemerkte Sophie, dass sie Füße hatte, das erste Kichern kam aus ihr. Am 83. Tag reagierte sie vor dem Spiegel auf sich: Erstaufführung! Eine Woche später sah sie ein Reh davonspringen, am Tag darauf rieb sie sich die Augen, zum ersten Mal kriegte sie eine Rassel. Mit drei Monaten Erstbesteigung des Leistchamms oberhalb Amden (viel Neuschnee), einen Tag später erstürmten wir den Mattstock (Erstgenannter war anstrengender), ich trug sie im Snugli. Darauf Obstsaft Nummer eins, dann den ersten Gemüsesaft (Sophie fand ihn eins a), eine Woche später warf sie ein Glas um (Bier, mein erstes an dem Tag), am nächsten Tag geriet sie mit uns in ihr Erstlingsgewitter (ein Gewitter so früh im Jahr, das hätten wir nicht erwartet). Am Ersten des Monats versuchte sie es mit einer Liegestütze, darauf feierten wir unsere Bade-Premiere zu dritt in der Wanne (schwapp), dann begann Sophie Daumen zu lutschen, wir zogen in den ersten Stock. Der erste Zahn, der erste Kuss von einem Buben (Patrick), Influenza die Erste, erster Sturz vom Wickeltisch, zum letzten Mal. Der erste Flug, das erste Meer (wie macht das Meer? Schschschschschsch … … …). Früchte zum Ersten, Reisschleim zum Zweiten, Porridge zum Dritten. Am Ende des ersten Semesters das erste Konzert (Andrew Bond), die ersten Wörter (Mama, Papa, ha für heiß). Schnee und Graupel auf der Nase gespürt (Ersterer war dickflockig), der erste Spatenstich ins erste Fünf-Minuten-Ei (es war zu hart), den ersten Applaus gegeben mit eigenen Händen: klapp klapp klapp, die Füßchen machen schnapp schnapp schnapp. Eine fliegende Kuh gesehen mit 16 Monaten (Helikopter-Transport, Amden). Die erstbeste Fliege totgeschlagen in der Seilbahn hoch zur Rigi. Ihren Schatten hat sie erstmals gesehen (so lang wie breit), den vollen Mond. Auf dem Schiff (nicht erste Klasse) auf die Polstersessel gekotzt (Tragflügelboot, von Paros nach Serifos). Kurz darauf der erste Biss der ersten Eselin, in die Hand, mit der Sophie sie füttern wollte (Erste Hilfe darauf). Mit knapp zwei Jahren: »Ich.« – Wo wohnst du? »Züri, beim Ahorn.« – »Im Himmel ist die Frau.« Wovon hast du geträumt? »Vom Schweinchen« (lange Zeit immer nur das). »In Echtigkeit?« Ja, in Echtigkeit.

Die ersten Male, die letzten. Die Letzten werden die Ersten sein. Sophie die Erste, Sophie die Letzte.

Es war eigentlich nicht so, dass wir von Anfang an nur ein Kind hätten haben wollen. Aber Nina hatte sich von der schwierigen Geburt lange nicht erholt, und wir beide erschraken angesichts der großen Umwälzung, die Sophie mit sich brachte. Zuerst wollte Nina kein zweites Kind, und als sie es dann doch wieder wollte, wollte ich es nicht mehr. War es, von meiner Seite her, Angst, mich zu verlieren, Angst vor dem, was ein zweites Kind noch alles aus unserer Beziehung machen würde, meine unsichere Jobsituation, Lebensangst überhaupt? Oder, von Ninas Seite her, Angst vor der körperlichen Belastung, Angst vor nicht endender Eingespanntheit, vor Überforderung, oder Angst vor meiner Lebensangst? Ich weiß es nicht mehr, ich habe es auch damals nicht gewusst.

Das mit dem zweiten Kind war eine offene Frage. Aber offen für diese Frage, so richtig, und nicht nur für diese, waren wir nicht. Vielleicht haben wir uns einander zu wenig zugemutet, trotz des Wunsches, es anders zu machen, oder wir wollten einander nicht enttäuschen. Ich weiß nicht, ob wir dereinst über all das geredet hätten, worüber wir noch nicht geredet hatten, oder ob man das umso weniger macht, je länger eine Beziehung dauert. Nina war jedenfalls schon eine Weile vor meinem Entschluss, zum Muztagh Ata zu fahren, auf eine Distanz gegangen, die ich nicht verstand, die weh tat. Eifersucht nagte an mir, ich hatte den Verdacht, ich genüge ihr nicht, eine Zeitlang vermutete ich sogar, was mir mehr als nur weh tat, sie lebe eine Außenbeziehung. Darüber zu reden, sie auf das anzusprechen, war ich zu stolz oder zu sehr in der Angst gefangen, dass es tatsächlich so sein könnte, wie ich befürchtete – und dieser Verdacht schien mir, so sehr er an mir fraß, als Verdacht doch weniger schlimm als die drohende Gewissheit, für sie tatsächlich nicht der zu sein, den sie zu Beginn sich erhofft oder zurechtgebastelt hatte.

Es war das alles keineswegs ausgestanden, als ich zum Vater der Eisriesen ging und Nina mit Sophie (und Gérard) am Gipfel des Mont Blanc abstürzte. Als ich hier war, warst du dort. Als ich dort war, warst du hier. Aber wir waren ein Paar. Wir hatten einander gebraucht. Wir wollten einander. Wir waren daran gewesen, es miteinander zu probieren. Wir sahen, dass einiges auf uns zukommen würde oder schon auf uns zugekommen war, ja, aber wir schauten immerhin noch hin – selbst wenn wir nicht über alles sprachen und uns dieses oder jenes wohl schon unters Eis geriet. Wie viel von dem, was wir aneinander zu verpassen begonnen hatten, hätte unsere Liebe aufzufangen vermocht? Sollte Liebe denn nicht überhaupt ein solches Verpassen verhindern? Ich glaube nicht. Liebe ist, wenn beide wissen, was sie aneinander verpassen und an anderen auch. Wenn sie aber trotzdem etwas daraus machen. Tod ist, wenn wir nichts mehr wissen. Und nichts mehr verpassen. Und nichts mehr machen aus nichts.

Eine unangenehme Erinnerung: Wie Nina mich beim Telefonsex erwischte, in flagranti. Sie war von einem nachmittäglichen Spaziergang mit Sophie unvermutet früher als erwartet zurückgekehrt, weil sie etwas in der Wohnung vergessen hatte. Und ich hockte halb da, halb lag ich, den Hörer in der Hand, die Hosen verknäuelt bis zu den Füßen runtergelassen, insofern stark in der Reaktionsfähigkeit eingeengt, die andere Hand emsig arbeitend an meinem Steifen, vor mir die aufgeschlagene Doppelseite der Fundgrube mit den einschlägigen Telefonnummern: Mach es mir so. O ja, mit der Zunge, das habe ich gerne. Steck sie tief rein, schleck mich aus, und zwei Finger hinten rein. Ah, das ist gut, das ist wirklich gut, magst du es nass?

Fundgrube