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URS ZÜRCHER

DER INNERSCHWEIZER

ROMAN

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Für Folke

Eine kurze Vorbemerkung

Es ist Sonntag. Baukräne in glänzendem Schwarz ragen wie Skelette ausgestorbener Tiere in den Himmel. Zu ihren Füssen wachsen neue, frische Gebäude nach, die bald einmal von neuen, frischen Menschen bewohnt werden. Der rostig-modrige Geruch von feuchtem Schutt, der die Stadt quälend lange überzog wie eine undurchdringliche Membran, ist nur noch bei besonderer Tiefdrucklage zu riechen. Gestern hat es aufgehört zu regnen. Warme Luft aus dem Süden strömt nun über die Alpen und der Himmel erscheint in einem traurigen Altrosa.

Ich sitze am Tischchen auf meinem Balkon, eine Militärwolldecke über meine Beine gelegt. Vor mir steht eine Flasche Wasser, ein Glas, in einer Kartonschachtel die Tagebuchblätter von U. Gestern habe ich das Tagebuch ein letztes Mal bearbeitet. Es ist Sonntag. Es ist alles gesagt.

Ich hätte nichts mehr beobachten müssen, hätte die Augen schliessen oder über alles hinwegsehen können. Wie eine Kamera hätte ich zwar Dinge, Personen, Situationen wahrgenommen, mir dabei aber nichts denken müssen. Keine Zusammenhänge herstellen, nichts analysieren, zusammenfassen, keine ergänzenden Informationen beschaffen, keine Gespräche führen, keine komplizierte Technik unauffällig installieren und ebenso unauffällig wieder deinstallieren. Ich hätte die Dinge wahrgenommen und sie doch nicht gesehen. Bedeutung ohne Kontext. Bildlos sehen. Wie eine Maschine. Ich hätte nichts mehr beobachten müssen. Denn ich war kein Spitzel mehr.

Doch der neue Blick gelang mir nicht. Allzu oft mischte sich eine zarte, fast unmerkliche Melancholie in mein Sehen; eine Regung meiner alten Gewohnheit zu beobachten: wirklich zu sehen. Niemand, der nicht selber Spitzel war, wie Unwissende diesen Dienst an der Erkenntnis nennen, kann sich die Qual vorstellen, nicht mehr beobachten zu können. Das ist so, als würde sich eine unsichtbare Hand vor die Augen schieben und all die Bilder, die sich während Jahren wie ein gigantischer Mosaikteppich Schritt für Schritt erschlossen haben, mit einem Schlag vernichten, in Luft und Staub auflösen, als würde jemand die wunderbaren Relationen, Verknotungen, alle die tief reichenden Verwicklungen zwischen Dingen, Personen und Situationen durchschneiden. Es ist, als würde man offenen Auges blind. Ja, so war es gewesen: Ich war am Erblinden gewesen.

Dann geschah etwas Unerwartetes, etwas, das mich augenblicklich wieder sehend machte, etwas ebenso Überraschendes wie Unerklärliches. Etwas, das mir die verschwundenen Bilder wieder ins Blickfeld rückte, das Zerflossene konturierte und strukturierte, etwas, das mich sogar über diese Bilder hinausschauen liess.

Unmittelbar vor den historischen Ereignissen im November 1989 traf ich Lanz an einer Bushaltestelle oberhalb Locarnos. Zuvor hatte es heftig geregnet, auf den Strassen und Trottoirs lagen breiiges Laub und abgebrochene Äste, die Autos fuhren langsam, kurvten um knöchelhohe Pfützen. Als ich Lanz bemerkte, hielt ich den Atem an und augenblicklich überzog eine Gänsehaut meinen Körper. Ihr ging es genauso, dessen bin ich mir sicher. Nach einem Moment der Schockstarre drehte sie den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, den Bus herbeisehnend. Doch es war kein Bus zu sehen. Sie konnte mir nicht entkommen. In kurzen, unfertigen Sätzen rapportierte sie die letzten Jahre. Ich tat es ihr gleich, selbstverständlich ohne die Wahrheit zu sagen. Wahrscheinlich hat sie damit auch nicht gerechnet; mit der Wahrheit.

Heute gehe ich davon aus, dass ihr im Nachhinein einige Ungereimtheiten meiner Biographie, einige unerklärliche Terminverschiebungen und Ortswechsel aufgefallen waren, lächerliche Ausreden, denn Lanz ist einer der intelligentesten Menschen, denen ich je begegnet bin. Nur so ist ihre Gelassenheit zu erklären, mit der sie meinen »Wunsch« zur Kenntnis nahm, die Tagebücher von U. zu erhalten. Ich erfuhr erst später, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits im Besitz der Tagebücher gewesen war. Obwohl sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation ahnte, testete sie meine Skrupellosigkeit und zögerte mit ihrem Einverständnis, drehte den Kopf wieder in die andere Richtung. So kam ich auf den Basler Anschlag zu sprechen, seine beispiellose Wirkung und die seit ein paar Monaten wieder neu entflammte, fieberhafte, ja fanatische Ermittlung nach den Tätern. Die Rachsucht der Herrscher in Ost und West und ihrer Völker. Die ewige Suche nach dem Schwarzen Peter, dem Sündenbock. Für all das Leid und den Schmerz. Und den Tod.

Mit einem nicht entzifferbaren Schmunzeln, das ihre unverwechselbare Schönheit noch betonte, nannte sie mir Ort und Zeit der Übergabe. Um ihre Augen hatten sich zarte Falten gebildet.

Vom Tagebuch wusste ich früh, es war gegen Ende 1980, als Lanz es mir gegenüber beiläufig erwähnte. Pflichtbewusst machte ich einen Eintrag auf der Karteikarte von U., schenkte dem Tagebuch aber lange Zeit keine Beachtung. Erst mit der Radikalisierung der Basler Gruppe und dem auf grandiose Weise gescheiterten Anschlag begann ich die Bedeutung des Tagebuchs zu begreifen. Einmal, es war zwei Monate vor Kriegsausbruch, reiste ich nach Basel und verschaffte mir Zutritt zur Wohnung. Doch U. hatte das Tagebuch entweder so gut versteckt, dass ich es in angemessener Frist nicht finden konnte, oder er trug es mit sich.

Mit Ausbruch des Krieges und der damit verbundenen »Trennung« von Kati löste sich nicht nur meine sprudelndste und schönste Quelle, sondern auch meine Hoffnung in Luft auf, an das Tagebuch heranzukommen.

Als ich es dann endlich in meinen Händen hielt, war meine jahrelange Blindheit auf einen Schlag verschwunden. Ich konnte mit neuen Augen sehen; mit SEINEN Augen. Auf einmal sah ich in die Menschen hinein, die ich während Jahren beobachtete und analysierte, mit U. drang ich in ihre Köpfe, ihre Gedanken, ihre Widersprüche und Begierden, von denen ich in einigen Fällen zwar Kenntnis hatte, meistens aber hilflos in Vermutungen verstrickt blieb. So wurde U. mein Seher post festum.

Ein Tagebuch spricht nicht die Wahrheit, auch das Tagebuch von U. nicht. Er hat einiges ein wenig, anderes deutlich verfälscht, wiederum anderes ins Gegenteil verschoben, hier eine Person geschönt, dort eine düsterer gezeichnet, als sie in Wirklichkeit war, hin und wieder verwechselte er Schauplätze und Namen, ob absichtlich oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Zuweilen ist die Orthographie stark vereinfacht, gekürzt, verstümmelt. Dennoch stellte ich eine insgesamt grosse, für mich ebenso überraschende wie beglückende Übereinstimmung zwischen meinen Beobachtungen und seinen Einträgen fest. Jetzt erst ergab meine Materialsammlung Sinn. Alles, was ich in den Jahren zuvor über die Basler Gruppe angehäuft und einer imaginären Linie entlang geordnet hatte, bekam Kontur und Gestalt, liess sich zusammen mit dem Tagebuch zu einer sinnvollen Geschichte verbinden.

Es kam mir vor, als hätte ich die ganze Zeit beobachtet, recherchiert und notiert, nur um das Tagebuch zu ergänzen. Ja, wir waren über all die Zeit auf seltsame, unsichtbare und doch unzertrennliche Weise miteinander verwoben, verstrickt, verschränkt. Unsere Texte, wenn auch völlig unterschiedlicher Art, passten wie die Teile eines Puzzles ineinander: konvex und konkav. Ich bin Teil der Geschichte geworden, die ich beobachtete.

Nebst meinen teilweise sehr umfangreichen Analysen besteht mein Material aus einem Konvolut unterschiedlichster Art (Flugblätter, Briefkopien, Gesprächsprotokolle und -mitschnitte, Geigers Notizen, Fotografien, Berichte amtlicher Stellen wie der PTT, SBB, Mitteilungen der Universität Basel, der Swissair und unzählige eigene und fremde Beobachtungen).

Nachdem ich das Tagebuch ein erstes Mal gelesen habe, sichtete und prüfte ich sämtliches Material, was es mir erlaubte, an einigen Stellen ergänzende Bemerkungen und Korrekturen anzubringen. Auf die Wiedergabe umfangreicher Analysen und Erläuterungen habe ich zugunsten der Lesbarkeit verzichtet. Ebenso verzichtet habe ich auf einen kritischen Apparat. Das Tagebuch soll und kann für sich sprechen.

Bis auf die Tipp- und Rechtschreibfehler, die ich stillschweigend korrigiert habe, wird das Typoskript vollständig wiedergegeben. Unterschiedliche Schreibweisen wurden beibehalten. Die Zeichensetzung, die oft nicht regelkonform ist (fehlende oder überzählige Kommas zum Beispiel), blieb unverändert. Die fehlende Paginierung stellt kein Problem dar, weil die Chronologie der Einträge die Reihenfolge der Einträge vorgibt.

Da U. sämtliche Einträge mit Schreibmaschine getippt hat und nur selten handschriftliche Ergänzungen oder Korrekturen anfügte, waren die Einträge problemlos lesbar.

Die Art der Farbbänder, des Papiers sowie eigene Beobachtungen lassen darauf schliessen, dass U. oft (die Wochen vor Kriegsausbruch sowie ganz am Schluss der Aufzeichnungen) zuerst von Hand schrieb und dann mehrere Einträge mit Maschine abtippte. Da keine handschriftlichen Notizen erhalten sind, lässt sich die Frage, ob und wie stark U. die Notizen noch veränderte, nicht klären.

Mindestens vier Mal hat U. die Maschine gewechselt. Während mindestens fünf Jahren schrieb er auf einer Brother CE-25. Selten sind Spuren von Korrekturflüssigkeit oder -papier zu erkennen. Sämtliche Einträge sind einseitig auf weissem Papier im Format A4 getippt. Vereinzelt finden sich Ränder von Kaffeetassen, Rotwein- oder Fettflecken auf dem Papier.

Wie in seinen Aufzeichnungen vermerkt, hat U. am 4. Mai 1989 den »Innerschweizer Teil« seines Tagebuchs vernichtet. Über die Gründe dieses Aktes will ich an dieser Stelle nicht spekulieren, fest steht indes, dass es sich bei den erhaltenen Tagebucheinträgen vom 11. Februar 1979 bis zum 11. August 1989 nur um einen Teil des ursprünglichen Tagebuchs handelt. Es gibt leider keinerlei Hinweise auf den Umfang der vernichteten Blätter.

Die Frage, ob man wohl so leben kann, dass man überall hingehen und alles sehen kann, ohne doch selbst von jemandem gesehen zu werden, beschäftigte mich von Kindesbeinen an.

So wurde aus mir das, was der Volksmund als »Spitzel« bezeichnet, und doch viel mehr, denn ein gewöhnlicher Spitzel – geleitet von Ressentiments und der Gier nach finanzieller Anerkennung – beobachtet im Schutz der Dunkelheit die Geschehnisse im Licht, blinzelt durch Schlüssellöcher, schleicht wie eine Ratte durch dunkle Gänge, während der wahre Beobachter hinschaut, ordnet und notiert. Er denkt nach, analysiert. Er zeichnet auf. Ich habe aufgezeichnet. Die Welt aufgezeichnet. Ich war ein Chronist. Der Chronist ist ein unsichtbarer Teil des Geschehens, aufrecht, reflektiert, kreativ. Der Chronist ist eine Gestalt im Licht, ein Aufklärer.

Basel, 21. April 1991

Anmerkung des Autors

Mich und den »Spitzel« verband während der bewegten 80er-Jahre eine Bekanntschaft, aus der unter anderen Umständen vermutlich eine Freundschaft entstanden wäre. Durch einen Zufall, der nichts anderes als »dumm« war, erfuhr ich von seiner Tätigkeit als verdeckter Fahnder in der linken Szene der deutschen Schweiz. In einem Reflex aus Rache, Enttäuschung und journalistischen Ambitionen wollte ich die Geschichte gross herausbringen und nahm Kontakt auf mit verschiedenen Zeitungen. Doch meine anfängliche Entschlossenheit wich einem zunehmenden Zögern. Entgegen meiner Absicht, mit dem »Spitzel« nie mehr ein Wort zu wechseln und ihn öffentlich blosszustellen, verabredete ich mich mit ihm. Ich legte meine Karten auf den Tisch und führte eine Art Verhör, das sich allmählich in ein Gespräch verwandelte. Träume ich davon, findet es am offenen Kaminfeuer statt. Ich versicherte ihm mein Stillschweigen, er versprach mir »späten Dank«.

Seit diesem denkwürdigen Abend, der vieles, was ich als fundamental und unverrückbar hielt, einer ebenso lästigen wie anhaltenden Relativität aussetzte, habe ich den »Spitzel« nie mehr gesehen.

Von seinem Unfalltod erfuhr ich aus der Zeitung und ein paar Wochen später lag ein Abholschein der Post in meinem Briefkasten: sein »später Dank« in Form des Tagebuchs zusammen mit der ausdrücklichen Erlaubnis und Bitte, das Tagebuch mitsamt seinen Anmerkungen in eine publizierfähige Form zu bringen und »unter deinem schönen Namen herauszubringen«.

Der Bitte bin ich nachgekommen. Es war ganz einfach.

Urs Zürcher

11.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bin in Basel angekommen.

Alles ist fremd.

Fühle mich gut.

Heute, vom Zugfenster aus gesehen, wirkten die Landschaften verwischt, verschleiert, als wäre jemand mit einem grobfaserigen Pinsel über noch feuchte Farben gefahren. Was normalerweise klar erscheint, lag wie hinter einer diffusen, milchigen Schicht verborgen. Im Abteil war es kalt. Wieder einmal waren bei den SBB die Heizungen ausgefallen.

Ich hauchte an die Scheibe, fingerte »kalt« aufs kalte Glas und betrachtete durch die Buchstaben die andere Seite des Zürichsees. Die Goldküste. Fritz Zorn und sein »Mars« liegen noch in meinem Gepäck, ich habe keine Lust auszupacken. Einzig die Schreibmaschine und Papier. Hoffentlich stört mein Getippe hier nicht!

In Thalwil stiegen drei Jugendliche in Jeansjacken und mit langen, fettigen Haaren ins Abteil, streckten die Beine und zündeten synchron eine Zigi an. »De Sid Vischus isch dod«, sagte einer. »Huereseich«, sagte ein anderer.

Von Zürich nach Basel klappte es zum Glück mit der Heizung wieder. Ich versuchte zu lesen, doch meine Augen glitten immer wieder über das Buch hinaus.

Höre Marschmusik aus der unteren Wohnung.

12.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Im Haus riecht es metallisch, ölig, kellerhaft. Ich erinnere mich, von diesem Geruch geträumt zu haben.

Ich wohne im obersten Stock. Meine Eltern waren nicht begeistert, als ich ihnen erzählte, ich würde nun auch in einer »WG« wohnen. Meine Mutter bezeichnet Wohngemeinschaften als »Kommunen«, wahrscheinlich deshalb, weil der Begriff auf direktestem Weg in Richtung Kommunismus weist, also auf das Schlimmste. Ausserdem vermutet meine Mutter, das Gemeinsame umfasse nicht nur die Wohnung, sondern auch die Körper, die darin leben.

Das Zettelchen an der Wohnungstür war so vergilbt, dass ich die Namen »Geiger/Lanz/Moesch« nicht erkennen konnte und mein Feuerzeug zu Hilfe nehmen musste. Die Klingel funktionierte nicht, also klopfte ich an die Tür. Niemand öffnete. Als ich gehen wollte, öffnete ein dünner Mann die Tür. Er war nur mit einem Slip bekleidet. Seine Haare waren so schwarz wie die Tiefen des Weltalls oder noch schwärzer. Sein Blick erreichte mich nicht, sondern verflüchtigte sich wie Rauch im Herbsthimmel.

Ich erklärte ihm, wer ich sei und warum ich hier bin, doch er schien mich nicht zu verstehen. Dann, noch bevor wir in der Küche waren und ich mein Gepäck endlich abstellen konnte, begann er von »ursprünglicher Akkumulation« zu reden (oder so ähnlich) und welche Haltung ich in dieser Frage einnähme, wobei er, ohne meine Antwort abzuwarten (was mich sehr erleichterte), seine These des »kontinuierlichen Prozesses der ursprünglichen Akkumulation« (oder so ähnlich) erläuterte. Dann, vielleicht bemerkte er meine tiefe Ratlosigkeit, wechselte er abrupt das Thema und erzählte von polnischen Traktoren, »Ursus sind polnische Traktoren«, sagte er, was niemand wisse hierzulande. Das stimmt.

Es war Hans-Jakob. Alle nennen ihn Hegel.

13.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Es gibt einiges zu berichten. Zunächst ein Wort zum Innenhof, etwas Neues für mich. Der Hof in der Hegnauer, wie hier alle sagen, ist schattig, rechteckig und erinnert mich an kleinformatige Fotos aus den 50er-Jahren, nur der gezackte Rand fehlt. In dieser trüben Ödnis stehen einige farblose Töpfe, worin sich ausgezehrte, wehrlose Pflanzen in die Welt hinein krümmen, wo nichts ist als Kälte und Schatten, Pflanzen, die all diesem Übel ein Leben abtrotzen, das mir dunkel und unergründlich vorkommt, und ich kann mir nicht vorstellen, wie aus diesen bräunlich grauen Kümmernissen jemals wieder prächtig blühende Geschöpfe werden können, die ihre Köpfchen jeden Morgen glücklich und unbeschwert der lieben Sonne entgegenstrecken.

Der Innenhof ist vollständig von Gebäuden umgeben. Das Haus meinem Zimmer gegenüber ist dreistöckig, wobei der dritte Stock aus einem erkerartigen, doppelfenstrigen Ausbau besteht, der von einem vermoosten Ziegeldach umrahmt wird. Zwischen dem zweiten und dritten Stock ist eine Fahnenstange schräg in die Backsteinmauer eingelassen, an der Stofffetzen von verwittertem Rot hängen. Das flache Gebäude, das den Innenhof links begrenzt, beherbergte wahrscheinlich einst ein Kleingewerbe, vielleicht eine Druckerei oder eine mechanische Werkstätte. Müdes Efeu umrankt die Fensterfront gegen den Innenhof. Rechts steht ein viergeschossiges, graues, modernes Wohnhaus, nicht älter als zehn Jahre. Mein Zimmer ist durchschnittlich gross und hat einen kleinen Balkon zum Innenhof.

Aus der Ferne ertönt eine Schiffssirene.

Fühle mich elend fremd.

14.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ich schlafe hier gut, obwohl es im Haus nie wirklich ruhig wird. Ständig hört man irgendwo eine WC-Spülung, plötzlich hervorbrechende Stimmen oder Marschmusik, die vom Nachbarn unter uns stammt. Im ersten Stock wohnt ein Italiener mit seiner Tochter, unter uns der Marschmusikmensch, ein Mann, vermute ich, ein Mann über 30.

Meine Mitbewohner scheinen sich nicht für mich zu interessieren. Hans-Jakob, also Hegel, sitzt fast den ganzen Tag am Küchentisch, oft nur mit einem Slip bekleidet, und liest Bücher. Man sagt, er studiere Philosophie. Gestern machte er eine Andeutung über das Verschwinden meines Vorgängers, schüttelte aber nur düster und stumm den Kopf, als ich mehr darüber erfahren wollte. Ich habe den Eindruck, mit Hegels Augen stimmt etwas nicht, es ist, als ob sein Blick nicht bis zu den Dingen reicht.

Mona, sie ist knapp 20, habe ich am Sonntag kurz gesehen, sie stand im Gang und telefonierte. Als sie mich sah, unterbrach sie das Gespräch, lächelte mich an und sagte: »Du bisch denoi.« Ich nickte. Mona ist das Gegenteil von Hegels düster-melancholischer Abgeschlossenheit. Ihr Körper reicht weit in den Raum hinein, gibt ihr eine Präsenz, die gar kein Ende nehmen will. Monas Augen und Haare sind so schokoladenbraun, wie ich es mir zuvor gar nicht vorstellen konnte. In ihrem Dialekt erkenne ich deutliche Ostschweizer Spuren. Von der vierten Person hier, einer Frau namens »Kati«, habe ich ausser ein paar geschlechtslosen Utensilien im Bad noch nichts gesehen.

Ansonsten musste ich einen unbedeutenden bürokratischen Gang zur Uni machen, bloss eine Kleinigkeit, damit die Immatrikulation vollständig ist. Das ist sie nun.

15.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gestern zum ersten Mal das Gefühl von Gemeinschaft (Kommune!). Mona, »Hegel« und ich tranken Wein am Küchentisch, wobei »Hegel« nur hin und wieder eine Bemerkung machte, über die Mona, so scheint es hier Gewohnheit zu sein, hinweghörte. Sie behandelte ihn wie ein Wort, das einem hin und wieder zuläuft wie eine streunende Katze.

16.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Noch etwas zum Geruch hier: Viel »Drum«. Hegel und Mona drehen ihre Zigaretten aus »Drum«. Hegel ist darin sehr geübt, er schafft eine Zigarette in kurzer Zeit mit nur einer Hand, Mona geht die Sache eher bedächtiger, ja sinnlicher an, sie dreht Zigaretten auf eine Weise, als würde sie ein Geschenk einpacken. Gestern beobachtete ich, wie sie, offenbar unzufrieden über ihr Werk, eine fertig gedrehte »Drum« mit ihrem Fingernagel aufschlitzte, den Tabak zurück in den Beutel wischte und mit grosser Akkuratesse erneut eine Zigarette drehte, die sie eine Weile sanft und scheinbar gedankenverloren zwischen ihren Fingern rollte, bevor sie sie anzündete.

Im Keller riecht es waschpulvrig, feucht, holzig. Der Basler Winter riecht rauchig, säurig, pelzig. Im Etagen-WC riecht es nach künstlichem Frühlingsduft, altem Linoleum und kalter Pisse. Der Hund von Frau Zabotta, die Italienerin im zweiten Stock, riecht krank und ranzig und stechend. Kati riecht nach Ananas. Bis heute, es ist immerhin Freitag, war Kati eine Leerstelle. Herumliegende Kleider, die Zahnbürste im Bad, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Sofa waren Zeichen ihres Daseins. Ihre Existenz liess sich nur indirekt nachweisen, wie ein schwarzes Loch im All. Heute Mittag lag sie dann auf einmal auf dem Sofa und las in dem Buch. Ich roch sie sofort.

17.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katis Duft, was sage ich, Katis Ausdünstung ist bemerkenswert. Ananas!

Hegel ist übers Wochenende verreist (wohin?), Mona scheint noch in ihrem Zimmer zu sein (oder ist sie auch weg?), nun gut, ich sitze alleine am Küchentisch, rauche meine Marocaine Super und fühle mich ganz gut hier. Von Basel habe ich bislang nicht viel gesehen (die Quästur der Uni, Migros und Coop in der Hegnauer, die Stadt von der Münsterplattform, Markt- und Barfüsserplatz), habe mir aber vorgenommen, nächste Woche die Stadt ein bisschen zu erkunden. Die Hegnauer liegt im Zentrum der Chemischen und manchmal riecht es seltsam, vor allem nachts. »Hegel« vermutet Gift, ich bin mir da nicht so sicher.

Doch ich wollte von Kati erzählen. Sie sah mich an, als wüsste sie alles über mich, keine Frage, kein Zögern, keine Verunsicherung in ihrem Blick, sondern nur ausdruckslose Offenheit. Sie legte das Buch auf die Seite, setzte sich auf und begann von der iranischen Revolution zu sprechen. Ich hörte zu und sagte nichts, was ihr wahrscheinlich nicht auffiel. Baktiar (schreibt man das so?) ist in ihren Augen die tragische Figur, ein Antiheld, sagte sie, ewig verspottet und verlacht, man müsste, so Kati, ein Stück über ihn schreiben. Kati ist schmal. Zierlich trifft die Sache nicht, denn in ihrer Schmalheit liegt etwas Hartes, Grobes oder, denken wir positiv, Ausdrucksstarkes, also gänzlich Unzierliches, Katis Schmalheit vereinigt das Paradox aus Sanftmut und Aggressivität.

Ein grossartiger Moment in der Weltgeschichte, sagte sie. Ein Despot weniger. Ich nickte, setzte mich neben sie, roch diesen grossartigen, absolut authentischen, absolut exotischen Ananasduft und sagte, es gebe ein Problem mit der Religion, worauf sie aufstand, ihren Duft hinter sich herziehend wie einen langen, luftigen, goldgelben Schleier, und vor dem Fenster zum Hof stehenblieb. Foucaux (schreibt man das so?), sagte sie nach einer Weile, Foucaux hätte im »Le Matin« die Sache unterstützt. Selbstverständlich fragte ich nicht, wer dieser Foucaux sei, ich gehe aber davon aus, dass er mit dem Foucault’schen Pendel (Maturastoff!) nichts zu tun hat.

Jetzt, es ist Samstagabend, sind alle weg. Nachdem Kati mir den Namen Foucaux ins Gehirn gerammt hatte, ging ich in die Küche, stellte die italienische Kaffeemaschine auf den Gasherd, beobachtete den seltsam atmenden Zinkkelch, spülte ein Joghurtglas und eine Kaffeetasse im Ausguss, spürte dabei die feinen Haarrisse der Glasur auf dem eierschalenfarbigen Steingut, bis das vertraute, das Ende des Kochvorgangs ankündigende Blubbern im Zinkkelch ertönte. Mit der Kaffeetasse in der Hand kam ich ins Zimmer zurück. Kati war verschwunden. Ihr Geruch hing als süsse Spur im Raum.

Es ist in der labilen Situation, die der persische Umsturz hinterlassen hat, nicht möglich, den Schaden abzuschätzen, der dem Westen daraus entstanden ist und weiter entstehen kann.

Schlimmstenfalls breitet sich das Chaos mit unabsehbar sinistren Möglichkeiten aus, versiegt eine Oelquelle, die bisher ein Zehntel der Weltversorgung geliefert hatte, und wird damit eine neue Energie- und Weltwirtschaftskrise ausgelöst, greift sowjetischer Einfluss bestimmend auf eine strategische Kernregion über und frisst sich der politische Brand weiter nach Arabien hinein, an die Ostflanke der Nato am Mittelmeer, nach Südasien und Afrika. Bestenfalls vermag Khomeini die Geister zu zähmen, die er gerufen hat, erweist sich Persien unter religiös-islamischer Herrschaft als regierbar, vermag es sich der sowjetischen Einflüsse einigermassen zu erwehren und mit den subversiv-revolutionären Bewegungen fertigzuwerden, in denen die lange Hand Moskaus täglich immer deutlicher zu erkennen ist.

Jedenfalls aber hat der Westen eine Riegelstellung verloren, die strategisch von unschätzbarer Bedeutung war und auf die er lange gebaut hatte, ist eine Zone der Unsicherheit entstanden, die sich leicht nach Westen, Süden, Osten ausdehnen kann und die machtpolitische Manöver anziehen muss, wird die Lösung des arabisch-israelischen Konfliktes schwieriger, wird persisches Oel dünner fliessen, mit allen Folgen, die das für die wirtschaftliche und monetäre Verfassung vieler Länder haben wird – auch wenn man es dort, wo man in den Wahnvorstellungen einer Antiatomkampagne befangen ist, noch nicht sehen will.

(In der »NZZ« von heute gelesen und hiermit festgehalten. Meine Fingerbeeren schmerzen. Erschöpft.)

Die abgetippten Beiträge aus der »Neuen Zürcher Zeitung« (NZZ) stammen allesamt von der Frontseite. U. hat während seiner Basler Zeit die NZZ regelmässig am Kiosk des Barfüsserplatzes gekauft, später auch an anderen Kiosken der Stadt.

Wie in einem der letzten Einträge des Tagebuchs am 3. Juli 1989 notiert, hat U. nebst den abgetippten NZZ-Artikeln eine Vielzahl von Zeitungsartikeln gesammelt, kommentiert und paraphrasiert. Sämtliche dieser Artikel hat er anfangs Juli 1989 vernichtet.

18.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heute Nachmittag am Rhein mit Hegel, der mittags derart aufgewühlt und ausser sich in der Hegnauer eintraf, als sei er irgendwo verjagt worden. Er fragte mich (befahl mir?), ob ich mit ihm spazieren käme.

Hegel studiert seit drei Jahren »Philo« und wohnt so lange schon in der Hegnauer. Kati hätte bereits einige Zeit vorher dort gewohnt, Mona sei vor einem Jahr eingezogen. Mein Vorgänger, Hegel nannte keinen Namen, sei plötzlich ausgezogen, niemand wisse wieso. Er vermute, dass irgendwas mit Kati gelaufen sei. Man wisse auch nicht, wo mein Vorgänger jetzt sei. Kati sei »streng maoistisch«, Mona verstehe nichts von Politik, Kati hätte nicht verstanden, dass die »Philo« weit über der Politik stehe, immer wieder hätten sie deshalb Auseinandersetzungen. Hegel stammt aus einer aargauischen Handwerkerfamilie, sein Vater hat ein Tapezierergeschäft, seine Mutter »macht’s Büro«. »Dunkles, reaktionäres Aargau«, sagte Hegel.

Von mir wollte er nichts wissen.

Die Chinesen besetzen den Norden Vietnams. Beginn eines grösseren Krieges. Hegel machte undurchsichtige Andeutungen.

Atominitiative sehr knapp abgelehnt, auch Werbeverbot für Zigi.

Habe Thermometer gekauft.

19.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eine neue Woche. Der Machtwechsel im Iran dominiert alles. Habe in einer Parallelstrasse zur Hegnauer ein angenehmes »Lädeli« entdeckt, wo ich heute Morgen Brot, Honig und eine Zeitung gekauft habe. Hegel sass den ganzen Morgen am Küchentisch und las, vor etwa einer halben Stunde ging er aus dem Haus. Kati und Mona arbeiten.

Ich bin mir nicht sicher, wie gross die Distanz zwischen Kati und Hegel ist. Gestern auf unserem langen Spaziergang ist mir aber das erste Mal klar geworden, dass Hegel nicht viel von Kati hält, ob dies umgekehrt auch so ist, weiss ich nicht, noch nicht. Kati wollte gestern meine Meinung zur iranischen Sache wissen, die »Revolution«, wie Kati stets betont. Ich hielt mich zurück, zum einen ist es sicher nicht schade um den Schah, zum anderen macht mir das Religiöse dieser Bewegung ein wenig Sorgen. Kati spricht nicht von Religion, sondern von »spirituellen Gedanken«, die angesichts der Ausbeutungsverhältnisse nebensächlich seien. Mona telefonierte im Gang, Hegel war in seinem Zimmer, Kati und ich sassen am Küchentisch, tranken ein Glas Wein. Sie hatte ein Bein auf unsere Sitzbank gelegt, den Oberkörper zurückgelehnt, den Kopf auf die Hand abgestützt, so dass ihre Haare den Tisch berührten, sich hin und wieder bewegten, als würde ein Zwergenwind in sie hineinfahren. Es mag ja sein, dass sie und Hegel einander nicht besonders nahestehen, äusserlich betrachtet könnten sie jedoch Geschwister sein, dieselbe asketische Entschlossenheit, derselbe wie von unzähligen Marathonläufen ausgemergelte Körper, dasselbe schwarze Haar, wenn auch Hegel seine Haare kurz trägt. Vielleicht ist es diese äussere Ähnlichkeit, welche die beiden voneinander trennt.

Lästiger Hochnebel seit einiger Zeit, null Grad.

20.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das Mönchische bei Hegel bildet tatsächlich so etwas wie ein charakterlichgeistiges Grundgerüst. Es macht ihn aus. Dies erklärt auch seine »Innerlichkeit« (ich finde kein besseres Wort), seinen Hang zur spirituellen Überhöhung, sein melancholisches Wesen, das einem orthodoxen russischen Mönch doch ziemlich nahekommt, jedenfalls stelle ich mir einen orthodoxen russischen Mönch wie Hegel vor. Kati bildet so betrachtet lediglich die andere Seite. Sie ragt in die Welt hinaus, er hinein. Nun gut, vielleicht mache ich es mir zu einfach, schliesslich bin ich erst eine gute Woche hier in der Hegnauer. Doch ich werde diese beiden weiterhin gut beobachten.

Noch immer Hochnebel.

Nachtrag. Bin sehr müde, trotzdem diese kleine Geschichte: Hegel sprach wieder von den Ursus-Werken, polnische Traktoren. Die Marke sei in den sozialistischen Staaten sehr erfolgreich. Ist das wahr oder eine von Hegels bitteren Ironien?

22.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hegel erzählt stundenlang von den Künzli-Vorlesungen. Kein Wunder, dass er ausgegrenzt werde, sagte er, ein Mann wie Künzli würde dem reaktionären Basler Saupack nicht in den Kram passen. Künzli sei der Anti-Bünzli. (Obwohl, unter uns gesagt, es sich wunderbar reimt, Künzli-Bünzli.)

Gestern einiges eingekauft in der Stadt, Zigi und Zeitung im »Lädeli« hier. Im sogenannten Zentrum, das mir einen etwas provinziellen Eindruck macht, treffe ich alle paar Meter auf »Blaggedde«-Verkäufer, die wie abgestochenes Vieh durch die Gassen brüllen. Was für ein Brauchtum! Was für eine Tradition! Nun, Mona scheint Teil dieser »Gepflogenheit« zu sein: Sie geht in letzter Zeit täglich zu ihrer »Clique«, wie das hier heisst, und übt »Piccolo«, wie das hier heisst.

Heute, als ich in der Hegnauer mit meinem neuen Occasions-Velo eintraf, das ich für Fr. 70.– gekauft habe, machte ich Bekanntschaft mit unserem Abwart, Hr. Casartelli, der im ersten Stock wohnt. Missmutig und misstrauisch schaute er mir zu, wie ich das Velo durch den Hauseingang schob, den Flur entlang, um andere Velos und Altpapier herumsteuernd, und im Innenhof parkierte. Ich erwartete eine Zurechtweisung, einen Kommentar, doch Casartelli sagte nichts, schweigend schaute er mir zu. Als ich an ihm vorbeiging, zuckte einer seiner Mundwinkel.

Kati heisst übrigens Katharina Maria Lanz, wie ich von Hegel erfahren habe, und weil Hegel mit Nachnamen Geiger heisst, bleibt der Name Moesch für Mona. Allerdings werden die Leute hier stets mit ihrem Kürzel angesprochen, die korrekten Vor- und Nachnamen scheinen irgendwie tabu zu sein, vielleicht weil sie auf Familien und Traditionen verweisen, von denen lieber nicht geredet wird.

Kati wohnt seit der Primarschule in Basel, Mona ist in Gossau aufgewachsen und ist wegen der Lehre nach Basel gezogen.

Wetter grau in grau.

Katherina (und nicht Katharina, wie U. irrtümlich notiert) Maria Lanz (*15.1.1959), Martin Bauer (*7.2.1957) und (etwas später) Hans-Jakob Geiger (*5.9.1958) haben die Wohngemeinschaft an der Hegnauerstrasse 45 in Basel im Februar 1977 gegründet. Lanz und Bauer sind Mitglieder der POBL und figurieren auf der Liste von Personen, die regelmässig an (auch unbew.) Demonstrationen teilnahmen. Lanz ist Kontaktperson der Jungsozialisten. Bauer ist Hauptaktivist im »Modell Zivildienst 76« und »Ohne Rüstung leben«, er verliess die WG im Juli 1978 unter nicht geklärten Umständen. Vermutlich waren politische Gründe ausschlaggebend. Bauer hat sich im Dezember 1978 Richtung W-Deutschland abgemeldet.

Geiger besucht hin und wieder Bars, die von Homosexuellen frequentiert werden. (z. B. »Elle + Lui«). Die Wohngemeinschaft steht seit ihrer Gründung unter besonderer Beobachtung.

23.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kati ist von der Richtigkeit der chinesischen Invasion überzeugt, Hegel nicht. Die beiden haben gestern Abend heftig über diese Sache gestritten.

Kati zählt sich zu den »Maoisten«, was für Hegel ein Schimpfwort ist, Hegel sympathisiert offensichtlich mit der »4. Internationalen« (??). Mona war bei ihrer »Clique«.

Übrigens treffen hier in der Region immer wieder Flüchtlinge aus Vietnam ein.

25.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Endlich Sonne.

Übers Wochenende war einiges los, am Freitagabend hatten wir (Kati, Hegel, ich) Besuch von zwei Studenten aus einer »befreundeten WG«. Der eine, ein Mensch von deutlich mehr als zwei Zentnern und »Cello« genannt, trank fast unsere gesamten Vorräte weg und sprach ununterbrochen von irgendwelchen »Actions«, was Hegel ärgerte, während Kati ihn unterstützte. Der andere, seinen Namen kenne ich nicht, sagte den ganzen Abend kaum ein Wort. Ein Bündner, möglicherweise deshalb. Ich hielt mich ebenfalls sehr zurück, in der Gewaltfrage bin ich sehr unentschieden. Der Dicke war rhetorisch erstaunlich elegant. Nachdem nur noch Warteck-Bier übrig war, was der Dicke strikt ablehnte, gingen wir in die Rheinfelder-WG, wo es noch einige Flaschen Wein gab. Weil in dieser Wohnung eine Nichtraucherin lebte, die wir allerdings nie sahen, wurde ständig gelüftet, was die Temperatur in der Küche gegen den Nullpunkt trieb. Den Dicken schien dies nicht zu kümmern, er stand rauchend am Fenster, erklärte mit runder, rauchiger Stimme die Welt und trank den Wein, als wäre es Wasser. Kati hielt kräftig mit, während Hegel an einem Bier nippte. Im Profil wirkt Kati slawisch. Schmales Gesicht, grosse und tiefe Augen, hohe Backenknochen, dunkle Haare und sehr bestimmte Lippen. Geheimnisvoll. Tief. Nun, Kati und der Dicke, der ein paar Jahre älter ist als ich, gebärdeten sich wie ein Paar. Wahrscheinlich ist der Dicke auch Maoist.

Gerade jetzt höre ich Kati mit Mona sprechen. Es sind harmonische Töne, die in mein Zimmer gelangen, verstehen kann ich nichts.

Um die Sache abzuschliessen: Als es in der Rheinfelder zu kalt wurde, gingen wir in eine Bar im Keller des Nachbarhauses. Der Dicke (schwul?) sprach kein Wort mehr, was angesichts der lauten Musik sowieso sinnlos gewesen wäre, sondern vollführte eine Art Indianertanz, indem er seinen von fettig-nassen Haarsträhnen gesäumten Kopf im blitzschnellen Takt der Musik hin und her warf, als wollte er ihn loswerden.

Übrigens: Gestern in einer Zeitung gelesen, die unten auf den Briefkästen lag: »Von Marx zu Mohammed.« Sind neue Feinde im Anmarsch?

Die Titelzeile stammt aus der »Basellandschaftlichen Zeitung«. Diese Stelle ist der einzige Beleg im ganzen Tagebuch, der auf die Lektüre dieser Zeitung hinweist. U. hat nebst der »NZZ« manchmal die »BaZ«, die »AZ« und später hin und wieder auch die linksextreme »WoZ« gelesen.

Bei der »befreundeten WG« handelt es sich um die Kommune an der Rheinfelderstrasse 88, sie stand bis zur ihrer Auflösung im Juni 1983 unter spezieller Beobachtung.

27.2.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Ereignisse vom Wochenende waren anschliessend überhaupt kein Thema mehr. Weder am Sonntag noch gestern wurde darüber gesprochen, Hegel schläft wie immer bis am Mittag, liest dann Zeitung, später Bücher, Mona muss früh raus, Kati beginnt meistens um 9 Uhr (in einem Copy-Quick).

Am Sonntag ein etwas zähes Telefonat mit meiner Mutter, sie sorgt sich um meine Ernährung, meint aber wohl meinen Umgang. Nun, was soll man dazu sagen? Ich bin froh, habe ich keinen »Umgang« mehr mit meiner sogenannten Heimat.

Doch was ich sagen wollte: Die Küche ist hier (in meinem neuen Umgang) der Hauptort. Eingeschrumpft (auf das Wesentliche reduziert) bliebe von unserer Wohnung zweifellos die Küche übrig. Hier laufen die Fäden zusammen, hier beginnen und enden die Tage, hier ist der Probe- und Ankleideraum für unzählige Auftritte, hier ist das Epizentrum. Hin und wieder, wenn ich allein am Tisch sitze, der mit einem gewachsten, orange-braun gemusterten, mit Hegels Tintenklecksen übersäten Tuch bedeckt ist, betrachte ich die Küche und ihre Organe. Der vermutlich aus den 30er-Jahren stammende, mehrfach Brockenhaus-erprobte und ebenso mehrfach überpinselte, zuletzt grasgrün lackierte, hölzerne Geschirrschrank ist aus einem Ober- und Unterschrank zusammengesetzt, auf dessen drei verglasten Ablagefächern unsere ziemlich kümmerliche, aber immerhin ziemlich bunte Geschirrsammlung platziert ist. In diesem Geschirrschrank, der bereits ein paar soziale Schichtungen, wie wir heutzutage sagen, durchlebt hat, lagern auch ein paar Lebensmittel, die wir für unentbehrlich halten, aber selten gebrauchen. Es sind, wie Hegel einmal sagte, Lebensnotmittel. Neben dem Geschirrschrank, ungefähr auf Augenhöhe, hängt, an zwei wackeligen Nägeln befestigt, ein zweistufiges Gewürzregal aus gelbem Gitter. Auf dem Fensterbrett WG-Nippes, Kleinigkeiten, Aufruhr-Devotionalien, die, je länger sie dort unberührt vor sich hinstauben, an Bedeutung gewinnen. Solche Momente der stillen Küchen-Kontemplation sind mir sehr lieb, für einmal kein Scheppern und Reden, kein Rascheln und Meinen, keine lässigen Geschäftigkeiten, auch kein regelmässig atmendes Neben-mir-Sitzen, nur leise die zumeist unbestimmbaren, wie abgedunkelten Stadtgeräusche, hin und wieder eine WC-Spülung und manchmal sogar Ruhe beim Blasmusiknachbarn (dessen Name ich noch immer nicht kenne).

Wieder grau draussen, tagsüber vier Grad.

1.3.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Schönes Wetter, Hegel wollte gestern mit mir spazieren gehen, doch ich täuschte Unwohlsein vor. Der letzte Spaziergang war nicht gerade erbauend, irgendwie klappt es nicht so richtig mit uns beiden. Er spricht zwar dauernd, aber ich habe den Eindruck, dass es ihm egal ist mit wem. Stattdessen machte ich einen Spaziergang zum Bahnhof, dann durch die Unterführung ins sogenannte Gundeli, das mir einen zwiespältigen Eindruck macht.

Abends Kati (in einem bunten T-Shirt bis zu den Knien und schwarze Leggins), die mir von Casartelli erzählte, unserem Abwart. Er sei als junger Mann aus Italien in die Schweiz gekommen, arbeitete zuerst auf dem Bau, dann bei der SBB, wo er eine Portugiesin kennengelernt und bald darauf geheiratet hatte. Kurz nach der Geburt der Tochter hätte das Drama der Traurigkeit seinen Lauf genommen, so Kati. Casartellis Frau, nie soll er ihren Namen erwähnt haben, fiel nach der Entbindung in eine Depression, aus der sie nie wieder herausfand. Eines Tages fand Casartelli seine Frau erhängt im Keller. Den Ort kenne niemand. Wir können deshalb die Stelle nicht meiden, sagte Kati. Casartelli hätte noch am selben Tag begonnen, den Keller neu zu streichen. Sandra, seine Tochter, habe ihre Mutter zu keinem Zeitpunkt gesund erlebt. Da hätte Casartelli der wirklichen, kranken Mutter eine zweite an die Seite gestellt, eine erzählte. Die Mutter sei geteilt worden in eine reale und eine fiktionale, bis die fiktionale schliesslich über der realen stand, die Realität nur noch ein Schatten der Fiktionalität war, sagte Kati. Dies hätte Casartelli stets gewollt: Die Wiederherstellung der gesunden Mutter in Form der Erzählung. Schliesslich hätte die kleine Sandra den Worten ihres Vaters mehr vertraut als ihren Augen. War die Mutter wieder mal in der Klinik, hätte sie der Vater kraft seiner Worte zuhause kochen lassen. Lag die Mutter nach einem ihrer zahlreichen Schreianfälle zitternd, völlig entkräftet und schweissgebadet auf dem Boden, liessen Vaters Worte sie anmutig, liebevoll und stark erscheinen, so dass die kleine Sandra staunte und stolz war, eine solch wunderbare Mutter zu haben, sagte Kati. Später, ungefähr zur Zeit, als Sandra den Kindergarten besuchte, wurden die Klinikaufenthalte länger. Casartelli erzählte der Kleinen von Spezialaufträgen, welche die Mutter auf längere Reisen ins Ausland führte, erzählte von wundersamen Abenteuern und Begegnungen mit berühmten Menschen, erzählte von gefährlichen Missionen. Aus dieser Zeit stammten auch die ersten Postkarten. Die kleine Sandra lernte schnell, konnte bereits in der ersten Klasse die Postkarten ihrer Mutter lesen, bald auch längere Briefe. Casartelli passte die Texte Sandras Entwicklung an, die Briefe wurden immer ausführlicher, die Sprache immer vielschichtiger, die Worte immer länger. Kein anderes Kind in ihrem Alter war so vertraut mit der Sprache wie Sandra. Ihre Lehrer staunten, zumal sie von der schwierigen familiären Situation wussten. Inzwischen war die Mutter nur noch selten in der Hegnauer, hin und wieder konnte sie an einem Wochenende die Klinik verlassen. Casartelli versuchte, Begegnungen zwischen Mutter und Tochter zu vermeiden. Doch ganz vermeiden liessen sie sich natürlich nicht, sagte Kati, was bei ihm stets grösste Anspannung hervorrief, war er sich doch im Klaren, dass die Macht seiner Erzählungen an ein Ende gekommen war. Was er zu diesem Zeitpunkt indes nicht kannte, war die Vorstellungskraft seiner Tochter. Diese hatte nahtlos an die Erzählungen ihres Vaters, die tatsächlich jede Wirkung verloren hatten, angeschlossen, die Fäden aufgenommen und weitergesponnen. Erschöpft legte Casartelli den Stift zur Seite. Er hatte sein Werk getan. Es war Sandra, die am Text weiterschrieb. Am Text gesunde Mutter, sagte Kati. Als die Mutter starb, starb sie doppelt. Die Literatur konnte nicht mehr weiterhelfen.

Heute Morgen habe ich Sandra im Treppenhaus gesehen. Sie lebt noch immer bei ihrem Vater. Schreibt Gedichte, ist aber die meiste Zeit in der Klinik.

Über die Familie Casartelli ist nichts bekannt. Eine Nachfrage bei meinen italienischen Kollegen ergab lediglich, dass Casartelli Giuseppe (*1935) im Jahr 1956 an einem Maurerstreik in der Nähe von Bologna teilgenommen hat.

2.3.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Habe letzte Nacht von Sandra geträumt. Sie schwebte auf einem schwarzen Esel durch unser Treppenhaus, das gegen oben offen war. Als sie mich sah, begann sie zu weinen. Sonst kann ich mich leider an nichts erinnern.

Dieses Wochenende soll wieder einiges »abgehen«, wie man hier zu sagen pflegt, heute Abend soll ein Konzert stattfinden (wo?), morgen irgendwas Politisches, dann eine »Morgestraich-Party« (???). Nun, ich lasse die Dinge an mich herankommen, noch geniesse ich den Bonus des Neuen, um es positiv zu sagen, dreht man die Sache um, bin ich hier das »Landei«, ein »agrarischer Kümmerling«, wie Hegel einmal sagte. Ja, hin und wieder vernehme ich lässigen Spott, Hegel bringt die Sache wenigstens mit einer gewissen Eleganz, während Kati auch in diesem Punkt jeglichen Humor vermissen lässt und die Land-Stadt-Frage mit heiligem Eifer angeht, als müsste sie dieser Achse entlang die Welt erklären und – noch schlimmer – verbessern. Wenn ich sie richtig verstanden habe, verkörpere ich, oder vielmehr meine Herkunft, einen Grundwiderspruch, den sie mit Kollektivierung und Industrialisierung lösen will, was auf Hegels Gesicht einen Hauch von Lächeln hervorrief, während Kati auf die Schweizer Bauern eindrosch (»reaktionäres Saupack«, »Handlanger der Bourgeoisie«), wie ich es so noch nie gehört habe. Diese Vehemenz ist mir schleierhaft, denn Basel ist ja gänzlich landwirtschaftslos, kein Misthaufen weit und breit, kein Stall, keine SVP. Da fallen mir die Ursus-Werke ein, von denen Hegel gesprochen hat. Ich muss ihn unbedingt darauf ansprechen.

Heute eine Jeansjacke gekauft. Auf geht’s!

6.3.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Es gibt viel zu berichten:

Grosser Streit zwischen Hegel und Kati. Es war am Freitagabend, das Konzert fand aus mir unbekannten Gründen nicht statt, so dass wir (ich, Kati, Hegel, der Dicke aus der Rheinfelder-WG, Lilli (eine etwas ältere »Rockerin«), Jörg (ein klein gewachsener »Künstler« mit einer ekelhaften Stimme) durch die Beizen zogen und einiges tranken. Spät, einiges nach der Polizeistunde, brach zwischen Kati und Hegel plötzlich ein heftiger Streit aus. Ich kann an dieser Stelle nicht weiter auf die Details eingehen, dass es um Politik ging, muss ich nicht weiter betonen, auf jeden Fall drehte sich die Sache, wenn ich das richtig verstanden habe, um die Vorherrschaft der Politik vor der Kunst, Hegemonie nannte es Kati, Unterdrückung nannte es Hegel. Die anderen waren ziemlich amüsiert, ich gab mir alle Mühe, meine Bestürzung über die Heftigkeit der Auseinandersetzung nicht zu zeigen. Als Kati aufstand, den Aschenbecher wie ein Brösmeli vom Tisch wischte und Hegel als »protofaschistisches Arschloch« beschimpfte, war es auch den anderen nicht mehr so wohl. Der Wirt warf uns hinaus.

Ich erwachte um ca. 15 Uhr, niemand war zu Hause. Erst gegen Abend, ich war den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer und versuchte zu lesen, kam Kati nach Hause. Sie ging, ohne ein Wort zu sagen, in ihr Zimmer. Etwas später kam Mona. Hegel sah ich erst wieder heute Morgen. Dies war der Freitagabend.

Am Samstagabend sassen wir (ich, Kati, der Dicke = Cello, Jörg) in unserer Küche, tranken zunächst ganz artig Tee, bevor der Dicke aus einer Denner-Tüte ein paar Flaschen Kalterer See hervornahm. Dann ging die Sache natürlich wieder los, bloss dass dieses Mal die Opposition gänzlich fehlte. Kati, wohl noch ein wenig aufgeheizt vom Abend zuvor, kam schnell auf die »iranische Revolution« zu sprechen, das postimperialistische Zeitalter, die Notwendigkeit, die Befreiungsbewegungen zu unterstützen, wenn nötig auch mit Gewalt. »Antiimperialistische Front«, sagte Jörg und der Dicke ergänzte: »RAF«. Das Lösungswort war gesprochen. Ich konnte dem nicht viel entgegenhalten, schliesslich war ich in den Grundsätzen mit ihnen einverstanden. Und dass Napalm die weitaus grössere Gewalt ist als ein paar Stadtguerilla-Aktionen, kann wohl niemand bestreiten. Nun, es war ein ganz angenehmer Abend, der Dicke entpuppte sich als leidenschaftlicher Uhrmacher (wer hätte das gedacht) und ausserdem als Skitourenfahrer der harten Sorte (was noch erstaunlicher ist). Ungefähr um 23 Uhr bemerkte ich eine Veränderung der Stimmung. Kati ging auf einmal nach draussen, die anderen sassen am Tisch, ohne ein Wort zu sagen, nippten nur hin und wieder an ihren Gläsern. Dann kam Kati mit zwei riesigen Tüten (Coop?) zurück. Darin befanden sich Plakate und Kleister. Das war also die »Action«, von der mit vielsagender Miene die Rede war. Eine Aktion gegen die »Augenverwischende Kultur der Fasnacht«, oder so ähnlich.

Ich klebte zwar einige Plakate (zusammen mit dem Dicken), war aber zu beschäftigt, den Inhalt in voller Länge zu lesen. Ich kann an dieser Stelle sagen, dass ich doch ziemlich nervös war. Der Dicke lotste mich an die von ihnen offenbar im Voraus ausgespähten Orte, wo wir uns schnell vergewisserten, dass niemand in der Nähe war, worauf ich dem Dicken das Kübelchen mit dem Kleister hinhielt, er den Pinsel hineinsteckte, ich das Plakat an die von ihm bezeichnete Stelle hielt und er mit dem Pinsel das Plakat bestrich. Wir klebten an Baustellenwänden, Plakatsäulen und -wänden, Elektrokästen, an Wände von Tramhäuschen und auch ganz normalen Häusern. Einmal tauchte ein Taxi auf, der Dicke flüsterte aufgeregt »runter«, worauf ich mich neben ein Gebüsch legte und dachte, mein Herz platze. Zum Glück fuhr das Taxi vorbei. Niemand kam. Taxis würden die »Schmier« unterstützen, sagte der Dicke, da gebe es Abkommen, die eine Hand wäscht eben die andere. Ungefähr um halb drei waren die Plakate geklebt und wir alle wieder heil zu Hause.

So seltsam und neu diese Plakatkleberei war, so seltsam und neu war für mich der »Morgestraich« (was für ein idiotischer Begriff!). Es scheint Tradition in dieser Stadt, vor dem »Morgestraich« ausgiebig zu saufen und dann bereits besoffen an dieser militärischen Formationsübung teilzunehmen. Wahrscheinlich weil ohne ein gewisses Quantum an Alk dieser Schwachsinn nicht auszuhalten ist. Auf einmal, buchstäblich aus dem Nichts, verwandelt sich diese Stadt in eine Garnison, die sich mitten in der Nacht aufmacht, Klein- und Kleinstformationen zu beobachten, die mit Trommeln und Pfeifen und einem heiligen Ernst ausrücken, als gelte es, den grossen sowjetischen Feind auf der Stelle zu erledigen. In diesem Moment war ich zum ersten Mal froh, die Plakate geklebt zu haben.

Ausserdem: ständig bedeckt, der Märzenanfang war kein Versprechen.

Es gäbe noch viel mehr zu berichten, doch ich bin zu müde, vielleicht morgen mehr.

Illegal geklebte Plakate waren eine beliebte Aktionsform der linken Szene Basels. Mitunter sind Meldungen von Taxifahrern an die Basler Polizei gegangen, die dann die Täter manchmal auf frischer Tat ertappen konnte.

8.3.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zum ersten Mal (seit ich in Basel bin) schreibe ich vormittags.

Gestern erneut von Sandra geträumt. Ich glaube, wir waren irgendwo im Süden (Tessin? Italien? Afrika?) und gingen über einen Boden, der bei jedem Schritt unangenehm tönte (Fasnacht?). Schliesslich kamen wir zu einer Art Höhle, wo ich schnell verschwand und mich sehr glücklich fühlte. Ich durchschwamm einen warmen Fluss, erreichte das andere Ufer, wo Sandra auf mich wartete.

Bewölkt, 8 Grad.

12.3.1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .