FRANCINE PROSE
DIE
LIEBENDEN
IM
CHAMÄLEON CLUB
Roman
Aus dem Englischen
von Susanne Aeckerle
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Lovers at the Chameleon Club, Paris 1932« im Verlag HarperCollins, New York.
Das vorangestellte Motto wird zitiert aus:
Vladimir Nabokov, »Gute Leser und gute Autoren«, Westeuropäische Vorlesungen, aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf, Rowohlt Verlag 2014.
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1. Auflage
Copyright © 2014 by Francine Prose
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-14814-0
V001
www.cbertelsmann.de
Für Howie
Zwischen dem Wolf im hohen Gras und dem Wolf im Lügenmärchen gibt es ein schimmerndes Bindeglied.
VLADIMIR NABOKOV
TEIL EINS
Paris
14. Mai 1924
Liebe Eltern,
gestern Abend besuchte ich einen Club in Montparnasse, in dem Männer sich wie Frauen kleiden und Frauen wie Männer. Papa hätte es sehr gefallen. Und Mamas Gesicht hätte sich zu diesem besonderen Lächeln verzogen, mit dem sie auf Papas Leidenschaft für alles Französische reagiert.
Das Etablissement nennt sich Chamäleon Club. Man muss von der Straße ein paar Stufen hinabsteigen, und man braucht ein Kennwort. Es lautet: Aufmachen, Polizei! Die Gäste finden das amüsant.
Eine Bar, eine Bühne, eine Tanzfläche, lederbezogene Bänke mit kleinen Tischen davor. Ein typischer Pariser Nachtclub, bis auf die Klientel. Aber das Überraschendste daran: Die Besitzerin ist Ungarin. Sie nennt sich Yvonne. Sie ist groß und blond, trägt Rot und hat eine Schwäche für Matrosen. Sie singt mit einer dieser rauchigen Stimmen, für die Papa schwärmt, verhalten und tränenerstickt. Als sie sang, hörte ich Papas Phonographen leise und gedämpft aus seinem Arbeitszimmer.
Yvonnes Lied handelte von einer Frau, deren Geliebter, ein Matrose, auf See ertrunken ist. Nie habe ich ein traurigeres Lied gehört, nicht mal von den Zigeunern. Yvonne sang mit geschlossenen Augen und fuhr sich dabei mit einer Hand durchs Haar. In der anderen, an die Stirn gedrückten Hand hielt sie eine unangezündete Zigarette.
Nie werde ich ihn wiedersehen, sang sie. Nie. Nie wieder. Vom verstimmten Klavier ertönte ein schwermütiges Arpeggio, während das Tenorsaxophon ihre Stimme umkreiste. Die anderen Musikerinnen senkten ihre Instrumente, lehnten sich zurück und sahen Yvonne zu. Es ist vorbei, sang sie. Alles vorbei.
Mir fuhr ein Frösteln in die Glieder, obwohl es im Club verraucht und heiß war. Ich tastete nach meiner Kamera, wie ich als Junge nach Euren Händen suchte, um mich daran festzuhalten. Aber ich hatte sie in meinem Hotelzimmer gelassen. Ich hoffte, ein wenig Anschluss zu finden, bevor ich darum bat, Fotos von Bankiers und Diplomaten machen zu dürfen, deren Frauen womöglich nichts davon wussten, dass ihre Gatten in Stöckelschuhen und Kleidern zum Tanzen gingen.
Selbst nach einem Jahr in Paris war es etwas gewöhnungsbedürftig. Am schwersten fiel mir, nicht zu starren. Oder wurde das Starren von mir erwartet? Diese Paradiesvögel zu fotografieren, wird eine Herausforderung sein, meint Ihr nicht?
Lediglich mit einem Lächeln – oder sagen wir, einem Lächeln in den Augen – versuchte ich, meine Bewunderung für die Eleganz der Frauen im Smoking kundzutun, die Frauen in Abendkleidern begleiteten. Als scherten sich diese prächtigen Pfauen auch nur einen Deut darum, was ein mittelloser ungarischer Künstler von ihrer Garderobe hielt! Selbst Papa gibt zu, dass die Franzosen schon immer gemischte Gefühle für jeden hegten, der nicht seit der Zeit der Neandertaler in Frankreich gelebt hat, wenngleich sie hier in Montparnasse alles Exotische mögen.
Als Yvonne die zweite Strophe beendete, hatten sich alle in sie verliebt. Ich ließ meiner Rührung freien Lauf und weinte wie alle anderen. Das Meer wusste, wo ihr Matrose war. Wir haben ihn gesehen, sagten die Wellen. Er schläft jetzt bei uns. Du wirst seine Lippen nie wieder küssen, seinen Körper nie wieder an deinem spüren.
Yvonne löste sich aus ihrem Lied, in das sie ganz versunken war, richtete sich auf und breitete die Arme aus. Das Publikum explodierte. Sie zündete die Zigarette an, stieß eine lange Rauchwolke aus und hieß die Menge in ihrem Zuhause willkommen, das sie als das ihre betrachten sollten, einen Ort, an dem sie so frei sein konnten, die Hosen runterzulassen, die Beine auszustrecken und sich zu amüsieren. Sie sagte auch noch anderes in dieser Manier und machte dazu ein paar Witze, die Mama in Verlegenheit gebracht hätten, wohingegen Papa den französischen Humor goutiert hätte.
Ich spürte, dass Yvonne uns dafür auslachte, so traurig zu sein, obgleich sie es war, die uns mit ihrem Lied über den Matrosen in diese Stimmung versetzt hatte. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Stammgästen. Ich merkte, dass sie wussten, was nun kam.
Die berühmte Mädchenkapelle des Chamäleon stimmte eine Jazzfanfare an, und ein Dutzend Männer und Frauen in knappen Matrosenanzügen trippelte auf die Bühne. Welch bizarre Verrenkungen sie machten, Saltos und Rückbeugen, bis ihre Gesichter zwischen den Knien hervorschauten. Sie wanden sich über- und untereinander wie Schlangenmenschen, unterbrochen von flottem Salutieren und Parademärschen. Eine Riesin in der Uniform eines Marineoffiziers hob eine winzige, in einen orangefarbenen Kimono gekleidete Asiatin hoch, die wie Buddha in den gewölbten Händen der Riesin saß und eine munter plätschernde Melodie über erste Liebe und Kirschblüten sang.
Als die Revue zu Ende war, mischten sich die Tänzer unter uns und ließen ihre Matrosenmützen herumgehen. Tausendmal dachte ich an die Opfer, die Ihr für mich bringt. Aber habt Ihr mich nicht in der Überzeugung erzogen, jeder solle für seine Arbeit bezahlt werden? Ich warf ein paar Münzen in die Mütze einer Matrosin, die mir ein anzügliches Lächeln schenkte. Als sie sich umdrehte und mir über die Schulter zuzwinkerte, fragte ich mich, ob die Matrosin nicht vielleicht ein Matrose war.
Die Kapelle spielte Swingmelodien. Einige Paare begannen zu tanzen. Männer mit Männern, Frauen mit Frauen mit Monokel und Schnurrbart. Doch falls Ihr dabei etwas Anstößiges vor Augen habt, irrt Ihr Euch gewaltig. Sie benahmen sich so steif wie Kinder bei einem Schultanz. Yvonne lehnte an der Wand, sah zu und rauchte eine Zigarette.
Durch einen Blick verständigte sie sich mit dem Oberkellner, einer Frau in schwarzer Hose und Metzgerschürze: die dicke Bernard, die ebenfalls singt. Ohne dass Worte gewechselt wurden, strömten Bedienungen in den Raum. Bald rannten sie regelrecht mit klirrenden Tabletts voller Flaschen und Gläser hin und her. Die Matrosen und Matrosinnen packten mit an. Die Musik wurde lauter, die Gäste mussten brüllen, um sich verständlich zu machen.
Tänzer schoben sich auf die Tanzfläche. Ein Paar tanzte Tango, obwohl die Kapelle einen Foxtrott spielte. Sweeter than sweet, sang die dicke Bernard schmachtend mit schmalzigem Tenor. Verliebte küssten sich. Ein Streit brach aus, als ein Tänzer sich einen Brandy von einem Tablett nahm, das für einen anderen Tisch bestimmt war.
Ich machte mir den Trubel zunutze, um mich Yvonne zu nähern. Zum Reden war es zu laut. Mit Gesten tat ich so, als knipste ich ein Foto. Ich möchte Sie fotografieren!, brüllte ich. Zuerst konnte sie mich nicht verstehen, doch ihre Miene änderte sich, als ihr aufging, dass ich Ungarisch sprach.
Ihr wisst, wie sehr wir unsere Sprache lieben, wie diese asiatischen Vokale uns zu dem nach Puder duftenden Himmel zurückführen, in dem unsere Mama uns in den Schlaf sang. Bittet uns um irgendetwas in unserer Muttersprache, und wir werden Ja sagen. Yvonne starrte mich an und forderte mich dann auf, mir etwas für Mama Unaussprechliches anzutun.
Ihre Ablehnung war doppelt überraschend. Aus meinen Briefen müsst Ihr geschlossen haben, dass die Pariser sich nur allzu gern fotografieren lassen, vor allem die französischen Mädchen.
»Warum nicht?«, brüllte ich über die Musik. Meine Stimme quiekte wie die eines Jungen. Yvonne packte mich am Ellbogen und zog mich zu einer Tür, die sie mit einem an ihrem glitzernden Gürtel klirrenden Schlüssel öffnete.
Keine Bange. Ihr könnt weiterlesen. Ich schwöre, mein einziges Verlangen war, Yvonne und ihre Gäste zu fotografieren. Mir ging es nur um meine Kunst, die Basis Eures Glaubens an mich und Eure großzügige Unterstützung, die Studiengebühr, die Ihr für das zahlt, was Papa die Kunstakademie des Lebens nennt und die bald entscheiden wird, ob ich das Zeug zum Künstler habe.
Yvonne hatte recht damit, Nein zu sagen. Nie hätte ich gewagt, eine Frau wie sie so lange herumzukommandieren, wie ich benötigt hätte, um eine Aufnahme in einem »Büro« einzurichten, das eher an das Boudoir einer Kurtisane aus Papas Balzac-Romanen erinnerte. Die Kissen, die spitzenbesetzten Kleidungsstücke, achtlos auf das Kanapee geworfen, das Gewirr von Strümpfen und Sandalen verströmten den blumigen Duft von Yvonnes Gardenienparfüm.
Sie deutete auf einen Tisch, auf dem ein Terrarium stand. Die Glaswände waren beschlagen. Im Inneren gedieh ein Miniaturgarten samt winziger, in Form geschnittener Hecken und klassischer griechischer Statuen.
»Versailles!«, rief ich. »Was für ein Zufall! Erst letzte Woche habe ich dort fotografiert.«
»Sind Sie blind?«, fragte Yvonne.
Mama, Papa, Ihr wisst besser als jeder andere, was für ein visueller Mensch ich bin, wie ich vor jedem anderen Kind in unserer Stadt Farben benennen konnte, wie ich in Mamas Garten immer die Kartoffelkäfer fand und der Erste war, der Papa entdeckte, wenn er nach einem schweren Unterrichtstag heimgetrottet kam. Ihr werdet also verstehen, wie sehr es mich beschämte, so lange zu brauchen, um das grüne Chamäleon zu entdecken, das völlig reglos hinter der fingerhutgroßen Statue eines Cupido mit Pfeil und Bogen hockte.
Das ist der Grund, warum ich mich so heftig in diese Stadt verliebt habe! Trotz der Sorgen, trotz des schlechten Gewissens, Papas Pensionierung hinauszuzögern, trotz der geisttötenden Beschäftigungen macht es mich immer noch schwindlig vor Freude, das Wort Paris in meiner Handschrift am Kopf dieses Briefes zu lesen! Wo sonst kann man in einen Transvestiten-Nachtclub gehen und eine ungarische Chanteuse kennenlernen, die sich eine Echse im Stil Marie Antoinettes hält?
Yvonne nahm das Reptil heraus und drückte es sich an die Brust. Das zitternde Chamäleon wurde allmählich so rot wie ihr Kleid.
»Schauen Sie, wie der kleine Louis sich meinem Herzen angleicht«, sagte sie.
Trug Yvonne deshalb Rot? War ihr Club nach einer Echse benannt? Ich nahm an, es wäre eine Metapher für das wechselnde Äußere ihrer Klientel. Könnte ich etwas darüber für die Magyar Gazette schreiben?
»Louis ist nicht mein Erster«, sagte Yvonne. »Das war mein Prinz Darius, meine von einem eifersüchtigen Seemann getötete Echse. Für Darius hatte ich einen winzigen persischen Garten angelegt.« Sie seufzte – aus Trauer um ihr totes Schoßtier, hoffte ich, und nicht aus Ungeduld über einen Narren, mit dem sie sich nur abgab, weil es ihr die Möglichkeit verschaffte, Ungarisch zu sprechen.
»Eines Abends arbeitete ich draußen im Club«, fuhr sie fort. »Mein Freund, ein deutscher Admiral, dessen Namen Ihnen bekannt sein würde, schlich sich in mein Büro und setzte meinen Liebling Darius auf meinen Paisley-Schal. Er starb, erschöpft von der Anstrengung, alle diese Farben anzunehmen.«
Ich blickte auf den Schal, den Yvonne sorgfältig von ihrem Schoßtier fernhielt. Es gibt keine deutschen Admirale, deren Namen mir bekannt sein würden. Verzeiht mir meine Ignoranz. Wie oft hat Papa gesagt, ein kluger Mann dürfe nie das Treiben des Militärs aus den Augen verlieren?
»Meine Gäste kommen nicht hierher, um sich fotografieren zu lassen.«
»Das verstehe ich vollkommen«, sagte ich. »Vielen Dank und gute Nacht.«
Unser Gespräch hatte mir so viel zu denken gegeben, und ich war so begierig darauf, sofort über alles nachzudenken, dass ich auf dem Weg hinaus kaum die tanzenden Paare beachtete. Ich sah einen Mann mit einer Richterperücke, der mit einem barbrüstigen Burschen tanzte, dessen gestreifte Krawatte ihm auf dem Rücken hing. Ich kam an mehreren Pagen unbestimmbaren Geschlechts vorbei und an zwei Männern mit Korkenzieherlocken und aufgeworfenen Lippen.
Keine Sorge, dachte ich. Ich werde wiederkommen. Meine Kamera wird euch unsterblich machen in diesem köstlichen Foxtrott. Ich nahm mir eine Hand voll Visitenkarten mit der Adresse des Clubs und dem Emblem einer Echse.
Ich weiß, Euch muss das Blut gefrieren beim Gedanken daran, einen Sohn zu unterstützen, dessen Bestreben es ist, Transvestiten zu fotografieren. Wie ist er so geworden? Woher hat er das? Sicherlich nicht aus unserer Stadt, wo man unter Kunst den Scherenschnitt eines küssenden Bauernmädchens und ihres Burschen in Holzschuhen versteht.
Der Regen hatte aufgehört, und ich ging zu Fuß, um Geld zu sparen und in der Hoffnung, die Bewegung würde mir helfen, Schlaf zu finden. Für eine so schöne Frühlingsnacht waren die Straßen seltsam leer. Die Franzosen hängen einem eigentümlichen Aberglauben an, etwa wie jene Stämme, die ihre Töchter einsperren, damit der Mond sie nicht schwängert. Meine durchgelaufenen Schuhsohlen klatschten laut auf das Kopfsteinpflaster. Mir begegneten mehr Katzen, als man normalerweise sieht, außer auf Friedhöfen. Ein riesiger schwarzer Kater kreuzte meinen Weg. Klopft gar nicht erst auf Holz. Wenn ich nicht so abergläubisch wäre, würde ich sagen, er hätte mir Glück gebracht.
Erinnert Ihr Euch an die Geschichte, die Papa mir gern vorlas, über einen Jungen, der aufwacht und herausfindet, dass alle bis auf ihn von Marsmenschen entführt wurden? War Euch bewusst, dass ich jede Nacht auf Zehenspitzen an Eure Tür schlich und dort stand, bis ich sicher war, Ihr wärt nicht von Außerirdischen entführt worden? Fing zu der Zeit meine Schlaflosigkeit an, oder hatte sie vorher schon begonnen?
Beim Einbiegen in die Rue Delambre sah ich, wie ein Mann sein Feuerzeug anzündete, um zwei Freunden dabei zu helfen, ein Haustürschloss zu knacken. Ich erwog kehrtzumachen, aber es erschien mir sicherer, meinen Weg fortzusetzen. Als ich an ihnen vorbeikam, rief mir einer zu: »Mein Cousin hat seinen Schlüssel vergessen!«
Wenn ich doch nur meine Kamera dabei gehabt hätte! Ein weiterer Witz. Ha, ha. In Wirklichkeit überlegte ich, welche meiner Freunde ich dafür bezahlen konnte, sich als Diebe zu verkleiden und die Szene nachzustellen. Ich arbeitete die Gestaltung aus. Ich dachte über mögliche Schauplätze nach. Eine willkommene Ablenkung von dem Gespräch mit Yvonne, das mir unablässig durch den Kopf ging.
Schließlich entdeckte ich das Leuchtschild vor meinem Hotel, ein milchiges Flackern, das Gäste abhalten soll, weil jedes Mauseloch von einem Künstler besetzt ist, der die Miete nicht zahlen kann, eine Situation, in der auch ich mich befände, wäre da nicht Eure Großzügigkeit. Der Nachtportier schnarchte auf diese erschreckende Art und Weise, die sich anhört, als würde jemand im Sterben liegen und röchelnd wieder hochschrecken. Ich weckte ihn. Für mich war ein Paket eingetroffen. Welche Freude, meinen Namen in Mamas heiß geliebter Handschrift zu sehen!
Ich riss das Paket auf, während ich die Treppe hinaufstapfte. Zusammen mit Papas Brief über eine Bäuerin, die ihr krankes Schwein in Onkel Ferenc’ Praxis zerrte, bis man ihr erklärte, er behandle nur Menschen, fand ich ein Fläschchen mit einem weiteren Mittel gegen Schlaflosigkeit, das Mama (gegen meinen Rat!) vom Apotheker erworben hatte. Stand in meinem Brief nicht, dass ich Socken brauchte? Oder wusste die hellseherische Mama, was ich wirklich benötigte?
Erinnert Ihr Euch, wie Ihr mir versichert habt, meine Schlaflosigkeit würde vergehen? Ich würde sie überwinden, jeder würde früher oder später einschlafen. Das ist nicht geschehen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich nicht mehr in meinem Kinderzimmer bin, in der Dunkelheit liege und alle Schlummernden zutiefst verabscheue, die Schlaf für selbstverständlich halten.
Paris ist ein Paradies für Schlaflose. Immer gibt es etwas zu fotografieren, etwas, das sich im Schatten verbirgt. In der Dunkelheit kann man so viel mehr sehen als im hellen Tageslicht. Wie vorteilhaft, dass sich mein Problem als Segen erwiesen hat und mich in die samtschwarze Nacht hinaustreibt, um Aufnahmen zu machen. Ich weiß, was Ihr denkt: Wäre ich zu Hause geblieben, wäre meine Schlaflosigkeit von allein verschwunden.
In meinem Zimmer knipste ich das »Licht« an und zerquetschte eine riesige Küchenschabe, die sich aufgerichtet hatte, um mit den Vorderbeinen gegen mich zu kämpfen. Ich öffnete das Fläschchen von Mama und tröpfelte, wie angewiesen, vier Tropfen in ein Glas. Rote Rosen erblühten im Wasser. Ich trank das Gebräu, legte mich hin und versuchte, nicht an das peinliche Gespräch mit Yvonne zu denken. Ihr könnt Euch vorstellen, wie leicht das für Euren hochsensiblen Jungen war, der seit einer Woche unter Halsschmerzen leidet.
Ich rief mir ins Gedächtnis, dass Dr. Drumas, oder war es Doktor Fiksor – egal, einer jener »Experten«, zu denen Ihr mich brachtet –, mir geraten hatte, meine rasenden Gedanken damit zu beruhigen, mir eine Aufgabe zu stellen. Ich beschloss, Yvonnes Lied aus dem Französischen ins Ungarische zu übersetzen. Die Vokale besänftigten mich, und schon bald meinte ich, den Geruch von Talkumpuder wahrzunehmen, und mir war, als hörte ich, wie Mama mich in den Schlaf sang.
Doch dann beging ich den fatalen Fehler, mich an die Melodie erinnern zu wollen. Nicht von Mamas Lied. Yvonnes. Meine Augen sprangen auf, und ich begriff, was mein Gespräch mit Yvonne bedeutete. Ich hatte ihre Echse übersehen, weil ich kein Talent habe und den Rest meines Lebens damit verbringen werde, Hochzeits- und Schulabschlussporträts in unserer faden Provinzstadt aufzunehmen.
Ich beschloss, Euch zu schreiben, um Euch, wenn auch nur im Geiste, in dieses vom Schimmel befallene, doch ansonsten höchst angenehme Zimmer zu bringen. Dieser Brief ist das einzige Gute, das bei einer weiteren schlaflosen Nacht herausgekommen ist. Ich weiß, wie verwöhnt ich bin, jung und frei und in Paris zu sein und mich darüber zu beschweren, dass der Morgen graut und ich noch wach bin.
Macht Euch keine Sorgen, liebe Eltern, ich werde schlafen. Yvonnes Melodie entzieht sich mir, doch ich gedenke, mich mit dem Arpeggio der Wellen zu hypnotisieren, die gegen das Ufer schwappen. Dein Matrose ist tot. Dein Matrose ist tot. Das sollte mich in den Schlaf wiegen.
Vergesst nicht, mir zu schreiben. Und wenn Ihr die Gelegenheit habt, schickt Socken. Seide, wenn möglich. Schwarz.
Umarmt und küsst einander für mich,
Euer Euch liebender Sohn
Gabor
Aus Der Teufel am Steuer:
Das Leben der Lou Villars
von Nathalie Dunois
Vorwort der Autorin: Das Mysterium des Bösen
Den Namen Louisianne Villars hörte ich zum ersten Mal im Flüsterton, als ich noch klein war, zu Besuch bei meiner Großtante Suzanne Dunois, der Frau und späteren Witwe des Fotografen Gabor Tsenyi. Ich erinnere mich, Lous Namen gehört und eine Gänsehaut bekommen zu haben, als hätte der Winterwind die Tür zu der beneidenswerten Pariser Wohnung meiner Tante aufgerissen, einem altmodischen Künstleratelier mit weiß gekalkten Wänden, bleiverglasten Fenstern und einer Sammlung modernistischer Stühle, auf denen Gäste, vor allem Kinder, nicht sitzen durften.
Viele Jahre lang wusste ich nur, dass Lou Villars die Frau im Herrensmoking auf Gabor Tsenyis Foto »Die Liebenden im Chamäleon Club, Paris 1932« war. Zweifellos sind meine Leser mit dem Porträt des lesbischen Paares vertraut, einem hübschen Mädchen im schimmernden Kleid neben ihrer breitschultrigen Geliebten mit dem pomadisierten Haar und dem Männerring am kleinen Finger. Beide blicken ins Leere, mit starrer Miene, unergründlich – dachte ich zumindest, bis ich mit der Arbeit an diesem Buch begann.
Ich hatte nie verstanden, warum sich bei der Erwähnung von Lou Villars’ Namen die Temperatur im Raum so merklich abkühlte, bis ich 1998 eine Ausstellung von Tsenyis Arbeiten im Centre Pompidou besuchte, für die ich aus Rouen angereist war, wo ich seit fast zwanzig Jahren lebte und unterrichtete.
Auf dem Begleittext zu »Die Liebenden im Chamäleon Club« war zu lesen, dass die Frau im Smoking eine französische Rennfahrerin namens Louisianne Villars gewesen sei, die später für die Deutschen spioniert und mit den Nazis kollaboriert habe. Genau wie damals in der Wohnung meiner Großtante überlief mich ein Schauer. Das Frösteln minderte meine Abwehrkräfte, und ein Fieber ergriff mich. Ein Fieber des Verstehenwollens. Und so wurde mir das Samenkorn eingepflanzt, das zu Der Teufel am Steuer heranwuchs.
Während dieses unerwartet langen und anspruchsvollen Projekts war es mir ein Quell höchster Begeisterung und tiefster Verzweiflung, in das dramatische und schreckliche Leben von Lou Villars einzutauchen – einer Pionierin auf dem Gebiet des Frauensports, einer Frau, die auf ihrem Recht beharrte, wie ein Mann zu leben, einer internationalen Berühmtheit, die jeden kannte, den man kennen musste, jedoch aufgrund der Verbrechen ihrer späteren Jahre wie auch ihres gewaltsamen Todes vollkommen aus der Erinnerung der Lebenden verschwand. Es war mir eine Verpflichtung und ein Privileg, den Geist dieser Frau wiederzuerwecken, begraben und vergessen von einer Gesellschaft, die entschlossen ist, Geschichten wie die ihre zu unterdrücken.
Selbst als in den 1960er und 70er Jahren junge Französinnen wie ich jede tote Frau ausgruben, die je einen Pinsel in die Hand genommen, ein wissenschaftliches Experiment durchgeführt oder eine Wüste durchquert hatte, zogen es alle vor – sogar die Sportlerinnen, denen Lou Villars vor Jahrzehnten den Weg geebnet hatte –, sie in ihrem friedlosen, anonymen Grab, vielleicht sogar auf einer Mülldeponie zu belassen.
Die Geschichte der Arbeit an diesem Buch ist eine Geschichte verschlossener Türen und unbeantworteter Briefe, abgebrochener Telefonate, in Bibliotheken und Archiven auf rätselhafte Weise verschwundener Aufzeichnungen. Und welche andere Erklärung kann es für diese Hindernisse und das Schweigen geben, als die Empfindlichkeit unserer Nation gegenüber Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg – ihre absichtliche Auslöschung der beschämenden Wahrheit über unsere historische Vergangenheit?
Wie anders wäre dieses Buch geworden, hätte ich mich auch nur für eine Stunde mit Lou Villars zusammensetzen und sie von Frau zu Frau, von Angesicht zu Angesicht fragen können: Wer warst du? Was hat dich dazu gebracht, das zu tun, was du getan hast?
Was würde ich nicht dafür geben, mit den Menschen zu sprechen, die sie kannten, die Lebenden und die Toten zu fragen, wie eine Frau so viel Unheil hatte anrichten können: Gabor Tsenyi, dessen Kunst sie unsterblich machte; Gabors Mäzenin, die Baronin Lily de Rossignol, die Lou einstellte, um mit den Autos ihrer Familie Rennen zu fahren; Eva »Yvonne« Nagy, Besitzerin des berühmten Chamäleon Club, in dem für Lou alles begann; Lionel Maine, den Frauenhasser und aufgeblasenen amerikanischen Kultautor, den meine feministischen Schwestern erfolglos aus dem Kanon zu bannen versuchten; die deutsche Rennfahrerin Inge Wallser, die Lou das Herz brach; Jean-Claude Bonnet, den berüchtigten Kollaborateur, der während der deutschen Besatzung so viele unschuldige Leben zerstörte. Oder, was das betrifft, meine Großtante, deren Kontakt mit Lou von freundlich bis zu sadistisch reichte.
Da mir diese Möglichkeit verwehrt war, da ich keine Antwort auf Interviewanfragen bekam, da ich immer wieder auf die gemeinsamen Bemühungen stieß, Lou Villars aus der Geschichte und, man könnte sagen, von diesem Planeten zu verbannen, blieb mir nichts anderes übrig, als ein wenig auszuschmücken, Lücken zu füllen, Dialoge zu erfinden, gelegentlich einen Gedankensprung zu machen oder eine begründete Vermutung darüber anzustellen, was meine Protagonistin gedacht oder empfunden haben mochte.
Mir ist klar, dass diese Methode in seriösen Biografen-Kreisen verpönt ist. Doch aufgrund meiner Recherchen, und dank meiner Ausbildung in Literatur- und Politikwissenschaft, bin ich zu dem Schluss gekommen – und ich hoffe, meine Leser werden mir zustimmen –, dass ich die Frage, was in eine Person wie Lou Villars gefahren ist, um diesen Ausdruck zu verwenden, teilweise beantwortet habe. Nicht dass es je eine andere Person wie Lou Villars gegeben hätte. Ohne zu viel für mein kleines Buch zu beanspruchen, möchte ich nur sagen, dass ich versucht habe, meinen bescheidenen Beitrag zur Literatur über das Mysterium des Bösen zu leisten.
Wie konnte jemand, wie konnte überhaupt ein Mensch, das tun, was Lou Villars tat? Wie konnte sie nachts schlafen? Wieso konnte eine französische Patriotin, die Jeanne d’Arc verehrte, den Deutschen verraten, wo die Maginot-Linie endete? Und warum hat sie während der Besatzung für die Gestapo gearbeitet?
Bevor mir klar wurde, dass meine Berufslaufbahn auf das Unterrichten französischer Klassiker für Lyzeumsschülerinnen und das Korrigieren von Aufsätzen hinauslaufen würde, träumte ich davon, Philosophin zu werden, meine Zeit damit zu verbringen, über die großen philosophischen Rätsel zu sinnieren (und sie vielleicht zu lösen). Obwohl das nicht meine Bestimmung war, bin ich jetzt mit einem moralischen Dilemma konfrontiert, das meiner Meinung nach ernsthafter Betrachtung wert ist:
Lou Villars tat böse, unverzeihliche Dinge. Was sagt es also über die Biografin aus, über mich, dass die Erforschung und Aufzeichnung ihres Lebens meiner weniger dramatischen, weniger verwerflichen Existenz neue Bedeutung und neuen Sinn verliehen hat?
1. Kapitel:
Kindheit und früher Werdegang
von Lou Villars
Kurz nachdem ich mit meinen Recherchen begann, suchte ich mehrere Neurologen auf, um mich zu erkundigen, ob eine relativ leichte Kopfverletzung in der Kindheit Auswirkung auf das gesamte zukünftige Leben eines Menschen haben könne. Die Ärzte erklärten sich bereit, mit mir zu sprechen, nachdem ich ihnen erzählt hatte, ich sei Schriftstellerin, ein Beruf, vor dem Ärzte meiner Erfahrung nach einen absurden Respekt empfinden. Anfangs plauderten sie recht gern mit mir, was vielleicht daran lag, dass ich, bevor dieses Buch seinen Tribut forderte, noch jung und einigermaßen attraktiv war.
Ich hatte mir die Frage gestellt, ob Lou dauerhafte Schäden davontrug, als sie beim Spielen mit ihrem älteren Bruder Robert von der Schaukel fiel. Meine Kenntnis über diesen Vorfall verdanke ich dem verstorbenen Dr. Frederic Pontuis, dem Hausarzt der Familie Villars, der Buch über seine Hausbesuche führte und dessen Enkel Gilles so freundlich war, mir Einblick in den Bericht seines Großvaters über einen Notfalleinsatz bei den Villars zu geben, um das verletzte Mädchen zu behandeln.
Später führte Lou bestimmte Themen, die sich durch ihr Leben zogen – ihre Verehrung für Jeanne d’Arc, die Schlaflosigkeit, das Spionieren –, auf diesen frühen Unfall zurück.
Die Neurologen, mit denen ich sprach, hatten nie von Lou Villars gehört oder gaben das zumindest vor. Und obwohl die Geschichte interessant war, dauerte es eine Weile, sie zu erzählen, und ich merkte, dass sie unruhig wurden, wenn ich auf Lous Rennfahrerkarriere, ihren Prozess und die Olympischen Spiele in Berlin zu sprechen kam. An diesem Punkt wurde ich stets daran erinnert, dass ihre Patienten warteten.
Ohne wissenschaftliche Fakten zur Untermauerung meiner Theorie werde ich einfach schreiben, was passiert ist, und es meinen klugen Lesern überlassen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Es geschah an einem Sonntagnachmittag, als Lou zehn Jahre alt war. Sie war mit ihrem Bruder Robert nach dem Mittagessen zum Spielen hinausgegangen.
Henri Villars, Lous Vater, war Oberstleutnant der französischen Armee gewesen, ein Posten, von dem er (mit lebenslanger Pension) aus undokumentierten Gründen freigestellt wurde, vielleicht dank der Fürsprache der einflussreichen Familie seiner Verlobten. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee und der nachfolgenden Hochzeit mit Clothilde Dupont, der Tochter eines örtlichen Landbesitzers, zog das Paar zusammen mit Henris Mutter in ein Landhaus, zwei Stunden nordwestlich von Paris, wo sie bequem, wenn auch nicht verschwenderisch, von Oberst Villars Pension und dem Einkommen aus Madame Villars Erbe lebten.
Ihr erstes Kind, der Sohn Robert, wurde 1907 geboren, vier Jahre später gefolgt von einer Tochter, Louisianne, deren Name ihr patriotischer Vater wegen der Verbindung zu der von den Amerikanern gestohlenen französischen Kolonie auswählte. Lous Geburt enttäuschte Henri, der auf einen weiteren Sohn gehofft hatte, vor allem, da sein Ältester bereits Anzeichen einer geistigen Labilität zeigte, die man heute vermutlich als eine der stärker behindernden und sporadisch auftretenden Formen von Kindheitsautismus bezeichnen würde.
Lou Villars behauptete stets, ihr Kampf darum, sich wie ein Junge zu kleiden, habe in dem Moment begonnen, als sie begriff, was Kleidung war. Eine Gouvernante wurde eingestellt, mit dem passenden Namen Miss Frost, wahrscheinlich der Ursprung von Lous lebenslanger Abneigung gegen alles Britische. Miss Frost machte von Anfang an deutlich, dass das Ankleiden von Lou nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Das blieb den Dienstmädchen überlassen, die einen Kampf zu schätzen wussten, selbst mit einem Kind.
An jenem Sonntag, als es zu der Verletzung kam, tranken ihre Eltern, ihre Großmutter, die Gouvernante und Onkel César nach dem Mittagessen Kaffee auf der Veranda, während Lou und Robert im Garten schaukelten. Robert stieß Lou mit aller Kraft an, und die Schaukel flog immer höher. Ein anderes Mädchen hätte geschrien vor Angst, die Schaukel könnte sich am höchsten Punkt überschlagen, wie Roberts Jo-Jo, das Lou ihm eines Nachts zu stehlen und durch eine Puppe zu ersetzen gedachte. Vielleicht argwöhnte Robert das bereits und versuchte Lou vorher zu töten. Am Morgen ihres letzten Geburtstags war Robert vom Gärtner dabei erwischt worden, wie er Lous Kuchen mit dem Gift besprenkelte, das zum Töten von Tauben benutzt wurde.
Robert roch nach Lakritze. Das hatte etwas mit seiner Krankheit zu tun. Nachts kreischte er wie eine Eule. Kein Schrei aus Schmerz oder Furcht, daher machte er Lou keine Angst.
Als sie hoch oben über dem Rasen schwebte, dachte Lou, es wäre nett, zu fallen und zu sterben oder herauszufinden, ob sie wirklich fliegen konnte wie im Traum, wenn sie mit den Armen wie mit Flügeln schlug. Zum Muskelaufbau hatte sie heimlich die Gewichte gestemmt, mit denen Robert unter Aufsicht seiner Krankenschwester trainierte. Sie würde Robert einen leichten Tritt versetzen, wenn sie über seinen Kopf flog, und dann durch die Lüfte segeln, bis sie auf einem Feld landete, auf dem sich eine applaudierende Menge zu ihrem Empfang versammelt hatte.
Das Brüllen der Menge stellte sich als Roberts Grunzen heraus, als er der Schaukel einen kräftigen Stoß versetzte. Lou drehte sich um und sah ihn weglaufen. Das Umdrehen war ein Fehler. Sie fiel, und langsam, ganz langsam kam die Erde ihr entgegen. Sie erwartete Dunkelheit, doch die Welt wurde nur für einen Moment schwarz, blitzte einmal auf und blieb dann strahlend hell.
In dem weißen, blendenden Licht sah sie eine Frau mit etwas vorstehenden Zähnen, aber wunderschön, niedlich wie ein kleines Kaninchen. Ihr Gesicht war zerschlagen, der Kopf zurückgeworfen, und sie schien vor Schmerz zu heulen. Die heulende Frau war niemand, der ihr vertraut war. Doch Lou kannte sie von irgendwoher, vielleicht aus der Zukunft. Sie sah, wie eine Eule durch einen Säulengang herabschoss. Dann sah sie ein Stadion voller Menschen, dann einen Raum mit kleinen Tischen und eine Zofe mit Vollbart, die Tischdecken auflegte.
Als sie die Augen öffnete, lag sie auf dem Gras. Blut sammelte sich in den Falten ihrer Handflächen. Französisches Blut, würde Papa sagen.
Sie humpelte zur Veranda und versteckte sich hinter einer Hecke. Spionieren war immer aufregend, auch wenn es nie etwas zu sehen gab, abgesehen von dem einen Mal, als Onkel César Miss Frost in eine Ecke drückte und sich die Hände an ihrer Brust abwischte. Lou fand Brüste widerlich, besonders Miss Frosts große, weiche, die so gar nicht zu ihrer kalten, abweisenden Persönlichkeit passten.
Mama und Papa, Großmutter, Onkel César und Miss Frost hatten ihren Mokka unter der Glyzinien-Pergola fast ausgetrunken. Kuchenkrümel bedeckten das Tischtuch. Robert durfte keinen Kuchen essen. Seine Ärzte glaubten, Zucker würde seine Anfälle auslösen.
Während des Mittagsmahls hatte Großmutter eine Bemerkung über ihre Freundin gemacht, die gerade von der Olympiade zurückgekehrt war. Ein kleines amerikanisches Mädchen hatte die Bronzemedaille im Schwimmen gewonnen.
Lous Eltern hatten ihre Sauerampfersuppe gelöffelt. Niemand interessierte sich für Sport, es sei denn, die französischen Mannschaften gewannen. Gab es dieses kleine amerikanische Mädchen wirklich? Großmutter erfand gern Geschichten. Vielleicht wollte sie damit ausdrücken, es sei schon in Ordnung, wenn Lou nichts anderes gefiel als raue Spiele mit ihrem Bruder. Das war lieb von Großmutter, die immer sanft und freundlich war und die es bedauerte, dass Lous Eltern sie ablehnten, weil sie nicht sticken oder Klavier spielen konnte und nur Hosen tragen wollte.
Lou schlich sich näher an die Veranda, auf der die Erwachsenen jetzt über Geld sprachen, ein Gespräch, das Miss Frost ausschloss, die, wie sie Lou oft genug sagte, nur einen Hungerlohn erhielt. Aufgewachsen in China, sprach Miss Frost gern über die tapferen britischen Kinder, denen man während des Boxeraufstands das Trommelfell mit Stäbchen zerstochen hatte. Miss Frost las ihr die Märchen aus Tausendundeiner Nacht vor und sagte, die Geschichten wären böse, las ihr aus Die Wasserkinder und Die Blumenfeen vor und sagte, die Geschichten seien gut. Durch Miss Frosts Augen wurde Lou mit den Schützengräben der Ardennen vertraut, verstopft mit den aufgedunsenen Leichen der Jungen, die in Flüssen aus giftigem Senf ertrunken waren. Miss Frosts kleiner Bruder war auf den Schlachtfeldern von Flandern gefallen. Miss Frost weinte viel. Sie erzählte Lou, niemand habe sie je geliebt und niemand werde sie je lieben.
War es nicht unprofessionell, sich auf diese Art bei einem Kind zu beklagen? In all meinem Jahren am Lyzeum bin ich nie in Anwesenheit von Schülern zusammengebrochen, obwohl es sicherlich Augenblicke gegeben hat, in denen die Belastungen meines Privatlebens meine Fähigkeit beeinträchtigten, ein angemessenes Auftreten beizubehalten.
Die Erwachsenen brauchten ewig, bis sie Lou am Rand der Veranda entdeckten. Lou wurde allmählich schläfrig. Ihre Mutter sah das Blut auf Lous Kleid, bevor sie das Blut an den Händen, Knien und schließlich im Gesicht wahrnahm. Wie immer musste Lou sich gegen Mamas Enttäuschung wappnen.
Sie hätte sagen können, Robert habe sie gestoßen. Doch sie würde ihren Bruder nie und nimmer verpetzen, nicht einmal unter der Folter.
Großmutter führte Lou fort, verband ihre Verletzungen und trug eine prickelnde Salbe auf, die das Bluten ihrer Lippe eindämmte. Der Arzt ordnete an, Lou müsse achtundvierzig Stunden wach bleiben. Ihre Großmutter war bereit, bei ihr zu wachen.
Während dieser kritischen Stunden hörte Lou zum ersten Mal die Geschichte von Jeanne d’Arc: Wie der heilige Michael dem Hirtenmädchen die erste Rüstung überreichte, gehämmert und mit den Tränen poliert, die Christus für Frankreich vergoss – ein Wunder, das die Generäle veranlasste, ihr den Oberbefehl über die Armee zu geben. Lous Großmutter ahmte die verschiedenen Stimmen nach. Am besten gefielen Lou die in perfektem Französisch blökenden Schafe, die Jeanne anflehten, sie zu töten, um mit ihrem Fleisch die französischen Soldaten zu verpflegen. Großmutter erzählte ihr, wie Jeanne die Gabe der Tränen verliehen wurde, eine Gabe, die sie nie benutzte, bis sie im Gefängnis gezwungen wurde, ein Kleid zu tragen, das ihre fallenden Tränen in eine Rüstung verwandelten. Wie das Feuer sich weigerte, sie zu verbrennen, bis ein Zauberer den Teufel beschwor, die Flammen der Hölle anzufachen, worauf Jeannes Herz sich in eine Taube verwandelte, die aus ihrem Mund flog und den britischen Richtern die Augen aushackte.
Jedes Mal, wenn Großmutter zum Ende kam, brachte Lou sie dazu, von vorn anzufangen. Sie konnte nicht oft genug hören, wie die Heilige nach Jesus rief. Es war packend und komisch, wie die blinden Richter in der Dunkelheit herumtasteten und auf Englisch Hilfe! Hilfe! schrien. Je länger Lou und Großmutter wach blieben, desto heftiger weinten sie, wenn die Heilige getötet wurde. Wach zu bleiben erschien wie ein Geschenk, bis es, wie es so oft mit Geschenken geschieht, zu einer Bürde wurde.
Kurz nach Lous Sturz von der Schaukel wurde sie zum Schulbesuch in den Norden geschickt. Ihr Papa kaufte einen roten Hispano-Suiza und erlernte vor der Reise das Fahren.
Großmutter schluchzte, als Lou und ihr Vater aufbrachen. Aber alle anderen waren tapfer. Als Henri und Lou in den heißen Septemberwind hineinfuhren, neigten sich ihnen die Köpfe der Sonnenblumen zu. Platanenreihen rasten ihnen entgegen und änderten im letzten Moment ihre Meinung. Papa deutete in die Ferne, und eine Kathedrale flog vorbei, der Turm himmelwärts gerichtet, um Gott anzustupsen, damit er die winzige Stadt darunter nicht vergaß.
»Unser wunderschönes Land«, sagte ihr Vater. »Unser kostbares, verwundetes Heimatland.«
Lou fragte nicht, welche Wunde er meinte. Sie wollte Papa seine gute Laune nicht verderben.
Man kann nur darüber spekulieren, ob Lous Berufsentscheidung eine Reaktion auf die schrecklichen Fahrkünste ihres Vaters war. Zum Glück gab es nur wenige Autos auf der Straße. Henri überfuhr eine Katze und stieß einmal fast mit einem Kind zusammen, dessen Mutter es gerade noch rechtzeitig fortriss. Auf dem ganzen Weg durch die Bretagne stellte Lou sich vor, dass ihr Vater eine tödliche, nein, fast tödliche Herzattacke erlitt, die sie zwingen würde, das Lenkrad zu übernehmen und ihn zu einem Arzt zu fahren.
Das Kloster der heiligen Bridget kam Lou wie ein Märchenschloss vor, bevölkert von Prinzessinnen mit braunen Gewändern, verkleidet als englische Nonnen. Lou zuckte zusammen, als sie ihren Akzent hörte, doch die ermutigenden Stimmen hatten nichts von dem schneidenden Ton, mit dem Miss Frost sie abkanzelte. Aber warum schickte Papa, der alles Französische liebte, sie auf eine englische Schule?
Schwester Francis stellte sich als Sportlehrerin vor und wartete dann, bis sie sich von dem Schock erholt hatten, wie groß sie war. Gebückt unter den niedrigen Steinbogen, führte die Nonne sie durch den Kreuzgang und hinaus aufs Spielfeld. Lou sah Mädchen um eine Stange tanzen, mit Bändern, die sich nie verknäulten. Ältere Mädchen jagten mit gebogenen Stöcken einen Holzball über den Rasen. Lou kam es vor, als sähe sie ihnen dabei zu, wie sie das Schweben lernten. Die Mädchen trugen Hemden und Lederkrawatten unter Pullovern mit V-Ausschnitt.
Als Schwester Francis fragte, ob Lou Sport treibe, nickte sie und warf ihrem Vater einen warnenden Blick zu. Er würde ihr nie widersprechen, außerdem war er immer etwas abgelenkt und schien sich mit Gottes Entscheidung abgefunden zu haben, ihm zwei seltsame Kinder zu schicken. Möglich war allerdings auch, dass er in Gedanken bei seinem Auto war.
Beim Aufbruch küssten sie sich auf die Wangen und schüttelten sich dann, zur Überraschung der Nonnen und ihrer eigenen, kameradschaftlich die Hand. Lou bat ihn, vorsichtig zu fahren.
»Das tue ich immer«, sagte Henri.
Obwohl Henri und Clothilde Villars als Lous Eltern vollkommen versagten, muss man ihnen zugute halten, dass sie ihre Vorurteile überwanden und Lou an einen Ort schickten, an dem sie ihrer Meinung nach glücklich sein würde.
Das Leben in der Schule war besser als zu Hause. Lou wusste, wie wenig sie verlangen konnte und was sie in etwa erwartete. Miss Frost hatte ihr erzählt, dass die Mädchen im Kloster nackt auf dem Steinboden schliefen und die Nonnen von der Nachtaufsicht nur einen Schuh trugen, um es so klingen zu lassen, als kämen sie halb so schnell, damit die ungezogenen Mädchen nur halb so viel Zeit hatten, mit dem Flüstern aufzuhören, bevor die Nonnen sie traten und an den Haaren zogen. Ein paar Nächte lang wartete Lou angstvoll, aber nichts dergleichen geschah. Außerdem hatte sie nicht geflüstert. Sie hatte niemandem, mit dem sie flüstern konnte.
Lou lächelte und nickte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wovon gesprochen wurde. Sie tat, was die Lehrerinnen von ihr verlangten. Gehorsam war eine Befreiung, ein Privileg und eine Erleichterung. Die Uniformen waren viel besser als die Spitzenkleidchen, auf denen die Dienstbotinnen zu Hause bestanden, jene Dienstbotinnen, die ihr auf so abstoßende Weise erzählt hatten, wie die Babys gemacht wurden, um ihr zu erklären, warum sie sich nicht wie ihr Bruder anziehen durfte. Manchmal fehlte Robert ihr. Ihr fehlte sein Lakritzgeruch, die Fettrolle um seinen Bauch, die komische Art, auf die er seinen Kopf schräg legte, als lauschte er Stimmen. Den Stimmen, die ihm gesagt hatten, er solle sie töten.
Sie beklagte sich, weil die anderen Mädchen es taten, aber es gab nichts, das ihr missfiel – die Haare mit eiskaltem Wasser zu waschen, die Brotkrusten, die ihr den Gaumen aufscheuerten. Das scharfe, unpersönliche Brennen von Schwester Lukes Rohrstock, das ihr sagte: Du lebst. Du existierst. Ihr gefiel das Konzept der Kasteiung, vor dem die Mädchen gewarnt wurden. Sie hörte zum ersten Mal, dass der Körper eine Rolle spielte und nicht nur der schmutzige Käfig der Seele war, sondern der schimmernde Tempel des Heiligen Geistes. Der Priester zu Hause hatte nichts davon gewusst, dass der Körper von Gott kam, oder hatte beschlossen, es geheim zu halten.
Lou war bisher stets dazu ermahnt worden, nicht zu rennen. Aber nun befahl Schwester Francis ihr, sich zu beeilen und mit den anderen Mädchen um die Bahn zu sprinten. Sie war immer nur gerannt, um vor ihrem Bruder zu flüchten, doch nie, um vorwärts zu kommen. Als sie aufschloss, erhöhten die anderen das Tempo, ihre Gesichter verzerrt vor Wut, die Lou ebenfalls für ein neues Mädchen empfunden hätte, das aus dem Nichts kam und gewann.
Sie hatte keine Freundinnen, aber sie war nicht einsam. Nachts lag sie im Dunkeln, lauschte dem flattrigen Atmen der noch wachen Mädchen und dem rasselnden Seufzen der Schlafenden. Das Schnarchen der Nachtnonne war das Entwarnungssignal, aus dem Bett zu schlüpfen.
Im Kloster gab es viel zu sehen, wenn alle schliefen. Die Blätter an den Bäumen im Klostergarten breiteten sich wie pelzige Tintenkleckse aus. Das Mondlicht fiel auf den sterbenden Christus und zeichnete Streifen auf seine knochigen Knie an der Kapellenwand. Zweimal sah sie Schwester Luke an die Tür von Schwester Benedict klopfen, warten, fester klopfen, dann weinend davongehen.
Miss Frost hatte versprochen, ihr zu schreiben, aber sie schickte nur eine kurze Notiz, in der sie mitteilte, Lous Eltern hätten sie ohne jegliche Abfindung entlassen. In Lous erstem Winter im Kloster schrieb Papa, ihre Großmutter sei gestorben. Im nächsten Brief erklärte Mama, sie hätten Robert an einem Ort für Jungen wie ihn untergebracht, einem Hospital in Paris.
Eines Nachts sah Lou eine Eule durch den Säulengang fliegen, auf der Jagd nach einer Maus, die sich in einer Ritze der Steinwand verkroch. Während die Eule sich im Gesims verbarg, hörte Lou die quiekenden Gebete der Maus. Die Eule schoss herab, packte die Maus und flog davon, um sie zu köpfen.
Die Tür zu Schwester Francis’ Zelle war gerade weit genug offen, dass Lou ein Stück ihres Rückens sehen konnte, murmelnd über ein Gebetbuch gebeugt.
Die Eule tauchte wieder im Kreuzgang auf, und Lou folgte ihr, dachte an ein Heiligenbildchen, das sie von Großmutter bekommen und aufbewahrt hatte, bis Robert es ins Feuer warf. Auf dem Bildchen waren drei Schmetterlinge, die zwei hübsche blonde Kinder einen mit Blumen gesäumten Pfad entlangführten. Hinter ihnen ging der Gute Hirte, ragte über ihnen auf wie ein riesiger zahmer Bär. Lou und Robert waren die Kinder. Die Schmetterlinge waren Eulen. Gott leitete sie nicht sanft, sondern stieß sie über eine Klippe.
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Und so begann eine der gesegneten, kurzen Zeitspannen in Lou Villars Leben, in der sie die Gaben genießen konnte, die Gott ihr zum Ausgleich zu dem gegeben hatte, was ihr verweigert und verlockend vor Augen gehalten wurde, um ihr dann auf grausame Weise entrissen zu werden.