Das Meeting
Noch vor grauen Haaren, Krähenfüßen, Rückenschmerzen oder nachgebenden Knien gibt es ein klassisches Anzeichen für das Altern, das so früh auftaucht, dass seine jung(geblieben)en Opfer eher erstaunt als alarmiert darauf reagieren, wie es eigentlich vonnöten wäre. Und so erwachte Richard Baumbach ein paar Wochen nach seinem neunundzwanzigsten Geburtstag in einem Zustand des Erstaunens: Seit wann fiel der Kater am Tag danach dermaßen heftig aus?
Er hob ein zu einem Tau verdrehtes Bettlaken von seiner nackten Brust, legte es mit einer Behutsamkeit neben sich, die normalerweise für die zarteren Gäste seines Betts reserviert war, und nahm innerlich Anlauf, um sich gleich in die Vertikale aufzurichten. Los geht’s, dachte er. Das schaffst du. Komm schon. 1, 2, 3 … los!
Nichts bewegte sich außer seinem Hirn, das unentwegt gegen seinen Schädel hämmerte.
Er versuchte, sich die leuchtend grüne Brita-Karaffe in der Tür seines Kühlschranks vorzustellen: das kühle, erfrischende Wasser darin. Aber allein der Gedanke an die Helligkeit bewirkte, dass seine Augäpfel sich in ihre Höhlen zurückzogen wie Einsiedlerkrebse in ihre Schale zurückschnellen, und ihm drehte sich der Magen um bei der Vorstellung von irgendetwas Grünem. Er wandte sich gedanklich dem Aspirin zu, das in seinem Medizinschränkchen auf ihn wartete: weiß, harmlos, das Ende seiner Misere versprechend. Zwei Tabletten waren die empfohlene Dosis, aber bei dieser Hindenburg von Kopfschmerzen würde er sich vier genehmigen … wenn es ihm gelänge, aufzustehen.
Ein Klacks, redete er sich ein. Babyleicht.
Nur dass er sich schwer und alt fühlte.
Steh. Auf. Jetzt!
Einen glorreichen Moment lang verschwand die pulsierende Empfindung in dem wuuuschsch der Aufwärtsbewegung, und er begann, an Wunder zu glauben: Seine Kopfschmerzen waren weg; er war geheilt! Dann berührten seine Füße den Boden, und sein Kopf kam zum Stehen, was eine Reihe feuriger Explosionen auslöste, die er – selbst inmitten der Schmerzen – geneigt war, mit einer aufsteigenden Sequenz aus einem der Actionfilme der Neunziger zu vergleichen, die er regelmäßig auf seinem Festplattenrecorder laufen ließ. An seinen Festplattenrecorder zu denken verstärkte den Schmerz allerdings nur noch, und während er in das Badezimmer schlurfte, steigerte sich seine Grimasse von leichten Zahnschmerzen zu einer sauren Zitrone. Erst gestern war der Kabelmann auf seine Bitte hin gekommen, um alles mitzunehmen, inklusive seines geliebten Festplattenrecorders. Er hatte jetzt kein Wi-Fi mehr, und in einem Anfall von Märtyrertum hatte er sogar sein Netflix-Abo gekündigt, das er vermutlich noch mithilfe seines Laptops in Cafés hätte nutzen können. Aber er hatte entschieden, dass die acht Dollar im Monat acht Dollar waren, die er sich angesichts seiner Kreditkartenabrechnung nicht mehr leisten konnte, laut der die Miesen in den letzten Monaten nicht nur langsam angewachsen, sondern regelrecht gewuchert waren.
Richard schüttete sich sechs Aspirin in die zitternde Hand, schluckte die Pillen und trank ein paar Schluck Wasser direkt aus dem Hahn (Scheiß auf die Brita). Für jemanden, der angeblich für Film und Fernsehen arbeitete, war es mehr als ein bisschen kränkend, zu Hause keine Filme mehr sehen zu können. Aber soweit war es jetzt mit seinem Leben gekommen.
Er ließ sich auf die Couch fallen, mit dem Gesicht nach unten, wie eine Leiche. Es waren Gedanken wie diese, die am gestrigen Abend mit seinem »Geschäftspartner« Keith zu mehreren Runden selbst gemixter Cocktails geführt hatten. Sie hatten erst vor Kurzem begonnen, die Anführungszeichen hinzuzufügen, und als Keith mitten am Abend darauf hingewiesen hatte, dass sie ja geradezu eine Mitleidsparty für sich selbst feierten, hatte Richard so getan, als würde ihn das amüsieren.
Er drehte seinen Kopf zur Seite und musterte die Flasche Bombay Sapphire, die noch ungeöffnet auf seinem Couchtisch stand. Et tu, Bombay?, fragte er sie stumm, unfähig, selbst in dieser depressiven Stimmung seiner Schwäche für schlechte Wortspiele zu widerstehen, die beinahe so heftig war wie seine Schwäche für Gin Tonics und für hirnverbrannte Pläne – wie der, seine eigene Produktionsfirma zu gründen, obwohl ihn dafür nichts auszeichnete als sein (vermeintlicher) Verstand und sein jugendlicher Wagemut.
Vor drei Jahren hatten er und Keith ihre Jobs als bessere Assistenten für einen angesehenen Filmproduzenten hingeschmissen, um auf eigenen Pfaden zu wandeln, und Richard fürchtete, dass »wandeln« genau das war, was sie derzeit taten. Wenn sie nicht beide von zu Hause aus arbeiteten, trafen sie sich zu langen »Meetings« in einem Coffee Bean im Valley, so wie all die anderen arbeitslosen Schriftsteller, Schauspieler und Produzenten, deren unregelmäßige Arbeitszeiten dafür sorgten, dass L.A.s weltberühmter Verkehr sich nie auf ein paar simple Stoßzeiten am Tag beschränkte.
Schon richtig, sie hatten ein paar Fortschritte erzielt: »Zwei Typen – eine Firma« hatte ein paar Drehbücher für Spielfilme verkauft, ein oder zwei Skripte für Pilotsendungen. Aber trotz beachtlicher Umtriebigkeit blieb das so sehr ersehnte grüne Licht, mit der Produktion beginnen zu können, in der Ferne, eine Fata Morgana, immer knapp außer Reichweite. Und solange sie nicht bei ihm angelangt waren, würde auch kein Geld reinkommen.
Keiths Eltern unterstützten ihren Sohn jetzt schon seit einer guten Weile, aber Richard konnte seine Eltern nicht nach Geld fragen, das sie nicht besaßen, vor allem nicht, weil er Angst hatte, dass sie trotzdem versuchen würden, ihm welches zu geben. Inzwischen hatte er auch die Ersparnisse aus seinem letzten Job aufgebraucht; er hatte sogar seinen peinlich winzigen Dispo ausgeschöpft. Es war an der Zeit, wieder ein Rädchen im Getriebe eines anderen zu werden – doch die Große Rezession hatte Hollywood genauso getroffen wie jede andere Industrie, und er war sich nicht mal sicher, ob er einen so guten Job finden könnte wie den, den er vor drei Jahren aufgegeben hatte.
Würde er im Coffee Bean im Valley arbeiten müssen? Vielleicht würde er auch dorthin umziehen, das schicke Silver-Lake-Viertel aufgeben müssen, das er so sehr liebte? Erste-Welt-Probleme, ermahnte er sich. Und trotzdem waren es reale Probleme, seine Probleme, denn er war nicht bereit, den Traum aufzugeben, den er vor zwanzig Jahren unter seiner Star-Wars-Bettdecke geträumt hatte, in den Suburbs von Boston.
Richard setzte sich auf, ermutigt von den Aspirin, die in seinem Körper zu wirken begannen, aber auch von dem Segen seines angeborenen Optimismus. Wen kümmerte es schon, wenn er eine Weile in einem beschissenen Job schuften musste? Er würde tun, was getan werden musste; er würde wieder auf die Füße kommen. Jedes Mal, wenn er über seinen fortwährenden Kampf nachdachte, ein erfolgreicher Hollywood-Produzent zu werden, dauerte es nicht lang, bis dieser Kampf der Training-Montage aus Rocky glich (aus jedem Rocky-Film, auch wenn er die aus Rocky IV bevorzugte). Jetzt stellte er sich vor, wie er irgendeine rückenbrechende körperliche Arbeit leistete, in der Baumstämme involviert waren oder Betonplatten oder reichlich Dreck und Schmiere im Gesicht. Er stellte sich vor, wie er vor Sonnenaufgang aufwachte (es zählte nicht, dass das noch nie im Leben passiert war, nicht ein einziges Mal), die harte Arbeit eines Tages leistete und dann, spätabends, mit seinem getreuen Geschäftspartner konferierte, zu rechtschaffen und erschöpft, um das Geld auszugeben, das sich – langsam, aber sicher – auf seinem verwüsteten Bankkonto ansammelte. Jede Woche überprüfte er seine Einnahmen online – nein, vergiss das, er würde in bar bezahlt werden –, und jeden Freitag sah er zu, wie der Stapel an Dollarscheinen wuchs, Woche für Woche höher wurde, erst langsam, dann schneller, bis aus dem Stapel ein Turm geworden war, so hoch, dass er umkippte und die Scheine nur so herumwirbelten, bis sie in einem nahtlosen Smash Cut zu dem Konfetti auf der Premierenparty von seinem und Keiths ersten Film wurden, zu dem er alle seine Kumpel vom … Säge- oder Betonwerk einladen würde. Und wenn er den Bankettsaal betreten würde, würden sie ihm zujubeln, in ihre roten und schwieligen Hände klatschen, und es würde vielleicht sogar ein paar Männertränen geben, während sie ihn auf ihre Schultern hoben und er hinabsah auf die erstaunte Welt und strahlte.
Wenn genau in diesem Augenblick ein übernatürliches Wesen mit der Fähigkeit zur Teleportation und Hellseherei angerauscht gekommen wäre und verkündet hätte, dass am Ende der Woche Richards Geldsorgen verschwunden wären, dann hätte er sich erstens ein Paar Hosen angezogen, denn in diesem Moment trug er nur Boxershorts und war entsprechend ganz und gar nicht gesellschaftsfähig. Zweitens hätte er Unglauben vorgetäuscht, wobei er allerdings, drittens, heimlich gedacht hätte, dass es natürlich wahr war, dass es wahr sein musste. Denn mit neunundzwanzig war er immer noch unschuldig genug zu glauben, ihm würde nur Gutes widerfahren, in einem Leben, das sich endlos vor ihm auszubreiten schien.
Richard sprang von der Couch auf, und diesmal blieb das Wunder ihm treu: Die Kopfschmerzen waren weg, sein Magen hatte sich wieder beruhigt. Er zog sein Handy aus dem Haufen dreckiger Klamotten hervor – und heulte auf, als er sah, wie spät es bereits war. 12:45, verdammt. In weniger als zwei Stunden hatte er ein Meeting. Zeit, den Tag zu beginnen.
»La Máquina!«
Elizabeth Santiago sah von ihrem Schreibtisch auf und unterdrückte nur mühsam das intensive Bedürfnis, die Augen zu verdrehen. Vom Flur draußen zeigte ein muskulöser Mann in Hosenträgern auf sie. Sie starrte auf seinen perfekt manikürten Fingernagel.
»Zeit fürs Mittagessen!«
Himmel, nein. Sie drehte den Kopf in Richtung der Thermotasche, die auf einem der Stühle vor ihrem Tisch stand.
»La Máquina schlägt wieder zu«, bellte der Mann und schüttelte grinsend den Kopf. Elizabeth grinste zurück, wobei sie versuchte, sich nicht auf das gegelte Rhinohorn aus Haar zu konzentrieren, das oben auf seinem Kopf glänzte. Er war im vierten Jahr, oder? Wie hieß er noch mal? Jake? Jack? Jock? Warum war sie nur so verdammt schlecht mit Namen?
Aber auch egal, er ging schon weiter.
»La Máquina, La Máquina, La Máquina!«
Er hörte sich an wie Speedy Gonzalez, wenn er arriba arriba, ándale ándale! rief. Als seine Stimme verklungen war, erlaubte sich Elizabeth das Augenverdrehen, das sie zuvor unterdrückt hatte. Sie sah auf den unteren Rand ihres Bildschirms: zwei Stunden, 26 Minuten und 41 Sekunden waren vergangen, seit sie begonnen hatte, das drei Zentimeter dicke Dokument, das jetzt verstreut auf ihrem Schreibtisch lag, zu bearbeiten, und sie hatte nicht ein einziges Mal hochgesehen. Kein Wunder, dass alle sie La Máquina nannten (Spanisch für »Die Maschine«). Anfangs war es ein Spitzname gewesen, den ihre Kollegen nur hinter ihrem Rücken verwendet hatten, weil sie auf die höchste Stundenzahl kam, die eine Mitarbeiterin im ersten Jahr bei der Firma je fakturiert hatte, und zwar weltweit. (Fürs Protokoll: 3.352. Was krankhaft war. Und nicht aufrechtzuerhalten.) Irgendwann in ihrem zweiten Jahr hatte sie durch ein cc versehentlich davon erfahren, und sie hatte nur ein paar Sekunden über das Für und Wider nachdenken müssen, bevor sie eine gut gelaunte Antwort schrieb und mit »La Máquina« unterzeichnete. Alles gut. Aber von da an hatte sich der Spitzname wie ein Lauffeuer verbreitet, bis alle Anwälte in allen Abteilungen und selbst ein paar Klienten ihn verwendeten.
Sie klickte den Timer am unteren Rand ihres Bildschirmes aus. Ein paar Leute verdächtigten sie, ihre Stundenanzahl bewusst aufzublähen, weshalb sie besonders penibel auf ihre Arbeitszeiterfassung achtete. Ein durchschnittlicher Firmenanwalt verbrachte für zwei fakturierte Stunden ungefähr drei Stunden im Büro. Dieses Größenverhältnis rechnete normale menschliche Aktivitäten ein, wie sich mit seinen Kollegen zu unterhalten, im Internet zu surfen, Mittag zu essen und auf die Toilette zu gehen. Aber während eines Zehn-bis-zwölf-Stunden-Arbeitstags fakturierte sie in der Regel neun bis zehn Stunden. Sie war immer höflich, aber nie freundlich; meistens brachte sie sich ihr Mittagessen mit, statt mit den anderen in der Anwaltskantine zu essen; sie machte es sich sogar zur Gewohnheit, tagsüber nicht zu viel Flüssigkeit zu sich zu nehmen, um so ihre Toilettengänge auf zwei zu begrenzen: einer am Vormittag, einer am Nachmittag. Nach diesem ersten Jahr gelangte sie nie wieder über dreitausend Stunden, aber sie erreichte regelmäßig eine Zahl im hohen Zweitausender-Bereich.
Elizabeth wusste, dass sie riskierte, sich Feinde zu machen, indem sie gleich doppelt sündigte: indem sie ihre Kollegen auf Abstand hielt und sie überflügelte. Deshalb ertrug sie ihren Spitznamen. Er half ihr, ihr Anderssein zu neutralisieren, das nicht so sehr von ihrer mexikanischen Herkunft herrührte, als von ihrer stählernen Reserviertheit, ihrer roboterhaften Fähigkeit, den Lärm auszublenden, den andere so verführerisch fanden. Sie war einfach nur »La Máquina«, die merkwürdige Latina, die für sich blieb und deren soziales Leben ein Mysterium war, aber die mehr als nur ihren Beitrag leistete im Mergers und Aquisitions Department von Slate Drubble & Greer. Sie war ein Teil der Familie geworden, selbst wenn sie die exzentrische unverheiratete Tante war, die für sich blieb, eine »merkwürdige Schachtel«, wie der originelle Urgroßenkel der Drubbles es einmal betrunken auf einer Feierlichkeit gesagt hatte, während er ihr etwas zu nahe kam. Und nach achtjähriger Mitarbeit war es ihr praktisch garantiert, dass sie irgendwann nächstes Jahr im Alter von nur dreiunddreißig Jahren zur Partnerin ernannt werden würde. Alles, was sie dafür tun musste, war, weiter zu lächeln oder zu nicken oder zu winken, wann immer ihre Kollegen sie mit diesen zwei magischen Wörtern belegten, über die sie sich genauso gut bei der Personalabteilung beschweren könnte. Gute alte La Máquina.
Elizabeth schloss die Tür und griff auf dem Rückweg zu ihrem Schreibtisch nach der Lunchtüte. Man erwartete von ihr, dass sie ihre Tür offen ließ, es sei denn, sie hatte ein Meeting, aber sie sagte sich, dass das Mittagessen so etwas wie ein Meeting war – Essen trifft Mund –, und schloss die Tür für die fünf Minuten, die sie damit verbrachte, in sich aufzunehmen, was immer sie von zu Hause mitgebracht hatte. Heute hielt sie sich allerdings etwas länger mit ihrem Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich auf und starrte auf das schreckliche Gemälde hinter ihrem Schreibtisch, ein cartoonartig vereinfachtes Porträt einer wütend dreinschauenden aprikosenfarbenen Karrierefrau in einem Achtziger-Jahre-Hosenanzug, den einen Ärmel bis zum Ellbogen hochgeschoben, damit sie ihren absurd überdimensionalen Bizeps spielen lassen konnte. »Wir können es schaffen!«, kläffte die Frau mittels einer neongelben Sprechblase über ihrem Kopf. Es war eine Anspielung auf das berühmte Bild des Zweiten Weltkrieges, das oft fälschlicherweise mit Rosie the Riveter in Verbindung gebracht wurde, und auch Amber Hudson hatte es so bezeichnet, als sie es Elizabeth mit großem Tamtam übergeben hatte.
Amber war Elizabeths inoffizielle Partner-Mentorin, eine Frau, die ohne die geringste Spur von Ironie Phrasen wie »alles gleichzeitig hinbekommen« und »du schafft das, Mädchen!« von sich gab, und auch wenn Elizabeth dieses hässliche, irritierende Bild nie selbst ausgesucht hätte (es sah aus wie das Werk eines Achtklässlers), hatte sie es unmöglich ablehnen können. Wenn sie erst einmal Partnerin war, würde sie ganz allein entscheiden, wie sie ihr Büro einrichten würde.
Um 14:30 hatte sie ein Meeting mit einem anderen Anwalt, was an sich nichts Besonderes war, nur dass sie den Anwalt oder seine Firma nicht kannte und man ihr mitgeteilt hatte, dass das Treffen »privater Natur« sei. Als sie weitere Informationen erbeten hatte, hatte man ihr gesagt, dass bei dem Meeting alles offengelegt werden würde. Elizabeth mochte Überraschungen nicht, weswegen sie sich darangemacht hatte, in der Kürze der Zeit so viel wie möglich herauszubekommen.
Sie wusste, dass Jonathan Hertzfeld Partner einer kleinen, aber feinen Rechtsanwaltskanzlei in Century City war, die sich auf Nachlassverwaltung spezialisiert hatte – Testamente und Fonds und andere Instrumente, mit denen Schwierigkeiten auf dem Weg durch diese unsichere Welt abgewehrt oder zumindest abgemildert werden sollten. Das wahrscheinlichste Szenario war, dass jemand gestorben war und ihr etwas vererbt hatte, nur dass sie niemanden kannte, der gestorben war oder der genügend Vermögen besaß, um ihr etwas zu hinterlassen.
Elizabeth war weniger als zwanzig Meilen von ihrem Büro in Beverly Hills aufgewachsen, aber ihr Viertel gehörte zu denen, die Jonathan Hertzfeld mit Sicherheit noch nie besucht oder auch nur mit seinem Wagen durchquert hatte. Und es gab niemanden in ihrem Erwachsenenleben, der ihr ihrer Meinung nach ein solch bedeutsames Geschenk machen wollte, dass es dafür einen Anwalt bräuchte. Mindestens zum zehnten Mal, seitdem sie dem Termin gestern zugestimmt hatte, fragte sie sich, worum es möglicherweise gehen konnte. Ein Schauer hätte in diesem Moment über ihren Rücken laufen können, wenn er nicht von dem banalen Vorgang vereitelt worden wäre, in einen Apfel zu beißen, worauf sie sich die nächsten anderthalb Minuten konzentrierte.
Wenn dasselbe übernatürliche Wesen, das bereits in Richard Baumbachs Wohnung gewesen war, genau jetzt auch bei Elizabeth aufgeschimmert wäre und ihr gesagt hätte, dass sie nur noch genau null Stunden nach dem heutigen Meeting fakturieren würde und nicht mehr als acht Stunden für den Rest der Woche, hätte sie erstens darauf bestanden zu erfahren, durch welchen Trick der schimmernde Effekt erzielt worden sei; zweitens hätte sie die arme, verblendete Kreatur aus ihrem Büro gedrängt und unauffällig das Sicherheitspersonal angerufen. Aber drittens hätte sie ihre Schwäche verflucht, dem Wesen klammheimlich Glauben zu schenken. Denn seine Ankündigung hätte nur bestätigt, was sie seit gestern vermutete: dass sie bei dem Treffen von »privater Natur« irgendein Schicksalsschlag erwartete, etwas, das ihr stilles, geordnetes Leben, das sie sich so mühsam aufgebaut hatte, durcheinanderbringen würde.
Die Mittagessenszeit war vorbei. Elizabeth öffnete ihre Tür. Sie startete wieder den Timer auf ihrem Bildschirm und vertiefte sich erneut in die vor ihr liegende Aufgabe.
Richard lugte durch die Windschutzscheibe seines alten Toyota Corolla, der in seiner Clique berühmt-berüchtigt dafür war, als einziger ihnen bekannter Wagen noch manuelle Schlösser und von Hand herunterkurbelbare Fenster zu besitzen. Richards beste Freundin Mike sagte, es sei, als würde man eine Zeitkapsel betreten, an deren Inhalt sich nur niemand erinnern wollte.
Es war kurz nach 14 Uhr und noch immer bewölkt: typisch für einen Nachmittag in L.A. zu Beginn des Monats Juni. Die meiste Zeit des Jahres war die »marine Grenzschicht« von Wolken, die über Nacht von der Küste herübergeweht worden war, um diese Uhrzeit bereits weggebrannt, wenn sie überhaupt existiert hatte, aber von Mai bis Juli, wenn in der restlichen nördlichen Hemisphäre der Sommer vollends ausbrach, lag L.A. bis zum späten Nachmittag im Schleier des »Juni-Trübsinns«. Wie viele Zugezogene machte Richard sich noch wahnsinnig viel Gedanken über das Wetter und war jedes Mal enttäuscht, wenn es nicht dem Stereotyp vom sonnigen, warmen und strahlend blauen Himmel entsprach.
Als er auf den Santa Monica Boulevard einbog, steckte er plötzlich im mittäglichen Verkehr fest: als ob ein falscher Schritt genügte, um hilflos im Treibsand zu versinken. Anstatt sich sinnlos über den Verkehr aufzuregen, zwang Richard sich, seine Gedanken auf den bevorstehenden Termin zu konzentrieren, selbst wenn das ebenfalls sinnlos war bei einem Anwalt, den er seinem Wissen nach nicht kannte. Der Typ hatte ihn gestern angerufen und um ein Treffen gebeten, es ginge um etwas »privater Natur«, was bedeutete, dass er einen Neffen oder einen Nachbarn oder einen Nachbarn des Neffen oder Neffen des Nachbarn kannte, der ein Drehbuch geschrieben hatte. Wenn er mehr zu tun gehabt hätte, hätte Richard darauf bestanden, dass der Anwalt ihm gleich am Telefon davon erzählte oder einfach per E-Mail schickte, was immer Richard da lesen sollte. Aber was hatte er sonst schon groß zu tun? Abgesehen davon: Man wusste nie, woher das nächste großartige Drehbuch kommen würde. Gestärkt durch diesen Gedanken, kramte er eine CD aus dem Schutt, der auf der Fußmatte des Beifahrersitzes lagerte, und schob sie in den Player (der Wagen hatte auch ein Kassettendeck, nur dass Richard keine Kassetten besaß). Es war ein selbst gebrannter Mix, und er klickte sich vor bis zu Track acht, Eye of the Tiger, die Reste seiner Rocky-Montage noch im Kopf, ein glücklicher Traum, an den er sich schwach erinnerte. Er begann, laut mitzusingen: »Rising up! Back on the street …«
Die Ampel vor ihm schaltete auf Grün, und er machte mit dem Rest des ständig hupenden Verkehrs einen Satz nach vorne. Nur dass die Ampelschaltung auf einen schnelleren Rhythmus eingestellt war als erwartet und schon auf Gelb sprang, als noch ein Wagen vor ihm war. Richard warf einen Blick auf die Kreuzung, alles frei, also fuhr er langsam weiter, den Kopf zum Takt nickend; sie würden es schon noch beide über die Ampel schaffen.
»And he’s watching us all with the eeeeeeeeeye …«
Der Wagen vor ihm hielt plötzlich an. Richard musste in die Bremse steigen, was seine CD zum Springen brachte und er alleine sang:
»OF THE TIGER!«
Er befreite sich von seiner Schmach, indem er sich bei der Schnarchnase vor ihm hupend beschwerte, deren glänzende Stoßstange er nur um einen Zentimeter, vielleicht zwei, verpasst hatte. Richard betrachtete den Wagen; makellos, vermutlich brandneu. Das hätte ihm gerade noch gefehlt – sich für irgendeinen kleinen Kratzer oder eine Minidelle eine unmenschliche Summe aus den Rippen zu schneiden oder, schlimmer noch, zu riskieren, dass seine Versicherungsrate stieg.
Elizabeth zuckte wegen des dreckigen Wagens hinter ihr mit den Schultern. Es stimmte; sie hätte es noch über die Ampel schaffen können. Aber die Regel besagte, bei Gelb langsamer zu werden, nicht schneller, und die Tatsache, dass sich außer ihr niemand daran zu erinnern schien, ließ sie nur umso eifriger selbst daran denken.
Ein Mann mit Dreadlocks, der am Straßenrand gestanden hatte, begann, betrunken zwischen den Spuren entlangzuschwanken und um Kleingeld zu betteln. Als sie ihr Fenster herunterließ, drehte er den Kopf zu ihr um und blieb so abrupt stehen, dass die obere Hälfte seines Körpers mit einer flüssigen Bewegung von der Hüfte an Ausgleich schaffen musste; es erinnerte sie an eine dieser Windfahnen, die sich auf den Dächern einiger Gebrauchtwagenhändler drehten und wandten. Er eilte auf sie zu.
»Mokka-Chip oder Joghurt-Honig-Erdnuss? Oder beides?«, fragte sie ihn fröhlich und hielt ihm zwei Balance Bars hin, die sie aus ihrem Handschuhfach genommen hatte.
Er blinzelte. »Beides, schätze ich.«
»Hier, bitte schön!« Sie reichte sie ihm. Das Fenster schloss sich wieder zwischen ihnen; er musste rasch die Hand wegziehen, um nicht erwischt zu werden. Als er zurück auf den Bürgersteig stolperte, sah Elizabeth, wie seine Lippen sich heftig bewegten in vermutlich einem Schwall von an sie gerichteten Schimpfwörtern (sicher hätte er Geld bevorzugt), aber keine halbe Minute später hatte er den ersten Riegel ausgepackt und begonnen, ihn in sich hineinzustopfen.
Die Ampel stand noch auf Rot. Elizabeth nutzte die Zeit, um für fünf Sekunden die Augen zu schließen, zählte sie mit den Fingern der linken Hand ab, mit »Mississippis« dazwischen, was ihre Art war, dafür zu sorgen, dass sie sich auch genügend Zeit ließ, das Gute in ihrem Leben wahrzunehmen, egal, wie geringfügig es auch sein mochte. Sogar je geringfügiger, desto besser, besonders, wenn sich der Segen in einer ansonsten unglücklichen Situation einstellte. Ein neuer Freund (ja, dachte sie mit einem winzigen Anflug von Stolz, La Máquina kann neue Freunde kennenlernen) hatte sie letztens dazu angespornt, diese armseligen Männer und Frauen, die sie ab und zu auf der Straße sah, nicht zu ignorieren, jedenfalls solange dadurch nicht ihre Sicherheit gefährdet wurde. Seit beinahe sechs Monaten hatte sie jetzt aus genau diesem Grund ihr Handschuhfach mit Fitnessriegeln ausgestattet, und es war erst das zweite Mal, dass sie sie einsetzen konnte.
Die Ampel schaltete auf Grün.
Richard folgte dem Wagen vor ihm über die Kreuzung und dann nach links auf die Avenue of the Stars. Aber anstatt zu der Adresse weiterzufahren, die man ihm gegeben hatte, bog er zu der Century City Mall ab, wo Parken nur stündlich einen Dollar für die ersten drei Stunden kostete. (Er hatte vergessen zu fragen, ob die Gebühren für das Parken vor dem Gebäude der Anwaltskanzlei erstattet werden würden, und er konnte es sich nicht leisten, diesbezüglich ein Risiko einzugehen.) Zu dem Zeitpunkt, als er seinen Weg durch das Labyrinth von einem Parkplatz gefunden hatte und quer über die Straße gegangen war, sich einen Fahrstuhl geschnappt, die richtige Tür entdeckt und der Rezeptionistin, die einem Model glich, seinen Namen genannt hatte, war es 14:38. Er wurde augenblicklich in einen Konferenzraum geführt, wo bereits ein Mann und eine Frau saßen und stumm warteten.
Als Elizabeth genau acht Minuten zuvor in den Raum gebracht worden war, meinte der alte Mann, bei dem es sich vermutlich um Jonathan Hertzfeld handelte, sie würden noch auf eine weitere Person warten, und war dann in ein Schweigen verfallen. Er trug Hosenträger, und unwillkürlich beschlich sie der Gedanke, dass er so etwas wie eine gealterte Version von Jake/Jack/Jock war. Als der zweite Gast ankam, verspürte Elizabeth einen Anflug von etwas, das einer Überraschung gleichkam. Sie wusste eigentlich nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das: ein jungenhaft wirkender Mann, der offensichtlich sein T-Shirt vollgeschwitzt und einen großen Riss an einem Knie seiner unbestreitbar schmuddeligen Jeans hatte. Was war er, zwölf? Und wer trug schon Jeans zu einem Meeting? Er war attraktiv, zugegeben, aber das zählte nicht viel. Das waren viele Leute in L.A.
Richard nahm auf dem Stuhl gegenüber von der Frau Platz, die aussah wie direkt aus Die Waffen der Frauen, mit ihren hohen Absätzen und ihrem taillierten Hosenanzug. Ganz offensichtlich war sie ebenfalls Anwältin. Vielleicht hatte sie ja das Drehbuch geschrieben? So nebenbei? Wohl kaum.
Aber sie besaß die besten Brüste, die er seit Langem zu Gesicht bekommen hatte.
»Sie fragen sich sicher beide, warum Sie hier sind.«
Richard Baumbach und Elizabeth Santiago beäugten einander über die Resopalfläche des Konferenztisches hinweg.
»Zu diesem Zeitpunkt ist Ihnen vermutlich bewusst, dass ich als Nachlassverwalter fungiere.«
Hä?, dachte Richard, während die Frau eulenhaft nickte. Wie Testamente und solches Zeug? Sein Herz begann zu rasen. Jemand war gestorben und hinterließ ihm eine Schiffsladung Bares. Er wusste es! Er war gerettet!
»Es ist niemand gestorben«, sagte der Anwalt. »Ich vertrete meine Klienten zwar im Todesfall, aber auch zu Lebzeiten – besonders, wenn sie einen Teil ihres Vermögens veräußern wollen. Und tatsächlich bietet einer meiner Klienten Ihnen beiden jeweils fünfhunderttausend Dollar an, falls Sie zustimmen, etwas Zeit miteinander zu verbringen. Mindestens einmal die Woche für zwei fortlaufende Stunden, und das ein volles Kalenderjahr lang.«
Richards Augenbrauen verschoben sich zu einem übertriebenen »V«, das schon beinahe komisch aussah, wie Varieté-Pantomime. Elizabeths Gesicht hingegen blieb reglos. Es war ihre eingefrorene Maske – Entsetzen vermittelnd –, die den Anwalt innehalten ließ, und während dieser Pause fiel sein forsches Auftreten von ihm ab. Er flüchtete sich in Notizen, setzte sich seine randlose Lesebrille mit einer nervösen, linkischen Geste auf. Obwohl er noch nicht ganz fünfundsechzig war, sah er in diesem Moment älter aus, beinahe greisenhaft, während er versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen.
»Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass mein Klient anonym bleiben will. Ich kann Ihnen nichts zu seiner Person sagen.«
Sein Blick zuckte entschuldigend zur Decke. Er zwang ihn wieder nach unten.
»Lassen Sie mich mal sehen … ein paar Punkte: Es sind keine dritten Personen zugelassen, abgesehen situativ bedingt – Kellner in Restaurants und so –, und Sie müssen beide einen maßgeblich kommunikativen Umgang miteinander pflegen. Das bedeutet, dass es nicht ausreicht, einfach nur zwei Stunden in der Gegenwart des anderen zu verbringen. Sie müssen sich während dieses Zeitraums miteinander unterhalten. Aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass eine Unterhaltung die einzige Voraussetzung ist und dass das Thema dieser Unterhaltung keine Rolle spielt.«
Er nahm seine Brille ab und begann sie an seiner Seidenkrawatte abzuputzen; er wirkte erleichtert.
Richard sagte als Erster etwas. Er lachte: ein einzelnes, ungläubiges, bellendes Lachen.
»Eine halbe Million Dollar? Für jeden?«
Der Anwalt nickte.
»Sie machen Witze, oder?« Richard sah sich ostentativ im Raum um, als würde er nach einer versteckten Kamera suchen, aber bereits jetzt, Sekunden nachdem er von dem Angebot gehört hatte, fragte sich ein Teil von ihm, ob er wohl um einen Vorschuss bitten könnte.
Der Anwalt legte seine Brille weg und schüttelte den Kopf.
»Aber … warum?«, fragte Richard. »Ich meine, wir sind uns noch nie begegnet …«
Er drehte den Kopf zu der Frau um.
»Stimmt’s?«
Sie nickte, was das erste Mal war, dass sie sich bewegte, seitdem der Anwalt gesprochen hatte.
»Also warum wir? Was soll das Ganze?«
Der Anwalt spreizte die Hände. »Ich befürchte, dass ich Ihnen zu den Gründen nichts sagen kann, nur zu dem Angebot an sich. Das waren die Anweisungen meines Klienten.«
Elizabeth kam es vor, als würde sie die beiden aus einer Glasflasche heraus beobachten oder aus einer Art Aquarium oder einem anderen durchsichtigen Behälter. Es war schwer, ihren Worten zu folgen, aber sie konnte sie problemlos sehen, und sie beobachtete jetzt jede Hand- oder Kopfbewegung, als würde ihr Leben davon abhängen. Das Angebot des Anwalts war eine Falle, so viel stand fest, oder ein Witz oder etwas ähnlich Grausames. Sie wollte nichts damit zu tun haben. Wenn sie etwas wusste, dann, dass es nichts umsonst gab.
»Ich habe zwei Kopien des Vertrags gemacht, der alles etwas detaillierter darlegt, als ich es bereits getan habe, zusammen mit den üblichen Zusätzen: Zusicherungen und Gewährleistungen, eine Verschwiegenheitsklausel, der Pro-Rata-Zahlungszeitplan und so weiter.«
Mit einer ruckartigen Handbewegung schob er zwei getackerte Dokumente in entgegengesetzte Richtungen über die glänzende Tischplatte, als wären sie Airhockey-Pucks. Richard fing seine Kopie auf und blätterte darin, ohne etwas zu lesen. Egal, wie das Ganze ausgehen würde, er konnte es gar nicht abwarten, Mike davon zu erzählen, die würde aus. flip. pen.
Elizabeth ließ ihre Kopie über die Tischkante gleiten und auf den Boden fallen. Sie sah erst zu ihr, dann zu dem Anwalt, als wollte sie sagen: DAS halte ich von Ihrem Angebot.
»Wie wurden wir hierfür ausgesucht?«, fragte sie schließlich, den Blick aus ihren dunklen Augen auf ihn geheftet.
Richard sah auf. Ja, wie?
»Ich befürchte, dass ich Ihnen auch das nicht sagen kann«, erwiderte der Anwalt. »Aber niemand hat Ihre Privatsphäre verletzt. Und ich verspreche Ihnen, dass das auch niemand tun wird.«
»Aber wir kennen Sie nicht«, sagte Elizabeth, deren Verärgerung Ihrer Stimme einen Grad der Lebhaftigkeit verlieh, den sie sonst nicht besaß. »Und wir wissen nicht, wer uns dieses Angebot macht. Sie können doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir das so akzeptieren? Ohne weitere Informationen?«
Der Anwalt starrte sie an.
»Würden Sie dieses Angebot akzeptieren?«, hakte sie nach.
»Ich weiß, dass dies eine sehr, ähm, ungewöhnliche Mitteilung ist, die Sie da erhalten haben, und auf eine solch unvermittelte Art und Weise«, sagte er. »Aber ich dachte, so wäre es am besten.«
Es entstand ein langes Schweigen, während dem Elizabeth ihm mit perfekter Eloquenz den unausgesprochenen Gedanken übermittelte, dass manchmal das Beste nicht gut genug war. Sie stand auf. »Ich muss zurück zur Arbeit«, sagte sie. »Es war nett, Sie beide kennenzulernen.«
Ihr flacher Tonfall hätte die gegenteilige Bedeutung ihrer Worte nicht besser kommunizieren können, wenn sie sie angespuckt hätte.
»Sie haben bis zum Ende der Woche Zeit, darüber nachzudenken«, rief der Anwalt leicht verzweifelt aus, und Elizabeth war so höflich, stehen zu bleiben, während er fortfuhr: »Ich schlage vor, dass Sie beide Ihre Kontaktadressen austauschen und sich in ein oder zwei Tagen einmal darüber unterhalten. Vielleicht bei einem Kaffee? Und natürlich wissen Sie, wie Sie mich erreichen können.«
Richard sprang auf. Er konnte sie nicht ohne die Möglichkeit gehen lassen, sie auf irgendeine Weise zu kontaktieren. Er zog seine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und hielt sie ihr hin.
»Hier, für alle Fälle. Da steht meine Handynummer drauf und meine E-Mail-Adresse.«
»Ich hab keine Visitenkarte dabei«, sagte sie und nahm widerstrebend seine entgegen.
»Schon okay, wie lautet Ihre E-Mail-Adresse?« Seine Fingerspitzen schwebten über seinem Handy.
Sie ratterte eine Gmail-Adresse herunter, von der er hoffte, dass sie sie sich nicht gerade ausdachte. Und dann, nach einem peinlichen Schweigen, beugte sie sich hinunter, um ihre Kopie des Vertrags aufzuheben. Dabei erhaschte er kurz aus der Vogelperspektive einen Blick auf diese fantastischen Brüste. Im nächsten Augenblick war sie schon weg. Richard rollte seinen Vertrag zu einem Zylinder und schlug damit gegen sein Bein, während er vor dem Anwalt ironisch salutierte. Zu dem Zeitpunkt, als er die Fahrstühle erreicht hatte, war sie schon nirgends mehr zu sehen. Er entschied sich für die Treppen, damit er Mike sofort anrufen konnte.
Der Auftrag war erledigt, aber Jonathan Hertzfeld hatte nicht das Gefühl, durch seine Ausführung etwas geleistet zu haben. Er ging zum Fenster des Konferenzraums und sah hinunter. Die Century City Mall erstreckte sich unter ihm, das Kronjuwel des Viertels, ein riesiger Freiluftirrgarten mit hochpreisigen Läden von Armani, Coach, Louis Vuitton und anderen. Der Food Court war so ausgefeilt, wie ein Food Court nur sein konnte, aber er kam ihm immer wie das Stück Käse vor, das im Zentrum auf all die glücklichen Ratten wartete, denen es gelungen war, es zu finden. Normalerweise bemitleidete er die Massen, die unter ihm umherhuschten. Er interessierte sich nicht für Shopping und gehörte zu den seltenen Anwälten, die ihre Arbeit genossen. Er zog seinen altmodischen Stolz daraus, viele lange Stunden hoch oben in seiner klimatisierten Box zu verbringen, und er hatte das die letzten vierzig Jahre getan. Aber heute beneidete er das Gesindel um seine schlichten Freuden. Er rieb seine Krawattennadel zwischen seinem rechten Daumen und Mittelfinger, eine nervöse Angewohnheit aus seiner Prep-School-Zeit. Heute wäre er überall lieber als hier.
Das Schlimmste daran war, dass er beinahe genauso unwissend war wie die zwei jungen Menschen, die ihn gerade verlassen hatten. Er hatte keine Ahnung, warum sein Klient darauf bestanden hatte, ihnen dieses Angebot zu machen. Er hatte keine Ahnung, wie diese zwei einander vollkommen Fremden ausgesucht worden waren, die beide auch nicht mit dem Klienten verwandt waren. Er hatte einfach nur zwei Namen erhalten sowie die Versicherung, dass es durchaus eine Verbindung zwischen ihnen gab, dazu ein paar spezifische Anweisungen. Und er hatte penibel genau seine Pflicht erfüllt, wie immer.
Elizabeth Santiago zumindest war eine angenehme Überraschung gewesen. Jonathan hatten ihre zurückhaltende Art und ihre geschäftsmäßige Kleidung gefallen. Er hatte ihre dunklen Augen bewundern können, ihren beobachtenden Blick und ihre angenehme Figur, ohne sich dabei verdorben zu fühlen, wie es ihm geschah, wenn er noch … augenfälligere Frauen bemerkte. Er vermutete, dass ihre stille Art der Anmut meist unbemerkt blieb, und vor vierzig Jahren hätte das ausgereicht, um sie inmitten einer Menge für sich zu erwählen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit sich diese ernsten Gesichtszüge zu einem Lächeln entspannten. (Es hatte ausgereicht, auch wenn die Frau natürlich eine andere gewesen war.)
Richard Baumbach hatte einen weniger positiven Eindruck hinterlassen. Jonathan wusste, dass es ein altmodischer Ausdruck war, doch trotz Mr Baumbachs nachlässiger Art, sich zu kleiden, war er Jonathan wie ein »Playboy« vorgekommen, einer, der auf einem nächtlichen geselligen Treffen mehr in seinem Element gewesen wäre, umgeben von einer bewundernden, überwiegend weiblichen Menge. Solche Männer waren nicht unbedingt bessere oder schlechtere Männer als andere, aber sie interessierten ihn nicht sonderlich, und er fragte sich, ob Miss Santiago genauso empfand.
Aber was er sich wirklich fragte, war, was seine Frau Rivka zu alldem sagen würde. Jonathan zog sie für gewöhnlich bei beruflichen Dingen nicht ins Vertrauen – es gab für sie Interessanteres zum Nachdenken, pflegte sie zu sagen –, aber ab und zu brach er die Schweigepflicht, wenn er den Eindruck hatte, dass dies für seinen Seelenfrieden notwendig sei.
An diesem Abend erzählte er ihr alles, während sie gemeinsam das Geschirr abwuschen. (Sie besaßen eine hochmoderne Geschirrspülmaschine, bevorzugten es aber, sehr zur amüsierten Ungläubigkeit ihrer erwachsenen Kinder, zusammen per Hand abzuwaschen – eine Tradition, die bis in ihre ersten Ehejahre zurückreichte.) Rivka gackerte darüber, wie verrückt dieses Angebot sei, und sagte schadenfroh voraus, dass es den angeblich Begünstigten mehr Schaden als Nutzen bringen würde, sollten sie so dumm sein, es anzunehmen. Jonathan stimmte ihr heimlich zu, aber getreu seines Berufs spielte er des Teufels Advokat, nur um eine Diskussion mit ihr zu beginnen.
»Ich bin mir sicher, dass es vollkommen harmlos ist. Welcher Schaden sollte ihnen daraus schon entstehen?«
Rivka schüttelte ungeduldig den Kopf und kreierte ein Muster aus Seifenblasen. »Bei so viel Geld? Nichts ist da harmlos. Sei vorsichtig, Jonathan.«
Sie zeigte mit einem knorrigen Finger auf ihn, und er packte ihn, küsste seine glänzende Spitze.
»Du kleine Zynikerin«, murmelte er und brachte sie damit zum Erröten wie ein junges Mädchen, auch wenn sie ebenfalls an die fünfundsechzig war. Mit der Zeit war dieser Satz zu so etwas wie einer Liebkosung geworden. Beinahe. »Es wird nichts Schlimmes passieren, abgesehen davon, dass ich noch mehr Kopfschmerzen bekommen werde.«
»Wie sie dich schuften lassen«, grummelte sie.
Jonathan hatte schon seit Langem aufgegeben, sie daran zu erinnern, dass er nicht mehr der junge Assistent mit den leuchtenden Augen war, sondern sein eigener Boss, womit der Luxus einherging, selbst zu entscheiden, wie hart er an einer gestellten Aufgabe arbeitete. Rivkas Schrubben wurde immer grimmiger, und er hielt im Abtrocknen inne, um sie bewundernd anzusehen, während sie fortfuhr:
»Es ist zu viel! Aber jetzt hör mir mal zu. Die zwei sollten es besser wieder vergessen, wenn sie wissen, was gut für sie ist. Was immer diesen Jungen und dieses Mädchen miteinander verbindet, es muss irgendeine Art Trick sein, ansonsten wüssten sie es ja bereits. Da mischt sich jemand ein, und das hat noch nie zu etwas Gutem geführt, lass dir das gesagt sein.«
Es gehörte, dachte Jonathan, zu den Tragödien seines Lebens, seiner Frau nie beweisen zu können, dass sie falschlag. Weshalb er, anstatt diese sinnlose Diskussion fortzuführen, lieber eine kleine Blase, die auf ihrer faltigen Wange gelandet war, zum Platzen brachte und die zurückbleibende Seife küsste.
»Zurück an die Arbeit!«, schimpfte sie ihn aus.
»Hast du nicht gesagt, ich würde zu hart arbeiten?«
»Das nehme ich zurück!«
Für ihn reichte das als Sieg.