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Buch

Erst als der jüngste Sohn der Familie Songoli nicht mehr von der Schule nach Hause kommt, wird Munas Leben besser. Endlich darf das Hausmädchen aus dem Keller nach oben ins Haus umziehen. Auch wenn es nur daran liegt, dass die Polizei während ihrer Befragungen keinen Verdacht schöpfen soll. Muna entkommt dem dunklen Kellerloch zumindest zeitweise. Trotzdem ist sie weiterhin die Sklavin der Familie. Sie ist dazu da zu kochen und zu putzen, nichts weiter. Die Songolis nutzen sie aus und misshandeln sie, wo sie nur können. Muna darf weder nach draußen noch lesen oder schreiben lernen. Nicht einmal die Sprache beherrscht sie, das denken zumindest die Songolis. Aber Muna ist intelligenter, als sie ihre Umgebung glauben macht. Sie will nicht länger die Sklavin im Keller sein, und sie weiß auch schon, wie sie das anstellt …

Weitere Informationen zu Minette Walters

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

MINETTE WALTERS

Der Keller

Psychothriller

Ins Deutsche übertragen

von Charlotte Breuer

und Norbert Möllemann

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Cellar« in Großbritannien bei Arrow Books, part of the Penguin Random House group, in association with Hammer, London. In den USA 2015 erschienen bei The Mysterious Press, an imprint of Grove Atlantic, New York.

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1. Auflage

Taschenbuchausgabe Mai 2016

Copyright © 2015, 2016 by Minette Walters

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Th · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-18640-1
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Charlotte

Abgrundtiefer Hass

kann die Bedeutung und die Bestimmung

eines leeren Lebens sein.

Eric Hoffer

Die Dunkelheit spricht.

Sie flüstert tröstende Worte im Gemäuer

und in den Netzen, die Spinnen weben.

Die Dunkelheit atmet.

Leise. Ruhig.

Und wärmt die Luft mit ihrem duftenden Odem.

Die Dunkelheit fühlt.

Sie umschlingt tröstend, was sie liebt,

und nimmt ihm den Schmerz.

Die Dunkelheit sieht.

Die Dunkelheit hört.

SOMMER

Eins

Munas Schicksal wendete sich an dem Tag zum Guten, als Mr. und Mrs. Songolis jüngerer Sohn nicht aus der Schule nach Hause kam. Wenn auch nicht sofort. Zuerst empfand sie nur große Angst, als Yetunde Songoli schrie und lamentierte und sie mit einem Stock schlug, weil der Zehnjährige nicht in seinem Zimmer war. Erst Mr. Songoli setzte der Bestrafungsaktion ein Ende. Sei vernünftig, befahl er seiner Frau. Die Polizei wird Fragen stellen, wenn sie blaue Flecken an den Armen hat.

Kurz darauf bugsierte Yetunde Muna in ein Zimmer mit einem Bett und einem Fenster. Sie zog ihr ein buntes Kleid über den Kopf und band ihr dazu passende Schleifen ins Haar, während sie zischelte, sie sei eine Hexe und eine Teufelin. Sie habe einen Fluch über die Familie gebracht. Warum sonst sei Abiola nicht nach Hause gekommen?

Als sie allein war, betrachtete Muna sich im Wandspiegel. War es das, was Mr. Songoli mit »vernünftig« gemeint hatte? Muna hübsch zu machen? Es war sehr verwirrend. Nach einer langen Weile hörte sie draußen Autos vorfahren, dann das Klingeln an der Tür und fremde Stimmen im Hausflur. Sie hätte sich in eine dunkle Ecke gekauert, hätte Yetunde ihr nicht befohlen, sich auf das Bett zu setzen. Es war unbequem – ihr Rücken schmerzte von der Anstrengung, sich aufrecht zu halten –, aber sie rührte sich nicht. Die Reglosigkeit war ihr über die Jahre zur Freundin geworden. Sie erlaubte es ihr, unbemerkt zu bleiben.

Sie begann schon zu hoffen, dass man sie vergessen hatte, als sie Geräusche auf der Treppe hörte. Sie erkannte Yetunde Songolis schweren Schritt, jedoch nicht den leichteren der Person, die ihr folgte. Muna schaute teilnahmslos zur Tür, sah, wie sie sich öffnete und Yetundes wuchtiger, aufgedunsener Körper erschien, hinter ihr eine schlanke Weiße in Bluse und Hose. Muna hätte sie für einen Mann gehalten, wenn ihre Stimme nicht so weich geklungen hätte.

Yetunde setzte sich aufs Bett und legte Muna fürsorglich einen Arm um die Taille. Die Matratze gab unter dem Gewicht der Frau nach, so dass Muna sich automatisch gegen sie lehnte. Sie war zu klein und dünn, um sich dem Griff der Frau zu widersetzen. Lass dir keine Angst anmerken, warnte Yetunde sie auf Haussa. Lächle, wenn die Polizistin dich anlächelt, und antworte auf meine Fragen. Es spielt keine Rolle, was du sagst. Sie ist eine weiße Engländerin und versteht kein Haussa.

Lächeln. Muna gab sich alle Mühe, die sanfte Lippenbiegung der Weißen nachzuahmen, aber es war so lange her, dass sie etwas so Unnatürliches getan hatte. Sprechen. Sie öffnete den Mund und bewegte die Zunge, doch nichts kam heraus. Sie hatte zu viel Angst, laut auszusprechen, was sie jede Nacht flüsternd übte. Wenn sie etwas auf Englisch sagte, wäre Yetunde vollends davon überzeugt, dass sie von Dämonen besessen war.

»Wie alt ist sie?«, fragte die Weiße.

Yetunde streichelte Munas Hand. »Vierzehn. Sie ist meine Erstgeborene, aber ihr Gehirn hat bei der Geburt einen Schaden erlitten, und das Lernen fällt ihr schwer.« Tränen liefen über die schwammigen Wangen. »Ist denn eine Tragödie nicht genug? Muss ich jetzt mit meinem heißgeliebten Abiola eine zweite erleben?«

»Es besteht noch kein Grund, das Schlimmste anzunehmen, Mrs. Songoli. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass zehnjährige Jungs hin und wieder die Schule schwänzen. Ich nehme an, er ist mit einem Freund nach Hause gegangen.«

»Er hat noch nie die Schule geschwänzt. Die Sekretärin hätte meinen Mann in der Arbeit anrufen sollen, als sie mich nicht erreicht hat. Wir zahlen immerhin genug Schulgeld. Es ist unverantwortlich, einfach eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen.«

Die Weiße hockte sich vor Muna, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Sie sagen, Sie waren den ganzen Tag unterwegs, aber was ist mit Ihrer Tochter? Wo war sie?«

»Hier. Wir haben die Erlaubnis, sie zuhause zu unterrichten. Eine Frau, die Haussa spricht, kommt jeden Morgen her.« Yetundes mit Ringen geschmückte Finger lösten sich von Munas Hand und streichelten ihre Wange. »Kinder können ja so grausam sein. Mein Mann wollte nicht, dass sie gehänselt wird, weil sie zurückgeblieben ist.«

»Spricht sie Englisch?«

»Nein. Sie spricht ja kaum Haussa.«

»Warum ist ihre Hauslehrerin nicht ans Telefon gegangen, als die Schule angerufen hat?«

»Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie würde nie einen Anruf entgegennehmen, der nicht für sie ist.« Yetunde drückte sich ein Taschentuch an die Augen. »Ich gehe fast nie aus. An jedem anderen Tag wäre ich hier gewesen.«

»Sie sagten, Ihnen sei klargeworden, dass etwas nicht stimmte, als Sie um sechs Uhr nach Hause kamen und Ihre Nachrichten abgehört haben.« Die hockende Weiße musterte Munas Gesicht. »Aber Ihre Tochter muss sich doch Sorgen gemacht haben, als Abiola nicht zur üblichen Zeit aus der Schule gekommen ist. Würden Sie sie bitte fragen, warum sie Ihnen nichts gesagt hat, als Sie ins Haus kamen?«

Yetunde kniff Muna in die Hüfte. Sie redet über Abiola. Sieh mich an und tu so, als ob du dir Sorgen machst. Sag etwas.

Muna wandte sich Yetunde zu und sprach die einzigen Worte aus, die zu benutzen ihr erlaubt waren. Ja, Prinzessin. Nein, Prinzessin. Kann ich etwas für Sie tun, Prinzessin?

Wieder betupfte sich Yetunde die Augen. »Sie sagt, sie dachte, er wäre mit unserem älteren Sohn Olubayo zusammen. Er nimmt seinen kleinen Bruder manchmal mit in den Park.« Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust. »Ich hätte hier sein sollen. Es wurde so viel Zeit verschwendet.«

Muna fragte sich, ob die Weiße eine solche Lüge glauben würde, und hielt den Blick gesenkt aus Angst, die blauen Augen würden in den ihren lesen, dass Yetunde log. Munas Leben war erträglicher, solange alle glaubten, sie sei zu dumm, um eine andere Sprache als Haussa zu verstehen.

»Sie werden verstehen, dass wir Ihr Haus und Ihren Garten durchsuchen müssen, Mrs. Songoli?«, sagte die Weiße und stand auf. »Das machen wir routinemäßig, wenn ein Kind vermisst wird. Abiola könnte sich ja auch versteckt haben, anstatt zur Schule zu gehen. Wir werden so rücksichtsvoll wie möglich vorgehen, aber ich schlage vor, dass Sie mit Ihrer Tochter nach unten gehen, damit Sie sich alle zusammen in einem Zimmer aufhalten können.«

Wenn Muna in der Lage gewesen wäre, das Ironische an einer Situation zu erkennen, hätte sie vielleicht darüber gelacht, dass Yetunde Olubayo anwies, Muna zu behandeln, als wäre sie seine Schwester. Aber Humor und Lachen waren ihr ebenso fremd wie Lächeln und Sprechen. Stattdessen dachte sie an die Tritte und Schläge, die Olubayo ihr verpassen würde, sobald die Weißen fort waren. Er war groß und kräftig für einen Dreizehnjährigen, und Muna fürchtete sich jetzt schon vor dem Tag, an dem er vom Jungen zum Mann wurde. In letzter Zeit hatte sie, wenn sie von ihrer Arbeit aufblickte, immer wieder gesehen, wie er sie anstarrte und sich dabei am Türrahmen rieb.

Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie den Gesichtsausdruck von Mr. und Mrs. Songoli. Wie viel Angst sie hatten, dachte sie; aber lag das an Abiolas Verschwinden oder daran, dass die Polizei im Haus war? Als Yetunde sie nach unten geführt hatte, war Muna aufgefallen, dass die Kellertür offen stand. Eine Glühbirne brannte jetzt in der Lampe über der Treppe, und sie sah, dass die Matratze und der Beutel mit ihren Habseligkeiten aus ihrem sonst so stockdunklen Verlies entfernt worden waren.

Wie harmlos ihr Gefängnis aussah, dachte sie, so hell erleuchtet und ohne Anzeichen dafür, dass dort jemand geschlafen hatte, und es ließ die Hoffnung in ihr aufkeimen, dass Weiße freundlicher waren als Schwarze. Aus welchem anderen Grund sollten die Songolis die Wahrheit über Muna verschleiern? Nur ein einziges Mal wagte sie einen kurzen Blick zu der Frau in der langen Hose hin. Die Frau fragte Olubayo gerade nach Abiolas Freunden. Sofort packte Muna die Angst, als die blauen Augen sie und nicht Olubayo anschauten. Sie wirkten klug und weise, und Muna zitterte bei dem Gedanken, diese Frau könnte gemerkt haben, dass sie verstand, was gesagt wurde.

Würde sie erraten, dass Muna die Nachricht gehört hatte, die auf dem Anrufbeantworter hinterlassen worden war, und den ganzen Tag gewusst hatte, dass Abiola nicht in der Schule erschienen war?

Die Sucher kehrten zurück, schüttelten den Kopf und sagten, sie hätten keine Spur von dem Jungen entdeckt, nur ein Handy, das in dessen Zimmer am Ladegerät hing. Yetunde identifizierte das Handy als Abiolas und begann wieder zu wehklagen, weil der Junge es nicht mitgenommen hatte. Unter lautem Wehgeschrei wiegte sie sich vor und zurück, während ihr Mann wütend auf und ab ging und den Tag verfluchte, an dem er seine Familie in dieses gottverlassene Land gebracht hatte. Er ballte die Fäuste, brachte sein rot angelaufenes Gesicht ganz dicht vor das der Weißen und verlangte zu wissen, was die Polizei unternehmen würde.

Muna wäre vor solcher Rohheit zurückgewichen, aber nicht die Weiße. Sie fasste Ebuka ganz ruhig am Arm und führte ihn zurück zu seinem Sessel, wo er um seinen vermissten Sohn weinen konnte. Die Frau schien große Macht über Männer zu haben. Während Yetunde mit den Füßen stampfte und schrie, um ihren Willen durchzusetzen, gab die Weiße Befehle, die befolgt wurden. Sie benutzte das Telefon, um jemanden von der Kinderschutzbehörde herzubestellen, der Abiolas Computer und Handy überprüfen sollte. Sie bat Yetunde und Ebuka um Fotos und Videos von Abiola. Die Polizisten nahmen Plastiktüten mit Kleidungsstücken von Abiola, seiner Zahnbürste und seinem Kamm mit. Es wurden Sandwiches und Pizza geliefert.

Und die ganze Zeit stellte die Weiße Fragen zur Familie. War Abiola in letzter Zeit unglücklich gewesen? Wurde er in der Schule drangsaliert? Schloss er sich in seinem Zimmer ein, verbrachte er Stunden im Internet? Hatte er viele Geheimnisse? Was wussten seine Eltern über seine Freunde? Gehörte er einer Gang an? Wurde er morgens zur Schule gebracht, oder ging er allein? Wer hatte ihn am Morgen verabschiedet?

Das Bild, das Yetunde und Ebuka mit ihren Antworten zeichneten, war Muna fremd. Sie beschrieben Abiola als allseits beliebten Jungen, der jeden Morgen zusammen mit seinem Bruder zu Fuß zur Schule ging, begierig, Neues zu lernen. Sie erwähnten nicht, dass er fast jede Nacht einnässte und seine Mutter schlug und trat, wenn sie ihn bat, etwas zu tun, das ihm nicht passte. Yetunde musste ihn mit Süßigkeiten bestechen, damit er zur Schule ging. Mutter und Sohn waren gleichermaßen fett und aufgedunsen, denn jedes Mal, wenn Yetunde Abiola ein Häppchen Süßes gab, steckte sie sich auch eins in den Mund.

Dieses Problem war über die Familie gekommen, dachte Muna, weil Mr. Songoli den Wagen abbestellt hatte, der die beiden Jungen morgens zur Schule und nachmittags nach Hause gebracht hatte. Es hatte ihn geärgert, wie verwöhnt seine Söhne waren, und er hatte ihnen erklärt, sie müssten lernen, sich genauso nach Bildung zu sehnen wie die Kinder im afrikanischen Busch. Jetzt erzählte Olubayo schreckliche Lügen über den Vormittag, legte sich die Hand aufs Herz und schwor, er habe Abiola bis zum Schultor begleitet. Aber Muna wusste, dass das nicht stimmen konnte. Olubayo und Abiola hassten einander so sehr, dass sie niemals etwas gemeinsam taten.

Vielleicht glaubte die Weiße ihm die Geschichte auch gar nicht, denn sie fragte Yetunde, ob sie gesehen habe, wie ihre beiden Söhne gemeinsam das Haus verlassen hätten. Und natürlich sagte Yetunde ja. Sie würde ihrem Mann gegenüber niemals zugeben, dass sie stattdessen vor ihrem Spiegel gesessen und teure Bleichcreme in ihre Gesichtshaut einmassiert hatte. Derart verschwenderischer Luxus ärgerte Ebuka.

»Ich würde Ihrer Tochter gern dieselben Fragen stellen, Mrs. Songoli. Würden Sie sie bitte übersetzen?«

Yetunde hob die Stimme. Kinn hoch, Muna. Die Frau will wissen, ob du heute Morgen gesehen hast, wie Olubayo und Abiola aus dem Haus gegangen sind. Ich will, dass du nickst und etwas sagst. Sie will etwas von dir hören.

Muna tat, wie ihr geheißen. Ja, Prinzessin. Nein, Prinzessin. Kann ich etwas für Sie tun, Prinzessin? Während sie das alles auf Haussa flüsterte, wünschte sie, sie hätte den Mut, die Worte auszusprechen, die sie jeden Abend heimlich übte.

»Bitte, helfen Sie mir. Ich heiße Muna. Mr. und Mrs. Songoli haben mich gestohlen, als ich acht Jahre alt war. Ich möchte nach Hause, aber ich weiß nicht, wer meine Eltern sind und wo ich herkomme.«

Zwei

Die einzigen Erwachsenen, an die Muna sich erinnern konnte, waren Nonnen und Priester mit glänzender weißer Haut. Über die Jahre waren ihre Gesichter verblasst, und ihre Namen hatte sie längst vergessen, aber sie glaubte, dass sie bei ihnen glücklich gewesen war. Es fiel ihr leichter, sich die strahlenden schwarzen Gesichter der anderen Kinder ins Gedächtnis zu rufen. Leute, die ihr ähnelten, konnte sie sich besser einprägen. Manchmal träumte sie von Spielen im gleißenden Sonnenlicht eines Schulhofs, wo alles bunt und hell war, aber wo sich dieser Schulhof befand und weshalb sie dort gewesen war, wusste sie nicht.

Das Leben, das sie jetzt führte, hatte an dem Tag begonnen, als Yetunde gekommen war, um sie abzuholen. Die große Frau in der prächtigen leuchtend blauen Kaba, der passenden Gele auf dem Kopf und mit goldenen Ketten um den Hals besaß Dokumente, aus denen hervorging, dass sie einen Anspruch auf das Kind hatte. Mit einem gutgelaunten Lachen hatte sie behauptet, Muna sei ihre Nichte, hatte sie umarmt und geküsst und ihr gesagt, wie hübsch sie sei, und Muna hatte die Frau angelächelt, als kenne sie sie. Kein Priester, der ihre Gesichter sah, hätte daran gezweifelt, dass sie sich liebten, erst recht nicht, als Yetunde Songoli ein Dokument präsentierte, das ihr die Vormundschaft über die achtjährige Tochter ihrer verstorbenen Schwester zusprach.

War Muna misstrauisch gewesen? Nein. Sie war nur voller Staunen darüber gewesen, dass sie zu einer Frau gehörte, die so reich und schön war wie Yetunde. Ob ihr jemand erklärt hatte, warum sie sich in der Obhut von Nonnen befand oder warum Yetunde Songoli auf die Idee gekommen war, in dem Kinderheim nach ihr zu suchen, wusste sie nicht mehr. Am intensivsten war ihr im Gedächtnis haften geblieben, wie sie an der Hand ihrer Tante durch das Schultor gehüpft war, ohne einen Blick zurück auf den Ort zu werfen, den sie ihr Zuhause genannt hatte.

Jetzt, all die Jahre später – fünf? sechs? sieben? – wünschte Muna, sie würde sich besser an jenen Ort erinnern. Ihr Verstand sagte ihr, dass es ein Waisenhaus gewesen sein musste und dass der Priester ihren Familiennamen, wenn sie denn überhaupt einen hatte, nicht gekannt hatte. Oder war er vielleicht genauso böse wie Yetunde Songoli? Vielleicht gab sich der Mann als Priester aus und verdiente sein Geld damit, dass er mutterlose Mädchen an gutgekleidete Frauen mit Dokumenten verkaufte. Aber das wollte Muna nicht glauben. Sie wollte so gern glauben, dass Weiße mehr Herzensgüte besaßen als Schwarze, auch wenn sie tief im Innern wusste, dass das nicht stimmte. Sie hatte gesehen, wie kalt und unfreundlich sie auf der Straße vor dem Haus aneinander vorbeigingen, ohne sich zu grüßen oder auch nur anzulächeln.

Ihre schlimmsten Ängste stand sie nachts aus. Tagsüber konnte sie an sich selbst glauben, aber nachts im stockdunklen Keller zweifelte sie an ihrer eigenen Existenz. Wie sehr sie sich auch bemühte, die Wände, den Boden oder auch nur ihre eigene Hand vor ihrem Gesicht zu sehen, um sie herum war es pechschwarz. Und die Dunkelheit war lebendiger als sie selbst.

Nur Schmerz konnte ihr versichern, dass sie existierte. Wenn sie die Stelle zwischen ihren Beinen berührte, wo eine Hexe einen Teil von ihr weggeschnitten hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen der Verzweiflung. Es wird dich reinigen, hatte die Frau gesagt, während Yetunde Muna festgehalten hatte und das Messer in die geheimste Stelle am Körper der kleinen Muna eingedrungen war.

Das Wort hatte keine Bedeutung für Muna, denn sie verstand nicht, wie die Qualen, die sie litt, wenn Ebuka die unförmige Öffnung zwischen ihren Beinen wieder aufriss, sie reinigen sollten. Sie wusste nicht, warum er das tat, und zitterte jedes Mal vor Angst, wenn die Kellertür aufging und der Schein seiner Taschenlampe auf die Treppe fiel. Nie sah sie sein Gesicht. Er wurde ebenso unsichtbar wie sie, sobald das Licht erlosch und er ihr die Hand auf den Mund legte, um ihr Wimmern zu ersticken. Sie wusste nur, dass es Ebuka war, weil sie ihn am Geruch und an seinem Schweinegrunzen erkannte.

Vielleicht geschah die Reinigung ja durch die brennenden Schmerzen beim Wasserlassen oder durch die Angst, die sie überkam, seit einmal im Monat rätselhafterweise Blut aus ihr herauslief. Seitdem kam Ebuka nur noch zu ihr, wenn sie blutete, so als würde das, was aus ihm herauslief, durch das, was aus ihr herauslief, gereinigt werden.

Yetunde fragte sie häufig, ob sie angefangen hatte, zwischen den Beinen zu bluten, aber sie sagte jedes Mal nein. Sie hatte das Gefühl, dass es ein Geheimnis war, das sie hüten musste, auch wenn sie nicht wusste, warum. Sie verstand eigentlich nur etwas vom Putzen und Kochen, und auch das hatte sie nur gelernt, weil sie mit einem Stock geschlagen wurde, wenn sie etwas falsch machte. Es gab so vieles in ihrem Leben, das ihr unerklärlich war. Wer sie war. Woher sie kam. Wie alt sie war. Wo sie sich befand und wie sie dorthin gelangt war.

Sie erinnerte sich daran, dass sie vor dem Schultor in ein silbernes Auto gestiegen und durch Straßen und an Märkten vorbeigefahren worden war, wo es von Menschen nur so gewimmelt hatte, und sie erinnerte sich, wie Tante Yetunde ihr lächelnd ein Stück Kokosgebäck in den Mund gesteckt hatte. An alles, was danach kam, erinnerte sich Muna nur noch verschwommen und ungeordnet. Sie erinnerte sich an die Hexe mit dem Messer, weil sie von dem Schmerz aufgewacht war und geschrien hatte, aber die meiste Zeit glaubte sie geschlafen zu haben.

Bestimmte Bilder tauchten immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Yetunde, die ihr kleine Stücke Kokosgebäck in den Mund schob. Das Kratzen eines Barts an ihrer Wange, als ein Mann sie durch eine große Halle trug. Yetunde, die sagte, das Kind sei seine Tochter. Das Dröhnen von Motoren. In Reihen sitzende Menschen. Das Gefühl, in die Luft gehoben zu werden. Wie sie wieder durch eine Halle getragen wurde. Regen auf ihrem Gesicht. Wie sie hier in dem dunklen Keller aufgewacht war und nie wieder Kokosgebäck bekommen hatte.

Muna glaubte, dass der bärtige Mann Ebuka gewesen war, aber sie hatte keine Erklärung dafür, warum er sich damals als ihr Vater ausgegeben hatte. Sie vermutete, dass die anderen Erinnerungen mit einer Reise zu tun hatten. Der Ort, den sie verlassen hatte, war voller Sonne und leuchtender Farben gewesen, aber das Einzige, was hier leuchtete, war das Grün des Grases und des Laubs an den Bäumen. Sie wünschte, sie hätte sich jedes Mal, wenn sich die Blätter goldbraun färbten, ein Zeichen gemacht, denn es bedeutete, dass wieder ein Jahr vergangen war, aber sie war noch ein Kind gewesen und zu sehr damit beschäftigt, die Stunden jeden Tages zu zählen, um an die Zukunft zu denken.

Vom Schlafzimmerfenster im ersten Stock aus konnte sie über die hohe Ziegelmauer sehen, die das Haus umschloss. In der Ferne waren hohe Gebäude zu erkennen, die in den Himmel ragten, aber in der Nähe befanden sich Häuser, die dem ähnelten, in dem sie wohnte, umgeben von Mauern und verborgen hinter Bäumen. Wenn sie im Erdgeschoss staubwischte, sah sie durch das Gittertor am Ende der kurzen Einfahrt mehr als durch die Fenster im ersten Stock. Menschen, die zu Fuß gingen. Menschen in Autos. So hatte sie herausgefunden, dass sie sich in der Welt der Weißen befand. Mit der Zeit kannte sie die Gesichter derer, die täglich am Tor vorbeigingen, aber die schauten nie in ihre Richtung.

Hätten sie es getan, hätte Muna sich aus Angst hinter dem Vorhang versteckt. Es war ihr verboten, irgendjemanden anzusehen. Nachts flüsterte sie vor sich hin, um sich daran zu erinnern, dass sie eine Stimme hatte, doch die Angst, gehört zu werden, war fürchterlich. Als Muna darum gebettelt hatte, wieder zurück in ihre Schule zu dürfen, hatte Yetunde gesagt, sie sei von Dämonen besessen, und hatte siedendes Öl auf ihren nackten Fuß geschüttet, um sie zu lehren, dass Dämonen Worte der Undankbarkeit sprachen.

Macht es dich etwa nicht glücklich, deiner Tante zu dienen?, hatte Yetunde gefragt. Doch, Prinzessin, hatte Muna geantwortet.

Muna hatte schreckliche Angst, die Weiße in Hosen könnte in ihren Kopf sehen. Sie spürte, wie sich der scharfe Blick aus den blauen Augen in ihren Schädel bohrte. Hatten ihre Ohren ihr gesagt, dass Muna zweimal die gleichen Worte gesprochen hatte? Die Angst drehte ihr den Magen um. Yetunde würde noch härter mit dem Stock zuschlagen, wenn die kleine Muna schuld war, dass die Polizei ihr nicht glaubte.

»Hast du dich umgedreht, um zu sehen, ob Abiola dir durch das Tor gefolgt ist?«, fragte die Weiße Olubayo.

»Nein. Ich bin direkt zu meinen Freunden gelaufen.« Olubayo stieß einen Klagelaut aus, als wüsste er, dass es ratsam war, sich bekümmert zu zeigen.

»Geben Sie etwa meinem Sohn die Schuld?«, fragte Ebuka Songoli aufgebracht.

»Natürlich nicht, Sir, aber wir brauchen die Namen von allen, die sich in der Nähe des Tors aufgehalten haben, als Ihr Sohn ankam. Einige unserer Leute durchsuchen gerade das Schulgelände für den Fall, dass Abiola einen Unfall hatte, aber wenn er die Schule gar nicht erst betreten hat, könnte ein Elternteil oder ein Mitschüler gesehen haben, was mit ihm passiert ist.« Sie machte eine Pause. »Wir müssen klären, ob er allein weggegangen ist oder in Begleitung war.«

»Ein Fremder hat ihn mitgenommen. Das hier ist ein schlechtes Land. In unserem Land würde so etwas nie passieren.«

»Es ist viel wahrscheinlicher, dass er mit jemandem mitgegangen ist, den er kannte, Mr. Songoli. Es befanden sich zahlreiche Personen auf dem Areal, und es gibt dort zu viele Überwachungskameras, als dass ein Fremder Ihren Sohn entführt haben könnte. Einer meiner Mitarbeiter geht gerade zusammen mit dem Hausmeister das Filmmaterial von heute Morgen durch, aber jeder Name, den Olubayo mir nennen kann, wäre eine Hilfe. Morgen ist Freitag. Uns bleibt also wenig Zeit, Zeugen zu finden, bevor die Schüler übers Wochenende nach Hause fahren.«

Muna spürte, wie nervös Olubayo war, der neben ihr saß, als er stotternd die Namen angab, an die er sich erinnerte. Sie fand es dumm von ihm, die Namen preiszugeben. Glaubte er etwa, niemand hätte bemerkt, dass er allein in der Schule eingetroffen war? An jedem der vier Tage, seit das Auto nicht mehr kam, war er losgerannt, sobald Yetunde ihn und Abiola hinter der Mauer, die den Garten umgab, nicht mehr sehen konnte. Muna, die morgens immer als Erstes die Zimmer der Jungen oben unterm Dach säubern musste, hatte genau gesehen, wie Olubayo lachend davongerannt und sein dicker Bruder vor Wut weinend hinter ihm her gewatschelt war.

Sie hatte Yetunde nichts davon erzählt, denn dann hätte Olubayo sie getreten und geschlagen. Außerdem wollte sie nicht mit dem Stock geschlagen werden, weil sie ihre Pflichten unterbrochen hatte, nur um der Prinzessin etwas zu sagen, das diese nicht hören wollte. Munas Aufgabe war es, Abiolas Laken zu waschen, und nicht, sich darum zu kümmern, ob er auf der Straße allein gelassen wurde. Sie mochte ihn nicht. Er war ein fauler, schmutziger Junge, der ins Bett machte, weil Muna sein Bettzeug wusch. Manchmal beschmierte er die Laken sogar mit Kot, damit es noch mühsamer war, sie wieder weiß zu bekommen.

Die Faulheit hatte ihn dumm gemacht, und dafür war Muna ihm dankbar. Es war ihm so schwergefallen, Englisch zu lernen, dass Mr. Songoli einen Hauslehrer für ihn eingestellt hatte. Da Yetunde kein Interesse daran hatte zuzuhören, fand der Unterricht im Esszimmer statt, und da Muna von Fremden nicht gesehen werden durfte, befahl man ihr, sich in der Küche aufzuhalten, während der Lehrer im Haus war. Erstaunlicherweise hatte Yetunde offenbar nie daran gedacht, dass Muna, wenn sie neben der Durchreiche stand, alles hören konnte, was nebenan im Esszimmer gesagt wurde.

Vielleicht glaubte Yetunde ja, was sie immerzu wiederholte, nämlich dass Muna zu geistesschwach war, um sich in der Welt zurechtzufinden. Sei dankbar, dass ich dich beschütze, sagte sie jedes Mal, wenn sie unzufrieden mit Muna war und sie mit dem Stock schlug. Wenn wir dich nicht bei uns aufgenommen hätten, wärst du ein Nichts.

Es war Muna verboten fernzusehen oder Radio zu hören, aber von ihrer Ecke in der Küche aus, wo sie auf dem Boden hockte, hörte sie alles, weil die Songolis die Lautstärke so weit aufdrehten. Anfangs hatte sie nur die Sprache in den Kindersendungen verstanden, die Olubayo und Abiola sich ansahen, aber mit den Jahren hatte sie gelernt, den Talkshows zu folgen, nach denen Yetunde ganz verrückt war. Und wenn Ebuka abends nach Hause kam, lauschte sie den Nachrichten, während sie das Abendessen zubereitete.

Krieg … Mord … Vergewaltigung … Gewalt … Hass … Intoleranz … Grausamkeit …

Im Kopf konnte Muna aus all den Wörtern ganze Sätze bilden, doch es fiel ihr schwer, sie auszusprechen. Und oft fragte sie sich, ob es sich überhaupt lohnte, es zu probieren. Nach allem, was sie hörte, war die Welt da draußen genauso schlimm und furchteinflößend, wie Yetunde und Ebuka sie beschrieben.