Zwei
Die einzigen Erwachsenen, an die Muna sich erinnern konnte, waren Nonnen und Priester mit glänzender weißer Haut. Über die Jahre waren ihre Gesichter verblasst, und ihre Namen hatte sie längst vergessen, aber sie glaubte, dass sie bei ihnen glücklich gewesen war. Es fiel ihr leichter, sich die strahlenden schwarzen Gesichter der anderen Kinder ins Gedächtnis zu rufen. Leute, die ihr ähnelten, konnte sie sich besser einprägen. Manchmal träumte sie von Spielen im gleißenden Sonnenlicht eines Schulhofs, wo alles bunt und hell war, aber wo sich dieser Schulhof befand und weshalb sie dort gewesen war, wusste sie nicht.
Das Leben, das sie jetzt führte, hatte an dem Tag begonnen, als Yetunde gekommen war, um sie abzuholen. Die große Frau in der prächtigen leuchtend blauen Kaba, der passenden Gele auf dem Kopf und mit goldenen Ketten um den Hals besaß Dokumente, aus denen hervorging, dass sie einen Anspruch auf das Kind hatte. Mit einem gutgelaunten Lachen hatte sie behauptet, Muna sei ihre Nichte, hatte sie umarmt und geküsst und ihr gesagt, wie hübsch sie sei, und Muna hatte die Frau angelächelt, als kenne sie sie. Kein Priester, der ihre Gesichter sah, hätte daran gezweifelt, dass sie sich liebten, erst recht nicht, als Yetunde Songoli ein Dokument präsentierte, das ihr die Vormundschaft über die achtjährige Tochter ihrer verstorbenen Schwester zusprach.
War Muna misstrauisch gewesen? Nein. Sie war nur voller Staunen darüber gewesen, dass sie zu einer Frau gehörte, die so reich und schön war wie Yetunde. Ob ihr jemand erklärt hatte, warum sie sich in der Obhut von Nonnen befand oder warum Yetunde Songoli auf die Idee gekommen war, in dem Kinderheim nach ihr zu suchen, wusste sie nicht mehr. Am intensivsten war ihr im Gedächtnis haften geblieben, wie sie an der Hand ihrer Tante durch das Schultor gehüpft war, ohne einen Blick zurück auf den Ort zu werfen, den sie ihr Zuhause genannt hatte.
Jetzt, all die Jahre später – fünf? sechs? sieben? – wünschte Muna, sie würde sich besser an jenen Ort erinnern. Ihr Verstand sagte ihr, dass es ein Waisenhaus gewesen sein musste und dass der Priester ihren Familiennamen, wenn sie denn überhaupt einen hatte, nicht gekannt hatte. Oder war er vielleicht genauso böse wie Yetunde Songoli? Vielleicht gab sich der Mann als Priester aus und verdiente sein Geld damit, dass er mutterlose Mädchen an gutgekleidete Frauen mit Dokumenten verkaufte. Aber das wollte Muna nicht glauben. Sie wollte so gern glauben, dass Weiße mehr Herzensgüte besaßen als Schwarze, auch wenn sie tief im Innern wusste, dass das nicht stimmte. Sie hatte gesehen, wie kalt und unfreundlich sie auf der Straße vor dem Haus aneinander vorbeigingen, ohne sich zu grüßen oder auch nur anzulächeln.
Ihre schlimmsten Ängste stand sie nachts aus. Tagsüber konnte sie an sich selbst glauben, aber nachts im stockdunklen Keller zweifelte sie an ihrer eigenen Existenz. Wie sehr sie sich auch bemühte, die Wände, den Boden oder auch nur ihre eigene Hand vor ihrem Gesicht zu sehen, um sie herum war es pechschwarz. Und die Dunkelheit war lebendiger als sie selbst.
Nur Schmerz konnte ihr versichern, dass sie existierte. Wenn sie die Stelle zwischen ihren Beinen berührte, wo eine Hexe einen Teil von ihr weggeschnitten hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen der Verzweiflung. Es wird dich reinigen, hatte die Frau gesagt, während Yetunde Muna festgehalten hatte und das Messer in die geheimste Stelle am Körper der kleinen Muna eingedrungen war.
Das Wort hatte keine Bedeutung für Muna, denn sie verstand nicht, wie die Qualen, die sie litt, wenn Ebuka die unförmige Öffnung zwischen ihren Beinen wieder aufriss, sie reinigen sollten. Sie wusste nicht, warum er das tat, und zitterte jedes Mal vor Angst, wenn die Kellertür aufging und der Schein seiner Taschenlampe auf die Treppe fiel. Nie sah sie sein Gesicht. Er wurde ebenso unsichtbar wie sie, sobald das Licht erlosch und er ihr die Hand auf den Mund legte, um ihr Wimmern zu ersticken. Sie wusste nur, dass es Ebuka war, weil sie ihn am Geruch und an seinem Schweinegrunzen erkannte.
Vielleicht geschah die Reinigung ja durch die brennenden Schmerzen beim Wasserlassen oder durch die Angst, die sie überkam, seit einmal im Monat rätselhafterweise Blut aus ihr herauslief. Seitdem kam Ebuka nur noch zu ihr, wenn sie blutete, so als würde das, was aus ihm herauslief, durch das, was aus ihr herauslief, gereinigt werden.
Yetunde fragte sie häufig, ob sie angefangen hatte, zwischen den Beinen zu bluten, aber sie sagte jedes Mal nein. Sie hatte das Gefühl, dass es ein Geheimnis war, das sie hüten musste, auch wenn sie nicht wusste, warum. Sie verstand eigentlich nur etwas vom Putzen und Kochen, und auch das hatte sie nur gelernt, weil sie mit einem Stock geschlagen wurde, wenn sie etwas falsch machte. Es gab so vieles in ihrem Leben, das ihr unerklärlich war. Wer sie war. Woher sie kam. Wie alt sie war. Wo sie sich befand und wie sie dorthin gelangt war.
Sie erinnerte sich daran, dass sie vor dem Schultor in ein silbernes Auto gestiegen und durch Straßen und an Märkten vorbeigefahren worden war, wo es von Menschen nur so gewimmelt hatte, und sie erinnerte sich, wie Tante Yetunde ihr lächelnd ein Stück Kokosgebäck in den Mund gesteckt hatte. An alles, was danach kam, erinnerte sich Muna nur noch verschwommen und ungeordnet. Sie erinnerte sich an die Hexe mit dem Messer, weil sie von dem Schmerz aufgewacht war und geschrien hatte, aber die meiste Zeit glaubte sie geschlafen zu haben.
Bestimmte Bilder tauchten immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Yetunde, die ihr kleine Stücke Kokosgebäck in den Mund schob. Das Kratzen eines Barts an ihrer Wange, als ein Mann sie durch eine große Halle trug. Yetunde, die sagte, das Kind sei seine Tochter. Das Dröhnen von Motoren. In Reihen sitzende Menschen. Das Gefühl, in die Luft gehoben zu werden. Wie sie wieder durch eine Halle getragen wurde. Regen auf ihrem Gesicht. Wie sie hier in dem dunklen Keller aufgewacht war und nie wieder Kokosgebäck bekommen hatte.
Muna glaubte, dass der bärtige Mann Ebuka gewesen war, aber sie hatte keine Erklärung dafür, warum er sich damals als ihr Vater ausgegeben hatte. Sie vermutete, dass die anderen Erinnerungen mit einer Reise zu tun hatten. Der Ort, den sie verlassen hatte, war voller Sonne und leuchtender Farben gewesen, aber das Einzige, was hier leuchtete, war das Grün des Grases und des Laubs an den Bäumen. Sie wünschte, sie hätte sich jedes Mal, wenn sich die Blätter goldbraun färbten, ein Zeichen gemacht, denn es bedeutete, dass wieder ein Jahr vergangen war, aber sie war noch ein Kind gewesen und zu sehr damit beschäftigt, die Stunden jeden Tages zu zählen, um an die Zukunft zu denken.
Vom Schlafzimmerfenster im ersten Stock aus konnte sie über die hohe Ziegelmauer sehen, die das Haus umschloss. In der Ferne waren hohe Gebäude zu erkennen, die in den Himmel ragten, aber in der Nähe befanden sich Häuser, die dem ähnelten, in dem sie wohnte, umgeben von Mauern und verborgen hinter Bäumen. Wenn sie im Erdgeschoss staubwischte, sah sie durch das Gittertor am Ende der kurzen Einfahrt mehr als durch die Fenster im ersten Stock. Menschen, die zu Fuß gingen. Menschen in Autos. So hatte sie herausgefunden, dass sie sich in der Welt der Weißen befand. Mit der Zeit kannte sie die Gesichter derer, die täglich am Tor vorbeigingen, aber die schauten nie in ihre Richtung.
Hätten sie es getan, hätte Muna sich aus Angst hinter dem Vorhang versteckt. Es war ihr verboten, irgendjemanden anzusehen. Nachts flüsterte sie vor sich hin, um sich daran zu erinnern, dass sie eine Stimme hatte, doch die Angst, gehört zu werden, war fürchterlich. Als Muna darum gebettelt hatte, wieder zurück in ihre Schule zu dürfen, hatte Yetunde gesagt, sie sei von Dämonen besessen, und hatte siedendes Öl auf ihren nackten Fuß geschüttet, um sie zu lehren, dass Dämonen Worte der Undankbarkeit sprachen.
Macht es dich etwa nicht glücklich, deiner Tante zu dienen?, hatte Yetunde gefragt. Doch, Prinzessin, hatte Muna geantwortet.
Muna hatte schreckliche Angst, die Weiße in Hosen könnte in ihren Kopf sehen. Sie spürte, wie sich der scharfe Blick aus den blauen Augen in ihren Schädel bohrte. Hatten ihre Ohren ihr gesagt, dass Muna zweimal die gleichen Worte gesprochen hatte? Die Angst drehte ihr den Magen um. Yetunde würde noch härter mit dem Stock zuschlagen, wenn die kleine Muna schuld war, dass die Polizei ihr nicht glaubte.
»Hast du dich umgedreht, um zu sehen, ob Abiola dir durch das Tor gefolgt ist?«, fragte die Weiße Olubayo.
»Nein. Ich bin direkt zu meinen Freunden gelaufen.« Olubayo stieß einen Klagelaut aus, als wüsste er, dass es ratsam war, sich bekümmert zu zeigen.
»Geben Sie etwa meinem Sohn die Schuld?«, fragte Ebuka Songoli aufgebracht.
»Natürlich nicht, Sir, aber wir brauchen die Namen von allen, die sich in der Nähe des Tors aufgehalten haben, als Ihr Sohn ankam. Einige unserer Leute durchsuchen gerade das Schulgelände für den Fall, dass Abiola einen Unfall hatte, aber wenn er die Schule gar nicht erst betreten hat, könnte ein Elternteil oder ein Mitschüler gesehen haben, was mit ihm passiert ist.« Sie machte eine Pause. »Wir müssen klären, ob er allein weggegangen ist oder in Begleitung war.«
»Ein Fremder hat ihn mitgenommen. Das hier ist ein schlechtes Land. In unserem Land würde so etwas nie passieren.«
»Es ist viel wahrscheinlicher, dass er mit jemandem mitgegangen ist, den er kannte, Mr. Songoli. Es befanden sich zahlreiche Personen auf dem Areal, und es gibt dort zu viele Überwachungskameras, als dass ein Fremder Ihren Sohn entführt haben könnte. Einer meiner Mitarbeiter geht gerade zusammen mit dem Hausmeister das Filmmaterial von heute Morgen durch, aber jeder Name, den Olubayo mir nennen kann, wäre eine Hilfe. Morgen ist Freitag. Uns bleibt also wenig Zeit, Zeugen zu finden, bevor die Schüler übers Wochenende nach Hause fahren.«
Muna spürte, wie nervös Olubayo war, der neben ihr saß, als er stotternd die Namen angab, an die er sich erinnerte. Sie fand es dumm von ihm, die Namen preiszugeben. Glaubte er etwa, niemand hätte bemerkt, dass er allein in der Schule eingetroffen war? An jedem der vier Tage, seit das Auto nicht mehr kam, war er losgerannt, sobald Yetunde ihn und Abiola hinter der Mauer, die den Garten umgab, nicht mehr sehen konnte. Muna, die morgens immer als Erstes die Zimmer der Jungen oben unterm Dach säubern musste, hatte genau gesehen, wie Olubayo lachend davongerannt und sein dicker Bruder vor Wut weinend hinter ihm her gewatschelt war.
Sie hatte Yetunde nichts davon erzählt, denn dann hätte Olubayo sie getreten und geschlagen. Außerdem wollte sie nicht mit dem Stock geschlagen werden, weil sie ihre Pflichten unterbrochen hatte, nur um der Prinzessin etwas zu sagen, das diese nicht hören wollte. Munas Aufgabe war es, Abiolas Laken zu waschen, und nicht, sich darum zu kümmern, ob er auf der Straße allein gelassen wurde. Sie mochte ihn nicht. Er war ein fauler, schmutziger Junge, der ins Bett machte, weil Muna sein Bettzeug wusch. Manchmal beschmierte er die Laken sogar mit Kot, damit es noch mühsamer war, sie wieder weiß zu bekommen.
Die Faulheit hatte ihn dumm gemacht, und dafür war Muna ihm dankbar. Es war ihm so schwergefallen, Englisch zu lernen, dass Mr. Songoli einen Hauslehrer für ihn eingestellt hatte. Da Yetunde kein Interesse daran hatte zuzuhören, fand der Unterricht im Esszimmer statt, und da Muna von Fremden nicht gesehen werden durfte, befahl man ihr, sich in der Küche aufzuhalten, während der Lehrer im Haus war. Erstaunlicherweise hatte Yetunde offenbar nie daran gedacht, dass Muna, wenn sie neben der Durchreiche stand, alles hören konnte, was nebenan im Esszimmer gesagt wurde.
Vielleicht glaubte Yetunde ja, was sie immerzu wiederholte, nämlich dass Muna zu geistesschwach war, um sich in der Welt zurechtzufinden. Sei dankbar, dass ich dich beschütze, sagte sie jedes Mal, wenn sie unzufrieden mit Muna war und sie mit dem Stock schlug. Wenn wir dich nicht bei uns aufgenommen hätten, wärst du ein Nichts.
Es war Muna verboten fernzusehen oder Radio zu hören, aber von ihrer Ecke in der Küche aus, wo sie auf dem Boden hockte, hörte sie alles, weil die Songolis die Lautstärke so weit aufdrehten. Anfangs hatte sie nur die Sprache in den Kindersendungen verstanden, die Olubayo und Abiola sich ansahen, aber mit den Jahren hatte sie gelernt, den Talkshows zu folgen, nach denen Yetunde ganz verrückt war. Und wenn Ebuka abends nach Hause kam, lauschte sie den Nachrichten, während sie das Abendessen zubereitete.
Krieg … Mord … Vergewaltigung … Gewalt … Hass … Intoleranz … Grausamkeit …
Im Kopf konnte Muna aus all den Wörtern ganze Sätze bilden, doch es fiel ihr schwer, sie auszusprechen. Und oft fragte sie sich, ob es sich überhaupt lohnte, es zu probieren. Nach allem, was sie hörte, war die Welt da draußen genauso schlimm und furchteinflößend, wie Yetunde und Ebuka sie beschrieben.