Cover

Buch

Die junge Künstlerin Sasha Riggs lebt zurückgezogen in einem kleinen Haus in North Carolina. Hier wollte sie ihren Frieden finden und sich ganz auf ihre Gemälde konzentrieren. Doch sie kommt nicht zur Ruhe: Schon ihr ganzes Leben lang quälen sie des Nachts Träume, die sie nicht versteht und bei Tag verdrängt. Doch seit einiger Zeit gelingt ihr das nicht mehr, so sehr sie es auch versucht. Ein gefährlich attraktiver Mann stiehlt sich jede Nacht in ihren Kopf, ein Mann, der sagt, dass er auf sie wartet, dass sie ihn finden soll. Diese Visionen führen sie schließlich auf die griechische Insel Korfu, doch wird Sasha dort finden, was sie unbewusst seit Jahren sucht?

Autorin

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte sie 1979 ein eisiger Schneesturm in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.

Unter dem Namen J.D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.

Von Nora Roberts bei Blanvalet bereits erschienen:

Mitten in der Nacht ∙ Das Leuchten des Himmels ∙ Ein Haus zum Träumen ∙ Im Sturm der Erinnerung ∙ Im Schatten der Wälder ∙ Die letzte Zeugin ∙ Ein dunkles Geschenk (geb. Ausgabe)

Die Irland-Trilogie: Töchter des Feuers ∙ Töchter des Windes ∙ Töchter der See

Die Templeton-Trilogie: So hoch wie der Himmel ∙ So hell wie der Mond ∙ So fern wie ein Traum

Die Sturm-Trilogie: Insel des Sturms ∙ Nächte des Sturms ∙ Kinder des Sturms

Die Insel-Trilogie: Im Licht der Sterne ∙ Im Licht der Sonne ∙ Im Licht des Mondes

Die Zeit-Trilogie: Zeit der Träume ∙ Zeit der Hoffnung ∙ Zeit des Glücks

Die Ring-Trilogie: Grün wie die Hoffnung ∙ Blau wie das Glück ∙ Rot wie die Liebe

Die Nacht-Trilogie: Abendstern ∙ Nachtflamme ∙ Morgenlied

Die Blüten-Trilogie: Rosenzauber ∙ Lilienträume ∙ Fliedernächte

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Nora Roberts

Sternenregen

Roman

Deutsch von Uta Hege

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Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »Stars of Fortune« bei Berkley, an imprint
of Penguin Random House LLC, New York.


Copyright © der Originalausgabe 2015 by Nora Roberts

Published by arrangement with Eleanor Wilder

Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

Redaktion: Angela Kuepper

LH ∙ Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18958-7
V004

www.blanvalet.de

Für Sarah, Tochter meines Herzens

Was Fliegen sind den müß’gen Knaben,
das sind wir den Göttern.

Sie töten uns zum Spaß.

William Shakespeare, König Lear

Ich weiß nicht, ob es Einbildung
oder ein Tagtraum war.

Verflüchtigt hat sich die Musik –
schlaf’ ich oder bin ich wach?

John Keats, Ode an eine Nachtigall

Prolog

Vor langer, langer Zeit, in einer anderen Welt, feierten drei Göttinnen die Krönung einer neuen Königin.

Doch im Gegensatz zu vielen anderen, die mit Gold, Geschmeide, kostbaren Seidenstoffen oder reinsten Kristallen über Land und durch die Luft, durch Zeit und Raum gekommen waren, sannen sie auf ein Geschenk, das einzigartig war.

Sie dachten an ein Ross wie Pegasus, doch es war bereits ein anderer Reisender auf einem geflügelten Pferd angereist und hatte es der neuen Königin geschenkt.

Auch besondere Schönheit, Anmut oder Weisheit schieden aus, denn darüber verfügte sie bereits.

Unsterblichkeit konnten sie ihr nicht verleihen, doch sie wussten von denen, die unsterblich waren, dass dies gleichermaßen Fluch wie Segen war.

Wie aber wäre es mit einer Gabe, die unsterblich war?

»Ein Geschenk, das ewig für sie scheint.« Celene stand auf dem weiß schimmernden Sand am Rand der tintenblauen See und blickte in den dunklen Nachthimmel hinauf.

»Der Mond ist der unsere«, rief Luna ihrer Schwester in Erinnerung. »Wir können nicht verschenken, was wir selbst ehren sollen.«

»Sterne.« Arianrhod streckte eine Hand aus, die Handfläche nach oben gerichtet, schloss die Augen, ballte kurz die Faust, öffnete sie wieder – und die Schwestern sahen ein schimmerndes Juwel aus Eis. »Ein Stern für Aegle, die Strahlende.«

Auch Celene streckte den Arm aus, schloss die Faust, öffnete sie und hielt ein Juwel aus Feuer in der Hand. »Ein Stern für Aegle, die noch heller als ihr Name scheinen wird.«

Luna tat es den beiden gleich und stellte ein Juwel aus Wasser her. »Ein Stern für Aegle, die Brillante.«

»Aber das soll noch nicht alles sein.« Celene drehte den Stern in ihrer Hand.

»Ein Wunsch.« Luna machte einen Schritt nach vorn, weil sie ihre Füße gern vom kühlen Wasser küssen ließ. »Jede von uns sollte ihren Stern mit einem Wunsch für unsere Königin versehen. Ich wünsche ihr ein starkes, hoffnungsvolles Herz.«

»Ich einen starken, alles hinterfragenden Verstand.« Celene hielt ihren Feuerstern hoch über den Kopf.

»Und ich einen starken, kühnen Geist.« Auch Arianrhod reckte beide Hände in die Luft. In der einen hielt sie ihren Stern und mit der anderen wies sie auf den Mond. »Diese Sterne sollen leuchten, solange sich die Welten drehen.«

»Sie sollen ihr Licht im Namen unserer Königin ausstrahlen, damit es jeder sehen kann.« Der Feuerstern flog Richtung Himmel, und die beiden anderen Sterne folgten ihm.

Angezogen von der kühlen weißen Macht des Mondes, drehten sie sich während ihres Fluges immer wieder um sich selbst und tauchten Land und Meer in gleißend helles Licht.

Doch plötzlich schlängelte sich etwas Dunkles darunter hindurch.

Nerezza glitt über den Strand in Richtung Wasser, und ihr Schatten trübte die zuvor so strahlende Helligkeit.

»Warum habt ihr mich nicht zu diesem Treffen eingeladen, Schwestern?«, zischte sie.

»Du bist keine von uns.« Flankiert von Luna und Celene, wandte Arianrhod sich ihr zu. »Wir sind das Licht, und du bist die Finsternis.«

»Ohne Dunkelheit gibt es kein Licht.« Nerezza lächelte, aber in ihren Augen blitzten heißer Zorn und die Knospe eines noch nicht erblühten Wahns. »Wenn der Mond abnimmt, frisst ihn die Dunkelheit. Beißt jede Nacht ein Stückchen davon ab.«

»Doch am Ende siegt das Licht.« Luna zeigte auf die farbenreichen Schweife der drei Sterne, die zum Himmel aufgestiegen waren. »Und jetzt gibt es davon sogar noch mehr.«

»Ihr bringt der Königin Geschenke, als wäret ihr Bittsteller. Dabei sollten wir die Welt beherrschen, nachdem sie nur ein schwaches, dummes Mädchen ist. Wir sollten die Welt regieren und nicht sie.«

»Wir sind Wächterinnen«, rief Celene ihr in Erinnerung. »Unsere Aufgabe ist nicht zu herrschen, sondern zu bewahren.«

»Wir sind Göttinnen! Diese Welt und andere gehören uns. Stellt euch vor, was wir alles erreichen könnten, würden wir unsere Kräfte bündeln. Alle würden sich vor uns verbeugen, und wir wären ewig jung und schön.«

»Wir wollten keine Macht über die Un-, die Halb- oder die Sterblichen. Dergleichen führt nur zu Blutvergießen, Krieg und Tod«, tat Arianrhod ihren Vorschlag ab. »Sich nach dieser Macht zu sehnen heißt, dass man die Schönheit und das Wunder des ewigen Kreislaufs nicht zu schätzen weiß.« Sie blickte wieder zu den Sternen auf, die ihr helles Licht verströmten.

»Der Tod wird sie ereilen. Wir werden diese neue Königin genauso wie die letzte leben und dann sterben sehen.«

»Ich habe gesehen, dass sie siebenmal hundert Jahre leben wird. Und dass während ihres Lebens Frieden herrschen wird«, gab Celene zurück.

»Frieden«, stieß Nerezza zischend aus. »Frieden ist doch nur die langweilige Zwischenzeit zwischen Phasen der Finsternis.«

»Los, Nerezza, kehr zurück zu deinen Schatten.« Luna scheuchte sie davon. »Dies ist eine Nacht der Freude und des Lichts, in der wir feiern wollen – dein Ehrgeiz und deine Machtgelüste sind hier fehl am Platz.«

»Die Nacht ist mir.« Nerezza ließ eine Hand nach vorne schnellen, und ein Blitz, der schwarz wie ihre Augen war, schnitt durch den weißen Sand, die dunkle See, schoss den Sternen hinterher, und einen Augenblick, bevor sie ihre Heimat unterhalb des sanften Mondenrundes fanden, schnitt er die Lichtströme durch.

Die Sterne und die Welt, die sie beschienen, bebten kurz.

»Was hast du getan?«, fuhr Celene Nerezza an.

»Ich habe einfach meinen Beitrag zu eurem Geschenk geleistet, Schwestern. Eines Tages werden Feuer-, Eis- und Wasserstern mit all ihren Wünschen und all ihrer Kraft vom Himmel fallen, und dann werden Licht und Dunkelheit vereint.«

Lachend streckte sie die Arme aus, als wollte sie die Sterne selbst vom Himmel holen. »Und wenn sie mir in die Hände fallen, erlischt der Mond für alle Zeit, und dann gewinnt die Finsternis.«

»Sie gehören dir nicht.« Arianrhod trat entschlossen auf sie zu, aber Nerezza schnitt mit einem schwarzen Blitz einen Abgrund zwischen ihnen in den Sand, aus dem schwefeliger Rauch aufstieg.

»Wenn ich sie habe, wird die Welt und werdet ihr zusammen mit dem Mond verenden. Und indem ich mich an euren Kräften labe, stoße ich dadurch die Tür zu anderen, seit langer Zeit verborgenen Kräften auf. Und statt von dem von euch geliebten fahlen Frieden werden all die Welten unter meinem Einfluss dann von Folter, Schmerz, Angst und Tod beherrscht werden.«

Glühend vor Verlangen, reckte sie die Hände in den Rauch. »Durch eure eigenen Sterne werden eure Schicksale besiegelt und mir selbst das größte Glück beschert.«

»Du bist verbannt«, herrschte Arianrhod sie mit lauter Stimme an, während sich ein leuchtend blauer Blitz wie eine Peitsche um Nerezzas Knöchel schlang.

Ihr Schrei zerriss die Luft, ließ die Erde beben, und bevor Arianrhod ihre dunkle Schwester in den von ihr selbst geschaffenen Abgrund zerren konnte, breitete Nerezza ein Paar schmaler schwarzer Flügel aus, zerriss das Band aus Licht und flog davon.

Das Blut aus ihrem Knöchel tropfte rauchend auf den weißen Sand.

»Ich bestimme selbst über mein Schicksal«, kreischte sie. »Ich werde zurückkommen und mir die Sterne und die Welten, die ich haben möchte, einfach nehmen. Und für euch wird es dann nur noch Schmerzen, Tod und die Zerstörung aller Dinge geben, die ihr liebt.«

Sie hüllte sich in ihre Schwingen ein und ward nicht mehr zu sehen.

Luna schaute ihre Schwestern an. »Sie kann uns und den Unseren nichts tun.«

»Du solltest ihre Macht und ihren Ehrgeiz ja nicht unterschätzen.« Als Celene in den dunklen Abgrund starrte, wogte ein Gefühl der Trauer in ihr auf. »Hier wird es Tod und Blut und Schmerz und Elend geben. Sie hat diesem Ort durch ihr Erscheinen ihr dunkles Brandmal aufgedrückt.«

»Sie darf die Sterne nie bekommen. Lasst sie uns zurückholen und zerstören«, schlug Arianrhod vor.

»Das wäre zu gefährlich«, erwiderte Celene. »Denn der Gestank ihrer Macht hängt noch immer in der Luft.«

»Dann sollen wir also einfach abwarten und dadurch alles aufs Spiel setzen? Dann sollen wir ihr also einfach erlauben, ein lichtvolles Geschenk in etwas Tödliches und Dunkles zu verwandeln?«

»Das können und das werden wir auf keinen Fall. Die Sterne werden fallen?«, wandte sich Luna an Celene.

»Ich kann sehen, dass sie fallen werden, doch ich weiß nicht, wo und wann.«

»Dann werden wir das Wo und Wann bestimmen.« Luna nahm die Hände ihrer Schwestern. Mit einem zustimmenden Nicken blickte Arianrhod zu den Sternen auf, deren wunderschönes Licht das Land erhellte, dessen Hüterinnen sie und ihre Schwestern waren.

»An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, doch nicht zusammen.«

»Wenn auch nur einer dieser Sterne ihr oder ihresgleichen in die Hände fällt …« Celene klappte die Augen zu, weil sie auf diese Art am besten sah.

»Viele werden auf die Suche gehen nach den Sternen, nach Macht und Glück, weil diese drei dasselbe sind. Genau wie nach dem Schicksal, weil es die Vereinigung all dieser Elemente ist. Und wir, das reflektierte Licht, müssen dafür sorgen, dass auch unseresgleichen auf die Suche geht.«

»Unseresgleichen?«, fragte Luna überrascht. »Dann holen wir sie also nicht selbst zurück?«

»Nein, denn das steht uns nicht zu. Wir müssen hierbleiben, und es wird so geschehen, wie es geschehen soll.«

»Aber wir wählen Ort und Zeit. In aller Stille«, meinte Arianrhod. »Denn wann und wo die Sterne fallen werden, darf sie nicht erfahren.«

Während sie sich weiter an den Händen hielten, gingen sie in Gedanken eine innige Verbindung ein, und jede folgte ihrem Stern, um ihn mit der eigenen Schutzmacht zu versehen, ehe er vom Himmel fiele.

Und schweigend, doch gedanklich weiter eng verbunden, sahen sie auf die drei Himmelskörper, deren zukünftiges Schicksal in den Händen und den Herzen anderer lag.

»Jetzt müssen wir einfach glauben.« Als Arianrhod weiter schwieg, drückte Luna ihr die Hand. »Wir müssen glauben. Denn wie sollen die, die nach uns kommen, glauben können, wenn wir selbst dazu nicht in der Lage sind?«

»Ich glaube, wir haben getan, was wir tun mussten. Das muss reichen.«

»Schließlich müssen sich selbst Gottheiten dem Schicksal beugen« pflichtete Celene ihr seufzend bei.

»Oder das, was sie zerstören will, bekämpfen.«

»Du wirst kämpfen«, wandte sich Celene mit einem Lächeln Arianrhod zu. »Luna wird vertrauen. Und ich werde mich bemühen, weiter möglichst viel zu sehen. Aber erst mal warten wir am besten einfach ab.«

Gemeinsam blickten sie zum Mond, der am Himmel und in ihren Seelen lebte, und zu den drei leuchtend hellen Sternen auf.

1

Träume plagten sie, gleich, ob sie wach war oder schlief. Sie kannte sich aus mit Träumen, mit Visionen und dem Wissen, das aus ihnen erwuchs. Weil sie Teile ihres Lebens waren, auch wenn sie gelernt hatte, sie zu verdrängen oder auszusperren.

Doch egal, wie sehr sie sich gegen die Träume stemmte, wurde sie von ihnen immer wieder heimgesucht. Sie träumte von Kampf und Blutvergießen und von einem fremden, mondbeschienenen Land. Sah in die Gesichter und hörte die Stimmen unbekannter Menschen, denen sie aus welchem Grund auch immer eng verbunden war. Zwei Frauen – eine, deren Augen wild und glühend wie die einer Wölfin waren, und eine, die dem Meer entstieg – und drei Männer – einen, der ein Silberschwert, einen weiteren, der einen goldenen Kompass, und einen, der leuchtende Blitze in den Händen hielt.

Wer waren diese fünf? Hatte sie sie schon einmal gesehen, oder würde sie sie irgendwann in Zukunft treffen? Und vor allem, warum war es derart wichtig, dass es irgendwann zu einem Treffen mit all diesen Menschen kam?

Sie wusste, dass mit diesen Menschen Tod und Schmerz, aber auch die Chance auf echtes Glück, Selbsterkenntnis und vor allem wahre Liebe eng verbunden waren.

Sie glaubte an die wahre Liebe – nur nicht für sich selbst. Hatte nie danach gestrebt, weil Liebe allzu viel von ihr verlangte, hoffnungsloses Chaos in ihr Leben brachte und vor allem mit viel zu viel Gefühl verbunden war.

Sie lebte ganz allein in einem kleinen Häuschen in den Bergen von North Carolina, denn sie hatte immer schon ein ruhiges, möglichst gleichförmiges Leben führen wollen.

Hier genoss sie die Abgeschiedenheit, die ihr so wichtig war. Konnte malen oder stundenlang in ihrem Garten werkeln, ohne dass es irgendeine Unterbrechung oder gar Störung gab. Zum Leben brauchte sie nicht viel, und das, was sie mit ihrer Malerei verdiente, reichte völlig aus.

Doch jetzt suchten fünf Menschen sie in ihren Träumen heim. Sie riefen sie bei ihrem Namen, doch sie hatte keine Ahnung, wer sie waren.

Also fing sie an, die Träume zu skizzieren, und im Verlauf des langen Winters hängte sie zahlreiche Bilder von Gesichtern, Hügeln, Ruinen und der See, von Höhlen und Gärten, Unwettern und Sonnenuntergängen an den Wänden ihres Häuschens auf.

Sie zeichnete den Mann, der Blitze in den Händen hielt, und brachte Tage damit zu, die winzigsten Details wie die genaue Form der dunklen, schwerlidrigen Augen und die dünne, scharfkantige weiße Narbe über seiner linken Braue zu perfektionieren.

Er stand auf einer Klippe hoch über dem wild tosenden Meer, und seine dunklen Haare flatterten im Wind. Fast kam es ihr so vor, als könnte sie den heißen Atem, der dem Mann entgegenschlug, am eigenen Körper spüren.

Er war völlig furchtlos angesichts des Sturms, der ihm den Tod entgegentrug.

Und sie stand neben ihm und hatte ebenfalls nicht die geringste Angst.

Sie konnte nicht zu Bett gehen, während sie mit seinem Bild beschäftigt war, und weinte stumm, als es dann endlich fertig war. Hatte sie womöglich den Verstand verloren, und Visionen waren das Einzige, was ihr geblieben war? Tagelang ließ sie das Bild auf ihrer Staffelei mitten im Zimmer stehen, und er sah ihr bei der Arbeit, beim Aufräumen und Schlafen zu.

Da er selbst ihre Träume überwachte, sollte sie das Bild vielleicht verkaufen, und so tauchte sie erneut den Pinsel in die Farbe und versah das Werk mit ihrer Signatur.

Sasha Riggs.

Jetzt prangte ihr Name unterhalb der sturmumtosten See.

Am Schluss jedoch verpackte sie statt dieses Bildes andere und schickte die Arbeit eines langen Winters zum Verkauf an ihre Galerie. Rollte sich erschöpft auf ihrer Couch zusammen und ließ sich von ihren Träumen abermals in eine fremde Welt entführen …

Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, unter ihr toste das Meer, und durch eine dichte Wand aus Regen schossen grelle Blitze wie brennende Pfeile auf sie zu.

Doch er stand da, verfolgte reglos das Geschehen und streckte seine Hand in ihre Richtung aus.

»Ich warte auf dich.«

»Ich verstehe das alles nicht.«

»Doch, das tust du, und zwar besser als die meisten anderen.« Als er ihre Hand an seine Lippen hob, stieg ein Gefühl von grenzenloser Liebe in ihr auf.

»Aber kaum jemand versteckt sich so gut vor sich selbst wie du, Sasha.«

»Ich will nur meinen Frieden. Ich will einfach meine Ruhe haben. Ich will keine Stürme, keine Schlachten. Und ich will auch niemanden wie dich.«

»Du lügst.« Wieder hob er ihre Hand an seine Lippen und sah sie mit einem leisen Lächeln an.

»Und zwar belügst du nicht nur mich, sondern auch oder vor allem dich selbst. Wie lange willst du dich noch weigern, das Leben zu führen, welches das Schicksal für dich auserkoren hat? Und zu lieben, wie du lieben sollst?«

Als er ihr Gesicht mit seinen Händen rahmte, fing die Erde unter ihren Füßen an zu beben, doch sie schüttelte den Kopf.

»Dazu fehlt mir der Mut.«

»Du musst dich diesen Dingen stellen.«

»Ich will sie gar nicht wissen.«

»Aber wir können ohne dich nicht anfangen. Und erst, wenn wir angefangen haben, können wir diese Geschichte auch zu Ende führen. Finde mich, Sasha. Komm her und finde mich.«

Damit zog er sie an seine Brust, presste seine Lippen fest auf ihren Mund, und der Sturm heulte noch lauter als zuvor.

Doch diesmal wich sie nicht zurück …

Noch immer müde, richtete sie sich auf ihrem Sofa auf und presste die Finger auf die Augenlider.

»›Finde mich‹«, murmelte sie. »Aber wo? Selbst wenn ich dich finden wollte, wüsste ich noch nicht mal, wo ich mit der Suche anfangen sollte.« Ihre Finger glitten über ihr Gesicht zu ihrem Mund, und sie hätte schwören können, dass der Druck von seinen Lippen immer noch zu spüren war.

»Es reicht. Genug von diesem ganzen Zeug.«

Eilig stand sie auf, riss die Bilder von den Wänden und ließ sie zu Boden fallen. Sie würde sie nach draußen bringen und verbrennen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Oder vielleicht sollte sie am besten einfach mal wieder fortfahren. Sie hatte schon seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Vielleicht sollte sie an einen Ort fahren, wo es warm war, dachte sie und riss weiter die Bilder ihrer Träume von der Wand. An irgendeinen Strand.

Sie konnte ihr eigenes Keuchen hören und das Zittern ihrer eigenen Hände sehen. Kurz bevor sie zusammenbrach, ließ sie sich inmitten ihrer Skizzen auf den Boden sinken – eine junge Frau, die unter dem Gewicht ihrer Träume an Gewicht verloren hatte, die ihr blondes Haar wie meist in einem wirren Knoten trug und unter deren leuchtend blauen Augen sich dunkle Schatten abzeichneten.

Sie sah auf ihre Hände. Sie war eine talentierte Malerin, das war sie immer schon gewesen, und für diese Gabe würde sie bis an ihr Lebensende dankbar sein. Anders als für andere Gaben, die für sie kein Segen, sondern eher eine Belastung waren.

In ihrem letzten Traum hatte der schwarzhaarige Mann von ihr verlangt zu sehen.

Bisher hatte sie den Großteil ihres Lebens damit zugebracht, ihre seherischen Fähigkeiten zu verdrängen.

Und sich dadurch vor sich selbst versteckt.

Wenn sie sich der Gabe öffnen und sie akzeptieren würde, ginge das mit Schmerz und Leid und dem Wissen um zukünftige Geschehnisse einher.

Sie kniff die Augen zu.

Sie würde erst mal aufräumen, denn das gäbe ihr ein wenig Zeit. Würde ihre Skizzen wieder aufheben und ordentlich verstauen. Natürlich würde sie sie nicht verbrennen. Sie war nur aus Angst auf die Idee gekommen.

Sie würde sie verstauen und dann auf Reisen gehen. Für ein oder zwei Wochen, um in Ruhe nachzudenken und dann zu entscheiden, wie in dieser Sache weiter vorzugehen war.

Auf Händen und Knien sammelte sie ihre Skizzen wieder ein und fing an, sie zu sortieren. Die Frau mit den Augen einer Wölfin, den Mann mit dem Schwert und all die Zeichnungen, auf denen die von ihr geträumten Leute paarweise oder als Gruppe abgebildet waren.

Das Meer, Landschaften, ein strahlender Palast auf einem Hügel, ein Steinkreis.

Sie legte eine Skizze des von ihr geträumten Mannes auf dem Stapel mit den Dutzenden von anderen Bildern ab, die sein Antlitz zeigte, nahm die nächste Skizze in die Hand …

… und mit einem Mal erkannte sie den Ort wieder.

Sie hatte die Insel aus verschiedenen Perspektiven zu Papier gebracht. Ihre Form war die einer Sichel, und auf dem Blatt in ihrer Hand trieb sie in hellem Sonnenlicht im Meer: hohe Klippen, baumbestandene, sanft wogende Hügel, in der Ferne hohe Berge und im Vordergrund ein Wirrwarr von Gebäuden, das eine kleine Stadt darstellte.

Plötzlich fing die Bleistiftskizze an, sich zu bewegen, und sie konnte Tausende verschiedener Grüntöne sehen – von Rauchiggrün bis hin zu schimmerndem Smaragd –, dazu das dunkle Blau der See und das helle Blau des Himmels, Boote, die sanft auf den Wellen schaukelten, und eine Reihe von Menschen, die von irgendwelchen Ufermauern kopfüber ins Wasser sprangen und dort fröhlich planschten.

Außerdem sah sie die sturmumtoste Landspitze, auf der er sie an der Hand gehalten hatte.

»Also gut, ich fahre hin.« Sie hatte keine Ahnung, ob sie sich dadurch geschlagen gab oder endlich Stellung nahm. Wie auch immer, sie würde diesen Ort besuchen, um ihn mit eigenen Augen anzusehen.

Das wäre entweder das Ende ihrer Träume oder brächte sie zum Leben, wie die Skizze, die sie in den Händen hielt.

Sie trat vor ihren kleinen Schreibtisch, klappte den Laptop auf und buchte einen Flug auf die griechische Insel Korfu.

Damit sie es sich nicht noch einmal anders überlegen könnte, gab sie sich zum Packen und für die gesamte Vorbereitung ihrer Reise nur zwei Tage Zeit.

Obwohl die Träume sie während des Flugs verschonten, war sie trotz der kurzen Ruhepause auf der Taxifahrt vom Flughafen in Richtung Altstadt immer noch völlig erschöpft und desorientiert. Beim Betreten des Hotels musste sie sich zu einem Lächeln zwingen, und der Small Talk am Empfang und mit dem gut gelaunten Pagen, der den engen Lift bediente, fiel ihr nicht nur wegen des Akzents, mit dem hier alle sprachen, ungewöhnlich schwer.

Sie hatte kein bestimmtes Zimmer reserviert. Es hatte ihr genügt, den ersten Schritt zu tun und abzuwarten, was dann geschah. Trotzdem war sie alles andere als überrascht, als sie den Raum betrat und durch das Fenster auf das blaue Meer und den vertrauten Strand hinuntersah.

Als der Page fragte, ob er ihr noch etwas bringen könnte, winkte sie mit einem müden Lächeln ab. Erst mal wollte sie einfach alleine sein. Denn die Erinnerung an all die Menschen auf den Flughäfen und auch im Flugzeug engte sich noch immer ein.

Höflich nickend, zog der Page sich zurück. Sie öffnete das Fenster, ließ die kühle Frühlingsluft und den Geruch von Meer und Blumen ein und betrachtete die Szenerie. Sie glich in all ihren Einzelheiten jener Skizze, die sie bereits Wochen vorher angefertigt hatte und die neben anderen Bildern in der Mappe neben ihrem Koffer lag.

Im Augenblick spürte sie nichts außer dem Nebel, der aufgrund des Jetlags ihr Gehirn umwogte … eine durch den langen Flug hervorgerufene Erschöpfung und das Erstaunen, weil sie einfach aus einem Impuls heraus in dieses fremde Land gekommen war.

Sie wandte sich vom Fenster ab und packte, da sie ein Gefühl von Ordnung brauchte, erst mal ihre Sachen aus. Legte sich danach aufs Bett und schlief auf der Stelle ein.

Blitz und Donner, gleißend helles Sonnenlicht, das Rauschen des Meeres und drei Sterne, deren heller Glanz ihr in den Augen brannte, ehe sie mit einem Mal in hellen Lichtströmen vom Himmel fielen, bevor ihr Aufprall die gesamte Welt erbeben ließ.

Kampf und Blutvergießen, Furcht und Flucht. Ein Aufstieg in ungeahnte Höhen und ein tiefer Fall.

Ihr geträumter Liebhaber presste ihr abermals die Lippen auf den Mund, erforschte ihren Leib und rief schmerzliches Verlangen in ihr wach. Es war zu viel und trotzdem nicht genug. Sie erkannte kaum ihr eigenes, glückseliges Lachen, bevor ein Gefühl der Trauer in ihr aufstieg, das ihr heiße Tränen in die Augen trieb.

Und in der Dunkelheit brannte ein Licht.

In der Dunkelheit hielt sie ein Feuer in der Hand.

Als sie es über ihren Kopf hob, damit alle Welt es sähe, fing die Erde wieder an zu beben, dicke Felsbrocken stürzten herab, und ein zorniges Flügelwesen ging mit Klauen und Zähnen auf sie los.

Um Gottes willen, Sasha, wach auf! Komm endlich in die Hufe.

»Was?« Sie fuhr erschrocken aus dem Schlaf, doch die Stimme hallte noch durch ihren Kopf, und ihr Herz schlug bis zum Hals.

Es war nur ein Traum gewesen, machte sie sich selbst Mut. Am besten fügte sie ihn einfach ihrer Sammlung zu.

Das inzwischen weiche Licht lag wie ein Tuch aus Seide auf dem Meer. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch die Stimme aus dem Traum hatte sie sicherlich nicht ohne Grund geweckt.

Sie duschte, um den Schmutz der Reise abzuwaschen, zog frische Kleider an, band ihre Haare aber nicht zusammen, weil sie das nur bei der Arbeit tat. Dann zwang sie sich, das Zimmer zu verlassen, um auf der Terrasse Platz zu nehmen und sich erst einmal was zu trinken zu bestellen. Sie war tatsächlich hergekommen, hatte die gewohnte Einsamkeit und Ruhe hinter sich gelassen und den Ort aus ihren Träumen aufgesucht.

Wo sie auch auf die fünf Menschen aus den Träumen treffen müsste, damit die Geschichte weiterging.

Sie fand den Weg nach draußen, schlenderte gemächlich unter einer von einer Glyzinie umrankten Pergola hindurch und lief, gefolgt vom Duft der Blüten, an den weißen Liegestühlen, die am Pool standen, vorbei auf eine steinerne Terrasse zu. Das abendliche Sonnenlicht ließ die roten und dunkelvioletten Blumen in den Steinguttöpfen glühen, und da es völlig windstill war, hingen die Wedel der haushohen Palmen, die das Grundstück säumten, schlaff herab.

Nur ein paar der Tische, die im Schatten leuchtend weißer Sonnenschirme standen, waren besetzt. Sasha atmete erleichtert auf. Auch wenn sie hier vielleicht nicht ganz für sich war, wäre es zumindest ruhig. Sie wollte sich ein wenig abseits von den anderen setzen, als ihr Blick auf eine Frau fiel, die ebenfalls allein in einer Ecke saß.

Sie hatte kurzes braunes Haar mit sonnenhellen Strähnchen und einem langen Pony, der bis auf die bernsteinfarbenen Gläser ihrer Sonnenbrille fiel. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, stellte ihre Füße in den grell orangefarbenen Chucks auf den Nachbarstuhl und hob eine Champagnerflöte, die ein perlendes Getränk enthielt, an ihren Mund.

Die Luft fing an zu flimmern. Mit wild klopfendem Herzen starrte Sasha die Frau aus großen Augen an. Und verstand den Grund für ihre Reaktion, als diese sich ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze schob, um sie mit den glühenden Augen einer Wölfin anzusehen.

Sasha unterdrückte das Verlangen, einfach umzudrehen und in ihr Hotelzimmer zurückzukehren, wo sie sich sicher fühlte. Stattdessen zwang sie sich, unter dem durchdringenden Blick aus diesen goldenen Augen weiter auf die Fremde zuzugehen.

»Verzeihung«, fing sie an.

»Wofür?«

»Ich … kennen Sie mich?«

Die Frau zog ihre Brauen unter dem dichten Pony hoch. »Sollte ich das denn?«

Ich kenne dein Gesicht. Ich habe es seit Monaten fast jede Nacht im Traum gesehen.

»Dürfte ich mich vielleicht setzen?«

Die Frau legte den Kopf schief und sah sie weiter reglos an, zog aber gleichzeitig die Füße von dem zweiten Stuhl. »Sicher, aber falls Sie vorhaben, mich anzubaggern, muss ich Sie enttäuschen. Denn seit einem leicht missglückten One-Night-Stand mit meiner Mitbewohnerin am College fange ich nur noch was mit Männern an.«

»Nein, das ist es nicht.« Sasha setzte sich und atmete tief durch. Doch bevor sie weitersprechen konnte, trat ein Ober in weißem Jackett an ihren Tisch.

»Kalispera. Kann ich Ihnen etwas bringen, Miss?«

»Gerne. Ah, was trinken Sie?«

Die Fremde griff nach ihrem Glas und prostete ihr zu. »Pfirsich Bellini.«

»Das klingt gut. Möchten Sie vielleicht noch einen? Die Runde geht auf mich.«

Wieder zog die Frau die Brauen hoch. »Na klar.«

»Dann bitte zwei Bellini. Ich bin Sasha«, stellte sie sich vor, nachdem der Mann verschwunden war. »Sasha Riggs.«

»Riley Gwin.«

»Riley«, wiederholte sie. Der Name passte zum Gesicht. »Ich weiß, wie das wahrscheinlich klingen wird … aber ich habe von Ihnen geträumt.«

Riley nahm den nächsten Schluck aus ihrem Glas und lächelte. »Klingt, als wollten Sie mich doch anmachen. Aber auch wenn Sie echt hübsch sind, Sasha, haben Sie …«

»Nein, ich meine, ich habe tatsächlich von Ihnen geträumt. Als ich Sie hier sitzen sah, habe ich Sie gleich erkannt, denn Sie kommen schon seit Monaten in meinen Träumen vor.«

»Meinetwegen. Und was habe ich gemacht?«

»Ich kann nicht erwarten, dass Sie mir diese Geschichte einfach glauben. Aber meine Träume sind der Grund dafür, dass ich auf Korfu bin. Auch wenn ich … warten Sie.« Die Skizzen, dachte sie und stand entschlossen auf.

Denn ein Bild sagte schließlich mehr als tausend Worte aus.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Warten Sie, bis ich zurück bin?«

Achselzuckend griff die Frau nach ihrem Glas. »Ich bekomme gleich noch einen Drink, also bin ich sicherlich noch eine Weile hier.«

»Fünf Minuten«, sagte Sasha zu und eilte los.

Riley nippte nachdenklich an ihrem Drink. Sie kannte sich mit Träumen aus und war nicht geneigt, die Träume dieser Fremden einfach abzutun. Sie hatte in ihrem Leben bereits viel zu viel gesehen und erlebt, um irgendetwas abzutun.

Und diese Sasha kam ihr, wenn auch ziemlich aufgeregt und angespannt, doch auf alle Fälle ehrlich vor.

Allerdings hatte sie ihre eigenen Gründe dafür, dass sie auf der Insel war, und die hatten mit einer Rolle in den Träumen einer Fremden nichts zu tun.

Der Ober kam zurück und stellte ihre Drinks, ein Tellerchen mit saftigen Oliven und ein Schälchen Nüsse auf den Tisch.

»Und die andere Lady?«, fragte er.

»Sie hat etwas vergessen, aber sie ist sofort wieder da.« Riley reichte ihm ihr leeres Glas. »Efcharisto.«

Sie schob sich eine Mandel in den Mund, lenkte den Blick zurück aufs Meer und drehte sich erst wieder um, als jemand mit schnellen Schritten über die Terrasse lief.

Eine Ledermappe in der Hand, nahm Sasha wieder Platz. »Ich bin Künstlerin«, setzte sie an.

»Gratuliere.«

»Ich hatte während des gesamten Winters diese Träume. Sie haben kurz nach Neujahr angefangen, und ich hatte sie seither fast jede Nacht.« Sie hatte diese Träume auch im Wachzustand gehabt, doch das behielt sie vielleicht besser erst einmal für sich. »Ich habe die Personen und die Orte, die in diesen Träumen regelmäßig vorkamen, skizziert.«

Sie schlug die Mappe auf und zog das Bild heraus, das der Grund dafür war, dass sie zu Riley an den Tisch getreten war. »Diese Skizze habe ich vor Wochen angefertigt.«

Riley nahm das Blatt und spitzte nachdenklich die Lippen, als sie das Motiv der Skizze sah. »Sie sind wirklich gut, und ja, das hier ist Korfu.«

»Und die Frau auf diesem Bild sind Sie.«

Sasha schob ihr eine andere Skizze hin, auf der Riley in Cargohose, Wanderstiefeln, einer abgewetzten Lederjacke und mit einem breitkrempigen Hut zu sehen war. Ihre Hand lag auf dem Griff des Messers, das in einer Scheide an ihrem Gürtel steckte.

Während Riley nach der Zeichnung griff, schob Sasha ihr bereits die nächste hin. »Und das hier auch.« Diesmal war es eine Kopf-und Schulter-Studie, auf der Riley sich mit gebleckten Zähnen lächeln sah.

»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte sie leise vor sich hin.

»Keine Ahnung. Um das herauszufinden, bin ich hier. Ich dachte schon, ich würde langsam, aber sicher den Verstand verlieren. Aber Sie sind real, und Sie sind hier. Genau wie ich. Von den anderen weiß ich bisher nichts.«

»Von welchen anderen?«

»Insgesamt sind wir zu sechst.« Sasha wühlte abermals in ihrer Mappe. »Sechs Personen, die zusammen arbeiten und auf Reisen gehen.«

»Ich arbeite immer allein.«

»Ich auch.« Sasha war richtiggehend schwindlig vor Erleichterung. Sie fühlte sich bestätigt, auch wenn die Geschichte völlig irre war.

»Ich weiß nicht, wer diese Menschen sind.« Sie hielt der anderen Frau die nächste Skizze hin. »Ich habe individuelle Skizzen von all diesen Leuten, ein paar Zeichnungen, auf denen nur ein Teil der Gruppe abgebildet ist, und noch ein paar andere Bilder von uns allen, so wie dieses hier. Aber wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wer die anderen sind.«

Die Skizze zeigte Riley in derselben Aufmachung wie auf dem anderen Bild und Sasha, die statt in Sandalen und einem weich fließenden Kleid wie jetzt in Stiefeln, Shorts und Sonnenhut an ihrer Seite stand. Daneben waren noch eine andere Frau mit offenem, hüftlangem Haar und drei Männer zu sehen. Wirklich heiße Männer, dachte Riley, die zusammen mit den Frauen irgendwo auf einem Weg in einer baumbestandenen Hügellandschaft abgebildet waren.

»Sie – Sasha, richtig?«

»Ja, genau.«

»Nun, Sasha, von den Männern können Sie auf jeden Fall träumen. Die drei sehen echt fantastisch aus.«

»Außerhalb von meinen Träumen habe ich bisher noch keinen dieser Männer je gesehen. Aber ich habe das Gefühl, ich kenne sie … ich kenne diese drei. Und dieser hier …«

Unwillkürlich legte Sasha einen Finger auf den Mann, der, den Daumen in der Vordertasche seiner abgetragenen Jeans, lässig an ihrer Seite stand. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und braunes Haar, das ihm in wilden Locken auf die Schulter fiel. Sein Lächeln wirkte selbstbewusst, charmant – und irgendwie geheimnisvoll.

»Was ist mit ihm?«, hakte die Wolfsfrau nach.

»Seine Hände senden Blitze aus. Ich weiß nicht, ob das ein Symbol ist oder was es sonst zu bedeuten hat. Und ich träume, dass wir – dass wir …«

»Träumen Sie davon, mit ihm ins Bett zu gehen?« Grinsend schaute Riley sich den Mann genauer an. »Da hätten Sie es deutlich schlimmer treffen können.«

»Trotzdem würde ich mit einem Mann, bevor ich mit ihm schlafe, wenigstens was trinken oder essen gehen wollen.«

Riley lachte brüllend auf. »Also bitte, essen kann ein Mädchen ja wohl jederzeit. Sind Sie eine Traumwandlerin, Sasha?«

»Eine was?«

»In einigen Kulturen heißt das so, wenn jemand in den Träumen in die Zukunft schauen kann. Warum sind Sie plötzlich so zurückhaltend?«, erkundigte sie sich, als Sasha keine Antwort gab. »Immerhin haben Sie mir, noch bevor Sie auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken haben, freimütig von Ihrem Sex mit einem fremden Mann erzählt.«

»Das war ein Traum. Aber okay, ich träume nicht nur, wenn ich schlafe, sondern manchmal auch im Wachzustand.« Wahrscheinlich hatte Riley recht. Am besten sprach sie die Dinge einfach aus. »Und ja, normalerweise kann ich, wenn ich träume, in die Zukunft sehen. Als ich zwölf war, träumte ich, dass uns mein Dad verlassen würde, und knapp eine Woche später hat er es getan. Er kam mit meiner ganz besonderen Gabe einfach nicht zurecht. Und auch ich selbst kann sie nicht wirklich kontrollieren und kann nicht verlangen, irgendetwas zu sehen oder nicht zu sehen.«

Sie griff nach ihrem Glas, trank einen möglichst großen Schluck und machte sich auf Argwohn und verächtliche Bemerkungen gefasst.

»Haben Sie je mit irgendwem zusammengearbeitet?«

»Was meinen Sie?«

»Haben Sie sich je mit anderen Traumwandlern getroffen und versucht herauszufinden, wie man die Visionen entweder blockieren oder öffnen kann?«

»Nein.«

»Ich hätte Sie klüger eingeschätzt«, stellte Riley schulterzuckend fest. »Haben Sie nur Visionen, oder können Sie auch Gedanken lesen?«

Das klang so, als wollte sie von Sasha wissen, ob ihr Ölgemälde oder Aquarelle lieber waren.

Sasha hatte einen Kloß im Hals und stieß mit rauer Stimme aus: »Sie glauben mir.«

»Warum denn nicht? Der Beweis liegt schließlich vor mir auf dem Tisch. Also, können Sie Gedanken lesen und das an- und abstellen, wie Sie wollen?«

»Ich lese weniger Gedanken als Gefühle, denn die sprechen mindestens genauso laut. Aber solange die Gefühle nicht so stark sind, dass sie alle Schranken überwinden, kann ich mich dagegen sperren.«

»Was fühle ich im Augenblick? Na los.« Riley breitete die Arme aus, als Sasha zögerte, und fügte gut gelaunt hinzu: »Ich bin ein offenes Buch, also lesen Sie mir vor, worum es darin geht.«

Sasha konzentrierte sich. »Sie finden mich sympathisch und sind neugierig auf mich. Obwohl Sie entspannt sind, sind Sie gleichzeitig auch auf der Hut. Weil Sie das immer sind. Sie sehnen sich nach etwas, was bisher stets unerreichbar für Sie war. Da Sie gern gewinnen, ist das sehr frustrierend für Sie. Und auch sexuell sind Sie im Augenblick etwas frustriert, weil Sie sich seit Längerem nicht mehr die Zeit dafür genommen haben … weil Sie dachten, dass dieses Bedürfnis später noch befriedigt werden könnte. Ihre Arbeit füllt Sie aus. Sie lieben die Risiken, das Abenteuer und die Anforderungen, die sie an Sie stellt. Sie haben sich Ihre Autonomie aus eigener Kraft erarbeitet und haben kaum jemals vor irgendwas Angst. Falls Sie doch einmal Angst verspüren, dann weniger um Ihre körperliche Unversehrtheit als um Ihr emotionales Gleichgewicht.« Sie hielt inne.

»Sie haben ein Geheimnis«, fuhr sie leise fort. »Von dem niemand etwas wissen darf.«

Riley fuhr zurück, und Sasha runzelte die Stirn. »Sie haben mich gebeten hinzusehen. Also dürfen Sie nicht sauer auf mich sein.«

»Das stimmt natürlich, aber trotzdem reicht es jetzt erst mal.«

»Ich glaube an die Privatsphäre der Menschen.« Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie absichtlich derart ungeniert in jemandem gelesen, und etwas verlegen fügte sie hinzu: »Ich wühle nicht in den Geheimnissen von anderen Leuten.«

Wieder prostete ihr Riley zu. »Ich glaube ebenfalls an die Privatsphäre der Menschen. Aber trotzdem wühle ich begeistert darin rum.«

»Ihre Arbeit ist befriedigend für Sie und macht Sie stolz. Was machen Sie beruflich?«

»Kommt drauf an. Hauptberuflich bin ich Archäologin. Denn ich suche gern nach Dingen, die sonst niemand finden kann.«

»Und wenn Sie sie entdecken? Was machen Sie dann?«

»Das kommt ebenfalls drauf an.«

»Sie finden also Dinge.« Sasha nickte zustimmend, und ihre Anspannung verflog. »Das muss einer der Gründe sein.«

»Wofür?«

»Dass wir zusammen hier auf Korfu sind.«

»Ich bin auf jeden Fall nicht grundlos hier.«

»Zu dieser Zeit an diesem Ort?« Wieder zeigte Sasha auf die Skizzen zwischen ihnen auf dem Tisch. »Ich weiß, dass wir hier etwas suchen und vor allem finden müssen.«

»Wenn Sie mich in diese Suche einbeziehen wollen, spucken Sie am besten endlich aus, worum es geht.«

Wortlos schob ihr Sasha eine andere Zeichnung hin, auf der ein mondbeschienener Strand, das ruhige Meer, ein Palast auf einem Hügel … und drei hell leuchtende Sterne zu sehen waren.

»Ich weiß nicht, wo das ist, aber ich weiß, dass es diese drei Sterne unterhalb des Monds nicht gibt. Ich bin keine Astronomin, aber trotzdem weiß ich, dass sie dort nicht sind. Ich weiß nur, dass sie dort mal waren und dann eines Tages heruntergefallen sind. Sehen Sie das hier?« Sie hielt Riley eine andere Skizze hin.

»Sie fallen alle gleichzeitig vom Himmel, ziehen diese kometenartigen Schweife hinter sich her, und ich weiß, dass wir sie finden sollen.«

Sie blickte wieder auf und registrierte Rileys plötzlich kalten, durchdringenden Blick.

»Was wissen Sie über die Sterne?«, fragte Riley sie.

»Nicht mehr als das, was ich bereits gesagt habe.«

Mit einer blitzschnellen Bewegung packte Riley sie am Arm. »Wer zum Teufel sind Sie? Was haben Sie mit den Glückssternen zu tun?«

Obwohl ihr Magen sich vor lauter Furcht zusammenzog, zwang Sasha sich, ihr weiter ins Gesicht zu sehen.

»Ich habe mich schon vorgestellt und Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Sie wissen offenbar genau, was das für Sterne sind, und sind ihretwegen hier. Sie suchen sie bereits. Aber vor allem tun Sie mir weh.«

»Falls Sie vorhaben, mich hinters Licht zu führen, wird Ihnen bald noch deutlich mehr als nur Ihr Arm wehtun.« Riley zog ihre Hand zurück.

»Sie sollten mir nicht drohen«, fauchte Sasha sie zu ihrer eigenen Überraschung zornig an. »Mir reicht’s. Ich habe nicht darum gebeten, dass man mich in diese Sache reinzieht, denn ich habe keinerlei Interesse an dem ganzen Kram. Ich wollte nur in Frieden leben und in Ruhe malen. Aber plötzlich haben Sie und diese anderen mich in meinen Träumen heimgesucht, Sie und diese blöden Sterne, die ich nicht verstehe. Ich weiß nur, dass einer dieser Sterne hier ist, dass wir nach ihm suchen müssen und dass diese Suche ausnehmend gefährlich werden wird. Ich habe keine Ahnung, wie man kämpft, aber trotzdem werde ich es müssen. Weil es in den Träumen stets um Blutvergießen, wilde Schlachten und um Schmerzen ging.«

»Langsam wird die Sache interessant.«

»Das alles macht mir eine Heidenangst, und am liebsten hätte ich mit alldem nichts zu tun. Aber irgendwie bin ich schon mittendrin. Denn ich hatte einen dieser Sterne in der Hand.«

Riley beugte sich über den Tisch. »Sie hatten einen von den Sternen in der Hand?«

»In einem Traum.« Sasha sah in ihre offene Hand. »Ich hielt das Feuer in der Hand. Und es war so schön, dass es mich regelrecht geblendet hat. Bis plötzlich …«

»Was?«

»Bis plötzlich das Dunkle, Hungrige, Brutale kam.«

Plötzlich war ihr schwindlig, und ihr wurde schlecht. Obwohl sie sich dagegen wehrte, siegte das, was plötzlich in ihr aufgestiegen war, und sie begann zu reden.

»Sie, die Dunkle, begehrt ebenfalls den Stern. Ihr Verlangen danach frisst sie auf. Sie will die Liebe, die Loyalität und die Hoffnung der drei Monde korrumpieren. Sie hat ihre Gaben und die hellen Seiten ihrer Macht verbrannt und besteht nur noch aus Wahn. Sie wird töten, um Feuer, Eis und Wasser zu besitzen. Und mit ihrer Hilfe Welten zu zerstören, damit sie selbst leben kann.« Sie griff sich an die Schläfen. »Au.«

»Kommt so was öfter vor?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Wahrscheinlich haben Sie deshalb diese Kopfschmerzen. Denn glauben Sie mir, gegen Ihre eigene Natur kommen Sie nie und nimmer an. Sie müssen lernen, sie zu kontrollieren, und sich damit arrangieren, was Sie sind.« Riley fing den Blick des Obers auf und ließ den Zeigefinger kreisen. »Ich bestelle uns noch eine Runde, ja?«

»Ich glaube nicht, dass ich …«

»Hier, essen Sie einfach ein paar Nüsse«, meinte Riley und schob ihr die Schale hin. »Das haben Sie ganz sicher nicht gespielt – denn so gut ist kein Mensch. Und ich habe ein Gespür für Menschen – vielleicht kann ich nicht in ihnen lesen, aber auf meine Gefühle ist durchaus Verlass. Also werden wir noch etwas trinken, dabei ein bisschen über diese Sache reden und uns überlegen, wie wir weitermachen sollen.«

»Sie werden mir helfen«, stellte Sasha fest.

»Wie es aussieht, werden wir uns gegenseitig helfen. Meine Nachforschungen deuten darauf hin, dass der Feuerstern entweder hier auf Korfu oder in der Nähe ist – was Ihre Träume bestätigt haben. Ihr Erscheinen könnte durchaus praktisch sein. Und jetzt …«

Sie schob sich den Pony aus der Stirn und sah auf eine Stelle über Sashas Kopf. »Aber hallo, es wird immer interessanter.«

»Was?«

»Sieht ganz so aus, als wäre jetzt auch noch Ihr Traummann aufgetaucht.« Riley setzte ein verführerisches Lächeln auf und winkte ihn heran.

Sasha fuhr herum und riss die Augen auf.

Der Mann, der Blitze in den Händen hielt.

Der Mann, mit dem sie während ihres letzten Traums intim gewesen war.

Seine dunklen Augen blickten erst auf Riley, dann auf sie und zogen sie in seinen Bann, als er über die Terrasse direkt auf sie zugelaufen kam.

»Meine Damen. Wunderbare Aussicht, finden Sie nicht auch?«

Er sprach mit einem melodiösen irischen Akzent, und Sasha hatte das Gefühl, als hätte sich ein Käfig aus glänzendem Silber über sie gesenkt.

Und noch mehr als seine Stimme rief sein Lächeln schmerzliches Verlangen in ihr wach.

»Hallo, Ire, woher kommen Sie?«, fragte Riley grinsend.

»Aus einem kleinen Dorf in Sligo, dessen Name Ihnen ganz bestimmt nichts sagt.«

»Vielleicht wären Sie überrascht.«

»Also gut, aus Cloonacool.«

»Das kenne ich. Es liegt am Fuß der Ochsenberge.«

»Allerdings. Nun denn.« Er schüttelte die Hand und hielt Riley ein Kleeblatt-Sträußchen hin. »Ein kleines Souvenir aus meiner Heimat.«

»Das ist nett.«

»Und Sie beide kommen aus den Staaten?«, wandte er sich Sasha zu.

»So sieht’s aus.« Riley merkte, dass der Blick des Mannes auf die Skizzen fiel. Schweigend sah sie zu, wie er eins der Bilder von der ganzen Gruppe in die Hand nahm, um es sich genauer anzusehen.

Er wirkte weniger schockiert als fasziniert, erkannte sie.

»Aber hallo.« Wieder sah er Sasha an. »Sind Sie die Künstlerin? Sie haben eine gute Hand und einen guten Blick. Beides habe ich angeblich auch. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich zu Ihnen geselle?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich.

»Anscheinend haben wir jede Menge zu bereden. Mein Name ist Bran. Bran Killian. Warum lasse ich nicht eine Runde springen, und dann tauschen wir uns über einem Drink über den Mond und vor allem die Sterne aus?«