KAPITEL 1
Colin
Colin Hancock beugte sich über das Waschbecken in der Toilette des Diners und zog das T-Shirt hoch, um den Bluterguss auf seinen Rippen begutachten zu können. Am nächsten Morgen war er vermutlich dunkellila. Wenn er die Stelle nur versehentlich streifte, zuckte er schon zusammen. Den Schmerz konnte man zwar eine Zeit lang ignorieren, aber er ahnte schon, dass das Atmen am nächsten Tag beschwerlich wäre.
Sein Gesicht allerdings …
Das konnte sich noch als Problem erweisen – nicht für ihn, sondern für andere. Mit Sicherheit würden seine Mitstudenten ihn mit großen, verängstigten Augen anstarren und hinter seinem Rücken tuscheln, wenn er auch bezweifelte, dass jemand ihn tatsächlich fragen würde, was passiert war. In den ersten Wochen auf dem College hatten die meisten einen ganz netten Eindruck gemacht, aber es war klar gewesen, dass niemand wusste, was er von ihm halten sollte, und es hatte auch niemand ihn angesprochen. Nicht, dass ihm das etwas ausmachte. Alle waren sechs oder sieben Jahre jünger als er und weiblich und hatten vermutlich in Bezug auf Lebenserfahrungen wenig mit ihm gemeinsam. Letzten Endes würden sie ihre eigenen Schlüsse über ihn ziehen.
Dennoch musste er zugeben, dass er im Moment ganz besonders schaurig aussah. Sein linkes Auge war zugeschwollen und das rechte blutunterlaufen. Mitten auf der Stirn prangte eine mit Wundkleber verarztete Platzwunde, und der bleifarbene Bluterguss auf dem rechten Wangenknochen ähnelte einem Muttermal. Aufgeplatzte, geschwollene Lippen vervollständigten das Bild. Er musste sich unbedingt so schnell wie möglich einen Eisbeutel aufs Gesicht legen, sonst konnten sich die Mädels in seinen Seminaren garantiert nicht konzentrieren. Aber eins nach dem anderen. Jetzt war er erst mal halb verhungert und brauchte Nahrung. In den letzten zwei Tagen hatte er nicht viel gegessen, und er brauchte etwas Schnelles und – wenn möglich – nicht gänzlich Ungesundes. Leider hatten um diese Uhrzeit die meisten Lokale bereits geschlossen, deshalb war er in einem heruntergekommenen Diner gleich neben dem Highway gelandet, mit vergitterten Fenstern, Wasserflecken an den Wänden, gewelltem Linoleumboden und mit Klebeband geflickten Bänken. Wenn der Laden allerdings ein Gutes hatte, dann, dass keiner der anderen Gäste sich darum kümmerte, wie er aussah. Leute, die spätnachts in solche Spelunken kamen, konnten sich prima um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Es war einer dieser Diner, in denen man sich schnell mal Ärger einhandeln konnte, und als Colin auf den Kiesparkplatz abgebogen war, hatte er halb damit gerechnet, dass Evan in seinem Toyota Prius hinter ihm einfach weiterfuhr. Doch Evan musste ähnliche Vermutungen bezüglich eventueller Scherereien gehabt haben. Das war der einzige Grund, warum er jemals einen Fuß in ein solches Etablissement setzte, besonders um diese Uhrzeit. Evan war nicht gerade unauffällig in so einer Umgebung mit seinem rosa Hemd, karierten Strümpfen, Ledermokassins und ordentlich gescheitelten dunkelblonden Haaren. Sein Prius hätte genauso gut in Leuchtschrift verkünden können, dass er beabsichtigte, sich von den guten alten Jungs aus den Pick-ups verprügeln zu lassen, die gerade den Großteil des Abends damit zugebracht hatten, sich hemmungslos zu betrinken.
Colin drehte den Hahn auf, hielt die Hände darunter und legte sie sich dann aufs Gesicht. Das Wasser war kalt, genau wie er es wollte. Seine Haut fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Sein Gegner im Ring, ein US-Marine, hatte deutlich fester zugeschlagen als erwartet – und das mal abgesehen von den regelwidrigen Treffern, aber wer hatte ihm das ansehen können? Groß und dünn, kurz rasierte Haare, schiefe Augenbrauen. Er hatte den Kerl unterschätzt, und das durfte ihm nicht noch mal passieren. Sonst hatten seine Kommilitoninnen das ganze Jahr Angst vor ihm, was ihnen am Ende noch die gesamte Studienerfahrung ruinieren würde. Mami, da ist so ein total gruseliger Typ in meinem Kurs, ganz grün und blau im Gesicht und mit so irren Tattoos!, malte er sich die Telefonate aus. Und ich muss neben ihm sitzen!
Er schüttelte sich das Wasser von den Händen. Als er aus der Toilette trat, entdeckte er Evan an dem Tisch in der Ecke. Im Gegensatz zu ihm hätte Evan sehr gut aufs College gepasst. Er hatte immer noch ein Kindergesicht, und beim Näherkommen überlegte Colin, wie oft er sich wohl pro Woche rasieren musste.
»Das hat ganz schön lange gedauert«, sagte Evan, als Colin sich setzte. »Ich dachte schon, du hättest dich verlaufen.«
Colin lehnte sich an das Plastikpolster. »Ich hoffe, du hattest nicht zu viel Angst allein hier.«
»Ha, ha.«
»Ich hab mal eine Frage.«
»Nämlich?«
»Wie oft rasierst du dich?«
Evan kniff die Augen zusammen. »Du warst zehn Minuten auf dem Klo und hast darüber nachgedacht?«
»Das hab ich auf dem Rückweg überlegt.«
Evan sah ihn durchdringend an. »Ich rasiere mich jeden Morgen.«
»Warum?«
»Was meinst du mit warum? Aus demselben Grund wie du.«
»Ich rasiere mich nicht jeden Morgen.«
»Warum unterhalten wir uns überhaupt über so was?«
»Weil ich neugierig war und gefragt habe und du geantwortet hast«, sagte Colin. Ohne sich um Evans Miene zu kümmern, deutete er mit dem Kopf auf die Speisekarte. »Hast du es dir anders überlegt und was ausgesucht?«
Evan schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall.«
»Du willst nichts essen?«
»Nein.«
»Sodbrennen?«
»Genau genommen hat es mehr mit meinem Verdacht zu tun, dass bei der letzten Küchenkontrolle hier Reagan noch Präsident war.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht.«
»Hast du den Koch gesehen?«
Colin schielte in Richtung der heißen Platte hinter der Theke. Der Koch sah aus wie aus dem Bilderbuch, mit fettiger Schürze, die über dem ausladenden Bauch spannte, langem Pferdeschwanz und großflächigen Tätowierungen auf den Unterarmen.
»Mir gefallen die Tattoos.«
»Ach nee, wer hätte das gedacht.«
»Stimmt aber.«
»Ich weiß. Du sagst immer die Wahrheit. Das ist ja dein Problem.«
»Warum ist das ein Problem?«
»Weil die Menschen nicht immer die Wahrheit hören wollen. Wenn zum Beispiel deine Freundin fragt, ob ein bestimmtes Outfit sie dick macht, solltest du ihr sagen, dass sie schön aussieht.«
»Ich habe keine Freundin.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass du bei der letzten nur was von dick gesagt hast, ohne das mit dem schön zu ergänzen.«
»So war das nicht.«
»Aber du verstehst, was ich meine. Manchmal darf man es … mit der Wahrheit nicht zu genau nehmen, um mit anderen zurechtzukommen.«
»Warum?«
»Weil normale Menschen das eben so machen. So funktioniert eine Gesellschaft. Du kannst nicht jedem sagen, was dir gerade einfällt. Damit verunsicherst du andere oder verletzt ihre Gefühle. Und nur dass du es weißt, Arbeitgeber hassen es.«
»Okay.«
»Du glaubst mir nicht?«
»Doch.«
»Aber es ist dir egal.«
»Genau.«
»Weil du lieber die Wahrheit sagst.«
»Richtig. Meiner Erfahrung nach funktioniert das für mich.«
Evan schwieg für einen Moment. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte auch so sein. Einfach meinem Chef sagen, was ich wirklich von ihm halte, ohne mir Gedanken über die Konsequenzen zu machen.«
»Das kannst du. Du willst nur nicht.«
»Ich brauche das Gehalt.«
»Das ist eine Ausrede.«
»Kann sein.« Evan zuckte die Achseln. »Aber meiner Erfahrung nach funktioniert das für mich. Manchmal muss man lügen. Wenn ich dir zum Beispiel sagen würde, dass ich zwei Kakerlaken unter dem Tisch gesehen habe, während du auf dem Klo warst, hättest du vielleicht auch keine Lust mehr, hier zu essen.«
»Du weißt, dass du nicht bleiben musst, oder? Ich komme schon klar.«
»Das sagst du.«
»Mach dir lieber Gedanken um dich selbst statt um mich. Und außerdem ist es schon spät. Fährst du nicht morgen mit Lily nach Raleigh?«
»Ja, ziemlich früh schon. Um elf gehen wir mit meinen Eltern in die Kirche, und danach gibt es Brunch. Aber im Gegensatz zu dir wird es mir morgen nicht schwerfallen, aus dem Bett zu kommen. Du siehst übrigens furchtbar aus.«
»Danke.«
»Vor allem das Auge.«
»Morgen ist es nicht mehr so dick.«
»Das andere. Ich glaube, da sind ein paar Äderchen geplatzt. Entweder das, oder du bist wirklich ein Vampir.«
»Das ist mir auch aufgefallen.«
Evan lehnte sich zurück und breitete leicht die Arme aus. »Tu mir einen Gefallen, ja? Versteck dich morgen vor den Nachbarn. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn sie denken würden, ich musste handgreiflich werden, weil du mit der Miete im Rückstand bist oder so. Ich will keinen schlechten Ruf als Vermieter kriegen.«
Colin lächelte. Er wog mindestens fünfzehn Kilo mehr als Evan und witzelte gern, dass Evan, falls er jemals ein Fitnessstudio betreten haben sollte, wahrscheinlich nur die Bücher geprüft hatte.
»Ich verspreche, mich nicht zu zeigen«, sagte Colin.
»Gut. In Anbetracht meines Rufs und so.«
In diesem Augenblick kam die Kellnerin und stellte einen Teller mit einem Berg weißem Rührei mit Schinken ab und dazu eine Schüssel zähen Haferbrei. Als Colin die Schale zu sich heranzog, warf er einen Seitenblick auf Evans Becher.
»Was trinkst du?«
»Heißes Wasser mit Zitrone.«
»Im Ernst?«
»Es ist nach Mitternacht. Wenn ich jetzt Kaffee trinke, bin ich die ganze Nacht wach.«
Colin schaufelte sich etwas Haferbrei in den Mund und schluckte. »Okay.«
»Was, kein abfälliger Kommentar?«
»Mich überrascht nur, dass sie hier Zitrone haben.«
»Und mich überrascht, dass sie Rühreier nur aus Eiweiß machen. Du bist wahrscheinlich der Erste seit Menschengedenken, der je versucht hat, hier eine gesunde Mahlzeit zu sich zu nehmen.« Evan griff nach seinem Wasser. »Apropos, was hast du eigentlich morgen vor?«
»Ich muss den Zündschalter in meinem Wagen auswechseln. Er startet nicht richtig. Danach mähe ich den Rasen und gehe ins Fitnessstudio.«
»Willst du mit uns mitkommen?«
»Brunch ist nicht so mein Ding.«
»Ich wollte dich nicht zum Brunch einladen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dich überhaupt in den Country Club reinlassen, so wie du aussiehst. Aber du könntest in Raleigh deine Eltern besuchen. Oder deine Schwestern. Es liegt auf dem Weg nach Chapel Hill.«
»Nein.«
»Ich dachte, ich frage mal.«
Wieder tauchte Colin den Löffel in den Haferbrei. »Lass es.«
»Es gab übrigens heute Abend ein paar großartige Kämpfe. Der nach deinem war super.«
»Ach ja?«
»Ein Johnny Reese hat jemanden in der ersten Runde zur Aufgabe gezwungen. Hat den Kerl umgeworfen wie einen Mehlsack, ihn in einen Würgegriff manövriert, und dann war Sense. Der Bursche bewegt sich wie eine Katze.«
»Womit du sagen willst …?«
»Er ist viel besser als du.«
»Okay.«
Evan trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Also, bist du zufrieden mit deinem Kampf heute?«
»Er ist vorbei.«
Evan wartete kurz. »Und?«
»Das war’s.«
»Hältst du das Ganze eigentlich immer noch für eine gute Idee? Ich meine … du weißt schon.«
Colin steckte die Gabel in das Rührei. »Ich bin nach wie vor hier bei dir, oder nicht?«
Eine halbe Stunde später saß Colin wieder im Auto. Die Wolken, die schon seit Stunden ein Gewitter ankündigten, machten ihre Drohung schließlich wahr, es stürmte und goss in Strömen, begleitet von Blitz und Donner. Evan war ein paar Minuten vor Colin losgefahren, und als Colin sich am Steuer des Camaro niederließ, den er in den letzten Jahren restauriert hatte, wanderten seine Gedanken unwillkürlich zu seinem Freund.
Evan kannte er schon, seit er sich erinnern konnte. Als Colin klein war, verbrachte seine Familie den Sommer immer in einem Strandhäuschen in Wrightsville Beach, und Evan wohnte damals nebenan. Lange, sonnendurchtränkte Tage verbrachten sie damit, am Strand spazieren zu gehen, Fangen zu spielen, zu angeln und zu surfen. Meistens übernachteten sie auch zusammen, bis Evans Familie nach Chapel Hill zog und Colins Leben komplett den Bach hinunterging.
Die Fakten waren ziemlich unkompliziert: Er war das dritte Kind und der einzige Sohn wohlhabender Eltern mit einer Schwäche für Kindermädchen und absolut keinem Wunsch nach einem dritten Kind. Er war ein Schreibaby und später dann ein schwerer Fall von ADHS, eins dieser Kinder, die regelmäßig Tobsuchtsanfälle bekamen, sich nicht konzentrieren und unmöglich still sitzen konnten. Er trieb seine Eltern zu Hause in den Wahnsinn, verjagte ein Kindermädchen nach dem anderen und tat sich in der Schule sehr schwer. In der dritten Klasse hatte er einen großartigen Lehrer, durch den sich die Lage eine Weile besserte, aber in der vierten ging es wieder bergab. Andauernd geriet er auf dem Spielplatz in Prügeleien und wäre beinahe nicht versetzt worden. Ungefähr um die Zeit kam man zu dem Schluss, dass er schwerwiegende Probleme hatte, und schließlich schickten ihn seine Eltern, weil sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten, auf eine Militärschule, in der Hoffnung, die klaren Strukturen täten ihm gut. Seine Erfahrungen in diesem ersten Jahr waren grauenvoll, und im zweiten Halbjahr flog er von der Schule.
Von da aus kam er auf eine weitere Militärschule in einem anderen Staat, und im Laufe der nächsten Jahre verwendete er seine überschüssige Energie auf Kampfsportarten – Ringen, Boxen und Judo. Er ließ seine Aggressionen an anderen aus, manchmal etwas zu enthusiastisch, oft einfach nur, weil er Lust dazu hatte. Noten oder Disziplin waren ihm egal. Fünf Schulverweise und fünf unterschiedliche Militärinternate später schaffte er mit Ach und Krach seinen Abschluss, als wütender und gewalttätiger junger Mann ohne Pläne für sein Leben und ohne Interesse daran. Er zog wieder zu seinen Eltern, und es folgten sieben schlimme Jahre. Seine Mutter weinte viel, und sein Vater bat ihn inständig, sich zu ändern, aber er ignorierte beide. Auf Drängen seiner Eltern ging er zu einem Therapeuten, setzte aber seine Abwärtsspirale fort, mit dem unterbewussten Ziel der Selbstzerstörung. So formulierte es damals der Therapeut, nicht er, auch wenn er ihm inzwischen zustimmte. Immer wenn seine Eltern ihn in Raleigh vor die Tür setzten, schlüpfte er in der Strandhütte der Familie unter, bis sich die Wogen wieder geglättet hatten, kehrte dann nach Hause zurück, und der Kreislauf begann aufs Neue. Mit fünfundzwanzig erhielt Colin eine allerletzte Chance, sein Leben zu ändern. Gegen alle Erwartungen schaffte er das auch. Und jetzt ging er aufs College und hatte vor, die nächsten Jahrzehnte als Lehrer zu arbeiten, hoffte darauf, Kindern ein Ratgeber zu werden, was für die meisten Menschen überhaupt nicht nachvollziehbar war.
Colin wusste, dass es nicht einer gewissen Ironie entbehrte, den Rest seines Lebens in der Schule verbringen zu wollen, einem Ort, den er immer gehasst hatte, aber so war es nun mal. Damit hielt er sich nicht weiter auf, wie er sich generell nicht lange mit der Vergangenheit aufhielt. Er hätte überhaupt nicht an all das gedacht, hätte Evan nicht vorhin einen Besuch bei seinen Eltern angesprochen. Was Evan immer noch nicht begriff, war, dass es sowohl für Colin als auch für seine Eltern schon Stress bedeutete, sich in ein und demselben Raum zu befinden. Besonders, wenn der Besuch nicht weit im Voraus geplant gewesen war. Würde er unangemeldet auftauchen, säßen sie unbehaglich im Wohnzimmer und würden versuchen, Small Talk zu machen, während Erinnerungen an früher die Luft um sie herum erfüllten wie Giftgas. Er könnte die Enttäuschung und die Kritik spüren, die sie ausstrahlten, sie heraushören aus dem, was sie sagten oder nicht sagten, und wer brauchte das schon? Er nicht und sie auch nicht. In den vergangenen drei Jahren hatte er sich bemüht, seine seltenen Besuche auf etwa eine Stunde zu begrenzen, fast immer an den Feiertagen, was allen Beteiligten offenbar entgegenkam.
Seine älteren Schwestern Rebecca und Andrea hatten mit ihm darüber zu reden versucht, aber er hatte diese Gespräche abgeblockt wie bei Evan. Ihr Leben mit ihren Eltern war eben anders verlaufen als seins. Sie waren beide Wunschkinder gewesen, er dagegen ein dickes fettes Hoppla sieben Jahre später. Er wusste, dass sie es gut meinten, aber er hatte nicht viel mit ihnen gemeinsam. Beide hatten einen Collegeabschluss, einen Ehemann und Kinder. Sie wohnten in derselben teuren Gegend wie ihre Eltern und spielten am Wochenende Tennis. Je älter Colin wurde, desto klarer wurde ihm, dass ihre Entscheidungen im Leben viel schlauer gewesen waren als seine. Andererseits hatten sie ja auch keine schwerwiegenden Probleme.
Er wusste, dass seine Eltern, genau wie seine Schwestern, im Grunde gute Menschen waren. Er hatte Jahre in Therapie gebraucht, um zu akzeptieren, dass er derjenige mit den Problemen war, nicht sie. Mittlerweile gab er seinen Eltern nicht mehr die Schuld an dem, was mit ihm passiert war, was sie getan oder nicht getan hatten. Vielmehr hatte er seiner Ansicht nach Glück gehabt, der Sohn zweier so unfassbar geduldiger Menschen zu sein. Dann war er eben von Kindermädchen aufgezogen worden, na und? Dann hatten seine Leute eben irgendwann das Handtuch geworfen und ihn aufs Internat verfrachtet. Aber als er sie wirklich brauchte, als andere Eltern wahrscheinlich aufgegeben hätten, hatten sie nie die Hoffnung verloren, dass er sein Leben noch umkrempeln konnte.
Und sie hatten jahrelang seinen Mist ertragen. Schlimmen Mist. Sie duldeten das Trinken und das Kiffen und die zu jeder Tages- und Nachtzeit viel zu laut aufgedrehte Musik. Sie ließen sich die Partys gefallen, die er veranstaltete, sobald sie verreisten, und die das Haus in einen Trümmerhaufen verwandelten. Sie sahen über die Kneipenprügeleien und zahlreichen Verhaftungen hinweg. Nie erstatteten sie Anzeige, wenn er in das Strandhaus eingebrochen war, obwohl er auch dort schweren Schaden anrichtete. Sie holten ihn öfter aus dem Gefängnis, als er sich erinnern konnte, und bezahlten seine Anwaltskosten, und vor drei Jahren, als Colin nach einer Kneipenschlägerei in Wilmington eine lange Gefängnisstrafe bevorstand, ließ sein Vater seine Beziehungen spielen und erreichte eine Vereinbarung, die Colins gesamtes Vorstrafenregister löschte. Natürlich nur, falls Colin es nicht vermasselte. Zu den Bewährungsauflagen gehörte, dass er sich vier Monate in einer Spezialklinik für Aggressionsbewältigung in Arizona behandeln ließ. Nach seiner Rückkehr wollten seine Eltern ihn nicht bei sich wohnen haben, daher bezog er wieder das Strandhaus, das damals bereits zum Verkauf stand. Außerdem wurde ihm auferlegt, sich regelmäßig bei Detective Pete Margolis von der Wilmingtoner Polizei zu melden. Der Mann, den Colin in der Kneipe verprügelt hatte, war ein langjähriger Informant von Margolis gewesen, und infolge der Schlägerei waren dessen Ermittlungen in einem brisanten Fall schlagartig zum Erliegen gekommen. Seitdem hasste Margolis Colin aus tiefstem Herzen. Er sprach sich von Anfang an vehement gegen den Deal aus und bestand darauf, Colin wenigstens regelmäßig und willkürlich überprüfen zu dürfen, wie ein Pseudo-Bewährungshelfer. Die letzte Auflage schließlich besagte, dass, sollte Colin noch einmal verhaftet werden, egal weswegen, sein gesamtes ursprüngliches Vorstrafenregister wieder in Kraft trat und er automatisch eine Gefängnisstrafe von annähernd zehn Jahren anzutreten hatte.
Trotz der Bedingungen, trotz Margolis, der sichtlich nur darauf wartete, ihm Handschellen anzulegen, war der Deal für Colin großartig, und alles dank seinem Vater, auch wenn er und Colin sich im Moment kaum miteinander unterhalten konnten. Rein theoretisch hatte Colin Hausverbot auf Lebenszeit bei seinen Eltern, allerdings war sein Vater zuletzt in dieser Hinsicht etwas nachsichtiger geworden. Dauerhaft vor die Tür gesetzt worden zu sein und dann von der Straße aus zuzusehen, wie neue Eigentümer das Strandhaus in Besitz nahmen, hatte Colin damals gezwungen, sein Leben neu zu überdenken. Eine Zeit lang schlief er bei alten Freunden in Raleigh, zog von einer Couch zur anderen. Nach und nach kam er zu dem Schluss, dass er sein Leben ändern musste, um nicht endgültig auf die Selbstzerstörung zuzusteuern. Das Umfeld dort tat ihm nicht gut, und sein Freundeskreis war genauso haltlos wie er. Da er sonst nicht wusste, wohin, fuhr er zurück nach Wilmington und überraschte sich selbst damit, an Evans Tür zu klopfen. Evan wohnte dort seit Abschluss seines Studiums an der North Carolina State University und war gleichermaßen erstaunt, seinen alten Freund zu sehen. Verhalten und auch ein bisschen nervös, aber Evan war Evan, und er hatte kein Problem damit, Colin eine Weile bei sich wohnen zu lassen.
Es dauerte ein wenig, Evans Vertrauen zurückzugewinnen. Ihr Leben hatte sich bis dahin sehr unterschiedlich entwickelt. Evan war eher wie Rebecca und Andrea, ein verantwortungsvoller Bürger, dessen einzige Kenntnisse über das Gefängnis aus dem Fernsehen stammten. Er arbeitete als Buchhalter und Finanzplaner und hatte sich ein Haus mit Einliegerwohnung im Erdgeschoss gekauft, einer Wohnung, die zufällig gerade frei war, als Colin auftauchte. Eigentlich hatte Colin damals nicht vor, lange zu bleiben, doch eins führte zum anderen, und als er einen Job als Barkeeper bekam, zog er dauerhaft ein. Drei Jahre später zahlte er immer noch Miete an den besten Freund, den er auf der Welt hatte.
Bisher klappte es gut. Er mähte den Rasen und schnitt die Hecken und musste dafür nur wenig Miete bezahlen. Er hatte sein eigenes Reich mit eigenem Eingang, aber Evan war nicht weit weg, und er war genau das, was Colin momentan in seinem Leben brauchte. Evan trug Anzug und Krawatte zur Arbeit, sein geschmackvoll eingerichtetes Haus war immer blitzblank, und er trank nie mehr als zwei Bier, wenn er ausging. Außerdem war er so ungefähr der netteste Mensch auf der Welt, und er akzeptierte Colin mit allen Fehlern. Und – warum auch immer – er glaubte an ihn, selbst wenn Colin wusste, dass er das nicht immer verdiente.
Evans Verlobte Lily war mehr oder weniger aus demselben Holz geschnitzt. Obwohl sie in einer Werbeagentur arbeitete und eine Wohnung am Strand besaß, die ihre Eltern ihr gekauft hatten, verbrachte sie genug Zeit bei Evan, um eine wichtige Rolle in Colins Leben einzunehmen. Es hatte ein Weilchen gedauert, bis sie mit ihm warm geworden war. Bei ihrer ersten Begegnung trug Colin noch einen blonden Irokesenschnitt und Ringe in beiden Ohren, und ihre erste Unterhaltung handelte von einer Kneipenschlägerei in Raleigh, die für den anderen im Krankenhaus geendet hatte. Eine Zeit lang konnte sie einfach nicht nachvollziehen, warum Evan mit ihm befreundet war. Als höhere Tochter aus Charleston, die das reine Mädchen-College in Meredith besucht hatte, war Lily untadelig und höflich, und die Formulierungen, die sie benutzte, versetzten einen zurück in eine frühere Zeit. Sie war aber auch die schönste Frau, die Colin jemals gesehen hatte, und es war kein Wunder, dass Evan Wachs in ihren Händen war. Mit ihren blonden Haaren und blauen Augen und einem Akzent, der selbst, wenn sie wütend war, wie Honig klang, schien sie der letzte Mensch auf Erden zu sein, von dem Colin annahm, dass er ihm eine Chance geben würde. Doch genau das hatte sie getan. Und wie Evan glaubte sie inzwischen an ihn. Es war vor zwei Jahren Lilys Vorschlag gewesen, dass er sich auf dem College einschrieb, und Lily war es gewesen, die abends mit ihm gelernt hatte. Und zwei Mal hatten Lily und Evan Colin von einem dieser impulsiven Fehler abgehalten, die ihn ins Gefängnis gebracht hätten. Dafür liebte er Lily und auch ihre Beziehung zu Evan. Schon vor längerer Zeit hatte er beschlossen, dass er es regeln würde, wenn irgendjemand die beiden jemals bedrohen sollte, ganz egal, was es für Folgen für ihn hatte. Selbst wenn es bedeutete, den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen zu müssen.
Aber nichts währte ewig. Das Leben, das er die letzten drei Jahre geführt hatte, würde sich ändern, nicht zuletzt, weil Evan und Lily sich verlobt hatten und schon im Frühling die Hochzeit planten. Zwar versicherten beide, dass Colin auch danach noch in der Einliegerwohnung bleiben könne, aber er wusste auch, dass sie an den vergangenen Wochenenden Musterhäuser in einer näher an Wrightsville Beach gelegenen neuen Siedlung besichtigt hatten, Eigenheime mit der in Charleston üblichen doppelstöckigen Veranda. Sie wünschten sich Kinder, wünschten sich das ganze »Trautes Heim, Glück allein«-Programm, und Colin rechnete fest damit, dass Evans derzeitiges Haus innerhalb des kommenden Jahres zum Verkauf stünde. Danach wäre Colin wieder auf sich gestellt, und auch wenn es natürlich nicht fair war, von Evan und Lily zu erwarten, dass sie sich für ihn verantwortlich fühlten, fragte er sich manchmal, ob ihnen bewusst war, wie wichtig sie ihm in den letzten Jahren geworden waren.
Wie heute Abend zum Beispiel. Er hatte Evan nicht gebeten, ihn zu dem Kampf zu begleiten. Das war Evans Idee gewesen. Und er hatte ihn auch nicht gebeten, ihm Gesellschaft beim Essen zu leisten. Aber Evan nahm wahrscheinlich an, dass Colin sonst statt in einem Diner in einer Kneipe gelandet wäre und mit Schnäpsen abgeschaltet hätte statt mit einem mitternächtlichen Frühstück. Und obwohl Colin als Barkeeper arbeitete, war er im Moment auf der anderen Seite der Theke nicht so gut aufgehoben.
Als er nun vom Highway abfuhr, bog er auf eine kurvige Landstraße ab, die von Weihrauchkiefern und Roteichen gesäumt war. Es war weniger eine Abkürzung als der Versuch, eine endlose Abfolge von Ampeln zu vermeiden. Immer noch zuckten Blitze über den Himmel, färbten die Wolken silbrig und erhellten die Umgebung mit einem unwirklichen Aufleuchten. Regen und Wind wurden stärker, die Scheibenwischer konnten kaum noch die Sicht freihalten, aber Colin kannte diese Strecke gut. In einer der vielen unübersichtlichen Kurven verlangsamte er und trat plötzlich auf die Bremse.
Etwas weiter vorn stand ein Auto mit Dachgepäckträger halb auf der Straße, die Warnblinkanlage eingeschaltet. Der Kofferraum stand trotz des Wetters weit offen. Als der Camaro langsamer wurde, brach das Heck leicht aus, bevor die Reifen wieder griffen. Colin wechselte auf die Gegenfahrbahn, um einen weiten Bogen um das Auto zu machen, und dachte dabei, dass der Fahrer sich keine schlimmere Zeit und keinen schlimmeren Ort für seine Panne hätte aussuchen können. Nicht nur schränkte das Gewitter die Sicht ein. Betrunkene wie die vorhin in dem Lokal machten sich vermutlich auch gerade auf den Heimweg, und er konnte sich gut vorstellen, dass einer von denen die Kurve zu schnell nahm und den Wagen hier rammte.
Nicht gut, dachte er. Die Situation schrie geradezu nach Unfall, aber andererseits ging ihn das nichts an. Es war nicht seine Aufgabe, Fremde zu retten, und wahrscheinlich wäre er ohnehin keine große Hilfe. Außerdem hatte der Fahrer bestimmt schon jemanden gerufen.
Als er langsam an dem stehenden Wagen vorbeirollte, sah er, dass der Hinterreifen platt war und eine Frau – bis auf die Knochen durchweicht in Jeans und kurzärmeliger Bluse – sich abmühte, das Reserverad aus dem Kofferraum zu hieven. Es blitzte, eine lange Abfolge von grell flackernden Lichtern, die ihre wimperntuscheverschmierte Verzweiflung beleuchteten. In diesem Moment stellte er fest, dass ihre dunklen Haare und die weit auseinanderstehenden Augen ihn an jemanden vom College erinnerten, und er ließ die Schultern sacken.
Eine Frau? Warum musste es ausgerechnet eine Frau sein? Womöglich war es sogar tatsächlich eine Mitstudentin, und er konnte ja schlecht so tun, als hätte er nicht bemerkt, dass sie Hilfe brauchte. Das passte ihm jetzt wirklich nicht in den Kram, aber was blieb ihm übrig?
Mit einem Seufzen hielt er in einigem Abstand zu ihrem Wagen am rechten Straßenrand an. Er schaltete die Warnblinkanlage ein und schnappte sich die Jacke vom Rücksitz. Mittlerweile goss es in Strömen, und er wurde beim Aussteigen sofort durchnässt wie vom schrägen Strahl einer Außendusche. Er strich sich mit der Hand durch die Haare, atmete tief durch und trabte auf ihren Wagen zu, im Geiste kalkulierend, wie schnell er den Reifen wechseln und weiterfahren konnte.
»Brauchen Sie Hilfe?«, rief er.
Zu seinem Erstaunen antwortete sie nicht. Vielmehr starrte sie ihn mit großen Augen an, ließ das Reserverad los und wich ganz langsam zurück.