EVE CHASE
Roman
Eine Familie. Ein Geheimnis.
Ein Sommer, der alles verändert.
Deutsch von Carolin Müller
EVE CHASE
Roman
Eine Familie. Ein Geheimnis.
Ein Sommer, der alles verändert.
Deutsch von Carolin Müller
Für Oscar, Jago und Alice
Prolog
Amber, am letzten Tag der Sommerferien
1969, Cornwall
Auf dem Klippenvorsprung fühle ich mich sicher, jedenfalls sicherer als im Haus. Dieser geheime Ort, ein paar Schritte vom Küstenweg entfernt, und zwanzig Minuten Kletterei, ist weit genug von Black Rabbit Halls wachsamen Fenstern entfernt. Ich verharre einen Moment lang auf der Klippe – der Wind peitscht mein Kleid um meine Beine, meine Fußsohlen kribbeln –, dann lasse ich mich vorsichtig, nach Grasbüscheln greifend, hinunter, das Meer braust in meinen Ohren. Besser nicht nach unten blicken. Ein beherzter Sprung, und ich throne direkt an der Schwelle zum Himmel.
Ein Schritt zu weit, und alles ist vorbei. Ich würde es nicht tun. Aber die Tatsache, dass ich es könnte, gefällt mir. Dass ich heute eine gewisse Kontrolle über mein Schicksal habe.
Gegen die Felswand gedrückt, schöpfe ich Atem. So viel fieberhaftes Suchen: im Wald, in den Zimmern, treppauf und treppab. Wundgescheuerte Fersen in zu kleinen Turnschuhen. Und noch immer habe ich sie nicht gefunden. Wo sind sie nur? Ich schirme meine Augen vor dem blendenden Himmel ab und suche die flaschengrünen Gipfel auf der anderen Seite der Bucht ab. Sie sind menschenleer. Bloß Rinder auf den Feldern.
Den Rücken am Fels, rutsche ich langsam nach unten, dabei schiebt sich mein Kleid hoch, sodass der Wind zwischen meinen nackten gebeugten Beinen hindurchfährt.
Endlich innehalten, ich kann den Ereignissen des Tages nicht länger entfliehen. Sogar das Schlagen der Wellen auf den Felsen lässt meine Wange erneut brennen. Ich blinzle, und da ist das Haus, seine Silhouette hat sich ins Innere meiner Lider gebrannt. Also versuche ich, die Augen offen zu halten, und meine Gedanken verlieren sich am weiten rosafarbenen Himmel, an dem die Sonne und der Mond wie Frage und Antwort hängen. Ich vergesse, dass ich eigentlich weitersuchen sollte. Dass die Minuten schneller vorbeiziehen als Wolken in der Abenddämmerung. Doch ich kann nur an meine Flucht denken.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon dort sitze, als mein Gedankenfluss von einem riesigen schwarzen Vogel durchbrochen wird, der im Sturzflug über die Klippe schießt, so nah, dass sich seine Krallen beinahe in meinen Haaren verfangen hätten. Ich ducke mich instinktiv unter dem Luftzug seines Flügelschlags weg, und meine Nase berührt die kühle Haut meiner Knie. Als ich wieder emporschaue, richtet sich mein Blick nicht länger in den Himmel, sondern auf Treibgut, das unten in der Flut auf den Wogen tanzt.
Nein, kein Treibgut. Etwas Lebendiges. Ein Delfin? Oder sind es die Quallen, die schon die ganze Woche lang in unsere Bucht gespült werden wie eine verlorene Ladung grauer Glasschüsseln? Vielleicht. Ich beuge mich vor, neige den Kopf über die Kante, um besser sehen zu können. Meine Haare flattern wie wild, mein Herz schlägt schneller, und ich fange an, das Schreckliche, das sich da dicht unter der schimmernden blauen Oberfläche bewegt, zu ahnen, ohne es schon wirklich zu erkennen. Noch nicht.
1
Lorna, mehr als drei Jahrzehnte später
Das ist eine dieser Reisen. Je näher man dem Ziel kommt, desto schwerer ist vorstellbar, dass man es wirklich jemals erreichen wird. Es gibt immer noch eine weitere Straßenbiegung, eine ruckelnde Fahrt, bis der Feldweg im Nirgendwo endet. Und es wird immer später. Warmer Sommerregen trommelt aufs Autodach.
»Ich schlage vor, wir lassen es gut sein und fahren ins Bed and Breakfast zurück.« Jon reckt den Hals übers Lenkrad, um die Straße, die sich vor der Windschutzscheibe verflüssigt, besser sehen zu können. »Wir genehmigen uns ein Bier und visieren eine Hochzeit irgendwo im Umkreis der M25 an. Was meinst du?«
Lorna malt mit der Fingerspitze ein Haus auf das angelaufene Fenster: Dach, Schornstein, Rauchschnörkel. »Lieber nicht, Schatz.«
»Irgendwo, wo es ein sonniges Mikroklima hat, vielleicht?«
»Sehr witzig.« Ungeachtet der Enttäuschungen, die der Tag bisher gebracht hatte – keine der Örtlichkeiten hatte ihren Erwartungen entsprochen, alle waren überteuert, aber dennoch geschmacklos –, ist Lorna ziemlich glücklich. Es hat etwas Berauschendes, mit dem Mann, den sie heiraten wird, durch dieses stürmische Wetter zu fahren. Nur sie beide, ganz gemütlich in ihrem keuchenden kleinen roten Fiat. Wenn sie alt und grau sind, werden sie sich an diese Reise erinnern, denkt sie. Als sie noch jung waren und verliebt und im Auto durch den Regen fuhren.
»Na toll.« Finster blickt Jon auf einen bedrohlichen dunklen Umriss im Rückspiegel. »Alles, was ich jetzt noch brauche, ist ein verdammter Traktor im Nacken.« Er hält an einer Kreuzung, an der diverse windgekrümmte Schilder in Richtungen zeigen, die wenig mit den vorhandenen Abzweigungen zu tun haben. »Und wohin jetzt?«
»Haben wir uns etwa verfahren?«, zieht sie ihn mit einem gewissen Vergnügen auf.
»Das Navi weiß nicht mehr weiter. Wir sind hier am Arsch der Welt.«
Lorna lächelt. Jons kindische, harmlose Griesgrämigkeit wird mit den ersten Hinweisen auf das Haus oder mit einem kalten Bier verschwunden sein. Er nimmt sich die Dinge nicht so zu Herzen wie sie und sieht Hindernisse als Herausforderung.
»Gut.« Er zeigt mit dem Kopf auf die Karte auf Lornas Schoß, die zerknüllt und voller Krümel ist. »Wie steht’s um deine Kartenlesefähigkeiten, Schätzchen?«
»Na ja …« Umständlich faltet sie die Karte auseinander und schüttelt die Krümel zu den leeren Wasserflaschen, die im sandigen Fußraum herumrollen. »Meinen Berechnungen zufolge fahren wir gerade durch den Atlantik.«
Jon schnaubt und streckt die langen Beine aus. »Großartig.«
Lorna beugt sich zu ihm und streicht ihm über den Oberschenkel. Sie weiß, dass er es müde ist, im Regen über unbekannte Straßen zu fahren und Hochzeitslocations abzuklappern … und dann noch die abgelegenste, die versteckteste zum Schluss. Sie wären jetzt an der Amalfiküste, wenn sie nicht darauf bestanden hätte, stattdessen nach Cornwall zu fahren. Wenn Jons Geduld also langsam nachlässt, dann kann sie es ihm kaum verübeln.
Jon hatte ihr den Antrag an Weihnachten gemacht, vor Monaten. Für eine ganze Weile hatte das gereicht. Sie genoss es, verlobt zu sein, diesen Zustand seligen Aufschubs: Sie gehörten zusammen, doch sie entschieden sich noch immer jeden Morgen neu für dieses Zusammensein. Sie war in Sorge, dieses unbeschwerte Glück zu verlieren. Jedenfalls hatten sie es nicht wahnsinnig eilig. Sie hatten alle Zeit der Welt.
Und dann doch wieder nicht. Als Lornas Mutter im Mai unerwartet starb, war das wie eine Mahnung, nicht länger zu warten. Die Dinge nicht aufzuschieben und nicht zu vergessen, dass auf jedermanns Kalender bereits ein dunkles Datum eingekringelt ist, das immer näher rückt. In ihr wuchs der Wunsch, das Leben mit beiden Händen zu greifen, an einem nieseligen Sonntagmorgen auf ihren roten Glücks-High-Heels durch den Abfall auf der Bethnal Green Road zu stöckeln. Heute Morgen hat sie sich in ein sonnengelbes Vintage-Sommerkleid aus den Sechzigern gezwängt. Wann sollte sie es tragen, wenn nicht jetzt?
Jon betätigt die Schaltung und gähnt. »Wie heißt das Anwesen noch mal, Lorna?«
»Pencraw«, sagt sie fröhlich in dem Versuch, ihn bei Laune zu halten, denn sie ist sich bewusst, dass sie, wenn es nach Jon ginge, seine weitläufige Familie einfach in ein Partyzelt im Garten seiner Eltern in Essex quetschen würden, und das wär’s. Dann würden sie ein Stück die Straße runter von seinen hingebungsvollen Schwestern ziehen – die winzige Stadtwohnung gegen ein Vorstadthäuschen mit einem Rasensprenger eintauschen –, damit seine Mutter Lorraine mit all den Babys helfen könnte, die prompt folgen würden. Glücklicherweise geht es nicht nach Jon. »Pencraw Hall«, sagt sie.
Er fährt sich mit der Hand durch das weizenblonde Haar, das von der Sonne fast weiß ist. »Noch ein Versuch?«
Sie strahlt ihn an. Sie liebt diesen Mann.
»Ach, zur Hölle, fahren wir hier lang. Die Chancen, dass wir richtigliegen, stehen eins zu vier. Hoffentlich können wir diesen Traktor abschütteln.«
Sie schütteln ihn nicht ab.
Es regnet immer weiter. An der Windschutzscheibe kleben Wiesenkerbelblätter, die von den quietschenden Scheibenwischern in Schlieren verschmiert werden. Lornas Herz klopft schneller. Auch wenn sie durch die Regenbächlein, die die Scheiben hinunterlaufen, nicht viel sehen kann, weiß sie, dass die bewaldeten Täler, die Flussläufe und einsamen kleinen Buchten der Roseland-Halbinsel hinter dem Glas liegen. Sie erinnert sich, als Kind schon auf diesen Wegen unterwegs gewesen zu sein – sie verbrachten fast jeden Sommer in Cornwall – und auch daran, wie die Meeresbrise durch das heruntergekurbelte Fenster drang und die letzten Überreste des verrußten Großraums London wegblies – und sie erinnert sich an die Anspannung im Gesicht ihrer Mutter.
Ihre Mutter war stets sorgenumwölkt gewesen und litt ihr ganzes Leben unter Schlaflosigkeit: Nur am Meer schien sie schlafen zu können. Als Lorna klein war, fragte sie sich, ob in der Luft in Cornwall wohl betäubende Dämpfe lagen wie im Mohnfeld aus dem Zauberer von Oz. Jetzt kommt eine leise Stimme in ihrem Kopf nicht umhin, nach Familiengeheimnissen zu fragen. Warum bist du hier? Doch sie beschließt, dieser Stimme kein Gehör zu schenken.
»Bist du dir sicher, dass dieser alte Kasten überhaupt existiert, Lorna?« Jons Arme sind ausgestreckt und steif am Lenkrad, die Augen rot vor Anspannung.
»Er existiert.« Sie bindet sich ihr langes, dunkles Haar zu einem hohen Knoten zusammen. Ein paar Strähnen lösen sich, umspielen ihren blassen Hals. Sie spürt die Hitze seines Blicks: Er liebt ihren Hals, die weiche Babyhaut direkt hinterm Ohr.
»Noch mal für mich.« Sein Blick richtet sich wieder auf die Straße. »Das ist irgend so ein altes Herrenhaus, das du schon mit deiner Mutter besucht hast, als ihr hier im Urlaub wart?«
»Genau.« Sie nickt eifrig.
»Deine Mutter mochte es gern prächtig, ich weiß.« Er schaut finster in den Rückspiegel. Mittlerweile regnet es in silbernen, welligen Strömen. »Aber wie kannst du dir sicher sein, dass es gerade dieses war?«
»Ich bin in irgendeinem Online-Hochzeitsverzeichnis über Pencraw Hall gestolpert und hab es sofort erkannt.« So viele Dinge waren bereits verblasst – die Hyazinthennote des Lieblingsparfüms ihrer Mutter, wie sie mit der Zunge geschnalzt hat, wenn sie nach ihrer Lesebrille suchte –, doch in den letzten paar Wochen waren andere längst vergessen geglaubte Erinnerungen in unerwartet klarer Schärfe zurückgekehrt. Und dies war eine davon. »Wie Mama auf dieses große alte Haus zeigt. Ihr ehrfurchtsvoller Blick. Das ist irgendwie bei mir hängengeblieben.« Sie dreht an dem Diamantverlobungsring an ihrem Finger und erinnert sich noch an andere Dinge. Eine rosa gestreifte Tüte Karamellbonbons schwer in ihrer Hand. Ein Fluss. »Ja, ich bin ziemlich sicher, dass es dasselbe Haus ist.«
»Ziemlich?« Jon schüttelt den Kopf und lacht sein lautes, dröhnendes Lachen. »Meine Güte, ich muss dich wirklich lieben.«
Eine Weile fahren sie in einträchtigem Schweigen weiter. Jon wirkt nachdenklich. »Morgen ist der letzte Tag, Liebling.«
»Ich weiß.« Sie seufzt, der Gedanke, wieder in die heiße, überfüllte Stadt zurückzukehren, erscheint ihr nicht gerade reizvoll.
»Wenn du noch etwas tun wolltest, was gar nichts mit der Hochzeit zu tun hat?« Seine Stimme klingt entwaffnend sanft.
Sie lächelt verdutzt. »Klar. Was meinst du?«
»Na ja, ich dachte, dass du vielleicht noch irgendetwas … von Bedeutung … besichtigen möchtest?« Seine Worte klingen unbeholfen. Er räuspert sich und sucht ihre dunklen Augen.
Lorna weicht seinem Blick aus. Ihre Finger lösen ihr Haar, sodass es raschelnd herabfällt und ihre errötenden Wangen verbirgt. »Nicht wirklich«, murmelt sie. »Ich will einfach bloß Pencraw sehen.«
Jon seufzt, legt einen anderen Gang ein. Lorna wischt ihre Kritzelei vom beschlagenen Fenster und späht gedankenverloren durch das entstandene Bullauge.
»Also … Wie waren die Bewertungen?«, erkundigt sich Jon.
Sie zögert. »Na ja, es gibt keine. Nicht wirklich.«
Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Aber ich habe angerufen und mit einem echten, lebendigen Menschen gesprochen, mit der Assistentin der Hausherrin oder so. Sie hieß Endellion.«
»Was soll das denn für ein Name sein?«
»Kornisch.«
»Willst du das jetzt als Entschuldigung für alles benutzen?«
»Ja, ja.« Lorna lacht, streift sich ihre silbernen Flip-Flops ab und legt die Füße auf das harte graue Plastik des Handschuhfachs, erfreut über die Spuren der Sonnenbräune und darüber, dass ihr blassrosa Nagellack nicht abgesplittert ist. »Sie hat mir erklärt, dass es ein Privatanwesen ist und das erste Jahr vermietet wird. Also noch keine Bewertungen. Das hat schon seine Richtigkeit, versprochen.«
Er lächelt. »Manchmal kannst du ganz schön naiv sein.«
»Und du kannst verdammt skeptisch sein, mein Liebling.«
»Realistisch, bloß realistisch.« Er schaut in den Spiegel, und sein Blick verhärtet sich. »Verdammt.«
»Was?«
»Dieser Traktor. Zu nah. Zu groß.«
Lorna verspannt sich auf ihrem Sitz, wickelt eine Haarsträhne um ihren Finger. Der Traktor sieht bedrohlich groß für diese enge Straße aus, die jetzt mehr wie ein Tunnel anmutet, gesäumt von steilen Mauern aus massivem Fels und einem Baldachin aus ineinander verschlungenen Baumwipfeln.
»Beim nächsten Feldgatter halten wir und versuchen umzudrehen«, sagt Jon nach ein paar angespannten Minuten.
»Oh, jetzt komm …«
»Es ist gefährlich, Lorna.«
»Aber …«
»Falls das ein Trost für dich ist, das Haus ist bestimmt wie alle anderen, irgendein Bed and Breakfast mit Ambitionen. Mit armseligem Tagungszentrum. Und falls es doch was taugt, dann werden wir’s uns nicht leisten können.«
»Nein, bei dem Haus hab ich so ein Gefühl …«, sie dreht eine Locke um ihren Zeigefinger, » … eine Ahnung.«
»Du und deine Ahnungen.«
»Du warst auch eine Ahnung.« Sie legt die Hand auf sein Knie, gerade als sich die Sehnen seiner Muskeln anspannen und sein Fuß die Bremse durchdrückt.
Alles scheint gleichzeitig zu passieren: das Quietschen der Bremsen, das Schlittern nach links, der dunkle Umriss, der über die Straße und in die Büsche springt. Dann gespenstische Stille. Das Prasseln des Regens auf dem Dach.
»Lorna, bist du okay?« Er berührt mit dem Handrücken ihre Wange.
»Ja, ja. Ich bin okay.« Mit der Zunge tastet sie das Innere ihres Mundes ab, nimmt den metallischen Geschmack von Blut wahr. »Was ist passiert?«
»Ein Reh. Ziemlich sicher bloß ein Reh.«
»Oh, Gott sei Dank. Kein Mensch.«
Er stößt einen leisen Pfiff aus. »Das war knapp. Sicher alles okay bei dir?«
Ein Klopfen an der Fahrertür. Die Fingerknöchel sind haarig, die Haut wundrot. Der Traktorfahrer ist ein triefender Berg in einem orangen Anorak.
Jon kurbelt besorgt das Fenster herunter. »Sorry wegen der harten Bremsung, Kumpel.«
»Verfluchtes Reh.« Das Gesicht eines Mannes, so zerklüftet wie die Landschaft, erscheint im Fenster. Er späht über Jons Schulter und richtet seine trüben Augen auf Lorna. Sein Blick legt nahe, dass er nicht oft auf zierliche, zweiunddreißigjährige Brünette in gelben Sommerkleidern trifft. Man könnte sogar vermuten, dass er ganz allgemein nicht auf viele Frauen trifft.
Lorna versucht ihn anzulächeln, doch ihr Mund zuckt an den Rändern. Sie könnte stattdessen gleich in Tränen ausbrechen. Schlagartig begreift sie, wie nah sie gerade an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind. Es kommt ihr umso unglaublicher vor, weil sie im Urlaub sind. Im Urlaub hat sie sich immer unsterblich gefühlt, vor allem mit Jon, der sehr beschützend ist, außerdem recht vernünftig und gebaut wie ein Vorschlaghammer.
»Sie kommen durch Lücken in den Hecken. Erst letzten Monat hat es deswegen einen schweren Unfall gegeben.« Der Mann bläst einen Schwall abgestandenen Atem in die enge Umgrenzung des Wagens.
»Zwei Leute wurden nicht weit von hier übel zugerichtet. Verfluchte durchgedrehte Viecher.«
Jon dreht sich zu Lorna. »Irgendwer versucht, uns hier etwas zu sagen. Können wir’s für heute gut sein lassen?«
Sie spürt das Zittern seiner Finger, weiß, dass sie ihn nicht weiter drängen kann. »Okay.«
»Schau nicht so. Wir kommen ein anderes Mal wieder.«
Werden sie nicht, das weiß sie. Sie wohnen zu weit weg. Sie sind zu beschäftigt. Sie arbeiten zu viel. Wenn sie nach Hause kommen, steht bei der Baufirma von Jons Familie ein aufwändiges Projekt an, irgendein protziges Penthouse in Bow, und für sie rückt der Schulanfang im September immer näher. Nein, es ist alles zu kompliziert. Sie werden nicht wiederkommen. Und Cornwall ist so unpraktisch. Es ist teuer. Es würde ihren Gästen zu viel abverlangen. Es würde Jon zu viel abverlangen. Und ihrem Vater. Ihrer Schwester. Es sind bloß alle nachsichtig mit ihr, weil sie ihnen wegen des Todes ihrer Mutter leidtut. Sie ist ja nicht doof.
»Man trifft auf dieser Straße nur selten jemanden. Wohin wollen Sie denn?«, erkundigt sich der Traktorfahrer und kratzt sich an seinem Stiernacken. »Auf jeden Fall haben Sie sich den besten Tag dafür ausgesucht.«
»Wir sind auf der Suche nach irgend so einem alten Kasten.« Jon sucht im Handschuhfach nach einer Zuckerdosis gegen das Zittern seiner Hände. Er findet ein steinaltes, klebriges Minzbonbon, halb ausgepackt. »Pencraw Hall?«
»Oh.« Das Gesicht des Mannes verschwindet in den Untiefen seiner Kapuze.
Lorna, die Anzeichen von Erkennen spürt, setzt sich aufrechter hin. »Sie kennen es?«
Ein lebhaftes Nicken. »Black Rabbit Hall.«
»Oh, nein, ’tschuldigung, wir suchen Pencraw Hall.«
»Wir hier nennen es Black Rabbit Hall.«
»Black Rabbit Hall.« Lorna lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen. Sie gefallen ihr. Der Name gefällt ihr. »Also ist es hier in der Nähe?«
»Sie sind praktisch schon auf der Zufahrt.«
Lorna wendet sich strahlend Jon zu, die Nahtoderfahrung ist vergessen.
»Der Weg macht noch eine Kurve – die letzte Chance umzudrehen – und führt dann übers Ackerland des Anwesens, das heißt, was noch davon übrig ist. Und nach einer weiteren halben Meile oder so stößt man auf das Haus selbst. Sie werden das Schild sehen. Na ja, ich sag jetzt mal, dass Sie es sehen werden. Versteckt im Gebüsch. Sie müssen schon die Augen offen halten.« Er starrt Lorna erneut an. »Seltsamer Ort. Warum wollen Sie dorthin? Wenn ich fragen darf.«
»Na ja …« Lorna holt Luft, um die Hintergrundgeschichte zu erzählen.
»Wir ziehen es als Hochzeitslocation in Erwägung«, sagt Jon, bevor sie die Chance dazu hat. »Zumindest bist jetzt.«
»Hochzeit?« Der Mann bekommt große Augen. »Hol mich der Teufel.« Er blickt von Lorna zu Jon und wieder zurück. »Hören Sie, Sie scheinen ein nettes Paar zu sein. Sie sind nicht von hier, oder?«
»London«, murmeln sie unisono.
Der Mann nickt, als würde das alles erklären. Er legt die Hand auf das heruntergekurbelte Fenster; seine Finger hinterlassen auf dem Glas einen fetten Abdruck aus Kondenswasser. »Wenn Sie mich fragen, ist Black Rabbit Hall kein Ort für eine Hochzeit.«
»Oh. Warum nicht?«, fragt Lorna.
Der Mann runzelt die Stirn, wirkt unsicher, wie viel er ihnen sagen soll. »Zum einen ist es in keinem guten Zustand. Das Wetter hier nagt an den Häusern, außer man steckt viel Geld hinein. Und in dieses Haus wurde seit Jahren nichts mehr gesteckt.« Er befeuchtet sich die Lippen mit der Zunge. »Es heißt, dass schon die Hortensien durch den Boden des Ballsaals wachsen, außerdem gehen seltsame Dinge dort vor sich.«
»Oh … das gefällt mir.«
Jon verdreht die Augen und versucht, nicht zu lachen. »Bitte ermutigen Sie sie nicht noch.«
»Ich muss langsam weiter.« Der Traktorfahrer schaut besorgt drein. »Passen Sie auf sich auf, ja?«
Sie sehen ihm nach, wie er davonstapft, lauschen dem Stampfen, als er die geriffelten Metallstufen zur Fahrerkabine des Traktors erklimmt. Lorna weiß nicht, was sie von alldem halten soll.
Jon schon. »Halt dich gut fest! Und halt nach Bambi Ausschau. Ich fahre zurück zur Kreuzung. Wir kehren zurück in die Zivilisation und zu einem schönen kalten Bier. Und das keine Sekunde zu früh.«
Lorna legt die Hand fest auf seinen Arm, mit genug Druck, um ihm zu zeigen, dass sie es ernst meint. »Es wäre vollkommen absurd, jetzt umzudrehen. Und das weißt du.«
»Du hast doch gehört, was der Typ gesagt hat.«
»Wir müssen es selbst gesehen haben, wenn auch nur, um es zu verwerfen, Jon.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich hab kein gutes Gefühl dabei.«
»Du und deine Gefühle«, sie verdreht dramatisch die Augen und versucht, ihn damit zum Lachen zu bringen. »Komm schon. Das ist die einzige Location, die ich unbedingt sehen will.«
Er trommelt mit den Daumen auf dem Lenkrad herum. »Okay, aber du bist mir was schuldig.«
Sie beugt sich über die Handbremse und drückt ihren Mund an die warmen Stoppeln seines Kinns. Er riecht nach Sex und Vollkornkeksen. »Und ist das jetzt vielleicht kein gutes Gefühl?«
Ein paar Minuten später biegt der rote Fiat von der Straße ab und rinnt wie ein Blutstropfen die nassgrüne Auffahrt hinunter, hinter ihnen schließt sich der Baldachin aus Bäumen.
2
London, April 1968
Amber, Fitzroy Square
Mama hatte Glück, dass sie bei dem Unfall nicht ernsthaft verletzt wurde. Das sagen alle. Wenn ihr Taxi ein paar Zentimeter weiter nach rechts geschleudert worden wäre, wären sie frontal gegen den Poller in der Bond Street gekracht, anstatt ihn bloß zu rammen. Mama hat trotzdem einen ordentlichen Schlag abbekommen und flog zusammen mit ihren Einkaufstaschen durchs Taxi. Ihre neuen schicken Hüte haben nichts abbekommen, und der Taxifahrer hat ihr den Fahrpreis erlassen. Trotzdem hat sie nicht unbedingt Glück gehabt. Zehn Tage später hat sie noch immer einen gelb-blauen Bluterguss an der Kniescheibe und ein verstauchtes Handgelenk. Sie muss mit der geschienten Hand herumsitzen, und das an einem Samstagvormittag, anstatt im Regent’s Park Tennis zu spielen oder meine kleine Schwester durch den Garten zu scheuchen.
Im Moment sitzt sie in dem türkisen Sessel am Wohnzimmerfenster, das Bein auf dem Schemel ausgestreckt, und starrt auf die schwarzen Regenschirme, die unten auf dem Platz herumschwanken. Ihr Blick geht ins Leere. Sie sagt, das liege an den Schmerzmitteln. Aber ich weiß, dass Mama davon träumt, wieder auf Black Rabbit Hall zu sein oder auf ihrer alten Familienfarm in Maine, an irgendeinem abgelegenen, wilden Ort, wo sie in Frieden ihre Pferde reiten kann. Aber Maine ist zu weit weg. Und Black Rabbit Hall fühlt sich noch unerreichbarer an.
»Kann ich Ihnen noch etwas Tee bringen, Madam?«, erkundigt sich Nette und wendet respektvoll den Blick von dem erschreckenden Bluterguss auf Mamas Bein ab.
Nette ist seit drei Monaten die neue Hausangestellte. Sie lispelt, weshalb wir alle sie nachmachen, und kommt direkt aus einem altmodischen Haushalt am Eaton Square, »wo man noch so tut, als hätten wir 1930«, sagt Mama. Ich denke, Nette gefällt es bei uns besser. Mir ginge das jedenfalls so.
»Oder noch ein Kissen?«
»Nein danke, Nette. Sie sind sehr aufmerksam. Aber ich sitze ganz bequem und habe in den letzten Tagen so viel Tee getrunken, dass ich Angst habe, eine weitere Tasse könnte mir den Rest geben.« Mama strahlt und enthüllt die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, die ihr Lächeln so grandios macht. Sie kann ein Streichholz hindurchstecken. »Und, Nette, bitte nennen Sie mich doch ruhig Mrs. Alton oder gleich Nancy. Förmlichkeiten sind hier nicht nötig, versprochen.«
»Ja, Mad…« Nette unterbricht sich und lächelt scheu. Sie räumt die leere Teetasse und den halb aufgegessenen Battenbergkuchen ab und stellt alles lautlos auf das glänzende Silbertablett. Boris wedelt mit dem Schwanz und schaut sie mit seinem schönsten Hundeblick an. Auch wenn sie dem Hund eigentlich keine Leckereien geben soll – Boris ist ein echtes Dickerchen, ein Nimmersatt, der einmal schon ein Pfund Butter verputzt und dann auf die Treppe gekotzt hat –, weiß ich, dass Nette ihn heimlich in der Küche füttert, wenn es niemand sieht. Dafür mag ich sie.
»Komm mal her«, sagt Mama zu mir, als Nette gegangen ist. Sie zieht den Klavierstuhl zu sich heran und klopft darauf.
Ich setze mich hin und lege den Kopf auf ihren Schoß. Sie streicht mir übers Haar, und ich fühle mich gleichzeitig wie ihre Vertraute und ihr Baby und könnte ewig so verweilen oder wenigstens bis zum Mittagessen. Doch ihr Schoß wird nicht lange mir gehören: Wir sind zu viele – ich, Barney, Kitty, Papa und mein Zwillingsbruder Toby, wenn er wieder aus dem Internat zurück ist. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre sie nicht genug für alle.
»Dein Bein sieht aus wie Wurzelgemüse, Mama.«
»Na vielen Dank auch, Herzchen!«
»Aber dein anderes Bein ist noch immer hübsch«, sage ich schnell und werfe einen Blick darauf, lang, schlank, der Fuß ausgestreckt wie der einer Ballerina, der zweite Zeh, faszinierenderweise länger als der große, steht unter der hochgerutschten Strumpfnaht heraus.
»Ein hübsches Bein ist genug. Und das andere sieht viel schlimmer aus, als es ist, wirklich.« Sie wickelt sich eine Haarsträhne von mir um den Finger wie eine dieser Seidentroddeln, mit denen die Vorhänge zurückgebunden werden. So sitzen wir eine Weile da, die Reiseuhr tickt, und draußen rumort London. »Ein Penny für deine Gedanken.«
»Großmama Esme meint, du hättest sterben können.« Ich kann nicht aufhören, an den Unfall zu denken. Der schwarze Poller, der auf das schwarze Taxi lauert. Das Quietschen der Bremsen. Die Hutschachteln, die durch die Luft fliegen. Dinge, von denen man sich niemals vorstellen kann, dass sie geschehen könnten, geschehen einfach. »Das gibt mir das Gefühl … Ich weiß auch nicht …«
Sie lächelt, beugt sich über mich, und die Spitzen ihrer kupferroten Haare kitzeln meine Wangen. Ich kann ihre Gesichtscreme von Pond’s riechen. »Um mich umzubringen, braucht es schon einiges mehr als nur ein Taxi in der Bruton Street. Das sind meine Neuengland-Gene, Schätzchen.«
Ich starre erneut auf ihr geschwollenes Bein, bereue es aber sofort und blicke zur Seite. Normalerweise passiert Mama nichts Schlimmes. Sie bekommt keine Grippe. Keine Kopfschmerzen. Und schon gar nicht diese Sache, wegen der Mrs. Hollywell, Matildas Mutter, sich fast jeden Tag nach dem Mittagessen hinlegen muss und manchmal gar nicht erst aufstehen kann. Aber das Gute daran ist, wenn das hier das Schlimme war, das Mama zustoßen musste, dann ist es jetzt aus dem Weg.
»Bitte mach dir um mich keine Sorgen, Amber.« Sie streicht meine Stirn mit der Daumenkuppe glatt. »Kinder dürfen sich nie um ihre Eltern sorgen, weißt du? Sich Sorgen machen ist die Aufgabe einer Mutter. Deine Zeit für all das wird noch kommen.«
Ich blicke finster zu Boden, unfähig, die Punkte zwischen mir als Vierzehnjähriger und mir als Ehefrau und Mutter zu verbinden. »Was passiert mit meinem Zwillingsbruder, wenn ich heirate? Was macht Toby dann?«
»Schon gut.« Mama lacht. »Du hast noch eine Weile Zeit.«
»Kannst du weiterhin auf Knight reiten?«, frage ich schnell, um das Thema zu wechseln. Knight ist ihr Niederländisches Warmblut. Sein Name klingt nach einem Rappen, doch er hat die Farbe einer Rosskastanie.
»Ob ich Knight noch reiten kann? Machst du Witze?« Mama zuckt zusammen und setzt sich aufrechter hin. »Wenn ich noch lange in diesem Sessel hier sitze, werde ich verrückt. Ich kann es gar nicht erwarten, wieder auf Knight zu reiten. Verdammt, ich würde auf einem Bein bis nach Cornwall hopsen, um ihn zu reiten, wenn es sein müsste.«
Wenn man Mama kennt, weiß man, dass das gar nicht so unwahrscheinlich ist, wie es klingt.
»Tatsächlich habe ich vor, heute Abend mit deinem Vater darüber zu sprechen, ob wir nicht früher als geplant nach Black Rabbit Hall aufbrechen.«
»Wann, früher?«
Sie rutscht auf den Kissen herum, unfähig, eine bequeme Position zu finden. »Nächste Woche – gerne auch noch früher, wenn Peggy bis dahin das Haus fertig vorbereitet hat.«
»Nächste Woche?« Mein Kopf schnellt von ihrem Schoß hoch. »Aber die Osterferien fangen doch erst in zwei Wochen an.«
»Du kannst deine Schularbeiten mitnehmen, wenn du willst.«
»Aber Mama …«
»Schatz, du verbringst sowieso viel zu viel Zeit mit dem Kopf in Büchern. Ein bisschen Unterricht zu verpassen hat noch keinem geschadet. Zu viel Schule ist nicht gut für ein Kind.«
»Dann falle ich hinter die anderen zurück.«
»Unsinn. Miss Rope meint, du bist dem Rest der Klasse um Längen voraus. Diesbezüglich mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Abgesehen davon lernst du auf Black Rabbit Hall viel mehr als in einem stickigen Klassenzimmer beim Regent’s Park.«
»Was soll ich da denn lernen?«, frage ich zweifelnd.
»Leben!«
Ich verdrehe die Augen. »Ich denke, ich weiß mittlerweile genug vom Leben auf Black Rabbit Hall, Mama.«
Sie wirkt amüsiert. »Ach wirklich?«
»Und ich bin langsam zu alt für Sandburgen.«
»Sei nicht albern. Für Sandburgen ist man nie zu alt.«
Mein Leben war bisher voll mit Sandburgen. Meine erste Erinnerung handelt von Toby, der vornübergebeugt wie wild am Strand buddelt und in einem goldenen Bogen Sand über die Schulter schleudert. (Er ist Linkshänder und ich Rechtshänderin, also können wir ganz nah nebeneinander buddeln, ohne dass wir uns mit unseren Schaufeln in die Quere kommen.) Als wir fertig gebuddelt haben, steckt er zwei Muschelschalen obendrauf – »Das sind wir«, sagt er und grinst. Wir sind drei Jahre alt.
»Und abgesehen von allem anderen ist die Luft in London wirklich furchtbar«, fährt Mama fort. »Und dieser unablässige Nieselregen! Meine Güte, hört der nie auf?«
»In Cornwall haben wir auch die meiste Zeit Regenmäntel an.«
»Ja, aber in Cornwall ist der Regen anders. Der Himmel ist auch anders. Er ist klar, und man kann die Sterne sehen. Sternschnuppen, Amber! Nicht immer dieser Smog.« Sie zeigt auf den grauen Dunst draußen vor dem Fenster. »Hey, mach nicht so ein Gesicht. Dich bedrückt doch noch etwas anderes, oder? Was ist los?«
»In neun Tagen ist Matildas Geburtstagsparty«, sage ich leise und muss daran denken, wie all meine Klassenkameradinnen kichernd und in pastellfarbenen Partykleidern in die Orangerie des Kensington Palace spazieren. Und an Matildas älteren Bruder, Fred, der aus Eaton gekommen ist und der einen Mundwinkel nach oben zieht, wenn er grinst. Und an Matilda selbst, meine beste Freundin, die nett und lustig ist und, anders als die anderen Mädchen, niemals so tut, als wäre sie weniger klug, als sie ist. »Da kann ich unmöglich nicht hingehen.«
»Das ist schade, ich weiß, aber es ist trotzdem bloß eine Party.«
Ich sage ihr nicht, dass ich kein Mädchen bin, das zu vielen Partys eingeladen wird. Aber ich denke, Mama weiß es, denn ihre Stimme wird sanft: »Vielleicht fühlt sich das jetzt nicht so an, Amber, aber du hast noch viele Partys vor dir, versprochen.« Sie macht eine Kopfbewegung zum Fenster. »Wirf mal einen Blick da hinaus. Auf die Straße. Was siehst du?«
Ich schaue aus dem Fenster auf die Straße, die Flüsse aus nassem Asphalt, die schwarzen Eisengeländer, den Planeten aus Gras in der Mitte des Platzes, wo wir an sonnigen Samstagvormittagen manchmal Bovriltoast essen. »Leute, die ihre Regenschirme ausschütteln und zumachen?« Ich drehe mich zu ihr um und frage mich, ob das die richtige Antwort war. »Eine Nanny, die einen Kinderwagen schiebt?«
»Weißt du, was ich sehe? Ich sehe eine ganze Welt, die auf dich wartet, Amber. Schau, da ist eine junge Frau in einem hübschen kleinen Kostüm auf dem Weg zur Arbeit.« Randnotiz: Mama arbeitet nicht, aber sonntags zur Kirche trägt sie ein marineblaues Kostüm aus Paris. Ich nehme an, das ist auch Arbeit. »Ich sehe ein Paar auf der Bank, das sich küsst …«, sie zieht die Augenbraue hoch, »… ziemlich leidenschaftlich, muss ich sagen.«
Ich wende den Blick schnell von dem küssenden Pärchen ab – natürlich bloß weil Mama neben mir sitzt – und frage mich, wie es sich wohl anfühlen würde, jemanden auf einer öffentlichen Bank so zu küssen, so versunken in die Umarmung, dass mir gleichgültig wäre, wer es sieht.
»Ich schätze, was ich zu sagen versuche, ist, dass du noch viel Spaß haben wirst, bis du heiratest.«
Schule. Mädchenpensionat. Vielleicht eine Anstellung bei Christie’s. Es fällt mir schwer zu sehen, dass da viel Platz für den spaßigen Teil bleibt, bevor es vorbei ist.
»Also machst du dir bitte keinen Kopf, weil du mal eine Feier verpasst, einverstanden?« Mama streicht ihr Kleid auf den Oberschenkeln glatt, wo mein Kopf es zerknittert hat.
»Wahrscheinlich.«
»Keine besonders überzeugende Antwort.«
Ich versuche, mein Lächeln hinter Miesepetrigkeit zu verstecken, genieße den Anschein, dass Mama meine Zustimmung braucht, die Vorstellung, dass ich sie ihr vielleicht nicht gebe, dass es einen Unterschied macht. Ich weiß, dass ich Glück habe. Meine Freunde aus der Schule werden alle herumkommandiert von ihren Müttern, vornehmen, leicht gereizten Engländerinnen in steifen Kleidern, die nie im Leben den Kopf zurückwerfen und laut und herzhaft lachen würden. Meine Mutter kann ohne Sattel reiten. Wenn wir auf dem Land sind, trägt sie Jeans. Und sie ist bei weitem die hübscheste Mutter am Schultor.
»Vergiss nicht, was für ein Privileg es ist, dass wir Black Rabbit Hall noch haben. So viele von Papas Freunden mussten ihre Landsitze abreißen lassen und das Land verkaufen oder ihre Häuser der Öffentlichkeit zugänglich machen und solch schreckliche Dinge. Wir sollten es nie als selbstverständlich erachten.«
»Es dauert ewig, dorthin zu kommen.«
»Wir fahren alle zusammen runter. Das wird lustig.« Sie stupst mich an. »Hey, vielleicht wird eines Tages ein Flughafen auf Roseland eröffnet.«
»Das wird nie passieren.«
»Na gut …« Sie streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Es soll ja nicht zu einfach werden, oder?«
»Dann wäre es nicht unser besonderer Ort«, sage ich, um ihr zu gefallen. Mit Erfolg.
»Genau!« Sie grinst, und ihre Augen glitzern grüngelb wie die Unterseite eines Blattes, wieder voller Licht und Leben. »Ich sage immer zu Papa, dass Black Rabbit Hall der einzig normale Ort in dieser verrückten, sich verändernden Welt ist. Es ist unser sicherer, glücklicher Hafen, oder nicht, Amber?«
Ich zögere. Aus irgendeinem Grunde fühlt es sich so an, als würde alles von meiner Antwort abhängen.