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Zum Buch

Flughafen Wien, 2006: Auf dem Rollfeld steht ein Airbus mit einhundertzwanzig Passagieren an Bord, den Terroristen in ihre Gewalt gebracht haben. Die CIA vor Ort hat die Chance, die Geiselnahme zu beenden und Blutvergießen zu verhindern. Doch ihr Plan wird verraten – alle Passagiere kommen ums Leben. Der entscheidende Anruf kam aus dem Quartier der CIA.

Kalifornien, 2012: CIA-Agent Henry Pelham ist nervös. Nach Jahren wird er seine Kollegin Celia Favreau wiedersehen, mit der er in Wien eine kurze Beziehung hatte. Zusammen versuchten sie in jener Nacht fieberhaft, das Leben der Passagiere zu retten. Nun hat die interne Ermittlung der CIA den Fall neu aufgerollt. In einem Restaurant treffen sich Henry und Celia zu einem Abendessen. Was als Gespräch unter ehemals Vertrauten beginnt, entwickelt sich zu einem packenden wechselseitigen Verhör, das schließlich die Wahrheit über den Verrat von Wien ans Licht bringt.

Zum Autor

Olen Steinhauer ist in Virginia aufgewachsen, hat mehrere Jahre in Kroatien, Tschechien, Italien und Ungarn verbracht und lebt zurzeit mit seiner Familie in New York und Budapest. Für seine Bücher wurde er für den Edgar Award nominiert und mit dem Dashiell Hammett Award ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien von Steinhauer bereits die Milo-Weaver-Trilogie Der Tourist, Last Exit und Die Spinne. Die Kairo-Affäre, sein zuletzt bei Blessing erschienenes Buch, stand monatelang auf der KrimiZEIT-Bestenliste.

Lieferbare Titel

Die Kairo-Affäre

DER ANRUF

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Friedrich Mader

heyne



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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel All the Old Knives

bei Minotaur Books, New York.

Copyright © 2015 der Originalausgabe by Third State, Inc.

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany

Covergestaltung und Teilbildmotiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
 unter Verwendung eines Fotos von © Mark Owen / Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16386-0
V002

www.blessing-verlag.de

Für Slavica

HENRY

1

Der Start in San Francisco verzögert sich, wahrscheinlich weil der Airport überlastet ist, so vermute ich, auch wenn wir keine genaue Auskunft bekommen. Bei solchen Gelegenheiten, wenn man auf der Rollbahn festsitzt, verfällt man leicht in apokalyptische Assoziationen: aus allen Nähten platzende Flughäfen, endlose SUV-Staus auf Autobahnen und ausrastende Fahrer, Smogalarm und heillos überfüllte Notaufnahmen mit Warteschlangen blutender Menschen in den Gängen. In Kalifornien schwillt diese Vision ins Erhabene, und man stellt sich vor, wie die Erde aufreißt und dieser maßlose Konsum samt allen Smartphones, Strandvillen und hoffnungsvollen jungen Starlets mit lautem Getöse hinaus ins Meer gespült wird. Es fühlt sich beinahe an wie eine Wohltat.

Vielleicht liegt es auch bloß an mir. Gut möglich, dass die Verzögerung auf ein technisches Problem zurückzuführen ist. Über die Lautsprecher hören wir bedauernde Durchsagen: »Vielen Dank für Ihre Geduld.« Bereits abgehetzte Flugbegleiter von SkyWest schenken uns hin und wieder ihre Aufmerksamkeit und werfen mit Entschuldigungen um sich, als wäre es die leichteste Übung der Welt. Die Frau neben mir fächelt sich mit einem Prospekt für den Presidio Park Luft zu. Bilder von Redwood-Bäumen und dichtem Laub blitzen auf und schieben ein wenig abgestandene Luft in meine Richtung. »Kein Tag ohne Verspätung«, ächzt sie.

»Was Sie nicht sagen.«

»Irgendjemand hier hat ein schlechtes Karma.«

Ich schenke ihr ein Lächeln, weil mir keine passende Erwiderung einfällt.

Es ist eine kleine Maschine, eine Embraer Turboprop mit dreißig Plätzen, von denen allerdings nur zwanzig besetzt sind. Alle sind dabei, SMS an die Leute zu schreiben, die sie in Monterey erwarten. Auch meine Nachbarin zückt ihr Handy und tippt mit den Daumen eine Nachricht ein, die mit »Fass es nicht …« anfängt.

Ich lasse mein Telefon in der Tasche. Nachdem ich in fünfzehn Stunden fast zehntausend Kilometer in der Luft zurückgelegt habe und anschließend der Massenpsychose der amerikanischen Passkontrolle ausgesetzt war, ist mir die genaue Ankunftszeit nicht mehr besonders wichtig.

In jüngeren Jahren hätte ich das vielleicht anders gesehen. Früher boten Langstreckenflüge eine Gelegenheit zum Ausruhen für die kommenden Abenteuer, doch irgendwann ist mit die Fähigkeit zum Dösen in der Luft abhandengekommen – 2006, glaube ich, nach meinem neununddreißigsten Geburtstag. Nach … nun, nach dem Flughafen. Wenn man einmal hochauflösende Filmaufnahmen von einhundertzwanzig Leichen in einem Flugzeug gesehen hat, weiß man, dass man sich in der Touristenklasse nie wieder entspannen wird. Deswegen bin ich ausgetrocknet vor Müdigkeit, als wir nach Kalifornien kommen. Meine Finger fühlen sich kürzer und dicker an, und meine Wangen sind abwechselnd warm und kalt. Immer wieder bricht mir eisiger Schweiß aus und durchtränkt mein Unterhemd.

Ich versuche, nicht zu viel an Flugzeuge zu denken, und beschäftige mich lieber mit meiner Verabredung. Celia Favreau, geborene Harrison. Entweder sie wartet, oder sie wartet nicht. Ein paar Minuten lang gebe ich mich der Illusion hin, dass mir das egal ist. Es wird mir nicht das Herz brechen, weil ich gar kein Herz mehr habe, das brechen könnte. Wenn sie nicht im Restaurant ist, werde ich mir einfach einen trockenen Martini und ein Gericht mit gebackenen Meeresfrüchten bestellen, über den bevorstehenden Untergang der Zivilisation nachgrübeln und anschließend wieder zum Flughafen fahren, um noch am Abend nach San Francisco zu fliegen. Zur Absicherung ein letzter Telefonanruf, dann zurück nach Wien, wo ich endlich zusammenbrechen kann. Ich bin viele Jahre lang unter weit schlechteren Bedingungen gereist, da bringen mich kleine Unannehmlichkeiten wie diese nicht mehr aus der Ruhe. Außerdem würde es mir die Arbeit – und das Leben – bestimmt leichter machen, wenn ich ihr nicht in die Augen schauen muss.

Um halb fünf heben wir mit einer Verspätung von dreißig Minuten ab. Vor dem Fenster jaulen die Propeller, als meine Nachbarin einen Kindle herauskramt. Ich erkundige mich, was sie liest, und das führt zu einer Unterhaltung über die Stärken und Schwächen des zeitgenössischen Agentenromans. Sie steckt gerade mitten in einem alten Len Deighton, in dem die Jagd nach einem Maulwurf den Erzähler zu seiner eigenen Frau führt. »So was wird einfach nicht mehr geschrieben«, bemerkt sie wehmütig. »Damals wusste man wenigstens noch, wer die Schurken sind. Heutzutage …«

Ich mache einen Vorschlag: »Der radikale Islam?«

»Na ja. Was soll denn das für ein Feind sein?«

Ein schwer greifbarer, möchte ich antworten, behalte es aber wieder für mich.

Als wir eine Stunde später landen, habe ich viel über diese Frau erfahren. Sie heißt Barbara Jakes und ist in Seattle aufgewachsen. Mit ihrem ersten Mann zog sie nach Monterey, und dieser brannte schließlich mit einer Kellnerin aus Salinas nach L. A. durch. Nach einigen Monaten verließ ihn die Kellnerin wegen eines Filmproduzenten. Er ruft noch immer an und bittet um Versöhnung, obwohl sie wieder geheiratet hat und Mutter von zwei Söhnen ist – richtige kleine Racker, wie sie erzählt. Sie arbeitet im Gesundheitssektor. In ihrer freien Zeit liest sie alte Thriller und schaut mit ihren Jungs NFL-Football. Inzwischen hat sie den Verdacht, dass auch ihr neuer Mann sie betrügt. »Da fragst du dich natürlich«, erklärt sie, »ob es vielleicht an dir liegt, dass sie fremdgehen.«

Mit Bestimmtheit schüttle ich den Kopf. »Dem Opfer die Schuld geben. Tappen Sie bloß nicht in diese Falle.«

Zwei Jahre war ich nicht mehr in den Staaten, und ich habe ganz vergessen, wie bereitwillig sich Amerikaner öffnen. Nach einer Stunde Bekanntschaft akzeptiert sie bereits meine Ratschläge zu ihrer emotionalen Gesundheit. Im Grunde absurd, andererseits auch wieder nicht. Vielleicht sehen uns die, die uns nicht kennen, am klarsten. Vielleicht sind Fremde unsere besten Freunde.

In Monterey erhasche ich einen Blick auf ihren Gatten – einen Mann, dessen Körper von weichen Bürostühlen geformt wurde und dessen Freizeitkleidung durch die abgetragene Bauchtasche noch lächerlicher erscheint – und versuche einzuschätzen, ob er Barbara betrügt. Aufmerksam beobachte ich, wie er ihr Gepäck aufsammelt und sie flüchtig auf die Lippen küsst, ehe er vor ihr hinaus zum Parkplatz strebt. Mir fällt nichts auf. Sieht Barbara bloß Gespenster? Ich frage mich, ob sie nach den Erfahrungen mit ihrem ersten Mann paranoid geworden ist. Und obwohl das natürlich eine starke Projektion ist, spekuliere ich, ob vielleicht die Narben ihres Lebens zu schwären beginnen und sich schon bald negativ auf ihre Liebsten auswirken werden.

Am Hertz-Schalter ist nur ein Mensch vor mir, ein übergewichtiger Geschäftsmann mit Sandpapierskalp Anfang sechzig. Ich kann mich nicht erinnern, dass er in der Maschine gesessen hat, weil ich zu abgelenkt war von Barbaras Problemen und dem Bemühen, nicht zu viel über Flugreisen nachzudenken. Jetzt streitet er um die versteckten Kosten für einen Kombi – Versicherung, Steuern, Gebühren –, und der Angestellte, ein fröhliches Beispiel kalifornischer Gastfreundschaft, erklärt ihm alles haarklein wie einem Kind. Endlich stapft er mit einem neuen Satz Schlüssel und seiner kleinen Schultertasche davon. Der Angestellte zeigt mir ein undurchsichtiges Lächeln. »Sir?«

Ich werfe einen Blick auf die verfügbaren Autos und verlange einen Chevy Impala, doch dann erkundige ich mich, wie viel das beste Cabrio auf der Liste kostet, ein Volvo C70. Das Doppelte. Mit zenartiger Gelassenheit wartet der Angestellte, während ich überlege. Schließlich zucke ich die Achseln. »Das Cabrio.«

»Gern, Sir.«

Ich unterschreibe ein paar Papiere, weise mich mit einem alten Führerschein aus Texas aus und setze alles auf meine Company-Karte. Bald schlendere ich hinaus unter den bewölkten Oktoberhimmel. Trotzdem ist es so warm, dass ich das Jackett ausziehe. Mit der Fernbedienung entriegele ich den Wagen. Einige Stoßstangen weiter diskutiert der übergewichtige Geschäftsreisende lautstark mit jemandem am Telefon. Er sitzt bei geschlossenen Fenstern in seinem im Leerlauf tuckernden Kombi, sodass ich seine Worte nicht verstehen kann.

Auch ich nehme mein Handy heraus und schalte es ein. Nach einer Weile steht die Verbindung zu AT&T, und eine Nachricht piept. Trotz der fünf Jahre, die vergangen sind, und meines Vorhabens setzt mein Herz einen Schlag aus, als ich auf dem Display ihren Namen lese. Anscheinend habe ich doch noch ein Herz.

Du kommst, oder? Schreib mir so oder so.

Als Antwort schicke ich Celia nur den Buchstaben J, dann steige ich ins Auto. Der Motor springt an wie ein Traum.

2

Von: Henry Pelham <hpelham@state.gov>

Datum: 28. September 2012

An: Celia Favreau <celiafavreau@yahoo.com>

Betreff: Hi

C,

ich höre von Sarah, dass du an der Westküste alle Hände voll damit zu tun hast, Wunderkinder in die Welt zu setzen und eine ansonsten friedliche Enklave aufzumischen. Wien ist wie immer – du verpasst nicht viel. Jake lässt dich grüßen. Ich habe ihm gesagt, dass du dich bestimmt nicht an ihn erinnerst, du musst dich also erst gar nicht verstellen. Klaus Heller meint, dass er dir noch eine Kaution schuldet. Österreicher sind eben durch und durch ehrlich. Einfach bewundernswert.

Wie geht’s Drew? Es wird von einer Herzoperation getuschelt, hoffentlich zu Unrecht. Hanna hat mir Bilder von Evan und Ginny gezeigt, und ich bin richtig erschrocken. Wie macht eine Frau derart reizende Kinder … mit Drew?? Ginny erinnert mich an dich.

Übrigens bin ich in ein paar Wochen in deiner Gegend. Eine Company-Konferenz in Santa Cruz. Am 16. Oktober, einem Dienstag, habe ich einen freien Tag und würde dich gern zum Abendessen einladen. Nenn den Ort, und die Rechnung kriegt der Staat. Wenn du magst, kann ich dir einen Scheck von Klaus mitbringen. Anscheinend stehen die finanziellen Sterne zurzeit gar nicht schlecht für dich.

Liebe Grüße

H

3

Ich bin allein. Die Wahrheit dieses Satzes spüre ich, als ich mit schnittig hochgeklapptem Verdeck auf den Highway 1 gleite, wo über den Standstreifen Bäume blühen und vorne sich die Berge der mittleren Küste Kaliforniens erheben. In traumhaften Landschaften wird die Einsamkeit intensiver, das ist mir schon öfter aufgefallen. Vielleicht liegt es nur daran, dass kein anderer die Aussicht mit einem genießt. Keine Ahnung.

Ich schalte das Radio ein. Robert Plant jammert vom Land aus Eis und Schnee.

Obwohl mein Mietwagen locker auf der Überholspur Kilometer fressen könnte, lenke ich ihn nach rechts und lasse es, auf allen Seiten vom Wind umspült, ruhig angehen. Eine bequeme Art zu reisen, viel angenehmer als das, was ich im letzten Jahrzehnt in Europa auf diesen zugigen, überfüllten Straßen erlebt habe, wo die Leute ihre Autos schräg über dem Gehsteig und der Fahrbahn abstellen und nur ein Profi ohne Blechschaden vorbeikommt. Außerdem sind auf dieser Strecke kalifornische Fahrer unterwegs – locker, ohne Eile, ganz anders als die Europäer, die einem mit lächerlichem Machogehabe in ihren winzigen Autos auf die Pelle rücken. Ein entspanntes Fahren, das auf ein entspanntes Leben schließen lässt. Allmählich verstehe ich, warum Celia sich hierher zurückgezogen hat.

So ähnlich hat es auch Vick formuliert in seinem Büro im vierten Stock der Botschaft hoch über der Boltzmanngasse. »Sie ist weg. Und sie ist glücklich. Du verschwendest deine Zeit.«

Was sollte ich darauf antworten? »Ich weiß, Vick. Immerhin hat sie zwei Kinder.«

»Nichts weißt du. Ich glaube, du stehst immer noch auf diese Frau.« Vick hat Celia nie so richtig verziehen, dass sie die Station so schnell verlassen hat, und aus diesem Grund spricht er ihren Namen ungern aus.

»Wir sind immer noch Freunde«, sagte ich.

Vick lachte. Hinter ihm füllte der strahlende österreichische Himmel das Fenster. Ein tief fliegendes Flugzeug strebte zum Flughafen Wien-Schwechat, durch dessen Korridore ich am nächsten Morgen mit meiner Umhängetasche schlendern sollte, um wieder einmal festzustellen, mit welcher Gründlichkeit die Österreicher jede Spur des Traumas von 2006 beseitigt hatten. »Nein.« Vick schüttelte den Kopf. »Ihr seid keine Freunde. So funktionieren Trennungen nicht. Und sie wird genauso leicht wie ich erkennen, dass du immer noch total in sie verknallt bist. Nach fünf Jahren Ehe mit Kindern bist du sicher der letzte Mensch, den sie sehen möchte.«

»Bei deinen romantischen Beziehungen ist wohl so einiges schiefgelaufen, Vick.«

Das brachte ihn wenigstens zum Lächeln. »Schicken wir doch einfach Mack. Du gibst ihm die Fragen, und er bringt dir die Antworten auf dem Servierteller. Du musst das nicht machen.«

»Mack erkennt nicht, wenn sie lügt.«

»Er versteht was von seiner Arbeit.«

»Aber er kennt sie nicht.«

»Du auch nicht. Nicht mehr.«

Darauf fiel mir keine Entgegnung ein. Ich konnte ihm nicht verraten, warum ich selber fliegen musste, aber ich hätte wenigstens einen passenden Spruch parat haben müssen, ein vernünftiges, unwiderlegbares Argument. Dass ich mir nichts überlegt hatte, beweist, wie sehr meine Fähigkeiten nachgelassen haben.

»Sie wird sich mit einem Kontaktverbot vor dir schützen.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Ich an ihrer Stelle würde es so machen.«

Wir schwiegen eine Weile. Das Flugzeug war verschwunden. Dann sprach ich weiter. »Hör zu, eigentlich ist es bloß ein Vorwand, um ein paar Tage aus dem Keller rauszukommen. Ein Besuch bei einer alten Freundin. Ich stelle ihr ein paar Fragen nach Frankler, und Uncle Sam zahlt das Abendessen.«

»Und dann schließt du das Ganze ab? Frankler, meine ich.« Das war der Name der Untersuchung, die mich seit fast zwei Monaten unten im Keller festhielt.

Wie so oft in unseren gemeinsamen Jahren log ich Vick an. »Die Sache ist heikel. Es geht darum, dass wir uns absichern. Und da dürfen keine Lücken bleiben.«

»Aber du hast keinen Verdächtigen? Keine stichhaltigen Beweise für ein Fehlverhalten?«

»Nur das Wort eines Mannes.«

»Das Wort eines Terroristen.«

Ich zuckte die Achseln.

»Und bald danach ist er in einem Eimer Wasser ertrunken«, sagte Vick. »Mit einem Zeugenauftritt von ihm ist also wohl kaum zu rechnen.«

»Stimmt.«

»Dann zieh einen Schlussstrich. Damit wir 2006 als Pech abhaken können.« Er war noch mehr als ich darauf aus, die Sache zu beenden.

»Ich finde raus, ob Celia noch was hinzuzufügen hat, und wenn ich zurückkomme, grabe ich noch eine Woche weiter, okay? Dann ist Schluss.«

»Du frisst unser Budget auf.«

»Wirklich, Vick? Ich laufe den ganzen Tag bloß im Keller rum und ziehe alte Akten raus.«

»Du fliegst auch.«

»Zweimal. In acht Wochen habe ich zwei Reisen gemacht, um mit alten Hasen zu reden. Bill Compton und Gene Wilcox. Das ist wohl kaum übertrieben.«

Zögernd schaute er mich mit seinen trägen Augen an. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, was du tun würdest, wenn du wirklich jemanden überführen könntest?«

Ich hatte kaum über etwas anderes nachgedacht. Doch das band ich ihm nicht auf die Nase. »Warum erklärst du es mir nicht?«

Vick seufzte. Seit Beginn meines österreichischen Jahrzehnts habe ich die Erfahrung gemacht, dass er seufzt, so wie andere mit den Fingern knacken oder Kette rauchen. »Du weißt, wie so was läuft, Henry. Eine peinliche Anklageerhebung können wir uns nicht leisten, und auf einen Gefangenenaustausch mit den Dschihadisten werden wir uns sicher auch nicht einlassen. Im Idealfall hätte ich es gern so, dass nicht einmal Langley davon erfährt.«

»Du möchtest also, dass ich den Verräter liquidiere.«

Er legte die Stirn in Falten. »Ich glaube nicht, dass ich etwas Derartiges geäußert habe.«

Einen Moment lang starrten wir uns an. Schließlich sagte ich: »Dann hoffen wir mal, dass ich niemanden zur Verantwortung ziehen muss.«

Erneut seufzte er und schaute auf meine Hände. Ich verstaute sie hastig in den Taschen. »Was meint Daniels?«, fragte er.

Larry Daniels war derjenige, der die Theorie aufgebracht hatte. Vor zwei Monaten war er von Langley hergeflogen, um sich mit Vick über neue Informationen zu unterhalten. Diese stammten von einem Gefangenen in Guantánamo, einem gewissen Ilyas Shishani, der bei einem Kommandounternehmen in Afghanistan aufgegriffen worden war. Neben vielen anderen Details verriet er den Vernehmern auch, dass der Anschlag am Wiener Flughafen von einem Informanten in der US-Botschaft unterstützt worden war. Wir waren damals alle vor Ort: Vick, ich, Celia, Gene und Celias Chef Bill. Nachdem er Larrys Bericht gehört hatte, bat mich Vick, die Leitung der Untersuchung mit dem Decknamen Frankler zu übernehmen.

»Larry ist achtundzwanzig.« Es war nicht das erste Mal, dass ich Vick an diesen Umstand erinnerte. »Er bauscht die Desinformation eines Terroristen zu einem Spionagefall auf. Außerdem macht sich so was auch nicht schlecht im Lebenslauf.«

»Warum begraben wir die Sache dann nicht gleich? Sicher, Daniels wäre stocksauer, aber seine Vorgesetzten hätten bestimmt nichts dagegen, ihm einen kleinen Dämpfer zu verpassen, wenn sie dadurch einen Skandal vermeiden können.«

Mit diesem Gedanken spielte ich schon seit zwei Monaten. Ich mochte Larry Daniels nicht, und den meisten, die ihm bei einem seiner gelegentlichen Auftritte in Wien begegneten, ging es genauso. Mit seinem öligen Haar und der hohen Krächzstimme wirkte er wie ein Juckpulver auf andere. Dabei strahlte er die Überzeugung aus, dass er besser als jeder andere im Raum wusste, was los war. Doch er war auch intelligent, und wenn ich Frankler einfach begrub, war damit zu rechnen, dass er die Sache wieder ausbuddelte und Stunk machte. Wichtiger noch, er würde mir die Untersuchung abnehmen, und das durfte ich unter keinen Umständen zulassen.

»Was glaubst du«, sagte ich, »wie wir dastehen, wenn Daniels in Langley Krach schlägt? Ich muss das jetzt durchziehen. Wenn wir nicht mit Celia reden, bleibt ein klaffendes Loch. Ein Loch, in dem wir vielleicht beide landen. Und dann könnte es schwer werden, wieder rauszukommen.«

Wieder ein Seufzen. »Sieh einfach zu, dass du es schnell beendest, okay? Morgen warten genügend Sorgen auf uns, da brauchen wir uns nicht auch noch mit den Problemen von gestern rumschlagen. Behalt das bitte im Auge, wenn du deine Freundin belästigst.«

Ich war Vick schon voraus, und auch jetzt, als ich im dichter werdenden Verkehr vom Gas gehe und auf die Schilder starre, kreisen meine Gedanken darum, wie ich die Untersuchung abschließen kann. Dabei spukt mir immer wieder Celias Bild durch den Kopf. Und die Frage, was sie sich von dem Treffen erwartet. Schwelgen in alten Erinnerungen, eine offizielle Besprechung oder … etwas Interessanteres?

Der Sprecher im Radio erzählt mir, dass er gleich die Treppe zum Himmel hochsteigt, und ich bin erstaunt, dass die DJs in den drei Jahrzehnten, seit ich als Schüler vor meinem alten Transistorgerät saß, keinen besseren Spruch gefunden haben, um ihrer Begeisterung für Led Zeppelin Ausdruck zu verleihen. Für die nächste Stunde kündigt er einen »Beatles-Block« an und fordert die Zuhörer auf, ja nicht das Donnerstagsdoppel mit zwei Stunden Classic Rock zu vergessen.

Hat das kommerzielle Radio wirklich 1982 seinen kreativen Höhepunkt erreicht? Ich schalte aus.

Links von mir ist eine Highschool, rechts weist ein Schild zwischen die Alleebäume der Ocean Avenue, die sich bergab zur Küste erstreckt und die Stadt Carmel-by-the-Sea in zwei Hälften teilt. Das Tempolimit sinkt auf vierzig, und ich gleite zwischen zwei aufgemotzten SUVs dahin. Carmel hat sich schon längst von allen Ampeln verabschiedet, und so verbirgt sich nach allen paar Blocks zwischen den Bäumen eine Rechts-vor-links-Kreuzung. Ich fühle mich, als hätte mir jemand ein leichtes Beruhigungsmittel untergejubelt. Es ist die frischeste Luft, die ich je geamtet habe.

Schließlich taucht nach kurz durch das Laub blitzenden Häuschen das Geschäftsviertel auf. Es besteht im Wesentlichen aus einem Mittelstreifen voller Zuchtbäume und zwei Reihen von Läden im Cottagestil. Handelsketten sind verboten, und das Stadtzentrum sieht aus wie die Kinoausgabe eines malerischen englischen Dorfs. Natürlich kein echtes englisches Dorf, sondern eins, in dem Miss Marple herumhumpeln und zwischen den Antiquitäten Leichen entdecken könnte. Auf dem Weg durch die Ortsmitte bis hinunter zum Meer komme ich an Kauflustigen vorbei, die wie Golfer angezogen sind und ihre Hündchen spazieren führen, dann biege ich in die sandige Parkschleife, um im bereits stark nachlassenden Licht noch einen Blick auf den sauberen, weißen Strand und die rauen Wellen zu erhaschen. Hinter mir fahren Touristen, daher kann ich die Ruhe nur kurz genießen, ehe ich den Rückweg ins Zentrum einschlage.

Ich parke in der Nähe der Lincoln Street und warte hinter dem Steuer, während der Abend hereinbricht. Grüppchen von Einheimischen und Touristen, jeweils in eigenen Weißtönen, schlendern über den Gehsteig. Anscheinend befinde ich mich hier nicht in der Realität, sondern in der idealisierten Vision eines Küstenstädtchens. Das Bild eines Bilds, der perfekte Wohnort für jemanden, der ein neues Leben anfangen will.

Trotzdem ist es nett, und ich frage mich, ob ich mir nicht doch ein Zimmer für die Nacht hätte reservieren sollen statt einen Platz im Nachtflieger zurück nach San Francisco. Ich kann mir gut vorstellen, in diesem Dorf aufzuwachen und mich im ersten Dämmerlicht den Spaziergängern in Golfkleidung anzuschließen. Die morgendliche Brise, das Meer – alles Dinge, die einem nach zehn Jahren in der Wiener Botschaft neue Kraft verleihen können. Ein Salzbad für die Seele.

Doch nach heute Abend wird ein hübscher Strand wohl kaum genügen, um meine Seele blank zu schrubben, und vermutlich werde ich, sobald ich in der Maschine sitze, nur noch darauf aus sein, Carmel-by-the-Sea den Rücken zu kehren.

Nachdem ich das Verdeck mit einem Knopfdruck hochgefahren und es geschlossen habe, nehme ich ein Telefon aus meiner Umhängetasche. Es ist ein Siemens-Tastengerät, das ich schon vor Jahren zugunsten der Touchscreen-Technik aufgegeben habe. Es glänzt nicht und ist auch nicht minimalistisch. Dafür hat es ein ausgezeichnetes Mikrofon, das ich manchmal benutze, um unauffällig Gespräche aufzuzeichnen. Ich schalte es an, prüfe den Akku und stelle das Aufnahmeprogramm ein. Ich gehöre zu den Menschen, die ihr Leben gern dokumentieren. Wenn nicht für die Nachwelt, dann wenigstens zur Absicherung.

In Wien habe ich das Aufladen der Prepaid-SIM-Karte bar bezahlt, und jetzt gebe ich eine Nummer ein, die ich schon vor einer Woche gewählt habe. Davor habe ich das Handy drei Jahre nicht benutzt – außer für den Anruf bei Bill Compton, der früher Celias Chef war. Nach drei Klingeltönen meldet sich ein Mann mit barscher Stimme. Ich bin ihm noch nie begegnet und habe keine Vorstellung von seinem Gesicht. »Ist dort Treble?«, frage ich.

Er überlegt einen Moment. Sein Deckname ändert sich je nach Anrufer, daher geht er im Kopf (oder vielleicht auch auf einem alten Umschlag neben dem Telefon) eine Namensliste durch. Treble: Das heißt, er redet mit … »Hallo, Piccolo. Wie geht’s?«

»Die Abmachung steht?«

»Kleiner Sportwagen«, antwortet er. »Betont feminin. In Carmel-by-the-Sea.«

»Genau.«

Er zögert. »Sie sagen, es gibt zwei Mopeds und einen älteren Chevy, richtig?«

»Um die müssen Sie sich nicht kümmern.«

»Ja, ja.« Seine Art wirkt nicht unbedingt vertrauenerweckend, und ich frage mich, wie alt er ist. »Alles klar. Ich bin dort.«

»In Carmel?«

»Natürlich.«

So früh habe ich ihn nicht erwartet.

»Wann brauchen Sie es genau?«, fragt er.

»Nicht sofort, aber in den nächsten paar Tagen.«

»Okay.«

»Möglicherweise«, füge ich schnell hinzu, weil mir sein Gedächtnis Sorgen macht, »ist es nicht nötig.«

»Ja, das haben Sie mir schon erklärt.«

»In diesem Fall komme ich für die Reisespesen und die Hälfte Ihres üblichen Honorars auf.«

»Ich weiß. Faire Bedingungen.«

»Gut. Ich melde mich dann.«

»Bis bald.«

Als er die Verbindung unterbricht, denke ich: Hoffentlich nicht.

4

Ich komme eine halbe Stunde zu früh im Rendez-vous an und betrachte das Vorhandensein einer Bar als hoffungsvolles Omen, auch wenn ich keine Flaschen sehe. Ich werde von einer jungen, ziemlich zerstreut wirkenden jungen Frau in Schwarz mit Pferdeschwanz am Kopf und iPad in der Hand abgefangen. Obwohl das Restaurant hinter ihr völlig leer ist, fragt sie: »Haben Sie reserviert?«

»Ja, bin aber zu früh dran. Wollte nur was trinken.«

»Name?«

»Harrison … Favreau, meine ich.«

»Sieben Uhr.« Zufrieden blickt sie auf ihr iPad. »Wenn Sie möchten, kann ich Sie an Ihren Tisch führen.«

Während der Flüge habe ich mich mit Bildern von meinem Zielort über Wasser gehalten: ein Barhocker und ein langer Tresen als Stütze für meine müden Knochen. So soll mich Celia bei ihrer Ankunft vorfinden – ein Mann an einem Platz für Männer. »Ich warte an der Bar.« Mit diesen Worten gehe ich an der Kellnerin vorbei und postiere mich erleichtert am Ende der mit gehämmertem Metall verkleideten Theke. Ein blasierter, ebenfalls schwarz gekleideter junger Barkeeper, dessen sorgfältig modellierter Dreitagebart einer Farbschicht gleicht, setzt ein schmales Lächeln auf. Ich bestelle den Gin Martini, auf den ich mich schon seit vierundzwanzig Stunden freue.

»Tut mir leid. Wir haben nur Wein.«

»Das soll wohl ein Scherz sein.«

Achselzuckend greift er nach einer laminierten Broschüre, in der die Flaschen des Hauses aufgelistet sind. Schließlich ist es eine Weingegend. Ich fange an zu lesen, doch schon bald verschwimmen mir die Namen der Güter vor den Augen. Von Wein habe ich keine Ahnung. Ich klappe die Karte zu. »Was sehr Kaltes und Starkes.«

»Weiß oder rosé?«

»Ist mir egal, Mann. Hauptsache, es ist trocken.«

Ich beobachte, wie er eine Flasche aus dem Kühlschrank nimmt und ziemlich lange mit dem Öffner herumfummelt, bis er die Flasche endlich aufbekommt und einschenkt. Alles andere als elegant lässt er den Wein ins Glas gluckern und verspritzt sogar ein paar Tropfen auf den Tresen. Die Sache ist ihm peinlich, und er lächelt verlegen. »Mein erster Tag hier, Entschuldigung.« Das macht ihn mir sympathisch, ein wenig zumindest.

Er schiebt mir den Wein – der sich als fruchtiger Chardonnay des Joullian Estate tief im Carmel Valley entpuppt – in einem neblig beschlagenen Glas hin. Daneben stellt er einen Teller mit Macadamianüssen. Immer noch verlegen, zwinkert er und verschwindet. Über die gesamte Wand hinter der Bar erstreckt sich ein Spiegel, der mir einen Blick auf das Restaurant ermöglicht.

Was habe ich erwartet? Das hier sicher nicht.

Ich muss an einen deprimierten Abend vor ungefähr einem Monat denken – am Tag nach der Rückkehr von meiner letzten Nacht mit Linda, einer neuen Kraft aus Kalifornien. Sie war attraktiv und amüsant, klug und witzig, doch als ich mich am Ende dieser Nacht anzog und sah, wie sie mich aus dem Bett anlächelte, wusste ich, dass es vorbei war. Wie der Mann, der ich gerne nicht wäre, verstellte ich mich, küsste sie auf die Nase und ging. Zu Hause in meiner leeren Wohnung fing ich an zu trinken. Ich schaltete den Fernseher ein und stieß beim Zappen durch die Sender auf die Bühnenbearbeitung eines Gedichts von Christopher Reid mit dem Titel The Song of Lunch.

Während ich hier sitze und warte, identifiziere ich mich unwillkürlich mit dieser Geschichte eines Mannes, der in seinem früheren Stammlokal Zanotti’s seine alte Flamme wiedertrifft. Blind vor Liebe, bildet sich der arme Kerl ein, dass die Zeit nichts verändert hat – weder an ihm noch an dem Restaurant. Stattdessen betritt er ein aufgepepptes Zanotti’s in modernem Gewand, ganz ähnlich wie im Rendez-vous mit seiner

Origamidecke schimmernd

wie ein kubistisches Gewitter,

unheilvoll über weiß

reflektierenden Flächen,

apfelgrünen Stühlen

(minimalistisch unbequem)

und staublosen, maschinengespülten

Weingläsern.

Geschniegelt und gebügelt

erfüllt monochromes Personal

alle Wünsche,

es sei denn,

sie stehen nicht auf der Speisekarte.

Ein verheiratetes Paar, dessen Hälften jeweils mindestens sechzig sind, hat sich an einem klinisch weißen Tisch niedergelassen und studiert die ebenfalls laminierte Speisekarte. Er wirkt mürrisch, aber resigniert; auf ihrem Gesicht klebt ein permanentes Lächeln. Ich wette, dass er auf dem Golfplatz schummelt, und würde schwören, dass sie einen hervorragenden Eistee macht.

Das Siemens-Handy steckt schwer in meiner Tasche, aber ich ignoriere es, um mich auf meine Erwartungen an den Abend zu konzentrieren.

Was weiß ich über Celia Favreau, geborene Harrison? Zunächst einmal ist mir trotz Vicks Zweifeln klar, dass sie nicht mehr zu mir gehört. Fünf Jahre ohne ein einziges Wort. Fünf Jahre, in denen sie sich auf dieser grünen Insel der Seligen ein Leben aufgebaut hat. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war Carmel ein Zufluchtsort für Schriftsteller und Künstler, die am weißen Strand ihre Zelte aufschlugen und in primitiven Hütten wohnten. Nach dem Erdbeben von San Francisco 1906 sahen sich die Einheimischen durch die Zuwanderung obdachloser Bohemiens zu einer ernsthaften Städteplanung genötigt. Die Geschichte des Orts ist verbunden mit berühmten Autoren wie Upton Sinclair, Jack London und Robinson Jeffers. Allerdings bezweifle ich, dass sie sich in der Stadt heute eine Mahlzeit leisten könnten.

Sie kam hierher, um mit Drew Favreau zusammenzuleben, einem General-Motors-Manager, der sein halbes Arbeitsleben in Wien verbracht hatte, ehe er mit achtundfünfzig in den Ruhestand ging. Sie waren kaum vier Monate zusammen, als er ihr einen Antrag machte. Diese Beziehung stellte ihre Bekannten vor ein Rätsel: ein älterer Mann ohne besonderen Charme, während Celias Reize für alle sichtbar waren, besonders für die lange Liste junger Männer, die sie sich in ihren ersten drei Wiener Jahren angelacht und wieder abgelegt hatte, bevor sie ein Jahr lang mit mir zusammen war. Vor einiger Zeit erzählte mir Sarah Western, dass Celias Antwort auf die Frage nach einer Erklärung vage und wenig überzeugend war. Sie wollte nicht mehr ständig herumziehen, so ihre Behauptung. Sie wollte sich endlich irgendwo niederlassen. »Eine Frau wie sie wird nicht sesshaft«, widersprach Sarah. »Für Celia ist Stillstand gleichbedeutend mit dem Tod.«

Was steckte also dahinter? Wegen unserer gemeinsamen Geschichte und meiner Gefühle konnte ich sie schlecht direkt danach fragen. Doch ihre Bekannten drangen in sie und einigten sich schließlich auf die nichtssagende Formel Midlife-Crisis. Immerhin war sie schon fast vierzig und nicht mehr lange in der Lage, Kinder zu bekommen. Nach vielen Jahren in der Welt des Geheimdienstes konnte ihr niemand einen Vorwurf machen, wenn sie sich nach Ruhe sehnte. Daher Carmel.

Ich bin nicht unvorbereitet gekommen. Im Gegenteil, ich habe meine Hausaufgaben gründlich erledigt. Da hätten wir Drew, inzwischen dreiundsechzig und einundachtzig Kilo schwer. Dann Evan, der mit vier Jahren bereits die überteuerte Stevenson School besucht, die von ihrem Haus an der Vista Street aus gleich um die Ecke liegt. Nach den Schulzeugnissen zu urteilen könnte aus Evan einmal ein Rabauke werden. Schließlich die eineinhalbjährige Ginny mit langem kastanienbraunem Haar wie ihre Mutter.

An so einem Ort ist Lesen natürlich Pflicht. Deshalb digitale Abonnements für den New Yorker, die L. A. Times und den Economist, dazu ein Abo auf die Papierausgabe der New York Times und des National Geographic (vermutlich Drews Wahl). Gleich nach dem Umzug hatte sie sechs Monate lang eine Facebook-Seite, auf der sie Fotos vom Strand, von entzückenden Restaurants und gehobenen Partys zeigte, um den Wiener Neid zu schüren. Das funktionierte bestens – ihre Nachrichten sorgten für Gesprächsstoff in der ganzen Botschaft. Dann schloss sie die Seite von heute auf morgen, als hätte sie genug für eine überzeugende Darstellung ihres neuen Lebens getan. Alte Bekannte mussten lange auf E-Mail-Antworten warten, die meistens mit »Entschuldigung, ich hatte unglaublich viel zu tun« begannen. Bei einem Drink wurde Sarah deutlich: »Wir verteidigen hier die freie Welt, und sie ist so beschäftigt, dass sie nicht mal kurz schreiben kann, wie’s ihr geht?«

Doch sie hatte wirklich viel zu tun. Sie wurde Fotografin beim Lokalblatt Carmel Pine Cone und half im Sunset Center aus, wo reisende Musiker, die ihre besten Zeiten meistens schon hinter sich hatten, für Rentner Hits aus den Fünfzigerjahren spielten. Als sie zum zweiten Mal schwanger wurde, hatte sie schon eine Teilzeitstelle an der Stevenson School angetreten, denn Celia weiß eben, wie wichtig es ist, rechtzeitig das Fundament für die Zukunft ihrer Kinder zu legen. Außerdem nimmt sie sich jede Woche zwei Stunden Zeit für eine Sitzung mit ihrem Therapeuten Dr. Leon Sachs, auf dessen Aufzeichnungen ich keinen Zugriff bekam.

Sind all diese Projekte Grund genug, um den Kontakt zu ihren alten Freunden einschlafen zu lassen? Vielleicht, doch ich glaube es nicht. Ich meine, dass sie mit dieser Existenz einfach abgeschlossen hat. In Wien war sie Celia 1, und die neue Celia 2 geht nun daran, den Ballast ihres früheren Selbst abzuschütteln. Sogar einen Therapeuten bemüht sie, damit keine europäischen Ängste auf ihr amerikanisches Leben übergreifen. Auch da plant sie voraus. Sie kann sich ihre ruhige, erfolgreiche Zukunft mit größter Deutlichkeit vorstellen und schneidet alles ab, was diese Zukunft bedrohen könnte.

Ja, sie war schon immer eine atemberaubende Frau.

5

Von: Celia Favreau <celiafavreau@yahoo.com>

Datum: 1. Oktober 2012

An: Henry Pelham <hpelham@state.gov>

Betreff: Aw: Hi

Mein lieber H,

Was für eine Überraschung! Ich dachte, du bist schon längst nach Washington oder in die Schweiz umgezogen – du hast doch immer so für die Berge geschwärmt. Ja, treffen wir uns! Ich lebe schon viel zu lange in meiner eigenen Welt, höchste Zeit für frischen Wind.

Wie geht’s Matty? Hat sie dir schon einen Ehering übergestülpt? Die Gerüchte über Drew stimmen zur Hälfte wie die meisten Gerüchte. Er musste in die Notaufnahme, und dort wurde ein Herzgeräusch festgestellt. Jetzt nimmt er Medikamente – tun wir das nicht alle? –, und ist ansonsten fit wie ein Fünfzigjähriger. Wie ein gesunder Fünfzigjähriger, meine ich.

Die Kinder sind himmlisch. Das gilt wohl für alle Kinder, aber für meine ganz besonders. Evan besucht jetzt die Tanzakademie und ist der Klassenbeste. Ginny hat neulich ein fast perfektes Gesicht gezeichnet, dabei ist sie noch nicht einmal zwei! Selbstverständlich sind beide hochbegabte Genies.

Sag Klaus, er soll die Kaution für seine Familie ausgeben, das freut ihn bestimmt.

Jake wer?

Das Restaurant: Rendez-vous (ja, mit Bindestrich, bitte keine abfälligen Kommentare) an der Ecke Dolores und 8th Street. Sagen wir um sieben. Wenn es sich ergibt, können wir später auch noch umziehen.

Ich freue mich!

Liebe Grüße

C