Für Aurora, Sage und Naomi.
Lasst es euch nicht nehmen,
eure Welt zum Besseren zu verändern!
In liebevoller Erinnerung an
Basya Zeltser, Misha Matusov
und Renato Dulbecco.
David Zeltser
Winzent
und der Gletscher
des Schreckens
Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger
Mit Illustrationen von Jörg Mühle
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1. Auflage 2016
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter
dem Titel Lug: Blast from the North bei Carolrhoda Books,
a division of Lerner Publishing Group, Inc.
241 First Avenue North, Minneapolis, MN 55401, USA.
Copyright © 2016 by David Zeltser
Alle Rechte vorbehalten.
© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.
Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger
Lektorat: Silvia Bartholl
Umschlag- und Innenillustrationen: Jörg Mühle
Umschlaggestaltung: Stefan Geisberger, München
mi · Herstellung: ang
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-16834-6
V002
www.cbt-buecher.de
Kapitel 1
Helden haben keine Angst
»Winzent«, kreischte jemand draußen vor unserer Höhle. »Winzent, schau dir das an!«
Es war einer dieser eiskalten Morgen, an denen Macken-Zacke immer die besten Einfälle hatte. Letzte Woche waren das »bewegte Bilder« an Höhlenwänden gewesen. In der Woche davor hatte er etwas von einem »Eisauge« gefaselt, mit dem man in die Ferne sehen konnte. Während er nun auf dem Dorfplatz im Schnee herumrannte und seine neueste Entdeckung bekannt machte, kuschelte ich mich fester in meine Macraucheniadecke und gähnte. Was immer Zacke da draußen verkündete – es hatte noch ein bisschen Zeit. Außerdem hatte ich wieder miserabel geschlafen. Seit unser Stamm vor Kurzem mit meiner Hilfe die Säbelzahntiger losgeworden ist, habe ich nämlich Albträume. Nacht für Nacht werde ich von Tieren aller Art gejagt, die mich auffressen wollen. Als Zacke rief, waren gerade wütende Eichhörnchen hinter mir her. Und in der Nacht davor waren Dodos über mich hergefallen! Ich wachte schweißgebadet auf, und meine Eltern fragten, was los sei. Ich sagte lieber nichts, weil es mir so peinlich war. Ich will, dass sie mich weiterhin für einen Helden halten, und Helden haben vor nichts Angst. Und schon gar nicht vor wild gewordenen Dodos.
»Winzent?« Zacke kam in unsere Wohnhöhle.
Ich schloss die Augen und blieb ganz still liegen. Wenn er eine Weile vergeblich gerufen hatte, gab er es meistens auf und verschwand wieder.
»Schläfst wohl noch, hm?«, murmelte er. »Aber vielleicht dein Vater? Wumms, bist du wach?«
Ich spähte unter meiner Decke hervor. Zacke ging geradewegs zu meinem schnarchenden Vater. Der ist Chef vom Stamm der Macraucheniareiter.
»He, Wumms!«, rief er laut und klopfte sich den Schnee von den Fellstiefeln. »Sieh dir das an!«
»Waaas denn?«, gähnte mein Vater und rieb sich die Augen und den kahlen Schädel.
»Da draußen!«, sagte Zacke und deutete mit seinem Antilopenhorn zum Höhlenausgang. Seine hellblauen Augen leuchteten in der Morgendämmerung und der buschige Schnurrbart zuckte wie ein Eichhörnchenschwanz.
»Hat Keules Bande schon wieder ein Macrauchenia gestohlen?«, fragte mein Vater, setzte sich auf und wärmte seine Hände über dem knisternden Feuer.
Keule war ein dicker Raufbold, der mit seinem Kumpel Glotzauge schon mehrfach Dschungellamas aus der ohnehin stark geschrumpften Herde unseres Stammes hatte mitgehen lassen. Letzten Monat, kurz vor dem Angriff der Säbelzahntiger, hatten Keule und Glotzauge mit ihren Eltern unseren Stamm verlassen und trieben seither ihr Unwesen.
»Nein, es ist nicht Keule«, krächzte Zacke. »Jetzt komm schon mit auf den Berg und sieh’s dir an.«
Vater schielte zu meiner Mutter und meiner Schwester hinüber, die inzwischen ebenfalls missmutig von ihren Schlafsteinen aufblickten. »Tut mir leid, Zacke«, murmelte er und legte ein paar Fleischstücke auf die heißen Steine rund um die Feuerstelle. »Ein einziges Mal habe ich vergessen, Frühstück zu machen – das will ich nicht noch mal erleben!«
»He, Winzent!«, rief meine Schwester. »Du könntest doch mitgehen.« Windi war zwei Jahre älter als ich, und obwohl ich in der Rangordnung des Stammes über ihr stand, ließ sie keine Gelegenheit aus, mich herumzukommandieren.
»Das geht nicht«, murmelte ich. »Ich will doch das große Höhlengemälde rechtzeitig zu Echos Geburtstag fertigkriegen.«
»Weißt du, was ich glaube?«, zündelte Windi. »Ich glaube, du hast Angst, mit Zacke mitzugehen.«
»Hab ich nicht!«
Mein Vater strahlte mich voller Stolz an. »Red keinen Unsinn, Windi«, sagte er und zauste mir lächelnd das Haar. »Dein Bruder hier hat immerhin ein ganzes Rudel Säbelzahntiger besiegt.«
»Außerdem ist Winzent sehr beschäftigt«, warf meine Mutter Winzenta ein. »Immerhin ist er jetzt Kunst- und Kulturminister unseres Stammes.«
»Das hat er sich doch selber ausgedacht …«, murmelte meine Schwester und verdrehte die Augen.
Womit sie recht hatte. Den Titel hatte ich mir selbst ausgedacht, als mich der Stammesrat fragte, welches Amt ich haben wollte. Als Kunstminister, dachte ich, könnte ich sicherlich den ganzen Tag in der Höhle stehen und malen.
Zacke blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Kommt jetzt einer von euch mit auf den Berg oder nicht?«
Plötzlich sprang etwas Kleines, Pelziges auf meine Schulter. Ich fuhr hoch und kreischte wie ein Baby.
»He, he! Das ist doch nur Moppel«, kicherte mein Vater. »Was ist nur mit dir los?«
»Nichts … nichts …«, antwortete ich und schubste unsere Höhlenkatze so beiläufig wie möglich weg. »Ich war nur ein bisschen überrascht …«
In Wirklichkeit ging ich Tieren so gut es ging aus dem Weg, seit ich diese Albträume hatte. Und jetzt jagte mir sogar unsere Schmusekatze schon Angst und Schrecken ein!
»He! Steini!«, rief ich erleichtert, denn gerade kam mein Freund noch etwas verschlafen in die Höhle geschlurft. »Na, wie geht’s voran mit dem neuen Übungsfeld?«
Steini setzte sich ans Lagerfeuer, schob seine unglaublich buschigen zusammengewachsenen Augenbrauen in die Stirn und strahlte mich mit seinen vorstehenden Zähnen an. Steini hat noch nie ein Wort geredet, aber aus seiner Augenbraue kann man eine Menge lesen. Gerade zuckte sie wie der Schwanz einer hungrigen, schwarzen Katze, während er gierig am brutzelnden Fleisch schnupperte. Ich sah etwas besorgt zu Hopsi hinüber, dem zahmen Frosch auf seiner Schulter, sagte aber nichts.
Steini hatte Echo und mich beim Kampf gegen die Säbelzahntiger unterstützt und danach für sich ebenfalls ein Amt gewählt: Er war jetzt der Trainer unserer Kürbis-Klopper-Mannschaft und hatte ein neues Übungsfeld anlegen lassen – mit zwei eigens in den Boden gegrabenen Höhlen, in denen sich die Spieler warm halten konnten. Das war gar nicht so dumm, wo doch auf der Dschungelwiese ständig Schnee lag.
»Hier, Steini«, sagte mein Vater und reichte ihm einen Stock mit einem kleinen, brutzelnden Stück Lamafleisch.
Im Lauf des Jahres war es immer kälter geworden und unser Leben hatte sich völlig verändert. Es gab immer weniger Dschungellamas und seit Monaten hatte niemand mehr einen Dodo gesehen. Früher hatte es im Urwald alles im Überfluss gegeben, jetzt war Nahrung knapp geworden. Und seit es dauerhaft kalt blieb, kam es mir vor, als wären wir kurz davor, das Schicksal der Dodos zu teilen. Deshalb war es ein herber Verlust, als Keule und Glotzauge das Dschungellama gestohlen hatten. Jedes Tier zählte.
Steini schlang das angekohlte Stückchen Fleisch hinunter und grinste.
Mein Vater lächelte. »He, Zacke«, sagte er. »Wenn du an nützlichen Entdeckungen interessiert bist, solltest du mal mein steingebratenes Fleisch probieren. Ist ziemlich der Hit!«
Zacke schüttelte den Kopf, trottete aus der Höhle und warf mir noch einen entgeisterten Blick zu.
❊ ❊ ❊
Da ich fast am Verhungern war und Vater und Steini dabei waren, alles zu verputzen, schnappte ich mir ebenfalls einen Stock und wollte mir gerade einen Bissen aufspießen, als sich hinter mir eine vertraute Stimme meldete.
»Wer möchte leckere neue Gemüsesorten probieren?«
»Nicht schon wieder«, ächzte Windi und verdrehte die Augen.
Echo war mit einem Arm voll Pflanzenknollen mit bleichen, zotteligen Wurzeln hereingekommen. Sie schüttelte sich den Schnee aus den roten Locken und ihre großen grünen Augen leuchteten voller Eifer. »Stellt euch nicht so an!«, sagte sie beschwörend. »Ihr habt ja noch nicht einmal probiert!«
Ich war der Einzige, der es wagte, ihr in die Augen zu sehen, dann wechselte ich einen Blick mit Steini. Es war klar, was jetzt kommen würde.
»Immerhin bin ich die Beauftragte für ethisch vertretbare Ernährung«, erklärte sie. »Und zwar für beide Stämme.«
Niemand sagte etwas. Eigentlich hatte sie ja recht. Der gemeinsame Rat der Macraucheniareiter (mein Stamm) und der Eberreiter (ihr Stamm) hatte sie genau wie mich und Steini eine eigene Aufgabe für sich ausdenken lassen. Trotz meiner Einwände, dass niemand sie ernst nehmen würde, hatte sie sich zur Beauftragten für ethisch vertretbare Ernährung ernannt. Jetzt lief sie überall herum und ging den Leuten auf die Nerven, indem sie predigte, sie sollten Gemüse statt Fleisch essen.
Sie hatte extra eine »Gartenhöhle« eingerichtet, in der sie diese merkwürdigen Gewächse züchtete. Eigentlich handelte es sich dabei um einen verlassenen Macraucheniastall voller altem Macraucheniamist – Echo glaubte, dass ihr Zeug mit Mist besser wachsen würde. Die Höhle hatte zudem jede Menge Öffnungen auf der Seite, sodass die Sonne hereinschien, der Schnee aber trotzdem draußen blieb.
QUAAAK! – Hopsi sprang von Steinis auf Echos Schulter. Sie lächelte den Frosch freundlich an, als er hinter einer ihrer roten Locken hervorlinste. Unwillkürlich musste ich Echo in die Augen starren; immer, wenn sie aufgeregt war, funkelten sie besonders schön.
»Quak, ribbit, ribbit, quak«, machte Hopsi.
»Ribbit, quak, quak, ribbit«, antwortete Echo. Sie mochte Tiere mehr als alles andere und konnte sich sogar mit ihnen unterhalten.
Ich räusperte mich. »Echo«, sagte ich mit einem Blick auf das grausige Zeug in ihren Händen. »Soll ich dir etwas von deinem Gemüse anrösten?«
Da offenbar niemand sonst zugreifen wollte, nickte sie und ließ sich mit einem resignierenden Seufzer am Feuer nieder.
Vorsichtig fasste ich eins von den merkwürdigen Dingern an der Wurzel und legte es ganz am Rand der Feuerstelle – so weit wie möglich von den wirklichen Nahrungsmitteln entfernt – auf einen heißen Stein.
»Übrigens«, sagte Echo, »habe ich Zacke hier herausstürmen sehen. Was wollte er denn?«
»Ach, wahrscheinlich wollte er uns in seiner Höhle oben am Berg seine neueste Erfindung vorführen. Ich glaube nicht, dass es etwas Wichti…«
KABUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUMMMM!
Die Höhlenwände wackelten.
»Ganz richtig«, sagte Windi. »Hörte sich überhaupt nicht wichtig an.«
Wir krochen zum Höhleneingang und schauten hinaus. Steini grunzte besorgt, als wir alle zum Großgroßberg hinaufsahen, der unser Dorf überragt. Eigentlich war es ein klarer Tag, aber der Gipfel war in eine riesige Schneewolke gehüllt.
»Was zum Stein ist bloß passiert?«, fragte Echo.
In diesem Moment kam ein riesiges, zotteliges und völlig mit Schnee bedecktes Tier auf den Dorfplatz gelaufen.
»Wolli!«, rief Echo. Sie rannte hinaus und schlang die Arme um den Rüssel des jungen Mammuts. Die Mammuts waren mit der Kälte bei uns eingetroffen und halfen uns seither immer wieder. Mit Wolli hatten wir uns angefreundet. Jetzt blickte er fragend von mir zur Bergspitze hinauf.
Alle sahen mich an.
Ich spürte einen Kloß im Hals und musste schlucken. »Na, wir sollten vielleicht besser mal hinaufsteigen und nachsehen«, sagte ich mit leicht übertriebener Zuversicht.
Sehr zu meinem Leidwesen nickten Steini, Echo und Wolli heftig.