Buch
Cotton Malone befindet sich auf einer Mission mit höchster Geheimhaltung: Er soll einen in Dänemark verschollenen US-Agenten finden. Dieser sollte im Auftrag des Weißen Hauses ein Dossier über den Geschäftsmann Salazar anfertigen, der unter der Beobachtung der amerikanischen Regierung steht, weil er fanatischer Anhänger der Mormonenkirche ist und deren Lehren auch in politischer Hinsicht vertritt. Doch Salazars Männer heften sich schon bald an Malones Fersen.
In Utah bahnt sich währenddessen eine Sensation an: In einem Nationalpark werden Überreste einer Mormonensiedlung aus dem späten 18. Jahrhundert entdeckt, die bis dahin als reine Legende galt. Gleichzeitig wird eine Geheimakte aufgefunden, die besagt, dass Präsident Lincoln im Sezessionskrieg einen geheimen Pakt mit den Mormonen einging – sollte dieser publik werden, wird er die USA erneut an den Rand eines Bürgerkrieges bringen …
Autor
Steve Berry war viele Jahre als erfolgreicher Anwalt tätig, bevor er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte. Mit jedem seiner hochspannenden Thriller stürmt er in den USA die Spitzenplätze der Bestsellerlisten und begeistert Leser in über 50 Ländern. Steve Berry lebt mit seiner Frau in St. Augustine, Florida.
Von Steve Berry bereits erschienen
Antarctica · Der Korse · Das verbotene Reich · Die Washington-Akte · Die Kolumbus-Verschwörung · Das Königskomplott
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Steve Berry
DER
LINCOLN-
P A K T
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Barbara Ostrop

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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Steve Berry
Published by Arrangement with MAGELLAN BILLET INC.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Werner Bauer
Umschlaggestaltung: © Johannes Frick, Neusäß
Umschlagmotiv: © Shutterstock.com
BS · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-17004-2
V002
www.blanvalet.de
Für Augustus Eli Reinhardt IV. –
einen ganz besonderen jungen Mann
Jedes Volk der Welt hat, wenn es dazu geneigt ist und die nötige Macht besitzt, das Recht, sich zu erheben, die existierende Regierung abzuschütteln und eine neue, ihm genehmere zu bilden. Dies ist ein äußerst wertvolles und heiliges Recht – ein Recht, das, wie wir hoffen und glauben, die Welt befreien wird. Dieses Recht ist auch nicht nur auf Fälle beschränkt, in denen das ganze Staatsvolk einer existierenden Regierung sich zu seiner Ausübung entschließt. Jeder Teil eines solchen Volkes, der dazu imstande ist, darf sich erheben und sich den Teil des Territoriums, den es selbst bewohnt, zu eigen machen.
Abraham Lincoln,
12. Januar 1848
Prolog
Washington, D.C.
10. September 1861
Abraham Lincoln zügelte seinen Zorn, obwohl die Frau, die ihm gegenüberstand, seine Geduld enorm strapazierte.
»Der General hat nur getan, was alle gerecht denkenden Menschen für richtig halten«, sagte sie.
Jesse Benton Fremont war die Frau des Armeegenerals John Fremont, der die Verantwortung für alle militärischen Angelegenheiten der Union westlich des Mississippi trug. Dieser Held des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges und berühmte Entdecker hatte die Berufung in seine jetzige Position im Mai erhalten. Vor einem Monat hatte er angesichts des im Süden tobenden Bürgerkriegs eine einseitige Erklärung abgegeben, durch die den Sklaven bewaffneter Aufständischer die Freiheit verliehen worden war. Das war schon schlimm genug, aber Fremonts Erlass ging sogar noch weiter und verfügte, dass alle Kriegsgefangenen erschossen werden sollten.
»Madam«, sagte Lincoln mit leiser Stimme. »Ist Ihr Mann wirklich der Ansicht, dass alle gefangenen Rebellen zu töten sind?«
»Diese Männer müssen wissen, dass sie ihr Vaterland verraten haben, und Verräter werden seit jeher hingerichtet.«
»Ist Ihnen klar, dass die Konföderierten dann ihre eigenen Gefangenen, unsere Soldaten, zur Vergeltung ebenfalls erschießen werden? Mann für Mann. Und immer so weiter.«
»Sir, wir haben diesen Aufstand nicht begonnen.«
Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte schon fast Mitternacht. Vor drei Stunden war eine knappe Botschaft ins Weiße Haus gekommen. Mrs. Fremont sei mit einem Brief des Generals Fremont und weiteren mündlichen Erläuterungen eingetroffen, die sie gerne schnellstmöglich dem Präsidenten überbringen würde. Würde der Präsident ihr wenn möglich noch einen Termin am selben Abend oder aber früh am nächsten Morgen einräumen?
In seiner Antwort hatte er sie gebeten, sofort zu kommen.
Sie standen sich im Roten Salon im Erdgeschoss des Weißen Hauses im hellen Licht eines Kronleuchters gegenüber. Er hatte von dieser eindrucksvollen Frau gehört. Die Tochter eines ehemaligen US-Senators war sehr gebildet, in Washington, D.C. aufgewachsen und politisch geschult. Gegen den Willen ihrer Eltern hatte sie mit siebzehn Jahren Fremont geheiratet und im Laufe der Jahre fünf Kinder zur Welt gebracht. Sie hatte ihren Mann bei seinen Expeditionen in den Westen unterstützt und stand ihm zur Seite, als er als Militärgouverneur Kaliforniens und als einer der ersten US-Senatoren dieses Bundesstaates diente. Sie war mit ihm auf Wahlkampftour gegangen, als er 1856 als erster Präsidentschaftskandidat der neu gegründeten Republikanischen Partei aufgestellt wurde. Er erhielt den Beinamen Pathfinder, und seine Kandidatur hatte die Begeisterung des Volkes neu entflammen lassen. Zwar war er von James Buchanan geschlagen worden, aber wäre die Abstimmung in Pennsylvania anders ausgegangen, wäre er Präsident geworden.
Für Lincoln, den ersten dann auch tatsächlich gewählten Präsidenten der Republikanischen Partei, hatte die Ernennung John Fremonts zum Kommandanten des Westens auf der Hand gelegen.
Inzwischen bereute er diese Entscheidung.
Er fragte sich, ob sein Leben überhaupt noch irgendwie schlimmer sein könnte.
Der ungeheure Stolz, den er im März beim Ablegen des Eides als sechzehnter Präsident empfunden hatte, war den Qualen des Bürgerkriegs gewichen. Elf Staaten hatten sich von der Union abgespalten und eine eigene Konföderation gegründet. Sie hatten Fort Sumter angegriffen und ihn gezwungen, alle Häfen im Süden zu blockieren und die Habeas-Corpus-Rechte aufzuheben. Die Armee der Union war entsandt worden, hatte aber bei Bull Run eine demütigende Niederlage erlitten – dieser verheerende Schlag hatte ihn überzeugt, dass der Krieg lang und blutig werden würde.
Und jetzt also Fremont und sein Erlass der Sklavenbefreiung.
Im Grunde stand Lincoln der Entscheidung des Generals gar nicht so ablehnend gegenüber. Die Aufständischen hatten die Truppen der Union im südlichen Missouri besiegt und rückten jetzt nach Norden vor. Fremont war isoliert, und die Zahl seiner Soldaten und seine Vorräte waren begrenzt. Die Situation hatte zum Handeln gezwungen, und so hatte er Missouri unter Kriegsrecht gestellt. Dann jedoch war er zu weit gegangen und hatte die Freilassung aller Sklaven der Aufständischen angeordnet.
Weder Lincoln selbst noch der Kongress waren derart kühn gewesen.
Der General hatte mehrere Botschaften und sogar einen direkten Befehl, den Erlass zu ändern, missachtet. Und nun hatte er also seine Frau geschickt, um einen Brief zu überbringen und seine Sache zu verfechten.
»Madam, hier sind Rücksichten zu nehmen, die weit über Missouri hinausreichen. Wie Sie selbst mir ja gerade vor Augen geführt haben, tobt in unserem Land ein Krieg. Leider sind die Streitfragen, die die gegnerischen Seiten dieses Konflikts trennen, nicht so eindeutig umgrenzbar.«
Das größte Missverständnis war dabei die Sklaverei.
Von Lincolns Standpunkt aus war die Sklaverei gar nicht das Thema. Er hatte den Sezessionisten bereits das Angebot gemacht, sie sollten ihre Sklaven behalten. Sie könnten sogar ihre eigene Flagge aufziehen, Abgeordnete nach Montgomery schicken und durchaus auch eine eigene Konföderation gründen – vorausgesetzt, sie ließen das Eintreiben der Hafenzölle durch den Norden weiter zu. Sollte der Süden sich von diesen Zöllen befreien, würde das der Industrie im Norden schaden, und die Regierung der Vereinigten Staaten wäre bald bankrott. Keine Armeen wären nötig, um sie zu besiegen. Die Ein- und Ausfuhrzölle waren die Haupteinnahmequelle des Landes. Ohne sie wäre der Norden am Ende.
Aber der Süden hatte Lincolns Angebot abgelehnt und das Feuer auf Ford Sumter eröffnet.
»Mr. President, ich war bei diesem grauenhaft heißen Wetter drei Tage mit dem Zug unterwegs. Es war keine schöne Reise, aber ich bin gekommen, weil der General Ihnen klarmachen will, dass hier nur noch die Rücksichtnahmen zählen, die von alles entscheidender Bedeutung für unsere Nation sind. Aufständische haben gegen uns zu den Waffen gegriffen. Ihnen muss man das Handwerk legen, und die Sklaverei muss abgeschafft werden.«
»Ich habe dem General geschrieben, und er weiß, was ich von ihm erwarte«, stellte er klar.
»Er sieht sich in dem großen Nachteil, Menschen zum Gegner zu haben, die Ihr volles Vertrauen genießen.«
Eine eigenartige Antwort. »Wen meinen Sie damit?«
»Er glaubt, dass Ihre Ratgeber, die Ihnen ja näherstehen, eher bei Ihnen Gehör finden als er.«
»Und das soll seine Gehorsamsverweigerung rechtfertigen? Madam, seine Anordnung der Sklavenbefreiung fällt nicht in den Bereich des Kriegsrechts und ist auch nicht durch die Notwendigkeit erzwungen. Er hat eine politische Entscheidung gefällt, und die steht ihm nicht zu. Erst vor wenigen Wochen habe ich meinen persönlichen Sekretär Mr. Hay zu ihm gesandt, um von ihm eine Änderung jenes Teils des Erlasses zu verlangen, durch den allen Sklaven in Missouri die Freiheit gewährt wird. Auf diese Forderung habe ich keine Antwort erhalten. Und nun hat der General Sie geschickt, um direkt mit mir zu reden.«
Schlimmer noch, Hays Berichten war zu entnehmen gewesen, dass Fremonts Truppe von Korruption durchsetzt war und am Rande der Rebellion stand. Eine Überraschung war das nicht. Fremont war eigensinnig, neigte zur Hysterie und handelte häufig überstürzt. Seine Laufbahn war bisher ein Fiasko nach dem anderen gewesen. 1856 hatte er den Rat der politischen Experten missachtet und die Sklaverei zum Hauptthema seines Wahlkampfs um das Präsidentenamt gemacht. Aber das Land war für eine solche Umwälzung noch nicht reif gewesen. Sie hatte zu dem Zeitpunkt nicht zur Stimmungslage gepasst.
Und das hatte ihn den Sieg gekostet.
»Der General ist überzeugt, dass es ein langer und grauenhafter Prozess sein würde, die Aufständischen allein durch Waffengewalt zu besiegen. Um uns die Unterstützung des Auslands zu sichern, müssen auch andere Erwägungen berücksichtigt werden. Der General weiß, dass die Engländer eine allmähliche Befreiung der Sklaven befürworten und dass bedeutende Männer in den Südstaaten den starken Wunsch verspüren, diesem Wunsch entgegenzukommen. Das dürfen wir nicht zulassen. Als Präsident ist Ihnen gewiss klar, dass England, Frankreich und Spanien kurz davor stehen, die Südstaaten anzuerkennen. England wegen seines Interesses an der Baumwolle. Frankreich, weil ihr Kaiser uns verabscheut …«
»Sie sind ja eine richtige Politikerin.«
»Ich weiß, wie es in der Welt zugeht. Vielleicht sollten auch Sie, ein Mann, der dieses großartige Amt nur mit Mühe errungen hat, genau darauf achten, was andere Menschen denken.«
Diese Beleidigung hatte er schon öfter gehört. Er hatte die Wahl von 1860 dank einer Spaltung der Demokratischen Partei gewonnen, die törichterweise zwei Kandidaten ins Rennen geschickt hatte. Und dann hatte die neu gegründete Constitutional Union Party sich ebenfalls für einen eigenen Kandidaten entschieden. Alle drei zusammen hatten achtundvierzig Prozent der Wählerstimmen und 123 Wahlmänner errungen. Mit seinen vierzig Prozent der Stimmen und 180 Wahlmännern war Lincoln damit als Sieger hervorgegangen. Gewiss, er war ein einfacher Rechtsanwalt aus Illinois, dessen Erfahrung in der nationalen Legislative sich auf eine einzige Amtszeit im Repräsentantenhaus belief. 1858 war er sogar beim Kampf um den Sitz im US-Senat seinem ewigen Gegner Stephen Douglas unterlegen. Jetzt aber, da er als Zweiundfünfzigjähriger für vier Jahre die Herrschaft im Weißen Haus errungen hatte, befand er sich plötzlich im Zentrum der größten Verfassungskrise, mit der die Nation je konfrontiert worden war.
»Ich muss Ihnen sagen, Madam, dass mir die Gedanken der anderen Menschen nicht entgehen können, da ich jeden Tag ihrem Sperrfeuer ausgesetzt bin. Der General hätte die Negerfrage niemals mit in diesen Krieg hineinzerren dürfen. Dies ist ein Konflikt um eine große nationale Sache, und die Negerfrage hat nichts damit zu tun.«
»Da irren Sie sich, Sir.«
Er hatte dieser Frau einen gewissen Spielraum eingeräumt, da ihm klar war, dass sie nur ihren Ehemann verteidigte, wie jede Gattin es tun sollte.
Doch nun hatten sich beide Fremonts in die Nähe des Verrats begeben.
»Madam, das Vorgehen des Generals hat Kentucky veranlasst, seine Allianz mit der Union noch einmal zu überdenken, da es sich nun vielleicht lieber den Aufständischen anschließen möchte. Maryland, Missouri und mehrere weitere Grenzstaaten wägen nun ebenfalls ihre Position neu ab. Wenn es in diesem Konflikt um die Befreiung der Sklaven gehen soll, werden wir ihn mit Sicherheit verlieren.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen.
»Ich habe niemanden im Zweifel gelassen. Meine Aufgabe besteht darin, die Union zu retten. Dabei ist mir der kürzeste Weg im Rahmen der Verfassung der liebste. Je eher die Staatsgewalt wieder im gesamten Gebiet der Nation herrscht, desto mehr wird die Union wieder das werden, was sie einmal war. Könnte ich die Union retten, ohne einen einzigen Sklaven zu befreien, würde ich es tun. Könnte ich sie retten, indem ich alle Sklaven befreie, würde ich das auch tun. Und könnte ich sie retten, indem ich einige Sklaven befreie und andere nicht, würde ich das ebenfalls tun. Was ich in den Fragen der Sklaverei und der farbigen Rasse unternehme, tue ich nur unter dem Aspekt, inwieweit es hilft, die Union zu retten. Was ich unterlasse, unterlasse ich, weil ich nicht glaube, dass es helfen würde, die Union zu retten. Ich werde in dieser Frage weniger unternehmen, wenn ich glaube, dass ich sonst meinem eigentlichen Anliegen schade, und mehr, wenn ich glaube, dass es meinem eigentlichen Anliegen nützt.«
»Dann sind Sie nicht mein Präsident, Sir. Und auch nicht der Präsident derer, die Sie gewählt haben.«
»Aber ich bin der Präsident. Bringen Sie also Ihrem Mann folgende Botschaft zurück. Er wurde in den Westen geschickt, um die Armee nach Memphis und dann weiter ostwärts zu führen. Dieser Befehl gilt noch immer. Er soll ihn entweder ausführen oder er wird abberufen.«
»Ich muss Sie warnen, Sir, dass es schlimme Folgen haben könnte, wenn Sie sich dem General weiter entgegenstellen. Er könnte sich unabhängig machen.«
Die Staatskasse war leer, im Kriegsministerium herrschte Chaos, kein einziger Truppenteil der Union war marschbereit. Und nun drohten diese Frau und ihr unverschämter Mann mit Rebellion? Er sollte sie beide verhaften lassen. Doch leider hatte Fremonts einseitig verkündete Sklavenbefreiung Anklang bei den Abolitionisten und bei liberalen Republikanern gefunden, die ein sofortiges Ende der Sklaverei wünschten. Ein kühner Streich gegen ihren Fürsprecher könnte sich als politischer Selbstmord erweisen.
»Dieses Treffen ist vorbei«, sagte er.
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, der ihm klarmachte, dass sie es nicht gewohnt war, einfach weggeschickt zu werden. Doch er beachtete ihren finsteren Gesichtsausdruck nicht und öffnete ihr die Tür. Draußen saß sein persönlicher Sekretär Hay noch an seinem Schreibtisch, und ebenso wartete dort einer seiner Dienstleute. Mrs. Fremont ging grußlos an Hay vorbei, und der Bedienstete führte sie davon. Lincoln wartete ab, bis er die Haustür aufgehen und wieder zufallen gehört hatte. Dann winkte er Hay in das Empfangszimmer.
»Was für eine unverschämte Person«, sagte er. »Wir haben uns noch nicht einmal gesetzt. Sie hat mir gar keine Gelegenheit gelassen, ihr einen Stuhl anzubieten. Stattdessen hat sie mich so heftig in so vielen verschiedenen Punkten angegriffen, dass ich all meinen bescheidenen Takt brauchte, um nicht mit ihr in Streit zu geraten.«
»Ihr Mann ist keinen Deut besser. Als General ist er eine Fehlbesetzung.«
Lincoln nickte. »Fremont macht den Fehler, sich selbst zu isolieren. Er weiß nicht, wie es um die Frage, mit der er sich befasst, wirklich steht.«
»Und er hört nicht zu.«
»Seine Frau hat tatsächlich damit gedroht, dass er eine eigene Regierung bilden könnte.«
Hay schüttelte angewidert den Kopf.
Lincoln traf eine Entscheidung. »Der General wird abgesetzt. Aber erst, wenn wir einen geeigneten Ersatzmann gefunden haben. Suchen Sie einen. Natürlich in aller Stille.«
Hay nickte. »Verstanden.«
Lincoln bemerkte einen großen Umschlag, den sein Vertrauter in der Hand hielt, und zeigte darauf. »Was ist denn das?«
»Ist heute Abend aus Pennsylvania eingetroffen. Wheatland.«
Lincoln kannte dieses Haus und seinen Besitzer. Es gehörte seinem Vorgänger im Amt, James Buchanan. Ein Mann, der in den Nordstaaten sehr gescholten wurde. Man warf ihm vor, er habe South Carolina den Weg zur Abspaltung geebnet, indem er die Schuld daran der maßlosen Einmischung der Bürger des Nordens in die Frage der Sklaverei gab.
Für einen Präsidenten hatte er damit außerordentlich stark Partei ergriffen.
Danach war Buchanan noch weiter gegangen und hatte gefordert, man solle die Sklavenhalterstaaten ihre innerstaatlichen Einrichtungen nach eigenem Gutdünken regeln lassen. Außerdem sollten die Staaten des Nordens alle Gesetze zurücknehmen, die die Sklaven zur Flucht ermutigten. Andernfalls hätten die geschädigten Staaten nach Ausschöpfung aller verfassungsmäßig garantierten Mittel, um diesen Missstand auf friedlichem Wege zu beheben, das Recht, sich der Regierung der Union auf revolutionäre Weise zu widersetzen.
Das kam der präsidentiellen Billigung eines Aufstands gleich.
»Was will der ehemalige Präsident denn?«
»Ich habe den Brief nicht geöffnet.« Hay reichte ihm den Umschlag. Er war vorne mit der Aufschrift: NUR FÜR MR. LINCOLN PERSÖNLICH versehen. »Ich habe diesen Wunsch respektiert.«
Lincoln war müde, und die Begegnung mit Mrs. Fremont hatte ihm das letzte Quäntchen Energie geraubt, das ihm nach diesem langen Tag noch geblieben war. Aber er war auch neugierig. Buchanan hatte es gar nicht erwarten können, sein Amt endlich los zu sein. Am Tag von Lincolns Inauguration hatte er auf der Rückfahrt vom Kapitol seine Absichten klar ausgesprochen. Falls Sie über Ihren Einzug ins Weiße Haus so glücklich sind wie ich über meine Rückkehr nach Wheatland, sind Sie wirklich ein glücklicher Mensch, hatte er in der Kutsche erklärt.
»Sie können Schluss machen«, sagte Lincoln zu Hay. »Ich lese das hier noch und lege mich dann ebenfalls schlafen.«
Sein Sekretär ging, und Lincoln blieb allein im Salon zurück und setzte sich. Er brach das Wachssiegel des Umschlags und zog zwei Blätter heraus. Das eine war ein Pergament – vom Alter vergilbt, voller Wasserflecken, trocken und brüchig. Das zweite war ein glattes Velinpapier, das in einer energischen, männlichen Handschrift mit frischer schwarzer Tinte beschriftet war.
Als Erstes las er das Schreiben auf dem Velinpapier.
Ich habe Ihnen das Land in einem sehr bedauerlichen Zustand überlassen, und dafür entschuldige ich mich. Meinen ersten Fehler habe ich schon am Tag meiner Inauguration begangen, als ich erklärte, dass ich nicht für eine Wiederwahl zur Verfügung stünde. Doch mein Motiv dazu war rein. Ich wollte, dass nichts anderes meine Regierungsführung beeinflusst als mein Wunsch, dem Staat treu und fähig zu dienen und meinen Landsleuten in dankbarer Erinnerung zu bleiben. Doch er hat sich nicht erfüllt. An dem Tag, an dem ich nach dem Ablegen des Amtseides ins Weiße Haus zurückgekehrt bin, erwartete mich dort ein versiegeltes Päckchen, das diesem hier in Größe und Form ähnelte. Darin befanden sich ein Schreiben meines Vorgängers Mr. Pierce sowie jenes Dokument, das ich Ihnen nun ebenfalls beigelegt habe. Pierce schrieb, dass diese Anlage zuerst Präsident Washington selbst übergeben wurde. Dieser entschied, dass man das Dokument vom einen Präsidenten zum nächsten weiterreichen solle und jeder dann frei entscheiden könne, was er damit tun werde. Ich weiß, dass Sie und viele andere mir die Schuld an dem gegenwärtigen nationalen Konflikt geben. Aber bevor Sie mich noch weiter kritisieren, lesen Sie zuerst dieses Dokument. Ich halte mir selbst zugute, dass ich auf jede erdenkliche Weise versucht habe, seinen Auftrag zu erfüllen. Ich habe mir Ihre Rede am Inaugurationstag genau angehört. Sie haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Union dem Namen und der Verfassung nach unauflöslich ist. Seien Sie sich da nicht so sicher. Der Schein trügt. Ursprünglich hatte ich nicht die Absicht, dieses Dokument weiterzureichen. Vielmehr wollte ich es verbrennen. Doch fern der Aufregungen des Regierens und des Drucks der nationalen Krise bin ich im Verlauf der letzten Monate zu der Überzeugung gelangt, dass man der Wahrheit nicht ausweichen sollte. Als South Carolina sich von der Union abspaltete, habe ich öffentlich erklärt, dass ich möglicherweise der letzte Präsident der Vereinigten Staaten sein würde. Sie haben meine Bemerkung damals vor aller Ohren lächerlich genannt. Vielleicht werden Sie gleich einsehen, dass ich nicht so töricht war, wie sie glaubten. Nun habe ich das Gefühl, dass ich meine Pflicht treu erfüllt habe, auch wenn die Ausführung vielleicht unvollkommen war. Wozu immer es führen wird, ich werde mit der Überzeugung ins Grab gehen, dass ich jedenfalls nur das Beste für mein Land wollte.
Lincoln blickte von dem Blatt auf. Was für eine sonderbare Wehklage. Und eine Botschaft? Die vom einen Präsidenten an den nächsten weitergereicht wurde? Und die Buchanan ihm bis jetzt vorenthalten hatte?
Er rieb sich die müden Augen und griff nach dem zweiten Blatt. Dessen Tinte war verblasst, und die Schrift war verschnörkelter und schwierig zu entziffern.
Darunter standen mehrere Unterschriften.
Er überflog die gesamte Seite.
Dann las er sie Wort für Wort noch einmal.
Sorgfältiger.
Der Schlaf schien ihm plötzlich nicht mehr wichtig.
Was hatte Buchanan noch geschrieben?
Der Schein trügt.
»Das ist unmöglich«, murmelte er.
ERSTER TEIL