Cover

Der Anwalt Adam Price lebt den großen amerikanischen Traum: stolzer Vater zweier Söhne, glücklich verheiratet mit der fast schon zu perfekten Corinne und Besitzer eines schmucken Hauses. In vollen Zügen genießt er die Liebe und die Sicherheit, die ihm seine Familie gibt. Bis ihn eines Abends ein völlig Fremder anspricht – und seine wohlgeordnete Welt brutal zum Einsturz bringt. Der Fremde enthüllt Adam eine Wahrheit über Corinne, die dieser zuerst nicht glauben will und die er doch nach und nach akzeptieren muss. Denn der namenlose Fremde liefert ihm Beweise, Namen, eine leicht einsehbare Spur, die Corinne im Internet hinterlassen hat und die Adam trotz aller inneren Widerstände am Ende doch zu verfolgen beschließt.

Als er Corinne damit konfrontiert, hält sie ihn hin, verschiebt das klärende Gespräch immer weiter – und verschwindet dann auf einmal spurlos. Adam ist ratlos, wütend, verzweifelt. Und tritt die Flucht nach vorn an: Er macht sich auf die Suche nach Corinne.

Währenddessen sucht der Fremde weitere Opfer auf. Seine Methode ist immer dieselbe: Gnadenlos enthüllt er Wahrheiten, zwingt die Menschen, sich ihnen zu stellen, ihr Schweigen zu brechen. Und setzt damit ein tödliches Räderwerk in Gang, dem auch Adam zum Opfer zu fallen droht. Denn dieser deutet die Zeichen auf fatale Weise falsch …

HARLAN COBEN

Ich schweige
für dich

Thriller

Deutsch
von Gunnar Kwisinski

Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »The Stranger« bei Dutton,
a member of Penguin Group USA (Inc.), New York.


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Copyright © der Originalausgabe 2015 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

Neumarkter Str. 28, 81673 München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Redaktion: Anja Lademacher

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Trevillion Images: Rodney Harvey; Carmen Spitznagel;
Guillermo Rodriguez Carballa; FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-17846-8
V002


www.goldmann-verlag.de

In stillem Gedenken an meinen Cousin
Stephen Reiter

und zu Ehren seiner Kinder,
David, Samantha und Jason

EINS

Der Fremde zerstörte Adams Welt nicht auf einen Schlag.

Das zumindest sollte Adam Price sich später einreden, aber es war gelogen. Eigentlich wusste Adam gleich beim ersten Satz, dass sein bisheriges Leben als zufriedener, verheirateter Vorstadtvater zweier Kinder für immer vorbei war. Oberflächlich betrachtet war es nur ein einfacher Satz, aber etwas in der Art, wie er gesagt wurde – mit einem wissenden und fast einfühlsamen Unterton –, verriet Adam sofort, dass es nie mehr so sein würde wie zuvor.

»Sie hätten nicht mit ihr zusammenbleiben müssen«, sagte der Fremde.

Sie standen in der American Legion Hall in Cedarfield, New Jersey, einer Stadt voll reicher Hedgefonds-Manager und anderer Masters of the Universe aus der Finanzbranche. Sie kamen gern auf ein Bierchen in die American Legion Hall, weil sie sich dort einfach unters Volk mischen und so tun konnten, als wären sie die bodenständigen Burschen aus einem Pickup-Werbespot, obwohl das absolut nicht zutraf.

Adam stand an der klebrigen Bar. Hinter ihm hing eine Dartscheibe. Neonschilder warben für Miller Lite, aber Adam hielt eine Flasche Budweiser in der rechten Hand. Er wandte sich dem Mann zu, der sich gerade neben ihn gestellt hatte, und obwohl er die Antwort schon kannte, fragte er ihn: »Meinen Sie mich?«

Der Typ war jünger als die meisten anderen, die heute Abend hier waren, dünner, fast hager, mit großen, stechend blauen Augen. Seine Arme waren blass und dürr, und unter einem der kurzen Ärmel schaute ein Tattoo hervor. Er trug eine Baseballkappe. Zum Hipster reichte es nicht, er strahlte aber eine gewisse Nerdigkeit aus, wie jemand, der eine Technikabteilung leitet und nie das Tageslicht sieht.

Die stechenden blauen Augen fixierten Adam mit großer Ernsthaftigkeit, sodass er sich gern abgewandt hätte. »Sie hat Ihnen gesagt, dass sie schwanger ist, stimmt’s?«

Adams Hand schloss sich fester um die Bierflasche.

»Deshalb sind Sie bei ihr geblieben. Corinne hat Ihnen gesagt, dass sie schwanger ist.«

Das war der Moment, in dem Adam spürte, wie in seiner Brust ein Schalter umgelegt wurde, als hätte jemand den Zeitzünder einer Bombe mit roten Digitalzahlen gestartet, wie im Film. Der Countdown lief. Tick, tick, tick, tick.

»Kennen wir uns?«, fragte Adam.

»Sie hat Ihnen gesagt, dass sie schwanger ist«, wiederholte der Fremde. »Corinne, meine ich. Sie hat Ihnen gesagt, dass sie schwanger ist, und dann hatte sie eine Fehlgeburt.«

Die American Legion Hall war voller Vorstadtväter, alle in den gleichen weißen Baseball-T-Shirts mit Dreiviertelärmeln und weiten Cargo-Shorts oder vollkommen arschlosen Dad-Jeans. Viele trugen Baseballkappen. Heute wurden die Spieler für die Lacrosse-Schulmannschaften der vierten, fünften und sechsten Klassen ausgewählt. Wenn man beobachten wollte, wie Alphatiere sich in ihrer natürlichen Umgebung aufführten, brauchte man nur zuzusehen, wie diese Eltern sich in die Teamauswahl ihrer Sprösslinge einmischten, dachte Adam. Der Discovery Channel hätte ein Kamerateam schicken sollen.

»Sie fühlten sich verpflichtet, bei ihr zu bleiben, was?«, fragte der Mann.

»Ich habe keine Ahnung, wer Sie …«

»Sie hat gelogen, Adam.« Der Jüngere sprach mit großer Überzeugung. Es klang, als wüsste er nicht nur genau Bescheid, sondern als wollte er nur das Beste für Adam. »Corinne hat das alles erfunden. Sie war nicht schwanger.«

Die Wörter trafen Adam wie Schläge, machten ihn benommen, schwächten seinen Widerstand, sodass er angeschlagen und angezählt zurückblieb. Er wollte sich wehren, den Typen am Kragen packen und gegen die Wand schleudern, weil er seine Frau beleidigt hatte. Aber aus zwei Gründen tat er das nicht.

Erstens, weil er benommen und sein Widerstand geschwächt war.

Zweitens, weil der Mann so verflucht selbstbewusst und überzeugend auftrat, dass Adam den Eindruck bekam, es wäre klüger, ihm zuzuhören.

»Wer sind Sie?«, fragte Adam.

»Spielt das eine Rolle?«

»Ja, das tut es.«

»Ich bin der Fremde«, sagte er. »Der Fremde, der etwas Wichtiges weiß. Sie hat Sie belogen, Adam. Corinne, meine ich. Sie war nicht schwanger. Das war nur ein Trick, um Sie zurückzubekommen.«

Adam schüttelte den Kopf. Er kämpfte sich durch den Nebel und versuchte, ruhig zu bleiben. »Ich habe den Schwangerschaftstest gesehen.«

»Ein Fake.«

»Ich habe das Ultraschallbild gesehen.«

»Auch ein Fake.« Er hob die Hand, bevor Adam noch mehr sagen konnte. »Ja, und der Bauch auch. Oder besser die Bäuche. Von dem Zeitpunkt an, wo man etwas erkennen konnte, haben Sie sie nicht mehr nackt gesehen, richtig? Wie hat sie das hingekriegt? Hat sie behauptet, dass ihr nachts schlecht wird und ihr besser keinen Sex mehr haben solltet? So läuft das meistens. Bei der Fehlgeburt merkt man dann rückblickend, dass die Schwangerschaft sowieso von Anfang an problematisch war.«

Auf der anderen Seite des Saals rief jemand mit donnernder Stimme: »So, Leute, holt euch noch ein Bier, dann geht’s los.«

Es war die Stimme von Tripp Evans, dem Vorsitzenden des Lacrosse-Komitees, einem ziemlich netten Typen, der früher in der Madison Avenue für eine Werbeagentur gearbeitet hatte. Die anderen Väter holten sich Alustühle, wie man sie bei Schulkonzerten verwendete, und stellten sie im Kreis auf. Tripp Evans sah Adam an, bemerkte dessen zweifellos aschfahles Gesicht und runzelte besorgt die Stirn. Adam schüttelte kurz den Kopf und wandte sich wieder dem Fremden zu.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Stellen Sie sich einfach vor, dass ich Ihr Retter bin. Oder so eine Art Freund, der Sie gerade aus dem Knast geholt hat.«

»Das ist doch Quatsch, was Sie da erzählen.«

Die Gespräche waren so gut wie verstummt. Nur wenige Leute flüsterten noch, und das Geräusch von Stühlen, die zurechtgerückt wurden, hallte durch den Saal. Während der Auswahl der Spieler setzten die Väter ihre Pokerfaces auf. Adam konnte das nicht ausstehen. Eigentlich gehörte er gar nicht hierher – dies war Corinnes Aufgabe. Sie war Kassenwartin des Lacrosse-Komitees. Aber die Lehrerkonferenz ihrer Schule in Atlantic City war verschoben worden, und obwohl dies der wichtigste Tag im Jahr für den Lacrosse-Sport in Cedarfield war – und der Hauptgrund, warum Corinne sich so engagiert hatte –, musste Adam heute für sie einspringen.

»Sie müssten mir eigentlich dankbar sein«, sagte der Mann.

»Was soll das heißen?«

Zum ersten Mal lächelte der Mann. Ein freundliches Lächeln, wie Adam eingestehen musste, das Lächeln eines Heilers, eines Mannes, der einfach nur das Richtige tun will.

»Sie sind frei«, sagte der Fremde.

»Und Sie lügen.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht, Adam.«

Tripp Evans rief durch den Saal: »Adam?«

Er drehte sich um. Außer Adam und dem Fremden hatten inzwischen alle Platz genommen.

»Ich muss jetzt los«, flüsterte der Fremde. »Aber wenn Sie wirklich Beweise brauchen, gucken Sie sich Ihre Visa-Abrechnungen an. Suchen Sie nach einer Zahlung an Novelty Funsy.«

»Moment …«

»Eins noch.« Der Mann beugte sich zu ihm herüber. »An Ihrer Stelle würde ich wahrscheinlich bei Ihren beiden Jungs einen Vaterschaftstest durchführen lassen.«

Tick, tick, tick … kabumm. »Was?«

»Dafür hab ich keine Beweise, aber wenn eine Frau einen so belügt, kann man davon ausgehen, dass es nicht das erste Mal ist.«

Völlig benommen von dieser letzten Anschuldigung stand Adam nur da, während der Fremde eilig verschwand.

ZWEI

Als Adams Knie nicht mehr nachzugeben drohten, folgte er dem Fremden.

Zu spät.

Der Fremde setzte sich auf den Beifahrersitz eines grauen Honda Accord. Der Wagen fuhr los. Adam rannte hinterher, um sich den Wagen genauer anzusehen und sich vielleicht das Nummernschild zu merken, doch er konnte nur noch erkennen, dass es aus seinem Heimatstaat New Jersey war. Als das Auto die Kurve zur Ausfahrt nahm, fiel ihm noch etwas auf.

Am Steuer saß eine Frau.

Sie war jung und hatte lange blonde Haare. Als das Licht der Straßenlampe auf ihr Gesicht fiel, erkannte er, dass sie ihn ansah. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment. In ihrer Miene lagen Sorge und Mitleid.

Mitleid mit ihm.

Das Auto raste davon. Hinter ihm rief jemand seinen Namen. Adam drehte sich um und ging zurück in den Saal.

Sie fingen mit der Auswahl der House-Teams an.

Adam versuchte zuzuhören, aber es war, als müssten alle Geräusche die akustische Version einer Duschkabinentür aus Milchglas durchdringen. Dabei hatte Corinne Adam die Arbeit leicht gemacht. Sie hatte alle Jungen aufgelistet, die für das Team der sechsten Klasse in Frage kamen, sodass er nur zwischen denen wählen musste, die noch übrig waren. Der wahre Grund für seine Anwesenheit war jedoch banaler: Er sollte aufpassen, dass Ryan, ihr Sechstklässler, in die Schulmannschaft kam. Ihr älterer Sohn Thomas, der jetzt in seinem zweiten Highschool-Jahr war, hatte es in Ryans Alter nicht in die Schulmannschaft geschafft, was, wie Corinne vermutete, daran lag, dass seine Eltern sich damals nicht genug engagiert hatten. Adam teilte diese Vermutung. Viel zu viele Väter waren heute Abend weniger aus Liebe zum Spiel hier als vielmehr, um die Interessen ihrer Kinder zu wahren.

Einschließlich Adam. Traurig, aber was sollte man machen?

Adam versuchte, nicht mehr an das zu denken, was man ihm gerade gesagt hatte – wer war der Kerl überhaupt? –, aber es gelang ihm nicht. Als er auf Corinnes »Vorauswahl« starrte, verschwamm ihre Schrift vor seinen Augen. Seine Frau war so unglaublich, fast schon zwanghaft ordentlich. Sie hatte die Jungen in absteigender Reihenfolge vom Besten bis zum Schlechtesten aufgeführt. Wenn einer dieser Namen genannt wurde, strich Adam ihn geistesabwesend durch. Er musterte die perfekte Handschrift seiner Frau, die wie die Beispielbuchstaben wirkten, die die Lehrerin in der dritten Klasse oben an der Tafel anbrachte. So war Corinne. Sie war das Mädchen, das in die Klasse kam und jammerte, weil sie ganz bestimmt durchfallen würde, den Test als Erste abgab und die Bestnote bekam. Sie war klug, ehrgeizig, schön und …

Eine Lügnerin?

»Dann kommen wir jetzt zu den Schulmannschaften«, sagte Tripp.

Wieder wurden im Saal Stühle gerückt. Wie betäubt setzte sich Adam zu den vier Männern, die die Spieler für die erste und zweite Schulmannschaft auswählten. Jetzt ging es ans Eingemachte. Die House-Teams traten in der städtischen Liga an. Die besten Spieler kamen in die erste oder zweite Schulmannschaft, die bei Wettbewerben im ganzen Staat antraten.

Novelty Funsy. Warum kam ihm der Name bekannt vor?

Der Trainer der sechsten Klassen hieß Bob Baime, aber für Adam war er Gaston, die Zeichentrickfigur aus dem Disneyfilm Die Schöne und das Biest. Bob war eine große Blätterteigpastete von einem Mann mit diesem breiten Lächeln, das man eigentlich nur bei den leicht Unterbelichteten findet. Er war laut, eingebildet, dumm und gemein, und wenn er mit durchgedrückter Brust und schwingenden Armen vorbeimarschierte, hörte Adam den Soundtrack »Niemand kämpft … haut uns um … schießt wie Gaston …«.

Lass gut sein, sagte er sich. Dieser Fremde hat sich nur einen Scherz auf deine Kosten erlaubt …

Eigentlich dürfte das Zusammenstellen der Teams nur eine Sache von Sekunden sein. Jedes Kind hatte in den unterschiedlichen Kategorien einen Punktwert zwischen 1 und 10 erhalten: Schlägerführung, Geschwindigkeit, Kraft, Passen und so weiter. Die Zahlen wurden addiert und ein Durchschnitt gebildet. Theoretisch brauchte man nur die ersten achtzehn auf der Liste in die erste Mannschaft und die nächsten achtzehn in die zweite Mannschaft zu stecken, und der Rest war halt raus und kam in die House-Teams. Ganz einfach. Aber natürlich mussten sich die Trainer vergewissern, dass ihre eigenen Söhne in den Teams waren, die sie trainierten.

Okay, erledigt.

Dann gingen sie die Ranglisten durch. Alles lief reibungslos bis zur letzten Nominierung für die zweite Mannschaft.

»Jimmy Hoch muss da rein«, verkündete Gaston. Es kam selten vor, dass Bob Baime etwas einfach nur sagte. Meistens verkündete er es.

Einer seiner unscheinbaren Assistenztrainer – Adam kannte seinen Namen nicht – sagte: »Aber Jack und Logan haben höhere Punktzahlen.«

»Ja, das stimmt«, verkündete Gaston. »Aber ich kenne den Jungen. Jimmy Hoch. Er spielt besser als die anderen beiden. Er hatte bloß Pech beim Vorspielen.« Er hustete in seine Faust und fuhr dann fort: »Jimmy hat ein hartes Jahr hinter sich. Seine Eltern haben sich scheiden lassen. Wir müssen ihm eine Chance geben und ihn ins Team holen. Wenn also niemand etwas dagegen hat …«

Er wollte Jimmys Namen aufschreiben.

Adam hörte sich sagen: »Doch, hab ich.«

Alle sahen ihn an.

Gaston reckte das Kinn mit dem Grübchen in Adams Richtung. »Wie bitte?«

»Ich hab was dagegen«, sagte Adam. »Jack und Logan haben einen besseren Score. Wer von den beiden steht höher auf der Liste?«

»Logan«, sagte einer der Assistenztrainer.

Adam überflog seine Liste und sah die Punkte. »Ah, dann muss Logan ins Team. Er hat mehr Punkte und steht weiter oben auf der Liste.«

Die Assistenztrainer hielten für einen Moment die Luft an. Gaston war es nicht gewöhnt, dass seine Entscheidungen in Frage gestellt wurden. Er beugte sich vor und bleckte seine großen Zähne. »Nichts für ungut, aber Sie sind nur als Vertretung für Ihre Frau hier.«

Er sprach das Wort Frau mit einem herablassenden Tonfall aus, als sei man in Vertretung einer Frau kein echter Mann.

»Sie sind ja nicht mal Assistenztrainer«, fuhr er fort.

»Das stimmt«, sagte Adam. »Aber ich kann Zahlen lesen, Bob. Logans Durchschnitt liegt bei sechs Komma sieben Punkten. Jimmys nur bei sechs Komma vier. Selbst in der modernen Mathematik ist sechs Komma sieben mehr als sechs Komma vier. Ich kann es auch in einem Diagramm darstellen, wenn das hilft.«

Gaston war nicht angetan von der Ironie. »Wie ich schon sagte, gibt es da besondere Umstände.«

»Die Scheidung?«

»Genau.«

Adam sah die Assistenztrainer an. Die hatten plötzlich etwas Faszinierendes auf dem Fußboden vor ihren Füßen entdeckt. »Na dann, wissen Sie denn, wie es bei Jack oder Logan zu Hause aussieht?«

»Ich weiß, dass die Eltern noch zusammen sind.«

»Das ist jetzt also der ausschlaggebende Faktor?«, fragte Adam. »Sie führen doch eine wirklich gute Ehe, oder, Ga…« Fast hätte er ihn Gaston genannt. »Bob?«

»Ja?«

»Sie und Melanie. Sie sind doch das glücklichste Paar, das ich kenne, oder etwa nicht?«

Die kleine, blonde, kesse Melanie blinzelte, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. Gaston legte ihr gern in der Öffentlichkeit die Hand auf den Hintern, weniger, um seine Zuneigung oder sein Begehren zu zeigen, als vielmehr um zu demonstrieren, dass sie ihm gehörte. Jetzt lehnte er sich zurück und versuchte seine Worte vorsichtig abzuwägen. »Ja, wir führen eine gute Ehe, aber …«

»Dann müssten wir Ihrem Sohn doch mindestens einen halben Punkt abziehen, oder? Damit hätte Bob Junior noch, Moment, sieben Komma drei. Also zweite Mannschaft. Ich meine, wenn wir Jimmy mehr Punkte geben, weil seine Eltern Probleme haben, dann müssen wir Ihrem Sohn doch eigentlich welche abziehen, weil Sie beide so verdammt perfekt sind?«

Einer der anderen Assistenztrainer fragte: »Adam, ist alles okay mit Ihnen?«

Adam fuhr herum. »Alles bestens.«

Gaston öffnete und schloss die Fäuste.

»Corinne hat das alles erfunden. Sie war nicht schwanger.«

Adam begegnete dem Blick des Größeren und erwiderte ihn. Komm schon, du Held, dachte Adam. Komm mir ausgerechnet heute Abend dumm. Gaston war einer von diesen großen, muskelbepackten Kerlen, denen man sofort ansah, dass alles nur Show war. Über Gastons Schulter hinweg sah Adam, dass Tripp Evans überrascht zu ihnen herüberguckte.

»Wir sind hier nicht vor Gericht«, sagte Gaston und zeigte die Zähne. »Das geht zu weit.«

Adam hatte seit vier Monaten kein Gericht mehr von innen gesehen, machte sich aber nicht die Mühe, Gaston zu korrigieren. Er hielt seine Zettel hoch. »Die Bewertungen wurden nicht zum Spaß erstellt, Bob.«

»Und wir sind auch nicht zum Spaß hier«, sagte Gaston und fuhr sich durch die schwarze Mähne. »Sondern als Trainer. Als diejenigen, die die Jungs seit Jahren kennen. Die letzte Entscheidung liegt bei uns. Die letzte Entscheidung liegt bei mir als Cheftrainer. Jimmy hat die richtige Einstellung. Auch das ist wichtig. Wir sind keine Maschinen. Wir nutzen alle verfügbaren Mittel und wählen die Jungs aus, die es am meisten verdienen.« Er breitete die riesigen Hände aus und versuchte, Adam wieder in den Schoß der Familie zurückzuholen. »Und mal ehrlich, es geht um den letzten freien Platz in der zweiten Mannschaft. So wichtig ist das auch wieder nicht.«

»Für Logan ist das bestimmt sehr wichtig.«

»Ich bin der Cheftrainer. Die letzte Entscheidung liegt bei mir.«

Die Menge im Saal fing an, sich zu zerstreuen. Die ersten gingen schon. Adam öffnete den Mund und wollte noch mehr sagen, aber wozu? Er würde den Streit nicht gewinnen. Warum hatte er ihn überhaupt angefangen? Er wusste nicht einmal, wer dieser Logan war. Die ganze Sache diente ihm nur als Ablenkung von dem Chaos, das der Fremde hinterlassen hatte. Sonst nichts. Das war ihm klar. Er stand auf.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte Gaston und reckte seine Kinnlade so deutlich in seine Richtung, dass sie geradezu zum Draufschlagen einlud.

»Ryan ist in der ersten Mannschaft, oder?«

»Ja.«

Deshalb war Adam hier – um sich, falls erforderlich, für seinen Sohn einzusetzen. Erledigt. Der Rest war Beiwerk. »Gute Nacht zusammen.«

Adam ging zurück an die Bar. Er nickte Len Gilman zu, dem Polizeichef, der gern hinter der Bar stand, weil sich dann weniger Leute betrunken hinters Steuer setzten. Len erwiderte das Nicken und schob Adam eine Flasche Bud herüber. Adam drehte den Schraubverschluss mit etwas zu viel Schwung auf. Tripp Evans erschien neben ihm, und Len schob auch ihm ein Bud hin. Tripp hob es hoch und stieß mit Adam an. Die beiden tranken schweigend ihr Bier, während sich das Meeting auflöste. Abschiedsgrüße wurden gerufen. Gaston erhob sich dramatisch – er war gut in dramatischen Gesten – und warf Adam einen grimmigen Blick zu. Adam hob die Flasche in seine Richtung und prostete ihm zu. Gaston stürmte davon.

»Machst du dir Freunde?«, fragte Tripp.

»Ich kann eben gut mit Leuten«, sagte Adam.

»Du weißt aber schon, dass er Vizepräsident des Komitees ist?«

»Ich sollte niederknien, wenn ich ihn das nächste Mal sehe«, sagte Adam.

»Und ich bin der Präsident.«

»In dem Fall brauch ich Knieschoner.«

Tripp nickte, der Spruch gefiel ihm. »Bob hat’s im Moment nicht leicht.«

»Bob ist ein Arschkeks.«

»Ja, schon wahr. Weißt du, wieso ich immer noch Präsident bin?«

»Weil die Mädels drauf stehen?«

»Das auch, klar. Und weil Bob mein Nachfolger wäre, wenn ich zurücktrete.«

»Schauder.« Adam wollte sein Bier absetzen. »Ich geh jetzt lieber.«

»Er ist arbeitslos.«

»Wer?«

»Bob. Hat vor über einem Jahr seinen Job verloren.«

»Tut mir leid für ihn«, sagte Adam. »Aber das ist keine Entschuldigung.«

»Hab ich auch nicht gesagt. Ich wollte bloß, dass du im Bilde bist.«

»Verstanden.«

»Also«, fuhr Tripp Evans fort, »hat Bob sich diesen Headhunter gesucht, der ihm bei der Jobsuche hilft – einen wichtigen, ganz bedeutenden Headhunter.«

Adam stellte das Bier hin. »Und?«

»Und dieser wichtige Headhunter sucht einen neuen Job für Bob.«

»Sagtest du schon.«

»Und dieser Headhunter heißt Jim Hoch.«

Adam hielt inne. »Der Vater von Jimmy Hoch?«

Tripp antwortete nicht.

»Deshalb wollte er Jimmy im Team haben?«

»Dachtest du, Bob interessiert sich dafür, ob die Eltern geschieden sind?«

Adam schüttelte nur den Kopf. »Und das ist dir egal?«

Tripp zuckte die Schultern. »Wir leben hier nicht in Wolkenkuckucksheim. Wenn sich Eltern in den Sport einmischen, den ihre Kinder treiben, dann sind sie wie Löwinnen mit Nachwuchs. Manchmal kommt jemand ins Team, weil die Eltern Nachbarn sind. Manchmal kommt jemand ins Team, weil die Mutter heiß ist und sich bei den Spielen aufreizend kleidet …«

»Das weißt du aus eigener Anschauung?«

»Ich bekenne mich schuldig. Und manchmal kommt jemand ins Team, weil sein Papa dem Trainer einen Job verschaffen kann. Scheint mir ein besserer Grund zu sein als die meisten anderen.«

»Mann, dafür, dass du aus der Werbebranche kommst, bist du ganz schön zynisch.«

Tripp lächelte. »Ja, ich weiß. Darüber haben wir uns doch schon öfter unterhalten: Wie weit würdest du gehen, um deine Familie zu beschützen? Unter normalen Umständen würdest du niemandem ein Haar krümmen. Ich genauso wenig. Aber wenn jemand deine Familie bedroht, wenn du dein Kind retten musst …«

»Dann werden wir zu Mördern?«

»Jetzt sieh dich um, mein Freund.« Tripp breitete die Arme aus. »Diese Stadt, diese Schulen, diese Sportprogramme, diese Kinder, diese Familien – manchmal lehne ich mich zurück und kann es nicht glauben, wie gut wir es haben. Der reinste Traum, sag ich dir.«

Adam wusste das. Im Prinzip jedenfalls. Er hatte sich vom unterbezahlten Pflichtverteidiger zum überbezahlten Anwalt für Enteignungsrecht hochgearbeitet, um diesen Traum bezahlen zu können. Er fragte sich, ob es das wert war. »Und wenn Logan es ausbaden muss?«

»Seit wann ist das Leben gerecht? Hör zu, ich hatte mal einen großen Autohersteller als Kunden. Du weißt schon, welchen ich meine. Und du hast sicher gerade erst in der Zeitung gelesen, dass sie ein Problem mit ihren Lenksäulen vertuscht haben. Viele Menschen wurden bei Unfällen verletzt oder sogar getötet. Diese Typen von der Autofirma sind richtig nett. Ganz normale Menschen. Wie kommt es, dass die das zulassen? Wie kann es angehen, dass die irgendeinen Kosten-Nutzen-Scheiß ausrechnen und Menschen sterben lassen?«

Adam wusste, worauf er hinauswollte, aber der Weg dorthin machte mit Tripp immer Spaß. »Weil sie korrupte Schweine sind?«

Tripp runzelte die Stirn. »Das stimmt nicht, und das weißt du auch. Die sind wie die Leute aus der Tabakindustrie. Sind die auch alle böse? Und was ist mit den ganzen Gläubigen, die Kirchenskandale vertuschen oder, was weiß ich, die Flüsse verschmutzen? Sind das alles einfach korrupte Schweine, Adam?«

So war Tripp – Vorstadt-Dad und Philosoph. »Sag du’s mir.«

»Es ist eine Frage der Perspektive, Adam.« Tripp lächelte ihn an. Er nahm seine Kappe ab, strich sich das dünner werdende Haar glatt und setzte die Kappe wieder auf. »Menschen sind nicht objektiv. Wir sind alle voreingenommen. Wir schützen immer unsere eigenen Interessen.«

»Mir fällt auf, dass deine Beispiele alle eins gemeinsam haben …«, sagte Adam.

»Was?«

»Geld.«

»Es ist die Wurzel allen Übels, mein Freund.«

Adam dachte an den Fremden. Er dachte an seine beiden Söhne, die gerade zu Hause waren und vermutlich Hausaufgaben machten oder am Computer spielten. Er dachte an seine Frau, die in Atlantic City auf irgendeiner Lehrerkonferenz war.

»Nicht die Wurzel allen Übels«, sagte er.