cover

ROBERT
LUDLUM

JAMIE FREVELETTI

DIE TAYLOR
STRATEGIE

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Norbert Jakober




Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Geneva Strategy

bei Grand Central Publishing, New York


Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links
vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten.
Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss.
Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.


Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.



Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.



Copyright © 2015 by MYN PYN, LLC

Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by arrangement with The Estate of Robert Ludlum
c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S. A.

Gesetzt aus der Aldus Nova

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München


ISBN 978-3-641-18059-1
V001

www.heyne.de

Für Barbara Poelle,
meine Agentin und Freundin,
die mit mir zu diesem Abenteuer
aufgebrochen ist.

Kapitel eins

Lieutenant Colonel Jon Smith war keine fünf Minuten gegangen, als er den Mann bemerkte, der ihm folgte. Ein zweiter stand weiter vorne an einer Straßenecke und zündete sich eine Zigarette an. Die Streichholzflamme offenbarte seine asiatischen Gesichtszüge. Zwischen den beiden erstreckte sich die dunkle Straße mit hohen Bäumen und Häusern. Und Smith.

Er kam von einer Cocktailparty im noblen Georgetown in Washington, die zu Ehren von Chang Ying Peng gegeben wurde, einem Mikrobiologen von Weltruf, der erst kürzlich aus einem chinesischen Gefängnis herausgeschmuggelt worden war. Dass einer der Männer, die ihn beschatteten, Asiate war, ließ Smith vermuten, dass es mit Peng zu tun hatte. Immerhin war er, so wie Peng, selbst Mikrobiologe. Die meisten Partygäste hatten hohe Positionen und Ämter inne, und Smith hielt es für durchaus wahrscheinlich, dass auch einige Undercover-Agenten von CIA und FBI anwesend waren, um dem Mann die eine oder andere Information zu entlocken. Diese Bemühungen blieben jedoch erfolglos, da die Anwältin, die eine Menschenrechtsorganisation dem Chinesen zur Verfügung stellte, ihren Schützling nicht aus den Augen gelassen hatte und sofort eingeschritten war, sobald jemand allzu tief bohrte.

Smith verlangsamte seine Schritte und schätzte seine Möglichkeiten ab. Vielleicht handelte es sich nur um FBI-Agenten, die alle Partygäste im Auge behielten, für den Fall, dass sich jemand mit feind­lichen Absichten eingesch­lichen hatte. Oder das Heimatschutzministerium? Während er sich dem Mann mit der Zigarette näherte, wurde er in seinen Spekulationen jäh unterbrochen. Der Asiate warf das Streichholz weg und griff mit der rechten Hand in sein Jackett, vermutlich um eine Pistole aus einem Holster zu ziehen.

Smith wandte sich nach links und rannte auf einem Gartenweg zwischen zwei Häusern hindurch. Hinter sich hörte er die Schritte des Asiaten, der sofort die Verfolgung aufnahm. Smith war über eins achtzig groß und musste sich ducken, um einem Erkerfenster auszuweichen, das den schmalen Weg noch mehr verengte. Zwischen den Häusern ging eine Sensorlampe an, die ihn in ihr grelles Licht tauchte. Ihn überfiel eine jähe Panik. Der Verfolger musste schon ein verdammt schlechter Schütze sein, um ihn auf diese Entfernung zu verfehlen. Smith gelangte zu einem Maschendrahttor, öffnete es und stolperte weiter. Weiter vorne versperrte ihm eine Garage mög­liche Fluchtwege, sodass ihm nur der Pfad geradeaus blieb. Er sprintete an der Garage vorbei und atmete erleichtert auf, als er den Garten des nächsten Hauses erreichte.

Er überquerte den Rasen und kam auf eine Straße, an deren Ende jedoch ein dritter Mann hinter einem Baum hervortrat. Instinktiv wandte er sich nach rechts und eilte den Gehsteig entlang. Ein kurzer Blick zurück verriet ihm, dass ihm der Mann mit der Zigarette immer noch auf den Fersen war.

Sie nahmen ihn in die Zange.

Die drei Männer näherten sich fast gemäch­lichen Schrittes in der Gewissheit, dass er ihnen nicht entwischen konnte.

Smith bog in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern ein und rannte los, sobald ihn seine Verfolger nicht mehr sehen konnten. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Kugelschreiber aus Edelstahl hervor. Als Militärarzt hätte er eine Waffe tragen dürfen, doch die Sicherheitsmaßnahmen bei der Cocktailparty waren streng, deshalb hatte er die Pistole zu Hause gelassen, um keine unangenehmen Fragen beantworten zu müssen. Er war auch unbewaffnet in der Lage, sich im Nahkampf zu verteidigen, dennoch hätte er in diesem Moment gerne eine etwas wirkungsvollere Waffe als einen Kugelschreiber zur Verfügung gehabt.

Er sprintete an einer Garage vorbei und gelangte in eine schmale Gasse. Zu seiner Linken stand ein Müllcontainer, der eine gewisse Deckung bot. Er schob ihn ein Stück zur Seite und ging dahinter in die Hocke.

Der erste Verfolger trat in die Gasse, ein Messer in der Hand und den Blick nach oben gerichtet, als halte er Ausschau nach etwas am Himmel. Smith sprang hinter dem Container hervor und stieß den Angreifer von hinten zu Boden. Er rammte ihm das Knie in den Rücken, packte ihn an den Haaren und knallte seinen Kopf mit dem Gesicht vor­aus gegen den Asphalt. Blut strömte aus der gebrochenen Nase, während Smith seine Wange am Boden fixierte und ihm den Kugelschreiber in die empfind­liche Stelle zwischen Ohrläppchen und Kiefergelenk drückte. Der Mann stöhnte vor Schmerz.

»Das Messer schön langsam weglegen. Keine Dummheiten, sonst renke ich dir den Kiefer aus und durchtrenne dir die Halsschlagader.«

Der Mann zog den rechten Arm unter seinem Körper hervor, und Smith legte den Kuli weg, griff sich das Messer und setzte es ihm an den Hals.

»Warum folgt ihr mir?«, fragte er.

Aus dem Augenwinkel nahm Smith Bewegung wahr und hörte zugleich ein mechanisches Summen. Im schwachen Licht der Gasse sah er etwas aufblitzen, das wie ein großes Insekt oder ein kleiner Vogel aussah. Es verharrte fünf, sechs Meter entfernt in der Luft und senkte sich plötzlich senkrecht herab. Der Mann stieß einen erschrockenen Laut aus. Smith sah nur ein Auge des Mannes, doch die Panik darin war offensichtlich.

»Was ist das?«, fragte er.

Der Mann begann sich zu wehren. Smith drückte mit dem Messer zu, und etwas Blut strömte aus der Stichwunde. Das summende Insekt flog näher heran, und der Mann wehrte sich immer verzweifelter. Smith verlagerte sein ganzes Gewicht auf das Knie, mit dem er den Mann am Boden fixierte.

Der zweite Verfolger tauchte am Ende der Gasse auf. Er trat näher, blieb jedoch abrupt stehen, als er das Insekt in der Luft bemerkte. Den Blick nicht von dem fliegenden Etwas gewandt, wich der Mann langsam zurück.

Der dritte Angreifer erschien neben dem zweiten und ging weiter, doch der andere legte ihm die Hand auf den Arm und deutete auf das Insekt. Der Mann wich ebenfalls zurück, und sie verharrten am Ende der Gasse und beobachteten die Szene. Abgesehen von einer Polizeisirene in der Ferne war nur das Summen des Fluginsekts zu hören. Es schwebte zu Smith herab und flog kerzengerade auf ihn zu.

»Greif ihn an, nicht mich!«, rief der Mann auf dem Boden. Er stemmte sich nach oben und versuchte vergeblich, Smith abzuwerfen.

Jetzt erkannte Smith, dass es sich nicht um ein lebendes Insekt handelte, sondern um eine Art ferngesteuertes Flugobjekt, das an eine riesige Heuschrecke erinnerte. Aus dem Kopf ragten zwei gezackte Stacheln hervor, und seine LED-Augen funkelten rot.

Was immer das ist – es ist sicher besser, es nicht zu nahe rankommen zu lassen, dachte Smith.

Als die kleine Flugmaschine nur noch knapp zwei Meter entfernt war, zog Smith den Mann auf die Knie hoch, drückte ihm das Messer in den Hals und hielt seinen Kopf in die Flugbahn des summenden Dings.

»Sag ihm, es soll stehen bleiben«, forderte er den Mann auf.

»Du musst ihn erwischen, nicht mich!«, rief der Mann verzweifelt. Das Insekt hüpfte auf und ab und umkreiste die beiden Männer in dem Bemühen, an Smith heranzukommen. Er zog den Mann auf die Beine und benutzte ihn als mensch­lichen Schutzschild.

»Du sollst ihm sagen, es soll stehen bleiben.« Smith drückte ihm das Messer tiefer in den Hals, und der Mann stöhnte vor Schmerz.

»Halt!«, rief er endlich. Das Insekt flog näher heran und wich wieder zurück, als ihm Smith das Gesicht des Mannes entgegenhielt.

»Ich lass dich nicht los, dann trifft es dich genauso. Schick es weg.«

»Ich kann es nicht steuern – das sehen Sie doch. Ich soll nur dafür sorgen, dass es an Sie herankommt.« Die Angst in seiner Stimme jagte auch Smith das Adrenalin durch die Adern.

»Dann wird es Zeit zum Rückzug.« Smith zog ihn rückwärts mit sich die Gasse hinunter.

»Vergiss es«, schnappte der Mann. »Du kannst ihm nicht entkommen. Am Ende erwischt es dich doch mit seinem Gift.« Er drehte sich zu den beiden anderen um, die am Ende der Gasse abwarteten. »Kommt und helft mir!«

Die zwei rührten sich nicht von der Stelle. Sie wagten sich nicht in die Nähe des Killerinsekts. Die kleine Maschine näherte sich von der Seite, und Smith riss den Mann herum. Im nächsten Augenblick schoss ein Rauchstrahl aus dem Kopf des ferngesteuerten Insekts und traf den anderen mitten im Gesicht.

Smith ließ ihn los, stolperte rückwärts und hielt sich die Nase zu. Die beiden Verfolger am Ende der Gasse traten ebenfalls den Rückzug an und achteten gar nicht auf Smith, sondern nur auf die Rauchwolke.

Smith wirbelte herum, sprintete los und hielt die Luft an, während er zwischen Mülltonnen hindurch die Gasse entlanglief. Eine Lampe nach der anderen flammte auf, die grellen Lichtblitze trieben ihm Tränen in die Augen, und seine Lunge brannte von dem Sprint mit angehaltenem Atem, doch er rannte weiter, um dem Insekt zu entkommen und den Männern keine Zielscheibe zu bieten.

Noch einmal blickte er sich um, als er das Ende der Gasse erreichte. Der Verfolger, den er überwältigt hatte, kniete wie gelähmt auf dem Asphalt. Im nächsten Augenblick stieg das seltsame Flugobjekt hoch, drehte sich in der Luft und flog geradewegs auf Smith zu.

Kapitel zwei

Smith hörte das Summen hinter sich und steigerte sein Tempo, als er aus der Gasse hervorschoss und den Bürgersteig entlangrannte auf der Suche nach einem geeigneten Versteck. Ein Haus oder ein Auto würde ihm Zuflucht bieten, irgendein geschlossener Raum, in den ihn dieses kleine Monster nicht folgen konnte. Sein eigenes Auto stand mehrere Straßen entfernt – wahrscheinlich zu weit, um sich das Ding vom Leib zu halten. Er bog an der nächsten Kreuzung ab und hatte Glück. Katherine Arden, die Anwältin des chinesischen Wissenschaftlers, schritt mit einem Schlüsselbund in der Hand den Bürgersteig entlang. Smith eilte zu ihr, nahm sie am Arm und zog sie mit sich, sodass sie unweigerlich schneller gehen musste.

»Ms. Arden, freut mich, Sie zu sehen. Hat Ihnen die Party gefallen? Sind Sie auf dem Weg nach Hause?«

Sie sah ihn etwas verwirrt an, löste ihren Arm aus seinem Griff und blieb stehen. Er wünschte, sie würde weitergehen, und blickte sich kurz um. Die Flugmaschine war ebenso wenig zu sehen wie seine Verfolger, und so wandte er sich ihr zu.

Sie zog die Stirn kraus. »Sie sind ein Wissenschaftler der Mayo-Klinik, nicht wahr?«

Smith schüttelte den Kopf. »Nicht Mayo.« Er sah sich nervös um.

»Stimmt irgendwas nicht?« Sie folgte seinem Blick.

»Ich glaube, ich werde verfolgt. Schon seit ich die Party verlassen habe.«

»Ah. Das wundert mich gar nicht, wenn man bedenkt, wie viele Agenten von FBI, CIA, NSA und weiß Gott wem sich auf der Party herumgetrieben haben. Falls es Sie tröstet – ich werde ständig beschattet.«

Er sah sie überrascht an. »Von wem?«

»Heute Abend wahrscheinlich von allen Behörden, aber die Buchstabensuppe meiner Verfolger ändert sich je nachdem, wen ich gerade vertrete. Ich betrachte es mittlerweile als Spiel, sie abzuschütteln.« Sie drückte auf den Knopf des Autoschlüssels und entriegelte die Türen ihres modernen Hybridautos, das an der Straße geparkt war. In diesem Augenblick sah Smith das Fluginsekt über einer Baumgruppe auftauchen. Das Summen war nicht laut, aber unverkennbar. Das Ding verharrte auf der Stelle und drehte sich langsam, wie um die Umgebung zu sondieren. In diesem Augenblick trat einer der Angreifer einen Block entfernt hinter einem Haus hervor. Sie hatten die Verfolgung wieder aufgenommen.

Arden drehte sich um und erblickte den Mann ebenfalls. »Ist er das?«

»Ja. Ich sehe, Sie haben Ihr Auto hier. Könnten Sie mich ein Stück mitnehmen? Schnell?«, bat er. Das Insekt hatte sich Smith zugewandt und ging in den Sinkflug.

»Okay, fahren wir. Mal sehen, ob ich diese Runde ge­­winne.«

Smith riss die Beifahrertür auf, sprang in den Wagen und sah erleichtert, dass es Arden genauso eilig hatte, sich ans Lenkrad zu setzen. Sie schlug die Autotür zu, verriegelte sie und startete den Motor, als das Fluginsekt neben dem Beifahrerfenster auftauchte. Smith betrachtete es aus der Nähe. Die LED-Augen leuchteten, und am Bauch war ein rot blinkendes Batteriesymbol zu erkennen. Das Ding schwankte, als gehe ihm der Strom aus, und flog gegen das Fenster. Smith zuckte zurück, obwohl er wusste, dass er durch das Glas geschützt war. Das Insekt prallte zurück und flog über das Autodach, wo es erst einmal verharrte.

Arden blickte zur Seite.

»Ein Insekt ist gegen das Fenster geflogen«, erklärte Smith. Fahr endlich los, dachte er.

Der zweite Verfolger tauchte im rechten Außenspiegel auf. Der Mann reckte den Hals, um zu sehen, wer am Lenkrad saß, doch er wagte sich nicht näher heran, solange das Insekt über dem Auto schwebte. Zu Smiths Erleichterung trat Arden aufs Gaspedal. Er hörte einen lauten Ruf, als sich das Auto in Bewegung setzte.

Sie beschleunigten schnell, rasten die Straße hinunter, bogen mit quietschenden Reifen ab und jagten eine lange Gerade entlang. Im Außenspiegel beobachtete Smith, wie der zweite Verfolger um die Ecke bog und lossprintete, doch nach wenigen Sekunden gab er es auf und blieb stehen. An der nächsten Kreuzung bog Arden links ab, und der Mann verschwand aus ihrem Blickfeld. Smith lehnte sich zurück und seufzte erleichtert.

Arden warf ihm einen kurzen Blick zu. »Keine Sorge. Das ist am Anfang etwas beängstigend, aber normalerweise ­machen sie keine Probleme. Jedenfalls nicht in meinem Fall.«

Für einen Moment glaubte Smith, sie spreche von dem Flugobjekt. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Aber natürlich meinte sie die Agenten, von denen sie beschattet wurde. Er nahm sich einige Augenblicke, um seine Optionen abzuwägen. Das Blinklicht des Fluginsekts bedeutete wohl, dass es nicht mehr allzu lange in Betrieb sein konnte. Arden raste durch die Straßen der Stadt und nahm die Kurven ruhig und sicher, sodass sie bald einen beträcht­lichen Vorsprung gegenüber dem fliegenden Monster herausgeholt hatten.

»Danke«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung, wer die waren, aber ich wollte es lieber nicht herausfinden.«

Sie nickte und nahm die nächste Kurve mit kurzem Reifenquietschen.

»Sie nehmen das ziemlich locker«, wunderte er sich.

»Wie gesagt, die beschatten mich regelmäßig. Neben Mr. Chang vertrete ich auch zwei Mandanten aus Guantanamo und einen Afrikaner auf der Flucht. Der dortige Diktator hat geschworen, ihn umzubringen. Außerdem hat eine extremistische Organisation eine Fatwa gegen mich ausgesprochen, um mich aus dem Weg zu räumen. Das ist schon ein paar Jahre her.« Sie zuckte mit den Schultern. »Irgendwie habe ich mich daran gewöhnt. Aber ich kann gut verstehen, dass man es mit der Angst zu tun bekommt. Ich weiß, wie es ist, wenn einen die geballte Macht von Regierungsbehörden und Militärindustrie ins Visier nimmt.«

Smith wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Er betrachtete ihr Profil, während er sich eine Antwort überlegte. Sie war etwa fünfunddreißig und trug ihre gebleichten Haare in einem kurzen Männerhaarschnitt, der ihre feinen Gesichtszüge betonte. Ihre Haut war von einer fast durchscheinenden Blässe, hinter der Smith eine vegane Lebensweise oder einen Mangel an frischer Luft vermutete. Sie trug einen Diamantstecker in dem Ohr, das ihm zugewandt war. Für eine Frau war sie ziemlich groß, und ihr maßgeschneiderter marineblauer Hosenanzug betonte ihre schlanke, fast magere Figur. Die große Herrenuhr mit analogem Zifferblatt und breitem Lederarmband wirkte etwas zu wuchtig an ihrem zarten Handgelenk.

»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen«, wich Smith aus.

Sie warf ihm einen wissenden Blick zu und wandte sich wieder der Straße zu.

»Ich will damit sagen, dass die Gäste der heutigen Party auf die Überwachungsliste der NSA kommen. Am besten trennen Sie sich von Ihrem Handy und besorgen sich ein billiges Einweghandy.« Ihre Stimme klang ein wenig amüsiert.

»Ich habe nichts getan, um die Aufmerksamkeit dieser Leute auf mich zu ziehen. Das war ein Scherz von Ihnen, oder?«

»Keineswegs. Vor unseren Regierungsbehörden ist niemand mehr sicher.«

Smith hätte beinahe die Augen verdreht, zwang sich jedoch zu einer höf­lichen Antwort.

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Lieutenant Colonel Jon Smith und arbeite als Mikrobiologe am USA­MRIID, am militärischen Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten in Fort Detrick, Maryland. Damit gehöre ich vermutlich auch zu diesen Kreisen von Regierungs­behörden und Militärindustrie, von denen Sie gesprochen haben.«

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Ich fürchte, das wird Sie auch nicht schützen. Die spionieren auch den eigenen Leuten nach.«

»O nein, Sie sind ein Fan von Verschwörungstheorien.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin Realistin. Und heute war es nicht ich, die von einem Kerl im Anzug durch die Straßen gejagt wurde. Soll ich Sie zur nächsten Polizeiwache bringen?«

Smith atmete aus und schaute aus dem Fenster. Ihre Ansichten mochten etwas extrem sein, doch sie hatte nicht ganz unrecht. Die Männer hatten tatsächlich wie Undercover-Agenten von FBI, CIA oder Heimatschutz ausgesehen, und das mysteriöse Flugobjekt, das ihn gejagt hatte, schien eine lähmende Droge enthalten zu haben, die ihn lange genug bewegungsunfähig gemacht hätte, damit ihn die drei Agenten hätten entführen können. Vielleicht wollte ihn jemand vernehmen. Er würde sich zuerst an seine Kontakte wenden, bevor er den Vorfall meldete.

»Nein danke. Ich regle das über meine Kanäle. Vielleicht könnten Sie mich zur nächsten Metro-Station bringen. Von dort kann ich nach Hause fahren.«

»Kein Auto?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich war gerade unterwegs zu meinem Wagen, als ich merkte, dass ich verfolgt werde. Besser, ich geh nicht zurück.«

»USA­MRIID. Hat das FBI nicht einen Ihrer Kollegen beschuldigt, hinter dem Anthrax-Anschlag vor einigen Jahren zu stehen, bei dem mehrere Leute ums Leben kamen?« Sie hielt an einer roten Ampel und sah ihn an.

Smith spürte leichten Ärger in sich aufsteigen, unterdrückte ihn jedoch gleich wieder. »Gegen zwei Wissenschaftler wurde ermittelt, und von einem nahm man an, dass er verwickelt war. Eindeutige Beweise wurden jedoch nicht gefunden.«

»Vielleicht wollen die Sie deshalb drankriegen.«

Smith hatte genug. »Danke fürs Mitnehmen.« Er öffnete die Autotür und stieg aus. Die Ampel sprang auf Grün, doch das Auto fuhr nicht los. Stattdessen ging das Beifahrerfenster nach unten, und sie beugte sich zu ihm herüber.

»Ich wollte Sie nicht verärgern. Hier ist weit und breit keine Metro-Station.«

Der Fahrer hinter ihr hupte, und Smith trat zurück auf den Bürgersteig, während sie rechts ranfuhr und den Warnblinker einschaltete. Das Auto fuhr unter lautem Hupen an ihr vorbei. Sie zeigte dem Fahrer den Vogel, und Smith ­lächelte unwillkürlich. Sie drehte sich zu ihm um.

»Als Kind lernte ich zwar, was recht ist, aber nicht, meine Launen zu beherrschen«, erklärte sie.

»Das merkt man. Wo habe ich das schon mal gehört?«

»Jane Austen, Stolz und Vorurteil. Darcy sagt es. Steigen Sie ein, Lieutenant Colonel, und ich verspreche, Ihren Stolz nicht noch mal zu verletzen.«

Smith gab nach und setzte sich in den Wagen. »Stolz und Vorurteil? Nach Ihrem Ruf hätte ich eher ein Zitat aus Die Kunst des Krieges erwartet.«

Sie lächelte und fuhr los. »›Wer keine Voraussicht walten lässt und seine Gegner unterschätzt, wird ihnen sicher in die Falle gehen.‹ Sun Tsu wusste schon, wovon er sprach. Ich unterschätze nie einen Gegner. Schon gar nicht, wenn es ein so mächtiger ist wie die Regierungsbehörden.«

»Sind Sie immer so unverblümt?«, fragte er.

Sie nickte. »Immer. Letztlich spart man damit Zeit. Jemand, der die Wahrheit nicht verträgt, passt nicht in meine Welt. Es ist zu anstrengend, den Leuten etwas vorzuspielen. Manche sind eben zu schwach, um die Dinge zu ertragen, mit denen ich auf dem Gebiet der Menschenrechte täglich zu tun habe.«

»Heißt das, Sie haben viele brisante Fälle?«

Sie nickte. »Kann man wohl sagen. Nehmen Sie zum Beispiel Mr. Chang. Er wurde in einem chinesischen Gefängnis gefoltert.«

»Die Chinesen bestreiten das.«

»Ich weiß, aber ich glaube ihm. Übrigens – warum, glauben Sie, hat dieser Mann Sie beschattet?«

Smith schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Das ist schlecht. Wir werden nämlich verfolgt.«

Kapitel drei

Ein kurzer Blick in den Außenspiegel bestätigte, dass sie richtiglag. Ein Auto folgte ihnen.

»Biegen Sie so oft wie möglich ab«, riet Smith. Er zog sein Handy hervor und wählte eine private Nummer, von der er wusste, dass sie Tag und Nacht erreichbar war. Zusätzlich zu seinen Pflichten in Fort Detrick war Smith noch für Covert One tätig, eine geheime Sondereinheit, die direkt dem Präsidenten unterstand und ohne ­Aufsicht durch den Kongress operierte. Hier arbeitete Smith mit einem kleinen Team aus handverlesenen Agenten und Spezialisten aus verschiedenen Fachgebieten zusammen. In diesem Fall rief er eine hochrangige CIA-Agentin an.

»Mach’s kurz. Ich bin grad aufgewacht und brauche einen Kaffee.« Randi Russells Stimme klang dunkel, aber nicht unwirsch. Im Hintergrund hörte er Glas klimpern.

»Ich sitze im Auto einer bekannten Menschenrechtsanwältin und werde von Männern im Anzug verfolgt. Irgendeine Ahnung, wer die sein könnten?«, fragte Smith.

»Welche Anwältin?«

»Katherine Arden.«

»Okay, dann lass die Kerle rankommen, damit sie sie schnappen. Die Frau ärgert die Agency schon lange.«

»Sie hat nichts damit zu tun. Die sind hinter mir her.«

»Das ist schlecht. Aber wieso sitzt du im Auto der Anwältin? Verbündest du dich jetzt mit dem Feind?«

»Ich war auf einer Cocktailparty für Chang Ying Peng, bei der vermutlich auch viele deiner CIA-Kollegen anwesend waren. Und wenn wir schon dabei sind – könntest du jemanden zu folgender Adresse schicken?« Er nannte ihr die Straße, in der die Auseinandersetzung stattgefunden hatte.

»Okay. Was soll dort sein?«

Er warf einen kurzen Blick auf Arden, während er überlegte, wie er es Russell erklären sollte.

»Es kann sein, dass einer der Männer über meinen Fuß gestolpert ist und sich verletzt hat.«

Aus dem Augenwinkel sah er die Anwältin spöttisch grinsen.

»Hmm. Wie schlimm ist es? Kann es sein, dass es etwas Gravierenderes zu bereinigen gibt?«

»Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Das ist noch nicht alles … ich erzähle es dir später.«

»Okay. Halt durch. Ich ruf dich zurück.«

Arden bog zweimal ab und fuhr bei Gelb über eine Kreuzung. Der Verfolger musste anhalten, als die Ampel auf Rot sprang und sich der Querverkehr in Bewegung setzte.

»Ich habe unfreiwillig mitgehört. Haben Sie eben mit einem CIA-Agenten gesprochen?«

Smith deutete auf eine schmale Straße zur Rechten. »Biegen Sie hier ab. Da kommen Sie zu einer Straße, die um diese Uhrzeit oft leer ist. Dort können Sie auf die Tube drücken.«

Sie folgte seinem Rat und warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Wären Sie bereit, mich als Anwältin zu vertreten?«, fragte er.

Sie hob eine Augenbraue. »Sicher. Aber hat das Militär nicht seine eigenen Leute?«

»Hier.« Er griff in seine Brieftasche und legte einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Konsole zwischen den Vordersitzen. »Jetzt sind Sie meine Anwältin, und es gelten die üb­lichen Regeln zwischen Anwalt und Mandant. Sie dürfen also nicht darüber sprechen, was Sie gerade gehört haben, stimmt’s? Außerdem war das nur ein Versprecher.« Sein Handy klingelte, das Display zeigte »RR« an.

»Gute Neuigkeiten?«, fragte er Randi Russell.

»Leider nein. Das lokale FBI-Büro bestreitet jeg­liches Interesse an dir. Sie behalten zwar Arden routinemäßig im Auge, hatten aber heute niemanden auf sie angesetzt, weil ohnehin drei Agenten auf der Cocktailparty waren. Das Gleiche gilt für die CIA. Deine Verfolger müssen also für eine andere Organisation arbeiten. Einer unserer Leute von der Party war noch in der Gegend und ist in die Gasse gefahren. Er hat nichts gefunden. Wie’s aussieht, haben diese Leute ihren Schlamassel selbst bereinigt. Das FBI hat seine Hilfe angeboten. Soll ich dir eine offizielle Eskorte schicken?«

Er warf einen Blick in den Außenspiegel. »Es ist niemand mehr zu sehen. Wir haben sie mög­licherweise abgeschüttelt, aber es könnte sein, dass ein zweites Team bei meinem Haus wartet. Ich wär dir dankbar, wenn du es checken lassen könntest. Außerdem hab ich meinen Wagen bei dem Haus zurückgelassen, in dem die Party stattgefunden hat. Wär schön, wenn ich so schnell wie möglich einen zur Verfügung hätte.«

»Ich kümmere mich darum. Falls du eine unbekannte Nummer auf deinem Handy siehst, geh ran. Es wird dein Bodyguard sein, der dir sagt, wie es bei dir zu Hause aussieht und wie du zu einem Auto kommst. Trotzdem würde ich dir raten, jetzt nicht heimzufahren.«

»Alles klar. Ich habe sowieso im Labor noch einigen Papierkram zu erledigen.« Er nannte ihr die Station, an der er in die U-Bahn einsteigen würde.

»Ich sag ihnen, sie sollen irgendwo an der Metro-Linie ein Auto bereitstellen«, versprach Randi. »Ist das alles?«

Smith stockte einen Moment. Er wollte ihr von dem mysteriösen Flugobjekt und dem betäubten Mann in der Gasse erzählen, aber nicht, solange Arden mithören konnte.

»Ich kontaktiere …« Smith zögerte erneut. Er wollte ihr mitteilen, dass er Nathaniel »Fred« Klein anrufen würde, den Leiter von Covert One, doch auch das durfte die Anwältin nicht wissen. »… unseren gemeinsamen Freund. Um den Rest kümmere ich mich selbst.«

»Also, das klingt wirklich geheimnisvoll. Bei Gelegenheit würde ich es selbst gerne hören.«

»Oh, das wirst du. Danke jedenfalls. Du hast was bei mir gut.«

»Jederzeit wieder«, gab Randi zurück.

Er wandte sich an Katherine Arden. »Wie’s aussieht, haben wir sie abgeschüttelt, aber biegen Sie zur Sicherheit hier links ab.« Sie tat es. Wenige Minuten später seufzte sie erleichtert.

»Ich sehe niemanden mehr hinter uns.« Sie gab ihm die zwanzig Dollar zurück. »Ich sage es ungern, aber ich würde einen deutlich höheren Vorschuss berechnen. Aber keine Angst – Ihr Versprecher ist bei mir gut aufgehoben.«

Smith glaubte ihr. Er steckte das Geld ein. »Ich steige bei der Metro-Station aus.« Er deutete auf das Schild einen halben Block vor ihnen.

Sie fuhr rechts ran. »Also, Mr. Smith, es war eine interessante und aufschlussreiche Fahrt. Sollten Sie wirklich einmal eine Anwältin brauchen, rufen Sie an.«

»Danke, ich werd’s mir merken.« Er meinte es ernst. Sein Handy summte; es war eine Nachricht von einer unbekannten Nummer, in der ihm mitgeteilt wurde, an welcher Metro-Station ein Auto auf ihn wartete. Er stieg aus, eilte die Treppe hinunter und sah zu seiner Erleichterung eine U-Bahn einfahren. Zwanzig Sekunden später war er unterwegs ins Labor.

Kapitel vier

Die Entführer kamen um Mitternacht. Verteidigungsstaatssekretär Carter Warner hatte soeben sein Haus außerhalb von Washington, D.C., betreten, da zog ihm jemand eine Kapuze über den Kopf und legte ihm einen Strick um den Hals. Ein Schlagstock riss ihm die Beine weg. Nach dem ersten Schock besann sich Warner seiner militärischen Ausbildung und begann sich zu wehren. Er hatte in Vietnam gedient, und die folgenden vierzig Jahre als Zivilist hatten zwar seine Reflexe verlangsamt und seinen Körper altern lassen – sein Lebenswille war jedoch ungebrochen.

Er lag flach auf dem Rücken und konnte nichts sehen, also setzte er seine Füße ein und trat wütend um sich. Zweimal traf er ins Ziel, wie ihm das Stöhnen eines Angreifers verriet, der sich mit wuchtigen Tritten in die Rippen revanchierte. Warner stöhnte vor Schmerz, als sich der stahlkappenbewehrte Schuh in seine Seite bohrte. Ein zweiter Angreifer drehte ihn auf den Bauch, riss seine Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. Der Strick um seinen Hals drohte ihm die Luftröhre zuzuschnüren, und in diesem Moment wusste er, dass der Kampf mit körper­lichen Mitteln nicht zu gewinnen war.

Seinen Aufstieg auf der politischen Karriereleiter der Hauptstadt verdankte Warner seiner herausragenden Intelli­genz, gepaart mit einem klaren Blick für das Machbare. Er zwang sich zur Ruhe und bemühte sich, die Angst im Zaum zu halten. Während sie ihm die Füße fesselten und ein Stück Stoff als Knebel um das von der Kapuze verhüllte Gesicht banden, versuchte er sich darauf zu konzentrieren, was er tun konnte. Sie hoben ihn zu zweit hoch und trugen ihn über den Flur in den hinteren Bereich des Hauses, wo sie ihn auf den Boden legten. Er hörte mehrere Pieptöne, als einer der Angreifer seinen Computer im Arbeitszimmer hochfuhr, das er sich in dem schmalen Stadthaus eingerichtet hatte. Der PC gab die gewohnten Töne von sich, als er Zugang zur Festplatte gewährte.

Woher haben sie mein Passwort?, fragte er sich.

Als Staatssekretär besaß er eine hohe Sicherheitsfreigabe, ein von der Regierung zur Verfügung gestelltes PC-System und ein Handy mit Sicherheitsvorkehrungen, die von den besten Köpfen der Anti-Cyberterror-Einheit im Heimatschutzministerium und der geheimen Abteilung für Militärkommunikation in Fort Meade entwickelt worden waren. Was er nicht hatte, war der Schutz durch den Secret Service, der nur den höchsten Repräsentanten des Staates zuteilwurde.

Warner hatte auf dem Computer zu Hause nie mit geheimem Material gearbeitet – es war nicht erlaubt, wofür er nun dankbar war, während er den schnellen Tippgeräuschen lauschte. Sie konnten alltäg­liche E-Mails zwischen ihm und seiner Sekretärin lesen, würden aber nichts finden, was für die nationale Sicherheit relevant war. Er lag auf dem Boden und hörte sein eigenes schweres Atmen sowie das des Angreifers neben ihm, während sein Partner am PC saß. Das Klicken stoppte, und Warner spürte jemanden an seiner Schulter.

»Wir haben Ihrer Sekretärin geschrieben, dass Sie krank sind und heute nicht ins Büro kommen. Ich wähle jetzt die Nummer Ihrer Sekretärin und halte Ihnen das Telefon ans Ohr. Sie werden eine Nachricht hinterlassen und ihr erklären, dass Sie eine Erkältung haben und nicht gestört werden wollen. Sagen Sie ihr, dass sie die Information weitergeben soll. Falls Sie irgendetwas anderes sagen, schneide ich Ihnen die Kehle durch. Nicken Sie, wenn Sie mich verstanden haben.«

Warner nickte. Er hörte ein Rascheln, spürte, wie ihm der Knebel entfernt wurde, und zuckte zusammen, als eine Hand unter die Kapuze glitt und ihm den Telefonhörer ans Ohr hielt. Als er den Piepton hörte, tat er, was von ihm verlangt wurde. Danach hoben ihn die Angreifer auf und trugen ihn zur Hintertür.

Als Realist war Warner den harten Tatsachen des Lebens noch nie ausgewichen; ihm war klar, dass er von den Leuten, die ihn gerade in ein wartendes Fahrzeug steckten, keine mensch­liche Behandlung erwarten konnte. Wenn die Folter begann – denn dass es darauf hinauslief, bezweifelte er nicht –, musste er mental vorbereitet sein. Er hörte den Motor starten und spürte das Vibrieren, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Er lag in der Dunkelheit und betete.

Richard Meccean, der Gesundheitsminister der Vereinigten Staaten, war zum letzten Mal an diesem Tag mit seinem Hund unterwegs, als er schnelle Schritte hinter sich hörte. Als er sich umdrehte, sah er zwei vermummte Männer auf sich zulaufen. Sein Hund, ein Weimaraner-Dobermann-Mischling, reagierte augenblicklich. Die Hündin nahm eine drohende Haltung ein und bellte so wütend, dass ihr ganzer Körper zitterte. Einer der Männer schoss den Hund mit einer schallgedämpften Pistole nieder, der andere drückte Meccean die Waffe in den Rücken. Ein Van kam neben ihnen zum Stehen, und Meccean wurde in den Wagen gezerrt. Während sie ihn fesselten, musste Meccean an seinen Hund denken, der hilflos auf der Straße lag. Eine Träne lief ihm über die Wange.

Nick Rendel saß vor einem Computerbildschirm in seinem Arbeitszimmer und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch, während er darauf wartete, dass eine Seite geladen wurde, als plötzlich der Sicherheitsalarm im Haus losging. Ein kleiner Monitor bei der Tür zeigte zwei schwarz gekleidete Männer, die durch den Hintereingang eindrangen und zu ihm nach vorne rannten.

Rendel, ein schlanker Mann Ende zwanzig, schaltete mit ein paar raschen Mausklicks mehrere Monitore ein und zog eine Pistole aus der Schublade. Mit der Beretta in der einen Hand, bearbeitete er mit der anderen die Tastatur. Während die Computerseite geladen wurde, stürmten die Männer in sein Arbeitszimmer.

»Was wollen Sie?«, fragte Rendel.

»Legen Sie die Waffe auf den Boden. Langsam«, forderte ihn einer der Männer auf. Sein Englisch war mit einem ausgeprägten osteuropäischen Akzent gefärbt. Rendel ließ die Waffe sinken und warf einen Blick auf die Alarmanlage an der Wand gegenüber.

Sie haben das System außer Gefecht gesetzt, dachte Rendel.

Der Mann nickte, als hätte er seinen Gedanken gelesen. »Es ist ausgeschaltet und wird nicht die Polizei verständigen. Und dieser Knopf in Ihrem Humidor wird auch nicht funk­tionieren. Stehen Sie auf und gehen Sie zur Hintertür.«

Rendel ging auf den Mann zu, der zur Seite trat, um ihn vorbeizulassen. Im Flur sah er, dass die Hintertür offen war und von einem dritten vermummten Mann bewacht wurde. An der Tür drehte sich Rendel zu dem Entführer um.

»Kann ich die Schuhe anziehen?« Er deutete auf die Straßenschuhe neben der Tür.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Wo Sie hingehen, brauchen Sie sie nicht. Hausschuhe genügen.« Er gab dem Bewaffneten an der Tür eine Anweisung in einer fremden Sprache und drückte Rendel die Pistole in den Rücken. »Weiter zu dem Van draußen.«

Rendel warf einen kurzen Blick auf die Sicherheitskamera von der Größe einer Zigarettenpackung in einer Ecke des Flurs. Das LED-Licht leuchtete rot. Als sie ihn Sekunden später im Van fesselten, dachte er an die Konsequenzen der Entführung. Spätestens nach achtundvierzig Stunden würde jemand Verdacht schöpfen, weil er nicht zur Arbeit erschien, und weitere vierundzwanzig Stunden später würde die Polizei zu ermitteln beginnen. Falls sie ihn durch einen glück­lichen Zufall finden sollten, glaubte Rendel nicht, dass ein Rettungsversuch glücken würde. Die Leute, die ihn in diesem Van festhielten, waren professionell, entschlossen und absolut tödlich.

Kapitel fünf

Smith fand den Mietwagen an der angekündigten Stelle. Der Schlüssel lag unter der Fußmatte, und während der Fahrt zum Büro überlegte er, wie er vorgehen sollte. Vor allem fragte er sich, was er bezüglich der unbekannten Verfolger und der Drohne unternehmen sollte – denn nichts anderes war das seltsame Flugobjekt. Er rief schließlich Mark Brand an, mit dem er bereits in einem Covert-One-Fall in New York zusammengearbeitet hatte und der hauptberuflich beim FBI beschäftigt war. Mit Erleichterung hörte er die verschlafen klingende Stimme am Telefon.

»Brand? Jon Smith hier. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe, aber Sie haben doch mal erwähnt, ich könne jederzeit anrufen, falls ich ein Problem habe. Jetzt habe ich eins.« Smith hörte ein Rauschen am anderen Ende, und die eintretende Pause ließ ihn annehmen, dass Brand nicht mit ihm sprechen wollte. »Sind Sie noch da?«, fragte er.

»Ja. Es ist eine Weile her – aber als ich damals sagte, Sie können mich anrufen, hab ich es auch so gemeint. Um welches Problem handelt es sich?«

Smith erzählte ihm von dem Angriff und der Drohne. »Ein Kollege von Ihnen hat sich in der Gasse umgesehen – die Männer und die Drohne waren schon weg.«

»Hat dieser Chang nicht für das chinesische Verteidigungsministerium gearbeitet?«

»Ja. Er ist sozusagen das chinesische Pendant zu mir: ein Mikrobiologe, der in der Biowaffenforschung tätig war. Die Chinesen steckten ihn ins Gefängnis, als er ausplauderte, dass die Behörden illegale Tests an der Bevölkerung durchführten. Er wurde wegen Hochverrats angeklagt.«

»Vielleicht wollen die Chinesen herausfinden, ob Sie etwas von Chang erfahren haben.«

Smith rieb sich das Gesicht. Er hatte eine lange Nacht hinter sich, und die Vorstellung, die Chinesen könnten annehmen, dass er Dinge wisse, von denen er in Wahrheit keine Ahnung hatte, trug nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte.

»Das wäre denkbar, aber man muss schon sehr paranoid sein zu glauben, dass zwei Mikrobiologen auf einer Cocktailparty über geheime militärische Forschungsergebnisse plaudern.«

»Glauben Sie mir, die Chinesen sind sehr paranoid, wenn es um ihre militärischen Geheimnisse geht. So wie wir auch. Am meisten Sorgen macht mir die Drohne und diese Droge. Was zum Teufel kann eine solche Lähmung hervorrufen?«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Es gibt da verschiedene Substanzen. Herkömm­liche Drogen wie Marihuana oder LSD, oder auch Crystal Meth, wenn man es zum ersten Mal nimmt. Aber warum setzt man dafür eine Drohne ein? Nicht gerade eine effiziente Methode, um mich zu betäuben. Es wäre bedeutend einfacher gewesen, mir etwas in den Drink zu schütten.«

»Wissen Sie, was die Chinesen laut Chang getestet haben? Halten Sie es für denkbar, dass sie ihre Tests jetzt auch hier durchführen?«

»Das ist eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen muss.«

Brand stöhnte ins Telefon. »Das ist ein Fall für die Antiterroreinheit. Ich werde die Jungs sofort wecken. Und die Leute, die auf der Party waren, werde ich fragen, was sie über Changs Behauptungen wissen. Soll ich jemanden schicken, der Ihr Haus im Auge behält?«

»Nein, das hat Randi Russell schon angeboten.«

»Gut. Ich melde mich, sobald ich etwas erfahren habe. Passen Sie auf sich auf.« Die Verbindung wurde getrennt.

Beim Tor zum Gelände des militärischen Forschungsinstituts winkte Smith dem Wächter zu, parkte seinen Wagen und betrat den Laborbereich mithilfe seiner Schlüsselkarte. Er nahm die Krawatte ab und steckte sie ein, während er zu seinem Büro am Ende des Flurs eilte. Im Gehen rollte er die Schultern, um seine Anspannung zu lösen, und atmete tief durch. Er hatte im Moment wenig Lust, in sein Haus zurückzukehren. Und solange er im Büro war, konnte er sich den Angelegenheiten widmen, die es zu klären galt.

Als leitender Wissenschaftler verfügte er über ein größeres Büro als die meisten Mitarbeiter, doch es war militärisch karg eingerichtet. Der Großteil der Arbeit wurde in den neuen Hochsicherheitslabors der Sicherheitsstufen 3 und 4 durchgeführt. Die Forscher gaben einfach ihre Ergebnisse auf den Laptops ein, die sich in einem großen Raum in Arbeitsnischen mit beweg­lichen Wänden befanden. Die Laptops waren mit codierten Passwörtern gesichert, die auf einem verschlüsselten Server gespeichert waren. Ein eigenes Büro besaßen nur die leitenden Wissenschaftler.

Smiths rechteckiger Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes. Zur Rechten befand sich ein hoher Aktenschrank, und auf einem Sideboard zur Linken standen Bücher und mehrere gerahmte Belobigungen, die er über die Jahre er­halten hatte. Fotos von Angehörigen gab es keine; Smith hatte keine nahen Verwandten mehr, ebenso wenig eine Partnerin oder Freundin. Nicht einmal einen Hund. Würde er von einem Tag auf den anderen verschwinden, könnte sein Nachfolger das Büro mit minimalem Aufwand übernehmen.

Smith legte die Schlüsselkarte auf den Tisch, hängte sein Jackett über die Stuhllehne, griff sich seinen Lieblingskaffeebecher und ging über den Flur zum Pausenraum. Am Kaffeeautomaten drückte er die Taste, die einen doppelten Espresso versprach. Er füllte den Becher mit normalem Kaffee auf, gab etwas Sahne dazu und kehrte zu seinem Büro zurück.

Als er durch die Tür trat, warf er einen Blick auf den Schreibtisch und stutzte einen Moment. Die Schlüsselkarte war weg; an ihrem Platz lagen ein Umschlag und ein Bericht, der, wie es aussah, von ihm selbst stammte. Er vergewisserte sich, dass niemand im Raum war, und trat an den Schreibtisch. Er stellte den Kaffee ab und überprüfte, ob seine Brieftasche noch im Jackett war. Offenbar hatte jemand die Schlüsselkarte genommen, die Brieftasche aber nicht angerührt, wie er erleichtert feststellte. Darin befanden sich nämlich nicht nur sein Ausweis und Bargeld, sondern auch seine zweite Schlüsselkarte, die man benötigte, um die Hochsicherheitslabors zu betreten.

Er zog die Schreibtischschublade auf. Die Pistole, die er darin aufbewahrte, war ebenfalls noch da. Ein Glück, denn es war eigentlich nicht gestattet, eine Waffe im Büro zu haben, doch nach dem jüngsten Amoklauf auf einem Militärstützpunkt hatte er um eine Sondergenehmigung angesucht und sie auch erhalten. Aus einer Box mit Arzthandschuhen zog er ein Paar heraus, streifte sie über und griff nach dem Umschlag. Er war versiegelt, und auf die Vorderseite hatte jemand mit blauem Stift »Lt. Col. Jon Smith« sowie eine Reihe von Zahlen geschrieben, die wie ein Datum aussahen. Daneben lag eine Kopie seines Berichtes über eine mög­liche Verbreitung des Ebolavirus über die Luft.

Er setzte sich auf seinen Platz, öffnete den Umschlag und zog einen Forschungsbericht heraus, den seine Kollegin Laura Taylor verfasst hatte. Der Titel der Arbeit lautete: Die Blockierung der Proteinsynthese und ihre Auswirkungen auf Langzeitpotenzierung und Posttraumatische Belastungsstörung. Es war lange her, dass Smith die Kollegin zum letzten Mal gesehen hatte, zumal sie seit einiger Zeit in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurde. Trotz ihrer fünfunddreißig Jahre hatte sie als eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Neurowissenschaft und Gedächtnisforschung gegolten. Man hatte ihr eine große Zukunft prophezeit, bis vor etwa einem Jahr psychische Probleme aufgetreten waren, die sich in zunehmendem Verfolgungswahn ausdrückten.

Smith blätterte die Arbeit durch und überflog die Seiten, auf denen ihre Ergebnisse in Tabellen und Diagrammen dargestellt waren. Offenbar arbeitete sie an einem Medikament, dessen Nebenwirkungen jedoch schwer in den Griff zu bekommen waren.

Irgendwo im Haus wurde eine Tür zugeknallt, und Smith hörte leise Männerstimmen im Gespräch. Er öffnete eine Schublade, legte den Umschlag hinein und zog die Handschuhe aus. Als militärisches Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten war das USA­MRIID nicht zuletzt auch für den Schutz vor Biowaffenangriffen zuständig. Im Rahmen der Forschungsarbeit wurden hier hochgefähr­liche Bakterien und Viren gezüchtet und aufbewahrt, unter anderem das Ebolavirus. Aber auch der Anthrax-Erreger, mit dem unbekannte Täter im Jahr 2001 mehrere töd­liche Anschläge durchgeführt hatten, war in den Labors des USA­MRIID ­entwickelt worden. Eine ganze Abteilung arbeitete daran, Varianten von Krankheitserregern zu entwickeln, die sich über die Luft verbreiten ließen. Das neue Gebäude war mit einem speziellen Ventilationssystem ausgestattet, das etwaige Erreger herausfilterte, bevor sie nach außen gelangen konnten. Die Bevölkerung in der Nähe hatte zwar gegen die Errichtung der neuen Hochsicherheitslabors protestiert, doch die Forschungsarbeit ging weiter, solange garantiert war, dass die gefähr­lichen Erreger im Haus blieben. Der Zugang zu der Anlage war auf ausgewähltes und sorgfältig geprüftes Personal beschränkt. Dass jemand ins Innere gelangen und seine Schlüsselkarte stehlen konnte, war schwer zu glauben. Falls die Männer, die er draußen reden hörte, dahintersteckten, wollte er vorbereitet sein. Er nahm die Pistole aus der Schublade und griff nach dem Telefon, um den Sicherheitsdienst zu rufen. In diesem Augenblick traten zwei Männer durch die offene Tür.

Beide waren mit dunklen Hosen und Windjacken bekleidet. Einer war kahlköpfig und hatte einen stämmigen Hals, kleine Ohren und eine bullige Statur von mittlerer Größe. Der andere hatte dichtes schwarzes Haar und war drahtig und dünn. Beide strahlten etwas Bedroh­liches aus. Smiths innere Alarmglocke schrillte.