Buch
In einem laotischen Dorf geschieht Merkwürdiges: Bei einem Überfall wird eine Frau getötet. Es folgen Trauerfeier und Einäscherung – doch kurz darauf taucht das Opfer wieder auf, kerngesund und bester Laune. Und weil die Frau seit dem Vorfall offenbar eine spirituelle Verbindung zum Jenseits besitzt, kann sie auch ein altes Rätsel lösen: Sie weiß, wo die letzte Ruhestätte eines vor Jahren verschollenen Mannes liegt. Nun sollen dessen Gebeine vom Grund eines Flusses geborgen werden, und der Pathologe Dr. Siri soll die Aktion überwachen. Es könnte eine hübsche Reise für ihn und seine Gattin Madame Daeng werden. Das Problem: Siri verspürt großes Interesse für das weibliche Medium, Madame Daeng spürt den Stachel der Eifersucht – und ein finsterer Franzose spürt sie beide inmitten des Dschungels auf …
Weitere Informationen zu Colin Cotterill sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Colin Cotterill
Dr. Siri und
die Geisterfrau
Roman
Aus dem Englischen
von Thomas Mohr
MANHATTAN
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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»The Woman Who Wouldn’t Die« bei Quercus, London.
Copyright © der Originalausgabe
2013 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Hans-im-Glück-Verlags, München
Umschlagkonzeption und Gestaltung: Buxdesign / München
Coverillustration: © Ruth Botzenhardt
Redaktion: Brigitte Helbling
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-18089-8
V003
www.manhattan-verlag.de
Ich danke Polly, Steve, Robert, Scott, Kiang, Ali, Denny, Mac, Jim, Jane, Clair Voyant und Liz. Sowie meinen Lesern Bambina, David, Kay, Lizzie, Dad, Michaela, Brother John, Tony, Leila, Kye, Rachel und Tang.
Inhalt
1
FRAU WAR-EINMAL
2
DIE NINJAS VOM AMT
3
DER MANN MIT DEM STERN AUF DER STIRN
4
WIE MAN EINEN FRANZOSEN UMBRINGT
5
DER CLUB DER BERGAUFRUDERER
6
VERLIEBT IN EINE HEXE
7
DAS DORF DER UNTOTEN
8
1910
9
EIN LEICHNAM VON GERINGEM FORMAT
10
PARHANOIA
11
WAKE ME UP BEFORE YOU GO-GO
12
FLUSS OHNE WIEDERKEHR
13
FRANZMANNS ELLBOGEN
14
DAENGS GROSSES FINALE
15
ENTSCHEIDENDES ZUSPIEL
16
EIN RAUSCHENDER ABGANG
1
FRAU WAR-EINMAL
Madame Keui sei aus Fleisch und Blut, so sagte man, auch wenn niemand sich entsinnen konnte, ihr wieder erwärmtes Fleisch berührt zu haben, und kein Mensch sie jemals hatte bluten sehen, nicht einmal nachdem die zweite Kugel ihren Kopf durchschlagen hatte. Dennoch war sie im Oktober 1978, zum Zeitpunkt dieser Geschichte, de jure und de facto quicklebendig. Die Leute hatten sie mit ihren Einkäufen den Hügelkamm entlangspazieren oder auf ihrem Rad im Wald verschwinden sehen. Einige im Dorf hatten sie sogar sprechen hören. Sie sei zur Vietnamesin geworden, sagten sie. Ihr Akzent sei so stark wie eine angedickte Brühe, in der gar zu große Hammelstücke schwammen. Sie wechselte schon lange kein Wort mehr mit den Dorfbewohnern, dafür kamen Fremde von weit her, um ihre Aufwartung zu machen. Sie empfing sie in ihrem Haus, einem vornehmen, mit edlen chinesischen Möbeln vollgestopften Holzbau – Pärchen, Alte und Familien mit Kindern. Sie saßen in ihrem Wohnzimmer, das man von der ruhigen Seitenstraße aus bequem einsehen konnte. Und wenn sie wieder gingen, waren die Fremden so erleichtert und beschwingt, als sei ihnen ein Stein von der gequälten Seele genommen worden. Doch wenn die Dorfbewohner sie anhielten und sich erkundigten, was dort geschehen sei, wussten die Besucher keine Antwort. Als ob sie vergessen hätten, dass sie jemals dort gewesen waren.
Und vielleicht nannten sie die Leute deshalb Keui: Madame War-einmal. Denn wenn sie sich über die wunderschöne alte Dame unterhielten, dann nur in der Vergangenheitsform. »Es war einmal eine Frau, die mit vielen Stimmen sprach.« »Es war einmal eine Frau, die von Monat zu Monat jünger zu werden schien.« »Es war einmal eine Frau, deren Haus auch dann in warmem Licht erstrahlte, wenn es auf dem Markt kein Sturmlaternenöl zu kaufen gab.« Und selbst wenn sie ihr morgens auf der Straße begegnet waren, sagten sie beim Abendessen: »In unserem Dorf gab es einmal eine Frau, die …«
Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie ihren Leichnam zwei Monate zuvor zum Scheiterhaufen getragen und zugesehen hatten, wie die Flammen sie verschlangen.
2
DIE NINJAS VOM AMT
Sie lauerten im spätabendlichen Schatten. Drei volle Nächte hatten sie ausgeharrt, unter dem strassbesetzten Himmel, die Straßen erhellt von Abermillionen Sternen, bis endlich eine Wolkenbank aufgezogen war und ihnen einen Moment lang Deckung gewährt hatte. Sie waren zu fünft, allesamt marineblau und damit eigentlich fast schon schwarz gekleidet. Sodass man sie im sternenlosen Marineblau der Hauptstadtnacht wohl kaum gesehen hätte, wären ihre batteriebetriebenen Taschenlampen nicht gewesen, die all ihre Bemühungen – die dunkle Kleidung, die mit verkohltem Kork geschwärzten Gesichter – hell und grell zunichtemachten. Doch in den Vororten östlich des That-Luang-Denkmals gab es noch keine Straßenbeleuchtung, dafür aber jede Menge Schlaglöcher, in die man treten konnte. Es war elf Uhr abends, und die meisten Hausbesitzer lagen längst im Bett und träumten süß von besseren Zeiten. Nur hinter ein oder zwei Fenstern schimmerte gespenstisch der fahlgelbe Schein von Öllaternen, die nach und nach erloschen, als die Männer vorübergingen. Die Lichtstrahlen ihrer Taschenlampen zerfetzten die Nacht wie stumme Sirenen. Ganz Ost-That-Luang wusste, dass dort draußen etwas im Gange war, weshalb niemand es wagte, aus dem Fenster zu schauen.
Wenige Meter vor ihrem Ziel ging der Anführer in die Hocke und winkte seinen Männern, ihre Lampen auszuschalten. Im Nu hatte das Dunkel sie verschlungen, und sie saßen im schwarzen Bauch einer gigantischen Naga. Keiner von ihnen bewegte sich, aus Angst, ringsum habe sich vielleicht die Erde aufgetan. Doch da sie nicht als Feiglinge gelten mochten, verzichteten sie darauf, ihre Taschenlampen wieder einzuschalten, und sie rührten sich nicht vom Fleck.
»Gebt euren Augen ein paar Minuten Zeit, Leute«, wisperte der Anführer, und sein Flüstern schien von den Betonmauern des Neubauviertels widerzuhallen.
Besagte Minuten quälten sich dahin, aber die Augen der Männer wollten sich partout nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Trotzdem stand ihr Anführer auf. Der mächtige Schlüsselbund an seinem Gürtel klirrte. Sie wussten, dass es an der Zeit war, auf ihr Ziel – Haus Nummer 22B742 – vorzurücken. Sie hatten Schmetterlinge im Bauch. Augenblicke wie dieser konnten Karrieren begründen. Ein Orden war ihnen so gut wie sicher.
Im Gänsemarsch trippelten sie ihrem Anführer hinterdrein, der sich im Dunkeln mühelos zurechtzufinden schien. Vor ihnen erhob ihr Ziel sich aus der Nacht. Das Haus war geradezu schamlos hell erleuchtet. Kerzen flackerten in den beiden Vorderfenstern, und … drang da etwa eine Melodie an ihre Ohren? In der Tat. Musik. Irgendein dekadenter Westlärm. Die Genossen dort drinnen waren offenbar auf Ärger aus. Sie bettelten förmlich darum. Heute Nacht würden sie bekommen, was sie verdienten. Der Kerzenschein erhellte den Vorgarten und spiegelte sich in den Knopfaugen der Männer. Der Anführer streckte den Arm aus.
»Du und du, zum Hintereingang«, flüsterte er. »Lasst niemanden entkommen. Wir schnappen sie uns alle. Egal ob Mann, Frau oder Kind.«
Die so Angesprochenen verschwanden in geducktem Gang, der nicht nur von fern an Groucho Marx erinnerte, in der schmalen Seitengasse. Doch ihr beherzter Flankenangriff wurde bald schon durch die Tatsache vereitelt, dass sich das Seitentor nicht öffnen ließ. Es war entweder verriegelt oder klemmte, und zum Hinüberklettern war es zu hoch. Sie blickten hilfesuchend zu ihrem Anführer, der sie im Schatten jedoch nicht sehen konnte. Da er die Nachhut auf ihrem Posten wähnte, marschierte er mit dem Rest seiner Mannschaft quer durch den Vorgarten zur Veranda. Er war kein Freund dieser Westquartiere mit ihren vielen kleinen Zimmern. Er brauchte Platz. Er hatte selbstverständlich einen Nachschlüssel für Nummer 22B742, doch der erwies sich als überflüssig. Die Tür war angelehnt. Er holte tief Luft und stemmte sich gegen das schwere Teakholz. Die wohlgeölte Tür gab etwas zu bereitwillig nach, und hätte er sie nicht in letzter Sekunde zu fassen bekommen, wäre sie gegen die Dielenwand gekracht.
Aus den Zimmern rechts und links drang flackernder Kerzenschein, und der Raum geradeaus – die Küche, wie er von früheren Besuchen her wusste – war hell erleuchtet. Dort spielte die dekadente Musik, und dort hatten sich vermutlich auch die Strolche und Tagediebe versammelt. Wenn sie versuchten, durch die Hintertür zu entwischen, würden sie ihm schnurstracks in die Falle gehen. Er zog eine russische Lubitel-166 aus seiner Seitentasche. Nicht eben das kompakteste Modell, aber relativ problemlos nachzuladen. Diesmal würde ihm kein Fehler unterlaufen. Diesmal würde er sie alle kriegen.
Inzwischen waren die beiden Männer, die er zur Hintertür geschickt hatte, denselben Weg zurückgegangen und versuchten nun, das Gebäude auf der Ostseite zu umrunden. Dort versperrte ihnen ein Hund den Weg, genauer gesagt, ein hässlicher und noch dazu recht bösartiger Hund, der sich knurrend auf die Hinterbeine stellte. Von seinen Reißzähnen tropfte Sabber. Die beiden Männer erstarrten. Sie waren bis zum Küchenfenster gekommen, durch das ein helles Licht auf ihre missliche Lage fiel. Zum Glück war der Hund angekettet, und unter dem Fenster stand ein Motorrad. Wenn sie auf den Sitz kletterten, konnten sie erstens dem Köter aus dem Weg gehen und zweitens unauffällig einen Blick ins Haus werfen. Kaum lugten ihre Köpfe über den unteren Rand des Mückengitters, platzten der Anführer und seine beiden Männer auch schon zur Tür herein.
»Keine Bewegung!«, brüllte der Anführer, und seine Kamera blitzte einmal, zweimal. »Niemand verlässt …«
Doch in der Küche waren weder Strolche noch Tagediebe, nur ein einsamer alter Mann. Er stand nackt in einer großen Zinkwanne, bis zu den Knien in schaumigem Wasser, in der Hand einen riesigen Badeschwamm. Ohne den geringsten Anflug von Bestürzung oder Scham kehrte der alte Mann ihnen den Rücken zu und seifte sich lachend das Hinterteil ein.
»Durchsucht ihn«, rief der Anführer. Niemand hatte es besonders eilig, dem Befehl Folge zu leisten. »Durchsucht sämtliche Zimmer, Schränke und Schubladen. Und vergesst den Dachboden nicht!«
Als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte, wandte er den Kopf. Vor dem vergitterten Fenster entdeckte er die Gesichter der beiden Männer, die eigentlich den Garten hätten bewachen sollen.
»Was treibt ihr denn da?«, schnauzte er.
Einer der Männer winkte. Der andere sagte: »Hier ist ein Hund.«
»Idioten«, bellte der Anführer.
»Also, für diesen Anblick hätte ich mit Freuden meinen linken Arm – na schön, sagen wir, den linken Arm meines Gärtners – hingegeben«, sagte Genosse Civilai. In den zwei Jahren seit seinem Rückzug aus dem laotischen Politbüro hatte er seine Seele der Küche verkauft. Der Pensionär brachte satte sechs Kilo mehr auf die Waage als das dürre, kahlköpfige ZK-Mitglied (das seiner gertenschlanken Linie nur deshalb erfolgreich treu geblieben war, weil es so gut wie jeder Entscheidung des Politbüros tapfer widersprochen hatte).
»Vorzugsweise aus Siris Perspektive«, setzte er hinzu. »Mein Bedürfnis, den kleinen Doktor im Adamskostüm zu betrachten, hält sich in recht engen Grenzen.«
Die Runde quittierte seine Bemerkung mit herzhaftem Gelächter. Wie jeden Mittwoch hatte sich die kleine Gruppe nach Feierabend in Madame Daengs Nudelküche versammelt. Diesen Termin versuchten sie streng einzuhalten, da sie sonst nur selten Gelegenheit bekamen, die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Dennoch blieb in letzter Zeit immer mal wieder ein Stuhl leer. Weil Civilai durch die Genossenschaften in den Provinzen tingelte. Weil Inspektor Phosy bis spät in die Nacht bei Kerzenschein über Ermittlungsakten brütete. Oder weil Dr. Siri Paiboun, der sein Amt als erster und einziger Leichenbeschauer der Demokratischen Volksrepublik Laos vor gut zwei Wochen abgegeben hatte, zur »Läuterung« antreten musste, wie er zu sagen pflegte. Man hatte ihn zu vierzehn Seminaren zum Thema »Kritik und Selbstkritik« geladen, angeblich eine Pflichtveranstaltung für hohe Staatsbeamte auf dem Weg in den verdienten Ruhestand. Um des lieben Friedens willen hatte er ihre Zahl auf drei heruntergehandelt. Der Funktionär, der die Seminare leitete, hatte von seinen Sperenzchen schon nach der ersten Sitzung die Nase voll und legte ihm nach der zweiten dringend nahe, von der weiteren Teilnahme abzusehen. Und so ward Siri offiziell von sämtlichen Parteiverpflichtungen entbunden.
»Wo halten Sie sie eigentlich versteckt?«, fragte Schwester Dtui. Ihr Töchterchen Malee saß fröhlich glucksend auf ihrem Schoß.
»Haha. V… v… versteckt. Guter Witz«, meinte Herr Geung und grinste.
»Diese Information ist streng geheim und wird nur bei begründetem Bedarf erteilt«, sagte Siri.
»So viel zu der Maxime ›Einer für alle, alle für einen‹«, sagte Civilai. »Ich dachte, wir sind eine verschworene Gemeinschaft und Offenheit ist oberstes Gebot.«
Er erhob sein Glas Reiswhisky, zu dem sich in Sekundenschnelle vier weitere gesellten. Nur Herr Geung und die kleine Malee übten sich standhaft in Abstinenz.
»Auf die Offenheit«, deklamierte er.
»Glückauf«, sagte Madame Daeng.
»Glückauf«, wiederholten die anderen.
Sie leerten ihre Gläser, und Daeng füllte nach.
»Du hast ja recht, großer Bruder«, lenkte Siri ein. »Offenheit ist oberstes Gebot. Und ihr werdet es noch früh genug erfahren. Aber alles zu seiner Zeit. Wenn ihr wüsstet, wo sie stecken, würde das einen von uns in einen tiefen Interessenkonflikt stürzen.«
»Er meint mich«, sagte Inspektor Phosy, der unter dem Tisch heimlich Schwester Dtuis Hand hielt, eine in diesen Breitengraden eher ungewöhnliche Geste zwischen einem Mann und seiner Frau. Er hatte sie Daeng und Siri abgeschaut, die sich nicht scheuten, ihre Zuneigung offen zu zeigen.
»Und will damit zaghaft andeuten, dass er – zum wiederholten Mal – gegen geltendes Recht verstoßen hat«, setzte er hinzu.
»Ich bin entsetzt und fassungslos«, sagte Siri. »Aber wäre das tatsächlich der Fall, müssten Sie mir eigentlich auf Knien dafür danken, dass ich bislang geschwiegen habe. Abgesehen davon, welches Schwerverbrechens könnte sich ein hinfälliger Greis wie ich schon schuldig machen?«
Worauf sich lautes Stöhnen erhob, denn sie alle wussten, dass Siri mit dem Gesetz seit je auf Kriegsfuß stand. Und im Grunde verstießen sie allein mit ihrer Anwesenheit gegen die Vorschriften. Sofern eine Zweijährige als vollwertige Person gelten durfte, waren sie zu siebt. Jegliche Zusammenkunft einer außerfamiliären Gruppe, welche mehr als fünf Mitglieder umfasste, erforderte eine schriftliche Genehmigung der Abteilung für Termine und Versammlungen, für die man stunden-, wenn nicht tagelang anstehen musste. Und das war nur eine der zahllosen bürokratischen Schikanen, mit denen die sozialistische Regierung der laotischen Bevölkerung das Leben schwer machte. Hätte die illustre Runde nicht über das entsprechende Format verfügt, wäre sie ohne Zweifel längst gemeldet worden, sei es von einem der Spitzel aus der Nachbarschaft oder einem Mitglied der Jugendbewegung. Und an Format mangelte es ihr wahrlich nicht. Siri und Civilai hatten zusammen über achtzig Jahre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei auf dem sprichwörtlichen Buckel. Und auch Madame Daeng waren die alten Männer an der Macht einiges schuldig. Sie war erst seit einem Jahr in Vientiane. In dieser Zeit hatte sie Dr. Siri umworben und geehelicht, die beliebteste Nudelküche der Hauptstadt eröffnet und zur Aufklärung diverser Kriminalfälle beigetragen, die andere vor ein unlösbares Rätsel gestellt hätten. Die Fähigkeiten der Siebenundsechzigjährigen gingen über die perfekte Kombination von Kräutern und Gewürzen weit hinaus. Nur wenige Einwohner der Kapitale wussten von ihrem geheimen Vorleben.
Ebenfalls anwesend war Herr Geung, der stolz die Fahne des Down-Syndroms hochhielt. Bis vor kurzem hatte er Siri als Sektionsassistent zur Seite gestanden. Doch nachdem der Doktor pensioniert und die Pathologie offiziell geschlossen worden war, hatte man ihn in die sogenannte Rote Kammer verbannt – die Wäscherei des Krankenhauses, wo Leintücher und Bettzeug von Blut und anderen Körpersäften gereinigt wurden. Im Zuge einer waghalsigen Rettungsaktion war es Siri in letzter Minute gelungen, Herrn Geung in Madame Daengs Nudelküche zu entführen, wo er Nudeln servierte und köstlichen Kaffee braute, mit drei Daumenbreit Kondensmilch in jedem Glas.
Inspektor Phosy heuchelte – wie schon so oft – Unwissenheit, was Siris illegale Umtriebe anging. In einem Land ohne Verfassung und Gesetze ließ sich über das Wörtchen »illegal« ohnehin trefflich streiten. Außerdem verdankte er dieser Runde einige der prächtigsten Orden an seinem Revers, auch wenn er das nur ungern zugab. Dank ihrer Triumphe auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung war er zum Leiter der Kriminalabteilung (Politische Sektion) aufgestiegen. Die Beförderung hatte ihm nicht nur eine Gehaltserhöhung von monatlich 400 Kip – umgerechnet etwa ein Dollar fünfzig –, sondern auch einen stählernen Aktenschrank sowie einen eigenen Gartenrechen beschert.
Seine Gattin, Schwester Dtui, die nach der Schließung der Mahosot-Pathologie ebenfalls vor dem beruflichen Aus gestanden hatte, war unterdessen in das alte Lido-Hotel berufen worden, das jetzt die Staatliche Schwesternschule beherbergte. Dort unterrichtete sie die Grundlagen der Physiologie und Russisch. Ersteres, weil sie mehr innere Organe gesehen und seziert hatte als all ihre Kolleginnen zusammen. Und Letzteres, weil sie – bis zu ihrer unverhofften Schwangerschaft – im Ostblock ein Fach hatte studieren wollen, das sie bereits aus dem Effeff beherrschte: forensische Pathologie. Während Malee in einer Ecke des Klassenzimmers in einer kleinen Hängematte schaukelte, erklärte sie jungen Bergvolkmädchen, die kaum ein Wort Laotisch sprachen, die russische Grammatik.
»Nur zu unserer Beruhigung, kleiner Bruder«, sagte Civilai, »du hast sie doch nicht etwa alle umgelegt, oder? Sie geopfert, damit die Knaben vom Wohnungsamt sie nicht in ihre schmierigen Finger bekommen?«
»Sie sind allesamt gesund und munter«, sagte Siri.
»Alle elf«, ergänzte Daeng.
»Elf? Ah, ich wusste es.« Civilai nickte. »Du hast eine Fußballmannschaft zusammengestellt. Und trainierst sie klammheimlich in deinem Haus.«
»Ich gebe den Obdachlosen lediglich ein Obdach«, sagte Siri. »Und Streunern und Vaganten ein bescheidenes Heim.«
»Ich habe Sie gewarnt«, sagte Inspektor Phosy. »Wie oft habe ich Sie gewarnt? Unsere Partei kümmert sich darum. Sie hat eigens ein Programm ins Leben gerufen …«
»… das sich im Wesentlichen darauf beschränkt, diese Leute notfalls mit Gewalt aus dem Straßenbild zu entfernen.« Siri redete sich in Rage. »Und sie auf engstem Raum ohne sanitäre Anlagen zusammenzupferchen, damit sie das Auge der Öffentlichkeit nicht beleidigen. Die Tempel sind voll von solchen armen Schluckern. Das Komitee hat mir in That Luang ein hervorragendes Haus gebaut. Es hat Strom und fließend Wasser – wenn der Anschluss denn dereinst gelegt sein wird. Was also spricht dagegen, meine Mitmenschen an meinem Glück teilhaben zu lassen?«
»Zum Beispiel die Tatsache, dass Sie nicht dort wohnen«, gab Phosy zu bedenken. »Sie wohnen hier, über dem Restaurant. Von Rechts wegen haben Sie gar keinen Anspruch auf eine Dienstbehausung.«
»Ich bitte Sie! Ich bin ein hochrangiges Mitglied der Partei«, sagte Siri.
Er stand auf und legte die Hand auf sein Herz. Madame Daeng und Civilai taten es ihm lachend nach. Civilai begann die »Marseillaise« zu summen.
»Ich bin ein altgedienter, mit allen Wassern gewaschener Feldscher, der an die fünfhundert Einsätze überstanden hat«, sagte Siri. »Ich habe in Frankreich studiert und spreche drei Sprachen.«
»Vier, wenn man das Kauderwelsche mitzählt«, warf Civilai ein.
Siri ignorierte ihn. »Ich bin der persönliche Berater von Präsidenten und Premierministern – ein Mann, der von den Massen geliebt und bewundert wird. Ich habe mir mein Haus redlich verdient und möchte gefälligst frei entscheiden dürfen, was ich damit anstelle. Und wenn mir der Sinn danach steht, es mit Eiscreme anzustreichen und hernach genüsslich abzulecken, ist das verdammt noch mal mein gutes Recht.«
Herr Geung klatschte stürmisch Beifall.
»Früher oder später wird man sie finden«, sagte Phosy. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie ungestraft elf Leute bei sich verstecken können? Nicht in der heutigen Zeit.«
»Wetten, dass?«, sagte Siri.