Peter A. Levine
Trauma und Gedächtnis
Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn
Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten
Aus dem amerikanischen Englisch
von Silvia Autenrieth
Kösel
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Trauma and Memory. Brain and Body in a Search for the Living Past. A Practical Guide for Understanding and Working with Traumatic Memory« bei North Atlantic Books, Berkeley, Kalifornien.
Copyright © 2015 by Peter A. Levine
Copyright © 2016 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Umschlagmotiv: © shutterstock / Kevin Wells Photography
Fotos auf den Seiten 119–134: © Laura Regalbuto; alle anderen Fotos
und Illustrationen: © Justin Snavely (außer anders angegeben)
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-18206-9
V003
www.koesel.de
Das Gedächtnis ist der Schreiber der Seele.
Aristoteles
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Bestandsaufnahme
1 Das Gedächtnis: Gabe und Fluch
2 Der Stoff, aus dem Erinnerungen sind
3 Prozedurale Erinnerungen
4 Emotionen, prozedurale Erinnerungen und die Struktur von Traumata
5 Eine Heldenreise
6 Zwei Fallbeispiele im Detail
7 Die Wahrheitsfalle und die Tücken falscher Erinnerungen
8 Moleküle des Gedächtnisses
9 Transgenerationale Traumata: Das herumspukende Gestern
Nachtrag
Dank
Anmerkungen
Register
Vorwort
Die Beschäftigung der Psychologie und Psychiatrie mit traumatischen Erinnerungen hat eine lange und ehrwürdige Geschichte. Diese reicht mindestens bis in das Paris der 1870er-Jahre zurück. Damals faszinierte Jean-Martin Charcot, den Vater der Neurologie, die Frage, was die Lähmungserscheinungen, Zuckungen, Ohnmachten, das unvermittelte Zusammensacken, das wahnsinnige Gelächter und die dramatischen Tränenausbrüche der an Hysterie Erkrankten auf den Stationen der Salpêtrière auslöste. Nach und nach erfassten Charcot und seine Studenten, dass diese merkwürdigen Bewegungen und Körperhaltungen die physischen Hinterlassenschaften von Traumata waren.
1889 verfasste Charcots Student Pierre Janet das erste Buch zu dem, was wir heute Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nennen würden: L’automatisme psychologique.1 Darin argumentierte er, dass Traumata im Prozessgedächtnis abgespeichert würden – in automatischen Aktionen und Reaktionen, Empfindungen und Einstellungen – und dass das Trauma in Form instinktiver Empfindungen (Ängste und Panik), körperlicher Bewegungen oder visueller Bilder (Albträume und Flashbacks) immer wieder von Neuem durchgespielt und reinszeniert würde. Janet setzte das Thema Erinnerung beim Umgang mit Traumata an die erste und zentralste Stelle: Aus einem Ereignis wird nur dann ein Trauma, wenn überwältigende Emotionen eine angemessene Verarbeitung der Erinnerung stören. Danach reagieren Traumatisierte auf alles, was sie an das Trauma erinnert, mit Reaktionen, die eigentlich für Akutsituationen vorgesehen sind und bei der Konfrontation mit der ursprünglichen Bedrohung einmal sinnvoll waren, heute jedoch vollkommen unangebracht sind – sich etwa panisch unter den Tisch zu ducken, wenn ein Glas zu Boden fällt, oder einen Wutanfall zu bekommen, wenn ein Kind schreit.
Seit gut einem Jahrhundert verstehen wir, dass die Spuren von Traumata nicht in Form von Erzählungen über schlimme Vorfälle in der Vergangenheit gespeichert werden, sondern als körperliche Empfindungen, die wir wie eine unmittelbare Bedrohung für unser gegenwärtiges Leben erfahren. In der Zwischenzeit hat sich herauskristallisiert, dass der Unterschied zwischen gewöhnlichen Erinnerungen (Geschichten, die sich im Laufe der Zeit verändern und dann verblassen) und traumatischen Erinnerungen (wiederkehrende Körperempfindungen und Bewegungen, die von heftigen Emotionen der Angst, Scham, Wut und Resignation begleitet werden) auf den Zusammenbruch jener Hirnsysteme zurückgeht, die für die Erzeugung »autobiografischer Erinnerungen« zuständig sind.2
Zudem fiel Janet auf, dass Traumatisierte in der Vergangenheit stecken bleiben: Sie befassen sich geradezu zwanghaft mit dem Horror, den sie auf der bewussten Ebene hinter sich lassen wollen, erleben diesen aber weiterhin und verhalten sich, als bestünde er noch immer. Da sie außerstande sind, das Trauma in die Vergangenheit zu verweisen, erfordert es ihre gesamte Energie, die eigenen Emotionen in Schach zu halten. Der Preis dafür ist zu wenig Aufmerksamkeit für das, was die Gegenwart verlangt. Janet und seine Kollegen lernten aus bitterer Erfahrung, dass die ihnen anvertrauten traumatisierten Frauen weder vernünftigen Argumenten zugänglich waren, noch mit Einsicht, Verhaltensänderungen oder Bestrafung zu kurieren waren. Allerdings sprachen sie auf hypnotische Suggestion an: Zur Traumalösung kam es durch erneutes Durchleben des Geschehenen in einem hypnotischen Trancezustand. Dadurch, dass die Frauen die zurückliegenden Erlebnisse noch einmal (nur dieses Mal ohne damit verbundene Gefahr) durchspielten und dann in ihrer Fantasie einen befriedigenden Ausgang konstruierten – etwas, das ihnen während des Originalereignisses nicht möglich gewesen war, da sie zu sehr von Hilflosigkeit, Angst und Entsetzen überwältigt gewesen waren –, konnten sie erst voll und ganz erkennen, dass sie das Trauma tatsächlich überlebt hatten. Und erst dann ging ihr Leben für sie weiter.
Als ich Peter Levine vor etwa 25 Jahren zum ersten Mal begegnete, dachte ich, die leibhaftige Reinkarnation eines der alten Magier vor mir zu haben, deren Wirken mir von meiner Beschäftigung mit den verstaubten Manuskripten, die ich stapelweise in alten Krankenhausbibliotheken fand, so vertraut war. Nur dass Peter, wie er auf dem Rasen des Esalen-Instituts im kalifornischen Big Sur stand, statt Halsbinde und Gehrock, wie sie die Herren auf den frühen Fotografien trugen, ein Bob-Marley-T-Shirt und Shorts anhatte. Peter zeigte unverkennbar, wie umfassend er verstand, dass Traumata ihre Spuren im Körper hinterlassen. Ferner demonstrierte er, dass die Heilung solcher Traumata nach einem geschützten Trancezustand verlangt, aus dem heraus die grauenvolle Vergangenheit gefahrlos beobachtet werden kann. Und er fügte noch das entscheidende Element hinzu: die subtilen physischen Spuren von Traumata zu erkunden und das erneute Zusammenbringen von Körper und Geist in den Blickpunkt zu rücken.
Seine Beobachtungen schlugen mich sofort in ihren Bann. Von den frühesten Erforschern traumatischer Belastungen bis zu den Vertretern der neuesten Neurowissenschaft konstatierten Wissenschaftler immer wieder die alles entscheidende Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und Erinnerung. Traumatisch wird Erlebtes dann, wenn der menschliche Organismus davon überwältigt wird und mit Hilflosigkeit und Lähmung reagiert. Wenn man absolut nichts tun kann, um etwas am Ausgang von Ereignissen zu ändern, bricht das gesamte System zusammen. Selbst Sigmund Freud war fasziniert von der Beziehung zwischen Trauma und physischer Aktion. Nach seiner Theorie wiederholten Menschen alte Traumata deshalb, weil sie sich nicht vollständig an das Geschehene erinnern konnten. Da die Erinnerung verdrängt wird, ist der Patient »vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern«3. Wenn jemand sich nicht erinnert, wird er wahrscheinlich ausagieren: »… so dürfen wir sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt. … man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern.«4 Was Freud jedoch nicht erkannte, war, dass Menschen nur dann wieder ihrer selbst Herr werden, wenn man ihnen hilft, sich in ihrem eigenen Inneren geborgen und ruhig zu fühlen.
Peter verstand, dass der Weg zur Traumalösung über die Bewältigung von Lähmung und Aufruhr körperlicher Art und die Auseinandersetzung mit der erfahrenen Hilflosigkeit führt. Ihm war klar, dass es darum geht, auf die eine oder andere Art körperlich aktiv zu werden, um das Heft des eigenen Lebens wieder in die Hand zu nehmen. Allein schon von dem Erlebten zu berichten, ist eine wirksame Maßnahme. Durch sie entsteht ein Narrativ, eine erzählte Geschichte, die uns selbst und den Menschen in unserer Umgebung hilft, das Geschehene zu verstehen. Leider bleiben zahllose Traumatisierte in ihrem Trauma stecken und haben nie die Chance, dieses so wichtige Narrativ zu entwickeln.
Als ich Peter besser kennenlernte, wurde mir mehr und mehr klar, wie gut er die kritische Rolle körperlicher Empfindungen und körperlicher Aktivität verstand. Er zeigte auf, dass posttraumatisches Handeln sich nicht nur in krassen Verhaltensformen äußert wie etwa der, bei der kleinsten Kränkung zu explodieren oder bei Angst wie gelähmt zu reagieren. Vielmehr zeigt es sich auch in einem kaum merklichen Luftanhalten, in Muskelanspannung oder in der Kontraktion des Schließmuskels. Er zeigte mir, dass der gesamte Organismus – Körper, Geist und Seele – sozusagen im Trauma stecken bleibt und sich weiterhin so verhält, als bestünde eindeutig eine gegenwärtige Gefahr.
Peter Levine absolvierte ursprünglich eine neurophysiologische Ausbildung und erlernte dann am Esalen-Institut Körperarbeit bei Ida Rolf. Als ich ihm bei der Ausübung seines Handwerks zusehen konnte, erinnerte er mich an Moshé Feldenkrais, der behauptete, es gäbe keine rein psychischen (das heißt geistigen) Erfahrungen: »Die Vorstellung von zwei Leben, einem somatischen und einem psychischen, hat … sich überlebt.«5 Unsere subjektive Erfahrung weist stets eine körperliche Komponente auf, ebenso wie alle sogenannten körperlichen Erfahrungen eine mentale Komponente haben.
Die Programmierung unseres Gehirns basiert auf mentalen Erfahrungen, die sich körperlich ausdrücken. Und Emotionen teilen sich in Mimik und Körperhaltung mit. Wut wird durch geballte Fäuste und zusammengebissene Zähne erlebt. Angst wurzelt in angespannter Muskulatur und flacher Atmung. Gedanken und Emotionen werden von Veränderungen des Muskeltonus begleitet, und um gewohnheitsmäßige Muster zu durchbrechen, heißt es, etwas an den somatischen Feedbackschleifen zu verändern, die Körperempfindungen, Gedanken, Erinnerungen und Handlungen verbinden. Die primäre Aufgabe von Therapie besteht dann darin, diese somatischen Veränderungen zu beobachten und aufzugreifen.
In meiner Studienzeit an der University of Chicago versuchte Eugene Gendlin mir etwas über den Felt Sense zu vermitteln – das Gewahrsein unserer selbst und des Raums zwischen Gedanke und Handlung. Was es jedoch mit diesem Felt Sense auf sich hatte, konnte ich erst voll und ganz würdigen, als ich beobachtete, wie Peter das Gewahrsein des Körperlichen als Schlüssel einsetzte, der ihm zahlreiche Erkenntnisse erschloss. Berührung war in meiner Ausbildung streng untersagt gewesen und in dem Umfeld, in dem ich aufwuchs, schmerzlich vernachlässigt worden. Peter Levines Arbeit mit Berührung half mir, bewusster wahrzunehmen, was in mir vorging, und zeigte mir die enorme Wirkung von Berührung, wenn es darum geht, Menschen zu helfen, sich gegenseitig Rückendeckung und physiologisch erlebte Sicherheit zu holen.
Unsere inneren Empfindungen wahrzunehmen, die Urform unserer Gefühle, erlaubt uns Zugang zur unmittelbaren Erfahrung unseres eigenen lebendigen Körpers, der sich stets auf einer Skala zwischen Lust und Schmerz bewegt. Es sind Empfindungen, die nicht der Großhirnrinde entspringen, sondern aus den tiefsten Tiefen des Stammhirns kommen. Es ist überaus wichtig, das zu verstehen, da Traumatisierte sich bei dem, was in ihnen vorgeht, entsetzlich ängstigen. Ihnen aufzutragen, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, kann leicht eine Panikreaktion auslösen. Und einfach nur von ihnen zu verlangen, stillzuhalten, wird sie oft nur noch unruhiger machen.
Die neuronale Folge der Entfremdung vom körperlichen Ich lässt sich im Gehirnscan beobachten: Jene Hirnareale, die für die Eigenwahrnehmung (medialer präfrontaler Kortex) und Körperwahrnehmung (Insula) zuständig sind, weisen bei Menschen mit chronischer PTBS oft eine Schrumpfung auf – ihr Körper/Geist/Gehirn hat gelernt, seine Funktionen auf Sparflamme herunterzufahren. Dieses Abschalten hat einen enormen Preis: Die gleichen Hirnareale, die Schmerz- und Notsignale weiterleiten, sind auch dafür zuständig, Freude, Lust, Sinnhaftigkeit und Verbundenheit mit anderen zu übertragen.
Peter zeigte mir (und zeigt uns in diesem Buch), wie Negativurteile über uns selbst oder andere Geist und Körper in Anspannung versetzen, was Lernen unmöglich macht. Um aus diesem Zustand herauszufinden, müssen die Betroffenen die Freiheit erleben, neugierig zu entdecken, und neue Bewegungsmöglichkeiten erlernen. Nur dann kann das Nervensystem sich reorganisieren und es können neue Muster entstehen. Möglich wird dies nur, indem wir neue Wege ergründen, uns zu bewegen, zu atmen und auf unsere Umwelt zuzugehen. Es lässt sich nicht erreichen, indem man bestimmte Maßnahmen verordnet, die das »Problem beheben« sollen.
In den nachfolgenden Kapiteln klärt Peter Levine darüber auf, inwiefern traumatische Erinnerungen impliziter Natur sind und wir sie als bunt zusammengewürfelte Mischung aus Empfindungen, Emotionen und Verhaltensweisen in Körper und Gehirn mit uns herumtragen. Traumata drücken uns ganz klammheimlich ihren Stempel auf. Dies tun sie weniger in Form von Geschichten oder bewussten Erinnerungen, sondern als Emotionen, Körperempfindungen und in »Prozessen« – als eigenständig im Körper ablaufende psychologische Automatismen. Wenn Traumata sich in prozeduralen Automatismen niederschlagen, liegt die Heilung nicht in gutem Rat, der Verabreichung von Medikamenten, Verständnis oder darin, die Person wieder »in Ordnung zu bringen«, sondern darin, dass die Betroffenen Zugang zu der uns von Geburt an innewohnenden Lebenskraft finden, die Peter als »den uns angeborenen Drang nach Durchhalten und (letztlichem) Triumph« bezeichnet.
Worin besteht Letzterer? Darin, sich selbst kennenzulernen, seine physischen Impulse zu spüren, wahrzunehmen, wie der Körper sich versteift und zusammenzieht und wie Gefühle, Erinnerungen und Impulse aufsteigen, während die Wahrnehmung des eigenen Inneren zunimmt. Sensorische Traumaspuren können nachhaltige Auswirkungen auf unsere späteren Reaktionen, Verhaltensweisen und Gefühlszustände haben. Nachdem wir uns daran gewöhnt haben, ständig auf der Hut zu sein, um zu verhindern, dass die Dämonen aus unserer Vergangenheit uns ins Bewusstsein dringen, müssen wir nun lernen, sie einfach wertfrei zur Kenntnis zu nehmen und als das zu beobachten, was sie sind: Signale, die uns angeborene motorische Aktionsprogramme auslösen. Ihrem natürlichen Kurs zu folgen, wird uns helfen, unsere Beziehung zu uns selbst neu zu sortieren. Diese achtsame Selbstbeobachtung kann jedoch leicht niedergewalzt werden, was sich dann unter Umständen in Panik, explosiven Handlungen, Erstarrung oder Kollabieren äußert.
Einer der Grundansätze beim Umgang mit dieser Anfälligkeit dafür, massiv aus dem Takt zu geraten, ist Peters Idee des »Pendelns«. Hierbei geht es darum, nur kurz mit seinen inneren Empfindungen in Kontakt zu kommen und zu lernen, diese auszuhalten, indem man merkt, dass man es überlebt. Man fühlt sie, um dann aber gezielt auf sichereren Boden zurückzukehren. Bei dieser Form von therapeutischer Arbeit geht es nicht um Abreagieren oder – wie ich gerne sage – darum, »sein Trauma herauszukotzen«. Mit einem vorsichtigen Zugang zum Felt Sense eröffnet sich die Möglichkeit, die tief im Inneren lauernden Gefahrensignale kennen- und meistern zu lernen. Bevor es gefahrlos möglich ist, die Empfindungen zu erleben, die mit entsetzlicher Angst und einem Gefühl des Vernichtetwerdens verbunden sind, gilt es zunächst einmal, damit in Berührung zu kommen, wie sich innere Stärke und gesunde Aggression anfühlen.
Eine der brillantesten und originellsten Ausführungen in diesem Buch ist Peter Levines Einschätzung dazu, inwiefern es für uns wichtig ist, beim Umgang mit extremen Widrigkeiten sowohl die Motivations- als auch die Aktionssysteme des Gehirns zu mobilisieren. Das Motivationssystem wird vom Dopaminsystem des Gehirns gesteuert, das Aktionssystem vom noradrenergen System. Um sich mit großen Herausforderungen gezielt auseinandersetzen zu können, müssen im therapeutischen Prozess beide Systeme dynamisch gefördert werden. Dies sind notwendige Voraussetzungen dafür, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, sie zu transformieren und so aus der Hilflosigkeit herauszukommen und zu kompetenter Selbstbestimmung zu gelangen.
Gute Therapie besteht darin, den Felt Sense wachzurufen, ohne sich von dem, was im Innern lauert, überwältigen zu lassen. Die wichtigsten Redewendungen in jeder Therapiesitzung lauten: »Nehmen Sie das wahr« und »Beobachten Sie, was als Nächstes geschieht«. Sich den Raum dafür zu geben, seine inneren Prozesse zu verfolgen, aktiviert im Gehirn Bahnen, die seine rationalen und emotionalen Seiten verbinden, und das ist der einzige bekannte Weg, über den sich das Wahrnehmungssystem des Gehirns gezielt umstrukturieren lässt. Um in Kontakt mit sich selbst zu sein, gilt es, die vordere Inselrinde zu aktivieren, die entscheidende Region des Gehirns, die für unsere Gefühle im Hinblick auf unseren Körper und uns selbst verantwortlich ist. Peter Levine weist darauf hin, dass in den meisten spirituellen Traditionen Atem-, Bewegungs- und Meditationstechniken entwickelt wurden, die das Tolerieren und die Integration tief gehender emotionaler und sensorischer Zustände erleichtern.
Somatic Experiencing mit seiner entschleunigten Vorgehensweise und seiner gründlichen Beachtung innerer Empfindungen und feiner Bewegungen unterscheidet sich stark von den meisten expressiven Therapien, bei denen in der Regel nach außen gerichtete Handlungen statt das eigene Felt-Sense-Erleben im Mittelpunkt stehen. Durch die Beachtung innerlicher Erfahrungen werden prozedurale Bewegungen aufgedeckt, die tendenziell unabsichtlich und reflexhaft stattfinden und an denen andere Hirnsysteme (etwa das Kleinhirn und das extrapyramidale System) beteiligt sein dürften als bei absichtsvollen und willentlichen Handlungen.
Zudem steht diese Verfahrensweise im deutlichen Gegensatz zu Therapieformen, bei denen Traumaüberlebende Impulse erhalten, ihre Traumata in allen Einzelheiten immer wieder aufs Neue zu durchleben. Hierbei besteht die Gefahr, dass Traumatisierte unter bestimmten Bedingungen permanent in einem Zustand heftiger Angst und hoher physiologischer Erregung bleiben, aus dem heraus sie die Vergangenheit womöglich noch quälender erleben. Tritt dieser Fall ein, kann es gut sein, dass sich eine traumatische Erinnerung in Verbindung mit neu erlebten Angstzuständen verfestigt und das Gefühl, von den Vorgängen im eigenen Inneren überwältigt zu werden, zusätzlich verstärkt wird.
Dieses Buch ist voll von Fallgeschichten und ausführlichen Berichten zur praktischen Umsetzung der Prinzipien von Somatic Experiencing. Hierbei handelt es sich nicht nur um Opfer von Traumata wie etwa Autounfällen, sondern auch um die Arbeit mit Neugeborenen, Kleinkindern, Schulkindern und aus Kriegseinsätzen heimkehrenden Soldaten. Bei Somatic Experiencing geht es nicht in erster Linie darum, konditionierte Reaktionen auf Traumata »umzulernen«, sondern Ziel ist die Erschaffung neuartiger Erfahrungen, die der überwältigend erlebten Hilflosigkeit entgegenwirken und sie durch das Gefühl ersetzen, selbst aktiv an physischen Reaktionen und Empfindungen beteiligt zu sein.
Diese Arbeit überwindet Gefühle wie Scham, Trauer, Wut und Verlust, in denen Traumatisierte erstarrt sind, indem sie hilft, den explosionsartigen Attacken von Traumata auf den Körper ein Ende zu setzen und diese aufzulösen. Peter Levines Arbeit hilft zudem, das hinter sich zu lassen, was er einen »destruktiven Erklärungszwang« nennt, und das Gefühl entstehen zu lassen, Herr im eigenen Haus zu sein und ehemals unkontrollierbare Empfindungen und Reaktionen steuern zu können. Hierzu benötigen wir die Erfahrung eines verkörperten Handelns statt hilfloser Kapitulation oder unkontrollierbarer Wut. Erst wenn wir in der Lage sind, Abstand zu gewinnen, uns selbst einzuschätzen, die Heftigkeit unserer Empfindungen und Emotionen abzumildern und unsere angeborenen körperlichen Schutz- und Abwehrreaktionen zu aktivieren, erst dann können wir lernen, eingefahrene, automatisch ablaufende Reaktionen zu ändern und quälenden Erinnerungen ein Ende zu bereiten.
Bessel A. van der Kolk, MD, Prof. für Psychiatrie
Cabot, Vermont, 26. Juli 2015
Einleitung: Bestandsaufnahme
Es gibt keine Gegenwart und keine Zukunft.
Nur die Vergangenheit, die sich ständig wiederholt.
EUGENE O’NEILL
Die Tyrannei der Vergangenheit
Zu allen Zeiten wurden Menschen von Erinnerungen gepeinigt, die sie mit Angst und Grauen erfüllten, mit Hilflosigkeit, Wut, Hass und Rachegelüsten sowie einem nagenden Gefühl unwiederbringlichen Verlusts. Schon in der Literatur der Antike – etwa den epischen Tragödien der Griechen, Sumerer und Ägypter – sowie in Hunderten zeitgenössischer Bücher zum Thema Trauma wie auch in den Abendnachrichten und in Bekenntnissen Prominenter stehen Traumata fortwährend im Epizentrum menschlicher Erfahrungen.
Obwohl wir Menschen in unserem Hang dazu, anderen Leid und Traumata zuzufügen, kaum zu bremsen scheinen, sind wir auch in der Lage, traumatische Erfahrungen zu überleben, uns an die Gegebenheiten anzupassen und sie schließlich zu transformieren. Erfahrene Therapeuten machen sich diese naturgegebene Resilienz und Selbstheilungskraft bei ihrer Arbeit mit Menschen zunutze, die unter den Nachwirkungen lebensbedrohlicher und überwältigender Ereignisse leiden. Zu diesen können (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Krieg, Überfälle, sexuelle Übergriffe, Missbrauch, Gewalt, Unfälle, invasive medizinische Eingriffe, Naturkatastrophen und das Mitansehen-Müssen einer schweren Verletzung oder des plötzlichen Todes geliebter Menschen gehören. Ein jeder »Schock« dieser Art für den Organismus kann das biologische, psychologische und soziale Gleichgewicht der Betroffenen so sehr aus dem Lot bringen, dass die Erinnerung an dieses eine Ereignis alle sonstigen Erfahrungen prägt und beherrscht und es unmöglich macht, den gegenwärtigen Moment zu würdigen. Die hieraus resultierende Tyrannei der Vergangenheit beeinträchtigt dann gleichermaßen die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit wirksam auf neue wie auch auf vertraute Situationen zu richten. Die Wahrnehmung wird selektiv und komplett von unliebsamen Anklängen an die Vergangenheit in Beschlag genommen. In einer solchen Situation wird der Schlaf zum Feind und das Leben farblos.
Vielleicht nirgendwo sonst herrscht in puncto Traumata eine solche Verwirrung wie rund um die Frage, welche Rolle traumatische Erinnerungen in Sachen Traumapathologie und Traumalösung spielen. Fakt ist, dass diverse in verschiedenen Laboratorien durchgeführte Forschungsstudien einander offenbar immer wieder widersprechen. Hinzu kommt, dass die klinisch Tätigen und die im akademischen Umfeld Tätigen bedauerlicherweise kaum jemals miteinander kommunizieren. Und, was am wichtigsten ist: Traumaerinnerungen unterscheiden sich grundlegend von anderen Erinnerungen, woraus enorme Verwirrung und eventuell eine falsche Anwendung therapeutischer Techniken resultieren können.
Zwar richtet sich dieses Buch in erster Linie an TherapeutInnen, die mit Betroffenen traumatische Erinnerungen aufarbeiten, aber es wurde auch für Menschen geschrieben, die selbst auf der Suche nach einer Erklärung für die Erinnerungen sind, die sie verfolgen, und sich danach sehnen, zu erfahren, wie sie vielleicht dauerhaft ihren Frieden mit ihnen schließen können. Darüber hinaus ist es für Lesebegeisterte gedacht, die einfach das Interesse antreibt, mehr über die wissenschaftliche und klinische Auseinandersetzung mit der Frage zu erfahren, welche Rolle Erinnerungen in ihrem Leben spielen und es bestimmen und was es mit der enormen Ambivalenz und irritierenden Ungewissheit dieser Erinnerungen auf sich hat.
Wir beginnen diese Erkundungen mit dem Verständnis, dass es viele Formen von Erinnerungen gibt – Formen, die sich in ihrer Struktur wie auch ihrer Funktion grundlegend unterscheiden. Gleichzeitig müssen diese deutlich unterscheidbaren Gedächtnissysteme (bei denen verschiedene Teile des Gehirns beteiligt sind) kooperativ zusammenwirken, um ein effektives Funktionieren und unser subjektives Wohlgefühl zu fördern. Dieses Buch dreht sich darum, wie wir lernen können, mit den in uns herumspukenden Überbleibseln von gestern gut Freund zu werden und uns von ihrer Tyrannei zu befreien.
Die meisten zeitgenössischen Psychotherapieansätze sind im langen Schatten Freuds und derer angesiedelt, die in seine Fußstapfen getreten sind, oder orientieren sich an verschiedenen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren. Bei der Aufarbeitung von Traumata und deren Abdruck im Gedächtnis ist der Wert dieser Wege zur Linderung menschlichen Leids jedoch begrenzt. Zwar befassen sich die genannten therapeutischen Schulen mit bestimmten Dysfunktionen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, dringen aber nicht bis zu dessen eigentlichem Kern vor. Dazu berücksichtigen sie nicht ausreichend die essenziellen Mechanismen in Körper und Gehirn, die von Traumata beeinträchtigt werden. Was leider dazu führt, dass das elementarste menschliche Bedürfnis und der Drang nach Heilung in weiten Teilen unerfüllt bleiben.
Traumata versetzen das Gehirn in einen Schockzustand. Sie betäuben das Denken und den Verstand und lassen den Körper regelrecht erstarren. Das Trauma überwältigt seine unglücklichen Opfer und schleudert sie wie Treibgut in eine tosende Flut von Qualen, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Einen derartigen Leidensdruck zu erleben, ist für uns als Therapeuten, die wir Klienten in dieser schwierigen Lage erleben, ein Appell, wirksam Abhilfe zu schaffen. In zunehmendem Maße zieht es therapeutisch Tätige dazu hin, bei der Aufarbeitung traumatischer Erinnerungen mitzuwirken, während sich parallel diverse Verfahren (und deren jeweilige Ableger) herumsprechen sowie vermittelt und praktiziert werden. Diese Ansätze traten ungefähr in der folgenden Reihenfolge auf den Plan: Mesmerismus, Hypnose, Psychoanalyse, Expositionstherapie, Somatic Experiencing (SE), Eye Movement Desensitization Reprocessing (EMDR) und verschiedene »Energiepsychologien« (zum Beispiel EFT-Klopftechnik).
Viele psychodynamische Therapeuten gehen von dem Verständnis aus, dass es damit zu arbeiten gälte, wie die Vergangenheit ihrer Klienten in deren Gegenwart zum Tragen kommt. Auf diese Weise versuchen sie ihnen zu helfen, sich eine bessere, gesündere, fokussiertere, wirksamere und leuchtendere Zukunft zu erschließen. Doch ohne ein für die Arbeit brauchbares Verständnis davon, wie Traumata in Körper, Gehirn und Geist sowie in Psyche und Seele prägende Erinnerungsspuren hinterlassen, werden die Helfer beim Heilungsprozess sich unweigerlich im Labyrinth von Ursache und Wirkung verirren. Für eine wirksame Therapie ist es unabdingbar, dass wir würdigen, wie sehr Traumata den instinktiven Reaktionen des Körpers auf eine mutmaßliche Bedrohung anhaften. Wir müssen sehen, wie eine Fixierung auf bestimmte Emotionen stattfindet, vor allem auf Emotionen der Angst, des unfasslichen Entsetzens (Terror) und des Zorns sowie auf gewohnheitsmäßige affektive Stimmungszustände, die sich in Depression, Bipolarität und Verlust an Lebensenergie und schließlich in diversen selbstzerstörerischen und sich unablässig wiederholenden Verhaltensweisen niederschlagen.
Ohne ein solides Begreifen der im Gehirn abgelegten und im Körper gespeicherten multidimensionalen Struktur traumatischer Erinnerungen strampeln sich Therapeuten oft regelrecht ab bei dem Versuch, aus dem Sumpf der Uneindeutigkeit und Ungewissheit herauszukommen. Tatsache ist, dass Missverständnisse im Hinblick auf sogenannte wiedererlangte Erinnerungen bei den Betroffenen und ihren Familien viel unnötigen Schmerz und vermeidbares Leid angerichtet haben, während sie gleichzeitig für Verwirrung und Selbstzweifel bei den behandelnden Therapeuten sorgten.
Viele von uns therapeutisch Tätigen werden vielleicht mehr als uns lieb ist von gängigen Irrtümern über die Natur des Gedächtnisses beeinflusst. Herkömmlicherweise neigen akademische wie auch klinische Psychologen dazu, sich mit dem sogenannten »verbal zugänglichen Gedächtnis« zu befassen. Dieses »deklarative« Gedächtnis wird in der Grundschule wie auch noch in der Mittel- und Oberstufe – ebenso wie im Studium – immer wieder abgerufen und belohnt. Wen wundert es da, dass die Psychologen und Psychotherapeuten, selbst Absolventen der Hochschulen, dazu neigen, sich reflexhaft mit dieser Art von bewussten Erinnerungen zu identifizieren? Das bewusste, explizite Gedächtnis ist jedoch nur die sprichwörtliche Spitze eines sehr viel tiefer reichenden und mächtigen Eisbergs. Unter diesem ahnt man kaum die untergetauchten Schichten ursprünglicher impliziter Erfahrungen, die uns auf Weisen antreiben und motivieren, die sich der bewusste Verstand nur ansatzweise vorstellen kann. Doch genau das sollten – und müssen – wir verstehen, wenn wir Traumata und die Erinnerungsspuren, die sie in Geist und Körper hinterlassen haben, wirksam und klug aufarbeiten wollen.