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Das Buch

An dem Tag, als Hannah den Entschluss fasst, sich von ihrem Mann zu trennen, erleidet er einen Schlaganfall. Tom ist gerade 32 geworden, kann nicht mehr alleine gehen, essen, geschweige denn Hannah in den Arm nehmen. Seit fünf Jahren sind sie verheiratet, haben sich stürmisch verliebt und ihr gemeinsames Leben aufgebaut. Dennoch haben sie einander verloren: Tom hat sich auf die Karriere konzentriert, Hannah träumt einem Job in Afrika hinterher. Der Ausweg war da, zum Greifen nahe, doch wie kann sie Tom jetzt verlassen? Und selbst wenn sie bleibt, ist es aus Mitleid oder aus Liebe?

»Eine fesselnde und entwaffnende Geschichte voll Herzschmerz und Hoffnung, über Liebe, Lernen und Loslassen – sowohl umwerfend traurig als auch wunderschön romantisch.«     Heat Magazine

»Eine bewegende und tiefgründige Geschichte über Liebe und zweite Chancen.«     Sunday Mirror

Die Autorin

Katie Marsh lebt mit ihrer Familie in London, schreibt Bücher und ist im Gesundheitswesen tätig. Die Inspiration zu ihrem Debüt Die Liebe ist ein schlechter Verlierer verdankt sie ihrer Arbeit mit Schlaganfallpatienten. Sie liebt es, mit ihrer Tochter im Park zu toben, ihrem Mann den Toast zu stehlen und Karaoke zu singen. Ihr zweiter Roman ist bereits in Arbeit.

KATIE MARSH

DIE LIEBE IST EIN

SCHLECHTER VERLIERER

Roman

Aus dem Englischen von Angelika Naujokat

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Copyright © 2015 by Katie Marsh

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

My Everything bei Hodder & Stoughton Ltd., London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Melike Karamustafa

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © shutterstock / L. Kramer,

Nikolaeva und AlisaRed

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-18256-4
V001

www.diana-verlag.de

Für Max und Evie

KAPITEL 1

Hannah öffnet widerwillig blinzelnd die Augen. Ein Stück Toast klebt an ihrer Wange, und ihr Mund fühlt sich pelzig an. Sie blickt angestrengt auf die Wanduhr und schließt rasch wieder die Augen. Zwei Uhr nachts. Warum musste ausgerechnet dieser Tag so beginnen? Dabei sollte sich ab heute alles ändern. Ein Neubeginn.

Hannah zieht sich den durchweichten Toast von der Wange, lässt ihn auf den Teller fallen und reibt sich über den schmerzenden Nacken. Ihr Smartphone ist dank der Shuffle-Wiedergabe in die peinlicheren Tiefen ihrer Playlist vorgedrungen, und sie drückt hastig die Pausetaste. Ihr Körper fühlt sich an, als gehöre er auf die Innenseite der Kreidelinie eines Tatorts.

Sie stemmt sich mit den Ellbogen in die Höhe und betrachtet die korrigierten Seiten, die über den Küchentisch verstreut liegen. »Verdammt«, murmelt sie leise. Irgendwie hatte sie es geschafft, im Schlaf ihr Weinglas umzustoßen, und nun sehen die Essays der zehnten Klasse über Shakespeares Macbeth aus, als wären sie mit Blut bespritzt.

Ob sie wohl mit der Behauptung durchkäme, es mit Absicht getan zu haben, um dem Stück Leben einzuhauchen? Angesichts der Vorstellung der skeptischen Mienen ihrer Schüler eher unwahrscheinlich. Teenager besitzen Antennen für Skandale jeglicher Art, und vermutlich würde die Gerüchteküche der Schule dafür sorgen, dass sie spätestens Ende der Woche zum Direktor gerufen wurde.

Ihr Handy gibt einen Piepton von sich. Eine SMS von Steph, die sich wahrscheinlich in einem ähnlichen Korrigiermarathon befindet.

Ist er schon zu Hause? Hast du es ihm gesagt? x

Hannah tippt ihre Antwort ein. Nein und nein.

Steph textet sogleich zurück. Aber du wirst es tun! Versprochen?

Ja. Sonst killst du mich noch. Und ich würde wirklich gern die nächste Staffel von Scandal sehen.

Viel Glück. Du schaffst das. x

Als Hannah den Stuhl zurückschiebt, kollidiert sie mit dem Ergebnis ihres letzten gescheiterten Versuchs, an einem Buchladen vorbeizugehen, ohne etwas zu kaufen. Sie streicht über das glatte, tröstliche Cover des obersten Exemplars im Stapel. Die Versuchung ist groß, die ganze Nacht wach zu bleiben und sich in der Geschichte eines anderen zu verlieren. Doch dann fällt ihr wieder ein, was sie heute vorhat. Widerstrebend steht sie auf und atmet dabei langsam aus, um die Nerven zu beruhigen, die sich an jeden Atemzug klammern.

Tom. Ich verlasse dich. Angst durchfährt sie bei dem Gedanken daran, die Worte laut auszusprechen. Zu sehen, wie er den Mund öffnet und sich seine Augen zu schmalen Schlitzen verengen, während er sich darauf vorbereitet, sie ein letztes Mal zu attackieren. Das kann er wirklich gut. Ob mit E-Mails, Mailboxnachrichten oder einfach nur durch gutes, altes Anschreien. Er wusste schon immer, wie er sie am besten verletzen konnte.

Hannah trägt den Teller zur vollen Spüle hinüber und quetscht ihn zwischen eine leere Dose gebackene Bohnen und eine Pfanne, in der sich gerade eine neue Lebensform zu entwickeln scheint.

Morgen. Darum wird sie sich morgen kümmern. Sie schaltet das Licht aus und knöpft auf der Treppe im Hinaufgehen ihr graues Kleid auf. Vor dem Schlafzimmer hält sie überrascht inne. Der rasselnde Atem ihres Mannes dringt durch die geschlossene Tür. Sie hat angenommen, dass er immer noch im Büro ist. Ein weiterer Deal. Eine weitere Nacht, die sie getrennt voneinander verbrachten.

Leise betritt sie das Zimmer und schlüpft unter die Bettdecke. »Warum hast du mich nicht geweckt, als du nach Hause gekommen bist?«

Toms einzige Antwort ist ein Schnarchen.

Schrrrrrapp.

Hannah zieht sich das Kissen über den Kopf.

Schrrrrrapp.

Sie kann es immer noch hören. Steckt den Kopf hervor und sieht auf die Uhr. Halb fünf. Viel zu früh. Sie fühlt sich wie erschlagen nach nur wenigen Stunden Schlaf.

Da ist es schon wieder.

Sie dreht sich um. »Tom, hey, hör auf zu schnarchen.« Ihre Stimme klingt wie ein Krächzen. »Ich versuche zu schlafen.« Es wäre toll, wenn er ihr ausnahmsweise einmal zuhören würde. Aber das konnte sie sich abschminken.

Stattdessen murmelt er etwas Unverständliches. Seine Stimme klingt belegt und verwaschen. »K…K…Kannni.«

Hannah lehnt sich widerwillig zu ihm hinüber und versucht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine Gestalt liegt auf dem Boden vor dem Bett. Na super. Offenbar hat er sich wieder einmal mehr mit Whisky als mit seiner Arbeit beschäftigt. Sie greift hinüber und stupst ihn an, aber er stöhnt nur. »Herrgott noch mal.« Hannah reibt sich über die schmerzenden Augen.

»Kannni … Hilllllmiiiiiir.«

Erschöpft schaltet Hannah die Nachttischlampe ein und blinzelt in der plötzlichen Helligkeit auf ihn hinab.

Irgendetwas stimmt nicht.

Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht.

Tom liegt auf dem Boden, sein Körper ist gekrümmt, und in seinen weit aufgerissenen Augen liegt ein flehentlicher Ausdruck. Sein Gesicht ist kreidebleich und hängt auf einer Seite schief herab, der verzerrte Mund versucht, Worte zu formen, die Hannah nicht versteht. Schockiert sieht sie zu, wie seine rechte Hand kraftlos über das Holz am Fußende des Betts schrammt. Schrrrapp. Sein linker Arm liegt unter ihm, die Hand ist in einem unmöglichen Winkel gekrümmt, sodass sie aussieht wie ein missgestalteter Schnabel.

Hannahs Puls beginnt zu rasen. Hastig klettert sie aus dem Bett und versucht instinktiv, ihren Mann hochzuziehen. Doch egal wie sehr sie sich auch anstrengt, sein Körper ist zu schwer für sie, und er sackt wieder auf den Teppich zurück. Sie zuckt zusammen, als sie ihn stöhnen hört. Hoffentlich hat sie nicht alles noch schlimmer gemacht. Ihr Mund ist staubtrocken, und die Panik droht sie zu ersticken.

Sie brauchen Hilfe.

»Keine Sorge, Tom«, flüstert sie, während sie mit zittrigen Fingern nach dem Telefon greift, um den Notruf zu wählen. »Keine Sorge. Alles wird wieder gut. Alles wird wieder gut.« Wenn sie es nur oft genug wiederholt, glaubt sie es vielleicht selbst irgendwann.

Ihre Stimme bebt, als sie dem Rettungsdienst ihre Adresse nennt. Die Worte laut auszusprechen macht sie so entsetzlich real. In Toms Augen steht die nackte Angst, und sie streicht ihm über das dunkle Haar. Es ist so weich. Wie lange ist es her, seit sie es das letzte Mal berührt hat?

Eine Männerstimme stellt ihr Fragen, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kennt. Was ist geschehen? Wer? Wann? Wo? Langsam bekommt Hannah das Zittern in ihrer Stimme unter Kontrolle. Der Mann teilt ihr mit, dass ein Krankenwagen auf dem Weg sei. Absurderweise fragt sie sich, wer der Mann am anderen Ende der Leitung ist. Wie er aussieht. Und ob er ihr verraten kann, was die Zukunft bringt. Aber vielleicht ist es besser, es nicht zu wissen.

Sie legt auf und steht für einen Moment wie erstarrt da, bis sie Tom ein Wort nuscheln hört, das ihr Name sein könnte. Sie setzt sich auf den Boden, legt seinen Kopf vorsichtig in ihren Schoß, verdrängt jeden Gedanken an die Zukunft und versucht, ihm all den Trost zu spenden, den sie aufbringen kann. Als sie seine rechte Hand in ihre nimmt, umklammert er ihre Finger. Gemeinsam warten sie auf das, was auch immer als Nächstes kommen wird. Seine Hand fühlt sich kalt an. Schwer. Nach Verantwortung.

Minuten später trifft der Krankenwagen mit zwei Sanitätern ein – ein Mann und eine Frau, deren Namen Hannah sofort vergisst, deren Gesichter sich aber in ihr Gedächtnis brennen. Sie folgt ihren grünen Uniformen die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.

»Was ist los mit ihm? Was hat er?« Hannah beginnt wieder zu zittern. In dem vergeblichen Versuch, Wärme und Trost zu finden, verschränkt sie die Arme fest vor der Brust.

Der kastanienbraune Pferdeschwanz der Sanitäterin wippt hin und her, als sie sich neben Tom kniet. Sie scheint kaum alt genug zu sein, um Alkohol kaufen zu dürfen, aber die ruhige, konzentrierte Art, mit der sie sich ihm zuwendet und seinen Puls misst, lässt Hannah ein wenig ruhiger werden. »Ich bin mir noch nicht sicher. Wir müssen ihn erst untersuchen.« Sie blickt ihm forschend ins Gesicht. »Hallo, Tom. Wie geht es Ihnen?«

»Kannni aufschn…«

»In Ordnung.« Die junge Frau nickt, als habe er sich vollkommen verständlich ausgedrückt. »Ich werde jetzt ein paar kleine Tests durchführen, damit wir es Ihnen anschließend etwas bequemer machen können. Würden Sie bitte Ihre Arme heben?«

Hannah hält den Atem an und fleht ihn stumm an. Komm schon, Tom!

Er hebt den rechten Arm, aber sein linker bewegt sich nicht.

Hannah versucht, ihn durch pure Willenskraft dazu zu bringen, ihn hochzuheben. Doch er rührt sich nicht. Panik steigt in ihr auf, und sie wendet sich an den Sanitäter, der neben ihr steht. »Was ist denn nur mit ihm?«

Er sieht sie mit einem Ausdruck in den Augen an, der ihr bedeutet, dass ihr nicht gefallen wird, was er zu sagen hat. »Die eine Gesichtshälfte hängt herab. Dazu kommen Sprach- und Bewegungsprobleme. Vermutlich hat er einen Schlaganfall erlitten. Aber wir müssen noch weitere Untersuchungen durchführen, um sicher sein zu können.«

»Ein Schlaganfall? O Gott.« Sie versucht, die schreckliche Kindheitserinnerung an ihre Babysitterin zu unterdrücken, die sabbernd in einem Krankenhausbett liegt.

»Wir werden Ihren Mann so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen.« Die Stimme des Mannes ist sachlich und fest.

»In Ordnung.« Es fällt Hannah schwer, sich zu konzentrieren. Ihr Verstand schreit permanent »Schlaganfall«. Ihr Atem kommt stoßweise, und sie gräbt die Fingernägel in die Handflächen, um die Tränen zurückzuhalten. »Kann ich mitkommen?«

»Natürlich.« Der Sanitäter senkt taktvoll den Blick. »Aber vielleicht sollten Sie sich erst etwas anziehen.«

Hannah schaut an sich herab und bemerkt erst jetzt, dass sie nur ein knappes rosafarbenes T-Shirt und einen Slip trägt. Ja, Anziehen wäre sicher eine gute Idee. Sie zerrt rasch ein paar Klamotten aus dem Schrank und geht damit ins Badezimmer.

Sie fummelt noch an dem Knopf ihrer Jeans herum, als sie wieder das Schlafzimmer betritt und sieht, dass Tom in einem Tragestuhl sitzt und die Sanitäter ihn die Treppe hinunterschleppen. Sein kurzes Haar ist schweißnass, und sein Blick hat jeglichen Ausdruck verloren. Das Gesicht sieht wächsern aus, und sein Kopf hängt nach rechts – ein grausamer Kontrast zu dem vitalen, fröhlichen Mann auf den Hochzeitsfotos, die an den Wänden hängen. Was für ein Schock, ihn so hilflos zu sehen. So sterblich.

Tränen schießen ihr in die Augen. Sie muss ihm helfen. Alles tun, was in ihrer Macht steht.

Hannah wirft sich die Jacke über und zerrt ihre Handtasche vom Haken im Flur, bevor sie hinausrennt. Im dunklen Glas der Haustür erhascht sie einen Blick auf ein bleiches Gesicht, wirr um den Kopf stehende Locken und ängstlich aufgerissene Augen, die im Blaulicht des Krankenwagens aufblitzen. Sie braucht eine Sekunde, um zu begreifen, dass es ihr Spiegelbild ist.

Der Krankenwagen rast mit quietschenden Reifen durch die Straßen Südlondons. Zehn Minuten später kommen sie am Krankenhaus an. Es ist offensichtlich, dass jede Sekunde zählt.

Tom ist in Gefahr.

Tom könnte sterben.

Darüber darf sie jetzt nicht nachdenken. Als sich die Tür öffnet, tritt Hannah auf den Asphalt hinunter und wappnet sich gegen den peitschenden Januarwind, indem sie ihre Jacke fest vor dem Körper zusammenzieht.

Die Sanitäter rollen die Trage auf den roten Schriftzug Notaufnahme zu, der unheilvoll im Dunkeln aufleuchtet. Hannah greift nach Toms Hand, als sie an einem ausgemergelten Mann vorbeieilen, der neben einem großen Rauchen-Verboten-Schild steht. Er qualmt trotzig eine Zigarette und zwinkert ihr zu. Die Geste ist so unangemessen, dass Hannah ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte.

Drinnen kommt ihnen ein groß gewachsener Mann mit eiligen Schritten entgegen. Seine Bartstoppeln sind so dunkel wie seine Tränensäcke. Er steckt sich die Krawatte ins Hemd, und Hannah erahnt die Erschöpfung hinter seinem Lächeln. »Hallo, ich bin Dr. Malik, diensthabender Arzt der Intensivstation für Schlaganfallpatienten. Und Sie sind …?«

»Hannah.«

Doch der Arzt hat sich bereits den Sanitätern zugewandt, die Tom weiter den Flur entlangschieben, und stellt ihnen eine Frage nach der anderen. Begriffe wie »Hirnschlagader« und »mögliche Hämorrhagie« fallen. Jedes einzelne Wort schürt Hannahs Angst.

Tom ist das stille Auge des Sturms. Sie drückt seine Finger, aber er reagiert nicht mehr und hat die Augen geschlossen. Aber sie wird nicht zulassen, dass er aufgibt. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und beugt sich zu ihm hinab, bis ihr Mund ganz nahe an seinem Ohr ist. »Halte durch, Soldat.«

Die Zärtlichkeit aus früheren Tagen lässt seine Lider flattern, bis sie sich schließlich einen Spaltbreit öffnen. Für einen Augenblick treffen sich ihre Blicke, und Hannah spürt Hoffnung in sich aufkeimen. Dann schließt er die Augen wieder.

»Tom?«

Nichts.

»Tom?« Nein. Das hier darf einfach nicht passieren. Hannah wendet sich den Sanitätern zu, aber die schieben ihn bereits durch eine cremefarbene Flügeltür, auf der Schockraum zu lesen ist. Sie macht Anstalten, ihnen zu folgen, doch Dr. Malik hält sie davon ab. Bevor sich die Türen schließen, erspäht sie helles Licht und nimmt den metallischen Geruch von Blut wahr. Als sie Übelkeit in sich aufsteigen spürt, atmet sie tief durch.

»Wir werden weitere Untersuchungen bei Ihrem Mann vornehmen«, erklärt ihr der Arzt. »Anschließend kann ich Ihnen dann mehr sagen.« Er deutet zu einer Gruppe von grauen Plastikstühlen. »Warten Sie bitte dort. Sie können auch jemanden anrufen, wenn Sie möchten.«

»Ich …« Aber er ist bereits verschwunden, und sie ist allein. Beängstigend allein.

Als sie sich setzt, stellt sie fest, dass die Stühle offenbar konstruiert wurden, um einen Bandscheibenvorfall zu verursachen. Sie springt wieder auf und starrt auf die abblätternde Wand vor sich. Die Farbe erinnert sie an Toms Gesicht an dem Morgen, als er am Vorabend einen verdorbenen Döner gegessen hatte. Sie denkt daran, wie er jetzt dort liegt. Hilflos. Sie ballt die Fäuste. Halte durch, Tom.

»Alles in Ordnung, Schätzchen?« Hannah fährt herum, als sich der Raucher von draußen schwerfällig auf zwei Stühle gleichzeitig fallen lässt. Als er sich in ihre Richtung lehnt, wird sie in eine unappetitliche Wolke aus abgestandenem Biermief gehüllt.

»Nein. Es ist nicht alles in Ordnung.« Hannah macht einen Schritt zur Seite. Auf einmal ist es doch ziemlich verlockend, allein zu sein.

Als der Mann hustet, hört Hannah den Schleim in seiner Brust rasseln. »Ist das Ihr Mann da drin?« Er nickt in Richtung der cremefarbenen Flügeltür, lehnt sich dann zurück und setzt sich noch breitbeiniger hin.

Hannah wendet angesichts des unglücklich platzierten Lochs in seiner Hose den Blick ab. »Ja«, erwidert sie mit gepresster Stimme.

»Schon lange verheiratet?«

Hannah blickt zur Flügeltür hinüber. Sie muss unbedingt wissen, was dahinter vor sich geht. »Fünfeinhalb Jahre.«

Er nickt. »Hab’s nie so weit geschafft.«

Hannah ist nicht überrascht.

Sie zuckt zusammen, als Dr. Malik durch die Tür tritt. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist so ernst, dass sie gar nicht erst versuchen will, ihn näher zu ergründen.

»Kommen Sie bitte herein, Hannah. Wir sind jetzt so weit.«

»Viel Glück.« Der Mann reckt beide Daumen in die Höhe. »Wird schon wieder.«

»Das will ich hoffen«, erwidert Hannah und fühlt sich, als würde sie nach dem letzten Strohhalm greifen. Dann holt sie tief Luft und folgt Dr. Malik in den Schockraum.

SOMMER 2006

UNTERSETZER AUS COCOS DINER, SOHO

Er trank einen Milchshake, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Hannah. Eine Kellnerin in einem unglaublichen Minirock, die widerwilligen schwarzen Locken unter einer pinkfarbenen Baseballkappe zusammengebunden. Er hätte am liebsten augenblicklich die Hand ausgestreckt und sie befreit.

Sie war lebhaft, lachte viel, redete gern und spielte ganz offensichtlich in einer anderen Liga als er. Wenn er sich umsah, kam es ihm so vor, als wären die meisten Männer im Diner in sie verliebt – eingeschlossen derer, die zum anderen Geschlecht neigten. Er war lediglich der stille Student in der Ecke. Immer wenn sie ihn bediente, versteckte er sich hinter seinen Jurabüchern, und jegliches Selbstvertrauen löste sich in undeutlichem Gemurmel auf und dem schrecklichen Drang, irgendeinen Verlegenheitswitz zu machen. Trotzdem wartete er immer wieder auf den richtigen Augenblick und trank dabei so viele überteuerte Milchshakes, dass er Überstunden im Pub machen und außerdem ein Loch in seinem Gürtel hinzufügen musste. Doch eines Tages wurde seine Geduld belohnt.

Er traf gerade beim Diner ein, als sie aus der Tür trat, um eine Zigarettenpause einzulegen. Schüchtern begrüßte er sie und hielt ihr sein Union-Jack-Feuerzeug hin. Eine Chance, sie zu beeindrucken. Eine Unterhaltung zu beginnen. Endlich.

Doch das Feuerzeug funktionierte nicht. Er versuchte es erneut – ohne Erfolg. Panik stieg in ihm auf.

Doch dann legte sie ihre kleine Hand beruhigend auf seine, und wie durch ein Wunder erwachte die Flamme zum Leben. Forschend sah sie ihn aus ihren großen braunen Augen an, bis sich ihre roten Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Sie war ihm so nah, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Der Geruch der Marlboro Red parfümierte die Luft. Jetzt oder nie.

Seine Lippen bewegten sich. Sie schienen plötzlich ein Eigenleben zu führen. »Eigentlich steh ich sonst nicht auf Frauen, die Baseballkappen tragen.« Nicht gerade seine Sternstunde. Stille machte sich breit, die ihn um mindestens zehn Jahre altern ließ. Er senkte den Blick. Mist. Das hatte er ordentlich vergeigt. Doch dann …

»Und ich steh eigentlich nicht auf Jungs, die nicht mal eine Zigarette anzünden können.« Ihr Tonfall war todernst. Er hob den Blick, um ihr prüfend ins Gesicht zu sehen. Da war ein verschmitzter Ausdruck in ihren braunen Augen, als sie eine perfekte kleine Rauchwolke über die Lippen blies. »Ich hab mich schon gefragt, wie oft du wohl noch vorbeikommen würdest, ehe du mich endlich ansprichst.« Sie lächelte. »War eine lange Reise, Soldat.«

Langsam atmete er aus. »Na ja, ich wollte eben den richtigen Moment erwischen.« Im selben Augenblick zog kreischend eine Horde Junggesellinnen auf ihrem Weg durch die Bars und Pubs von Soho an ihnen vorbei. Er grinste sie an und fügte hinzu: »Du weißt schon – nur wir beide, ganz allein.« Eine Taube flatterte über sie hinweg, und mit einem Mal spürte er etwas Warmes auf seiner Stirn. Er berührte die Stelle mit der Hand und stöhnte laut auf. »Vogelscheiße war allerdings nicht Teil des Plans.«

Erst kicherte sie verhalten, doch dann warf sie den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus.

Er sah sie an und stimmte in ihr Lachen ein. Und gleichzeitig schwor er sich, einfach alles zu tun, um dieses umwerfende Mädchen zu kriegen. Einfach alles.

KAPITEL 2

Als Hannah den Schockraum betritt, sticht ihr sofort der scharfe Geruch von Antiseptika in die Nase. Sie blinzelt, um ihre Augen an das Neonlicht zu gewöhnen.

Als Dr. Malik sie bemerkt, wendet er sich ihr zu und fährt sich mit der Hand durch sein immer unordentlicher werdendes Haar. »Würden Sie mir bitte noch einmal sagen, wann genau Sie die ersten Anzeichen bemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, Hannah?«

Hannah sucht nach einer Antwort, doch sie kann an nichts anderes denken als an Toms Körper auf dem Boden. An seine langsam zufallenden Lider. Den linken Arm, der wie tot an seiner Seite liegt.

Sie schüttelt den Kopf, um die Bilder zu verscheuchen. Sie muss sich erinnern, muss helfen. »Ich weiß es nicht genau. Vor ungefähr einer Stunde vielleicht.«

»Und wissen Sie, ob er vorher schon irgendwelche Symptome gezeigt hat?«

»Nein.« Es fühlt sich an, als würde sie bei einem Test durchfallen. »Tut mir leid. Er schlief tief und fest, als ich um zwei ins Bett kam.« Hinter einem rosafarbenen Vorhang zu ihrer Linken erhascht sie einen Blick auf einen Mann, der röchelnd in eine Sauerstoffmaske atmet, als könnte jeder Atemzug sein letzter sein.

»Wie würden Sie seinen allgemeinen Gesundheitszustand beschreiben? Ist er körperlich fit?«

»Ich denke schon. Er spielt Fußball. Und joggt gelegentlich. Na ja, zumindest hat er beides mal getan.« Ein Gefühl der Frustration macht sich in ihr breit. Sie sollte mehr über ihren Ehemann wissen. Sollte mehr sagen können. Aber die Wahrheit ist, dass sie in den letzten Wochen häufiger mit dem Zeitungshändler gesprochen hat als mit ihrem Mann.

»Raucht er?« Dr. Malik setzt sich in Bewegung, Hannah folgt ihm.

»Ja. Aber eigentlich nicht viel.« Sie gehen an Regalen vorbei, die mit Schläuchen und Nadeln gefüllt sind. »In den letzten Monaten ist es allerdings mehr geworden.«

»Hat er irgendwelche wiederkehrenden Beschwerden gehabt?«

Es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren. »Was zum Beispiel?«

»Kopfschmerzen? Unachtsamkeiten? Vergesslichkeit?«

Sie versucht, sich zu erinnern. »Er bekommt häufig Kopfschmerzen, wenn er etwas getrunken hat.«

»Und wie oft kommt das vor?«

»In letzter Zeit eigentlich täglich.«

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass er davor immer Alkohol zu sich genommen hat?«

»Ja.« Sie nickt, obwohl sie sich bereits im selben Moment nicht mehr sicher ist. Sie macht sich schon länger nicht mehr die Mühe, ihren Mann zu fragen, was er am Abend so treibt.

Hannah folgt Dr. Malik zum letzten durch Vorhänge abgeteilten Bett, in dem ein Mann in einem rosafarbenen Krankenhaushemd liegt. Ein Gewirr aus Kabeln und Schläuchen ist mit seiner Brust verbunden, und ein schwarzer Monitor zeigt piepsend die Vitalzeichen an. Eine Krankenschwester in einer dunkelblauen Uniform legt ihm gerade eine Sauerstoffmaske an und spricht beruhigend auf ihn ein, als sie das Gummiband über seinen Kopf zieht.

Hannah will gerade weitergehen, als sie bemerkt, dass Dr. Malik stehen geblieben ist und das metallene Seitengitter am Bett des Patienten in die Höhe zieht.

Sie schaut sich den Mann genauer an. Seine dunklen Haare. Den Ehering.

Es ist Tom.

Ein Schluchzen entfährt ihr, das sie nur mühsam unterdrücken kann, indem sie sich die Hand auf den Mund presst. Der Körper vor ihr scheint nur aus Kabeln, Venen und Gliedmaßen zu bestehen. Dies kann unmöglich derselbe Mann sein, der sie vor so vielen Jahren jauchzend über die Schwelle getragen hat, der auf ihrer Verlobungsparty einen furchtbaren violetten Cocktail mit dem Namen »Hantini« erfunden hat, der mit seinem in die Jahre gekommenen Ford Escort die ganze Nacht durchgefahren ist, um ihr an ihrem ersten Schultag als Lehrerin einen Korb mit Kuchen, Blue Stilton und Amaretto vorbeizubringen.

Plötzlich kann sie sich nur noch an die guten Zeiten erinnern.

»Wir müssen weiter.« Dr. Malik bugsiert Toms fahrbares Krankenbett auf den Flur. Ein bärtiger Pfleger übernimmt, damit sich der Arzt auf seinen Patienten konzentrieren kann. Die Schwester bleibt am Kopfende, um sie durch den Hindernisparcours aus leeren Rollwagen, Pappkartons und sperrigen Metallkäfigen zu steuern, in denen sich Betttücher stapeln.

Hannah muss beinahe rennen, um Schritt zu halten. »Wohin gehen wir?«

Dr. Malik hebt Toms linken Arm leicht an, doch er fällt kraftlos auf das Laken zurück. »Wir werden ein CT machen, um zu sehen, was in seinem Gehirn vor sich geht.«

Hannahs Magen krampft sich zusammen. »Wonach suchen Sie?«

Sie betreten einen Aufzug. Die schweren grauen Türen schließen sich, und er setzt sich ruckelnd und scheinbar viel zu langsam in Bewegung.

Dr. Malik überprüft Toms Puls und hebt dann den Blick, um Hannah anzusehen. »Schlaganfälle passieren, wenn die Blutzufuhr des Gehirns unterbrochen wird – entweder durch die Verstopfung einer Arterie oder eine Blutung im Kopf. Verstehen Sie?«

Hannah schluckt. »Ich glaube schon.«

»Das CT wird uns zeigen, was genau bei Tom passiert ist.«

Hannah hat sich den Riemen ihrer Handtasche so fest um die Hand gewickelt, dass er ihr in die Handfläche schneidet.

Dr. Maliks Blick wandert wieder zu Tom hinüber. »Sobald wir wissen, was genau vor sich geht, können wir ihn entsprechend behandeln.«

»Okay.« Hannah starrt auf Tom herab, bis der Aufzug endlich das richtige Stockwerk erreicht hat. Seine Reglosigkeit macht ihr Angst. Sie denkt an ihren letzten Streit zurück. Toms unbändige Wut, mit der er um sie herummarschiert war und alle ihre Schwächen aufgezählt hatte. Sie sei naiv. Egoistisch. Immer dieselbe alte Leier. Jetzt wo er so still daliegt, wünscht sie sich nichts sehnlicher, als dass er sie wieder anschreit.

Dr. Malik hilft dabei, das Bett aus dem Aufzug zu manövrieren. Sie laufen einen Gang hinunter, biegen um eine Ecke und betreten die Radiologie. Der Empfangsbereich ist dunkel und wenig einladend. Der Arzt gibt ihr ein Zeichen stehen zu bleiben. »Bitte warten Sie hier, Hannah.«

»Nein.« Sie ballt die Hände zu Fäusten. »Ich möchte bei ihm bleiben.«

Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Sie können nicht mitkommen.«

»Bitte!«

»Die Strahlenbelastung ist zu hoch. Sie müssen hier draußen warten.« Ungeduldig trommelt er mit den Fingern auf Toms Krankenblatt. »Wir müssen ihn jetzt reinbringen – jede Sekunde zählt.«

»Okay.« Hannahs Schultern sacken nach vorn, als Tom davongefahren wird und sie schon wieder allein zurückbleibt. Sie geht zum Wasserspender hinüber, aber es gibt keine Plastikbecher mehr. Ihr Magen knurrt. Als sie auf die Uhr ihres Handys schaut, stellt sie fest, dass es bereits halb sechs ist.

Sie hört, wie irgendwo in der Nähe surrend eine Maschine anspringt, während sie auf der Suche nach etwas Essbarem in ihrer Handtasche herumkramt. Sie fördert eine alte Tüte Maltesers-Schokokugeln zutage und reißt sie auf. Die Schokohülle der ersten Kugel ist zwar schon ziemlich gequetscht, aber der Zucker beruhigt ihre Nerven, und sie steckt sich eine weitere in den Mund. Und dann noch eine. Und noch eine. Plötzlich stopft sie die Kugeln nur so in sich hinein, als könnte das ihre Welt daran hindern entzweizubrechen. Neun. Zehn. Elf. Sie schließt die Augen, und alles reduziert sich auf die Schokolade und das Knirschen der Malzfüllung zwischen ihren Zähnen.

Wenig später hört sie Schritte, und Dr. Malik setzt sich neben sie. »Hannah.«

»Ja?«

»Der Scan hat bestätigt, dass Tom einen Schlaganfall erlitten hat.«

Das kann unmöglich sein. »Aber er ist doch erst zweiunddreißig!«

Dr. Malik schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, das spielt keine Rolle. Der Blutfluss zu dem Teil seines Gehirns, der seine linke Seite kontrolliert, ist blockiert, und wir können auf dem Scan einen kleinen geschädigten Bereich erkennen.«

»O Gott!« Hannah hat ihre Hände so fest ineinander verschlungen, dass ihre Finger langsam taub werden.

»Da wir nicht genau wissen, wann die ersten Symptome aufgetreten sind, müssen wir ihn auf der Intensivstation behalten und sorgfältig überwachen. Wir werden ihn gleich hinaufbringen.« Der Arzt steht auf, schenkt ihr ein angespanntes Lächeln und geht mit großen Schritten davon.

Hannah sitzt da und starrt zu Boden, während die letzte Schokokugel langsam in ihrer Handfläche schmilzt. Sie schließt die Augen und versucht, sich daran zu erinnern, wie man betet.

Als die Schwestern Tom aus dem CT-Raum rollen, springt Hannah auf und nimmt seine Hand. Sie ist eiskalt.

Der Aufzug transportiert sie widerwillig nach oben, und bei ihrer Ankunft im richtigen Stockwerk wird Tom durch eine weitere Flügeltür geschoben. Ein Blick auf das Schild darüber sagt Hannah, dass sie die Intensivstation für Schlaganfallpatienten betreten.

Dr. Malik ist zurück. »Wir werden uns vorerst hier um Tom kümmern.« Er zeigt auf die dunkle Station hinter sich. »Zurzeit ist sein Zustand stabil, aber wir werden ihn genau beobachten.« Die Station ist erfüllt von Atemzügen und nächtlichen Geräuschen. Der Arzt vollführt eine Bewegung in Richtung einer Schwester, die hinter dem Empfangstresen steht. Sie kommt hervor und hilft dabei, Tom auf den freien Platz zu schieben. »Wir werden Tom jetzt in ein Bett legen und alles Nötige in die Wege leiten, damit er bestens versorgt ist. Würden Sie bitte dort warten?« Dr. Malik zeigt zu einer Tür hinüber, auf der Ruheraum steht. »Es wird nicht lange dauern.«

»Warum?« Zorn wallt in Hannah auf. »Ich sollte bei ihm sein.«

»Wir brauchen nur ein paar Minuten. Dann können Sie zu ihm.«

Erneut ist Tom von Menschen umgeben, während Hannah alleine bleibt. Sie betritt den Ruheraum und geht zum Fenster, von wo sie auf eine hässliche, mit viel zu grellen Schweinwerfern angestrahlte Skulptur im Hof hinabblickt. Sie denkt an all die Anrufe, die sie machen, die schlimmen Neuigkeiten, die sie überbringen muss, und würde am liebsten ihren Kopf gegen einen spitzen Gegenstand schlagen. Sie begreift ja selbst kaum, was hier gerade geschieht, wie soll sie es da anderen Menschen erklären?

Sie lässt sich auf einen der Plastikstühle fallen und kramt ihr Handy aus der Tasche. Dann holt sie tief Luft und ruft Julie an. Während es am anderen Ende läutet, stellt sie sich vor, wie sich Toms Schwester aus der Umarmung des Mannes befreit, mit dem sie in dieser Woche gerade zusammen ist. Nicht dass sie überhaupt damit rechnen würde, dass ihre Schwägerin ans Telefon geht. Julie befindet sich erfahrungsgemäß bis mittags im Tiefschlaf und ist davor nur selten ansprechbar.

Zu Hannahs Überraschung ertönt jetzt jedoch ein gedehntes: »Jaaaa?«

»Julie. Hier ist Hannah.« Sie versucht, ihrer Stimme einen ruhigen, tröstlichen Klang zu verleihen, worin sie kläglich scheitert. Julie ist ein Mensch, der geradezu nach Katastrophen hungert. Selbst unter den glücklichsten Umständen findet sie noch das berüchtigte Haar in der Suppe.

»Was ist los? Was ist passiert?«

Hannah senkt ihre Stimme. »Tom ist im Krankenhaus. Er hatte einen Schlaganfall.«

»Was?« Julie nimmt die Nachricht mit einem Hustenanfall auf, der in einer TB-Klinik behandelt werden sollte. »Ist er …? Ist er noch …?«

»Ja, Julie. Er lebt. Sein Zustand ist im Augenblick stabil, und sie überwachen ihn jetzt im Krankenhaus.«

»Scheiße.« Hannah hört ein Rascheln und dann das wiederholte Klicken eines Feuerzeugs. »Scheiße!«

»Julie?«

Die einzige Antwort ist ein Klatschen wie von einer Hand, die auf nackte Haut schlägt. Im Hintergrund ertönt ein entrüstetes Knurren. Julies Bettgenosse wird heute Nacht sicher nicht mehr viel Schlaf bekommen. Julie fährt ihn wütend an. »Könntest du vielleicht dafür sorgen, dass dieses blöde Feuerzeug funktioniert?«

Eine tiefe Stimme antwortet: »Wir haben gerade mal sechs, Jules. Schlaf weiter.«

Hannah reibt sich die Augen, um die schmerzhafte Anspannung über ihren Brauen zu lösen.

Weiteres Knurren ist zu hören, dann sagt Julie: »Ich hab gerade echt schlechte Nachrichten bekommen, also könntest du mir verdammt noch mal ’ne Kippe anzünden?«

Hannah seufzt. »Julie?«

»Ja. Eine Sekunde.« Hannah hört wieder das hektische Klicken. »Das Scheißding funktioniert nicht. Bring’s in Ordnung, okay? Mein Bruder hatte gerade einen Schlaganfall.«

Hannah beschleicht der dumpfe Verdacht, dass diese Beziehung keine Zukunft hat. Sie holt tief Luft. »Hör zu, Jules, es geht ihm wirklich schlecht, aber er liegt jetzt auf der Intensivstation, wo sie ihn genau überwachen und behandeln können.«

»Also kommt er wieder in Ordnung?«

»Das weiß ich nicht.« Die Erschöpfung droht sie zu überwältigen. »Ich muss jetzt Schluss machen, aber komm bitte so schnell wie möglich her, ja?«

»Aber das Auto ist kaputt. Ich habe keine Ahnung, wie ich …«

Hannah fällt ihr ins Wort. Julie würde sich ausnahmsweise einmal selbst helfen müssen. »Nimm den Zug oder was weiß ich. Wir sind auf der Intensivstation für Schlaganfallpatienten im King’s Lane Hospital. Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich zurück zu Tom.«

»Okay.« Julies Stimme klingt mit einem Mal brüchig. »Sag ihm, dass ich ihn liebe, ja?«

»Mache ich. Bis bald.« Bevor sie das Gespräch beendet, hört sie, wie Julie zu schluchzen beginnt.

Als Hannah endlich auf die Station darf, liegt Tom festgezurrt in einem Bett. Der gesamte Raum scheint nur aus Piepstönen und Nadeln zu bestehen. Ein durchsichtiger Infusionsbeutel hängt an einem Ständer über ihm. Furcht steigt wie bittere Galle aus ihrem Magen auf, als sie sich in einen Sessel an der Seite seines Betts sinken lässt und seine Hand ergreift.

Dr. Malik lehnt sich gegen die Wand und sieht sie an. Dann sagt er mit leiser Stimme: »Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend. Wir werden darauf achten, ob es Komplikationen gibt, und versuchen herauszufinden, warum er den Schlaganfall erlitten hat und wie viel Reha er benötigen wird.«

Hannah beobachtet Toms Brustkorb, der sich langsam hebt und senkt. Ein. Aus. Sie hat das Gefühl, nicht wegsehen zu dürfen, weil er sonst aufhören könnte zu atmen.

Tränen schießen ihr in die Augen. »Wie lange kann ich hier bei ihm bleiben?«

»Solange Sie möchten.«

»Danke.«

Nachdem der Arzt gegangen ist, wendet sie sich Tom zu. Sie ist erstaunt, wie jung er aussieht. Im Halbdunkel scheinen die tiefen Furchen auf seiner Stirn, die er der Kanzlei verdankt, wie weggewischt. Plötzlich sieht er wieder aus wie der Mann, der in dem Diner in Soho den Blick nicht von ihr wenden konnte. Glückliche Zeiten … Sie blickt zu den verhängnisvollen Linien auf dem Monitor, und die Tränen laufen ihr über die Wangen. Das Gefühl, wie viel sie beide verloren haben, ist plötzlich geradezu überwältigend.

Als Hannah einen leichten Druck an ihren Fingern spürt, blickt sie hinunter und sieht, dass sich Toms rechte Hand um ihre geschlossen hat. Seine Augen schimmern feucht. Sie hat ihn schon seit Jahren nicht mehr weinen sehen.

Tom. Oh, Tom.

Sie streichelt sein Gesicht und wartet schweigend, bis er die Augen wieder schließt. Als seine Atmung tiefer wird, denkt sie darüber nach, was sie ihm heute hatte sagen wollen. Die Worte, die sich seit Wochen – Monaten – in ihr angestaut haben. Sie legt den Kopf in die Hände und flüstert eine Bitte in die Dunkelheit der Station. Doch niemand hört sie.

SOMMER 2006

BEWIRTUNGSBELEG: £ 35.75, RAINBOW BAR

Ihre erste Verabredung endete in einer Schwulenbar.

»Nicht ganz die romantische Atmosphäre, die mir vorgeschwebt hat.« Tom spürte, wie er langsam von dem Barhocker im Leopardenfell-Look hinunterrutschte, und stützte sich mit den Ellbogen auf den winzigen Metalltisch ab.

»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.« Hannah ließ die Lederjacke von den Armen gleiten und hängte sie an einen Haken unter der Bar. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch die üppigen Locken. Ein Lächeln umspielte ihre glänzenden Lippen. Er sehnte sich danach, sie zu küssen, doch jedes Mal, wenn er seinen Mut zusammengenommen hatte, schien sie gerade einen Schluck aus ihrem Glas oder einen Bissen von ihrem Essen zu nehmen.

Das machte ihn verrückt.

Hannah saß anmutig auf ihrem Hocker. »Was könnte romantischer sein, als Margaritas aus einem fluoreszierenden pinkfarbenen Eimer zu trinken?«

»Das ist allerdings wahr«, erwiderte er. »Das ist das Material, aus dem Filme gemacht werden.« Er saugte an seinem Strohhalm und wandte den Blick ab, als sich zwei Brustkästen an die Bar lehnten, die wesentlich männlicher waren als sein eigener. »Ich meinte eher die Musik.«

»Wie bitte?« Hannah machte ein übertrieben schockiertes Gesicht. »Und ich dachte, dass du dem DJ extra was zugesteckt hast!«

Er schüttelte den Kopf, als der Refrain von a-has Take on Me aus den Lautsprechern dröhnte. »Nicht schuldig.« Er legte eine Hand auf ihre und jubilierte innerlich, als sie sie nicht wegzog. Ihre Finger waren warm.

»Typisch Jurastudent. Viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst ernst zu nehmen, um einen guten, altmodischen Popsong wie diesen zu schätzen zu wissen.«

Er verdrehte die Augen. »Sagt die unkultivierte Englischstudentin, die es nicht besser weiß.« Er schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. »Falls du ein Fan von diesem Mist sein solltest, dann fürchte ich, dass ich deinen Namen von meiner Liste für zweite Dates streichen muss.«

»Ach, wirklich?« Sie lehnte sich so weit zu ihm hinüber, dass er ein weiteres Mal an diesem Abend den Ausblick genießen konnte, den ihm ihr tief ausgeschnittenes Top gewährte. »Und wer sind meine Konkurrentinnen auf dieser Liste?«

Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Da gibt es viel zu viele Kandidatinnen, um sie alle einzeln aufzuzählen, fürchte ich.«

Sie lehnte sich wieder zurück. »Verstehe. Also warst du an all diesen Abenden in der letzten Woche, als du behauptet hast, du müsstest im Pub arbeiten, in Wahrheit mit anderen Frauen aus?« Sie hatte es in einem neckenden Tonfall gesagt, aber für einen Moment sah er Besorgnis in ihren Augen aufblitzen, ehe sie ihren Blick auf den Tisch senkte. »Gut zu wissen, wo ich stehe.«

Tom war sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte. Er lehnte sich vor, um wieder ihre Hand zu nehmen, doch der Barhocker machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Für einen Moment schwankte er gefährlich hin und her, ehe er sein Gleichgewicht zurückerlangte.

Cool, Tom, supercool.

»Glaub mir, Hannah, mir rennen die Frauen wirklich nicht die Bude ein. In meinem Leben gibt es nur meine Mutter und meine Schwester. Und ich mag die Frau vom Kiosk, die mir die Samstagszeitung verkauft. Sie ist wirklich nett, auch wenn es etwas nervig ist, dass sie mir dauernd Fotos von irgendwelchen Enkelkindern zeigt. Das sind dann aber wirklich auch schon alle.«

Hannah hielt den Blick gesenkt. »Ehrlich?«

»Ehrlich.«

Als sie den Kopf hob und einen Schluck trank, war er erleichtert, ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. »Ich hab mir natürlich nicht ernsthaft Sorgen gemacht«, sagte sie schließlich. »Immerhin werde ich geradezu von Bewunderern belagert, wo ich auch gehe und stehe.«

Tom vermutete, dass das sogar der Wahrheit entsprach, obwohl sie sich ihrer Wirkung offensichtlich gar nicht bewusst war. Und dafür mochte er sie umso mehr. »Nun, ich werde sie alle vermöbeln. Was offensichtlich kein Problem für mich ist.« Er versuchte, einen Bizeps anzuspannen, was ihm kläglich misslang.

Hannah lehnte sich wieder zu ihm hinüber. »Offensichtlich. Das würde ich wirklich gerne sehen.«

»Würdest du das?«, entgegnete er möglichst gelassen und mit so viel gespielter Coolness, wie er nur aufbringen konnte.

»Ja.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Aber verrate mir lieber, was ich verpassen würde, wenn ich nicht in die Auswahl für ein zweites Date kommen sollte.«

Tom machte eine Geste mit den Fingern, als würde er einen imaginären Reißverschluss vor seinem Mund zuziehen, und schüttelte den Kopf.

»Oh, ich verstehe.« Ein Lichtstrahl der Discobeleuchtung traf den Silberanhänger an ihrem Hals. »Du spielst wieder den Geheimnisvollen.«

»So ist es.« Er lehnte sich ebenfalls vor, sodass ihre Lippen nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Endlich.

»Vibriert dein Handy in der Tasche, oder freust du dich einfach nur, mich zu sehen?«

Tom brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie meinte. Er zog das Handy aus seiner Hose. »Ist bloß meine Mum.« Er schaltete es aus und steckte es wieder in die Tasche.

»So spät noch?« Hannah wirkte besorgt. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Du kannst sie ruhig zurückrufen, wenn du willst.«

»Es ist alles okay. Sie klingelt nur gern mal durch, wenn ihre Schicht zu Ende ist«, sagte Tom und nahm dann all seinen Mut zusammen, um Hannah eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. »Lass uns noch mal darauf zurückkommen, wie geheimnisvoll ich bin. Das hat mir gefallen.«

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Halt die Klappe und küss mich endlich.«

Und das tat er. Sie schmeckte nach Zitrone und Hoffnung. Im Hintergrund erklang ein Song von Take That, aber das bemerkte er nicht einmal.