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ZUM BUCH

Als Wurm im Herzen des Menschen bezeichnete der amerikanische Psychologe und Philosoph William James einst das Wissen um unsere Vergänglichkeit. In einer faszinierenden Studie, die auf zahlreichen Versuchen beruht, schildern die amerikanischen Psychologen Solomon, Greenberg und Pyszczynski, wie sehr die Furcht vor dem Nicht-mehr-Sein unser alltägliches Leben beeinflusst – häufig unbewusst. Menschen, die in bestimmten Situationen vor Entscheidungen gestellt werden, reagieren anders, wenn sie zuvor mit dem Gedanken an ihre Sterblichkeit konfrontiert wurden: So fällt ein Richter ein härteres Urteil gegen eine Angeklagte, die moralische Normen verletzt hat, und Studenten beurteilen Kritik am eigenen Land negativer.

Zwei Dinge, so zeigen die Autoren, spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Furcht: unsere Geborgenheit in einer Kultur, die für Sinnstiftung und eine umfassende Ordnung sorgt, sowie das Gefühl jedes Individuums, ein bedeutungsvolles Leben zu führen. Sie sind der Antrieb für die kulturellen Leistungen der Menschen, für unsere Loyalitäten, aber auch für Unruhen und Kriege. Ein Buch voll überraschender Einsichten!

ZU DEN AUTOREN

SHELDON SOLOMON, JEFF GREENBERG und TOM PYSZCZYNSKI sind Professoren für Psychologie am Skidmore College, der University of Arizona sowie der University of Colorado. Sie arbeiten und forschen seit mehr als dreißig Jahren miteinander. Zum Thema »Angst vor dem Tod« haben die Wissenschaftler Ende der 80er Jahre die Terror-Management-Theorie entwickelt. Sie befasst sich mit typischen Reaktionsmustern, die Menschen im Umgang mit Todesangst und dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit zeigen. In den letzten 25 Jahren konnten die Psychologen ihre Theorie in zahlreichen Studien empirisch bestätigen. Ihre mehrfach ausgezeichnete Arbeit hat die moderne Psychologie maßgeblich beeinflusst.

SHELDON SOLOMON,
JEFF GREENBERG UND
TOM PYSZCZYNSKI

DER
WURM IN
UNSEREM
HERZEN

Wie das Wissen
um die Sterblichkeit unser
Leben beeinflusst

Aus dem Englischen von
Susanne Kuhlmann-Krieg

Deutsche Verlags-Anstalt

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Worm at the Core. On the Role of Death in Life bei Random House, New York, einem Imprint von Penguin Random House.

Copyright © 2015 Sheldon Solomon, Jeff Greenberg und Tom Pyszczynski

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: ARTQU, iStockphoto

Bild Seite 304: © akg-images/IMAGNO/Leopold Museum Vienna

Gestaltung und Satz: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Adobe Garamond

ISBN 978-3-641-18272-4
V001

www.dva.de

Inhalt

Einleitung

TEIL 1
TERRORMANAGEMENT

Der Umgang mit der Angst vor dem Tod

Die Ordnung der Dinge

Das Selbstwertgefühl: Fundament innerer Stärke

TEIL 2
DER TOD IM WANDEL DER ZEITEN

Homo mortalis: Vom Primaten zum Menschen

Wahre Unsterblichkeit

Symbolische Unsterblichkeit

TEIL 3
DER TOD IN MODERNER ZEIT

Die Anatomie menschlicher Zerstörungswut

Körper und Seele: Eine unsichere Allianz

Tod, so nah und doch so fern

Risse im Schutzschild

Mit dem Tod leben

Dank

Anmerkungen

Register

Einleitung

Hinter allem steht das große Gespenst des universalen Todes, die allumfassende Schwärze … Wir brauchen ein Leben, das nicht an den Tod gebunden ist … etwas Gutes, das nicht vergeht, ja tatsächlich ein Gut, das sich über alle natürlichen Güter erhebt … So geht es den meisten von uns … eine kleine Reizbarkeit … [wird] den Wurm im Kern unseres gewöhnlichen Vergnügens vollständig sichtbar machen und uns in melancholische Metaphysiker verwandeln.1

William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung

An einem grauen, verregneten Tag im Dezember 1973 schritt der Philosoph Sam Keen in Burnaby, British Columbia, die Flure eines Krankenhauses entlang. Für einen Artikel in Psychology Today wollte er ein Gespräch mit einem sterbenskranken Krebspatienten führen, der nach Auskunft seiner Ärzte nur noch wenige Tage zu leben hatte. Als Keen das Zimmer betrat, sagte der Sterbende mit einem Anflug von Galgenhumor: »Sie finden mich sterbend. Das hier ist die Feuerprobe für alles, was ich über den Tod geschrieben habe. Und ich habe Gelegenheit zu zeigen, wie man stirbt … wie man seinen Tod annimmt.«2

Der Mann im Krankenhausbett war der Kulturanthropologe Ernest Becker. Becker hatte sein Wissenschaftlerleben dem Schreiben von Büchern gewidmet, die Erkenntnisse aus Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Philosophie, Religion, Literatur und Popkultur vereinten, und war der uralten Frage nachgegangen: »Was veranlasst Menschen, so zu handeln, wie sie es tun?«3

In seinem jüngsten Buch Dynamik des Todes, das er als sein »erstes reifes Werk« bezeichnete, war Becker zu dem Schluss gekommen, dass menschliches Tun in hohem Maße durch das unbewusste Verlangen getrieben wird, den Tod zu verdrängen und sich über seine Endlichkeit zu erheben. »Wir entwickeln Charakter und Kultur«, erklärte er Sam Keen, »um uns mit ihrer Hilfe vor dem niederschmetternden Gewahrwerden unserer grundsätzlichen Hilflosigkeit und der Furcht vor unserem unausweichlichen Tod zu schützen.«4 Jetzt, auf dem Sterbebett, erklärte Becker, sein Lebenswerk habe darin bestanden, sich mit dem grinsenden Totenschädel abzufinden, dessen Blick er unablässig auf sich ruhen fühlte. Ernest Becker starb am 6. März 1974 im Alter von neunundvierzig Jahren. Zu jung, wie so viele Visionäre. Zwei Monate später wurde Dynamik des Todes mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Damals in den 1960er Jahren galt Becker als intellektueller Rebell. Bei seinen Studenten, die scharenweise in seine Vorlesungen strömten, war er ungeheuer beliebt. Kollegen und Universitätsverwaltung hingegen waren nicht übermäßig entzückt von einem interdisziplinären Denker, der Gedanken aus allen Winkeln der Wissenschaft, des öffentlichen Diskurses und der Popkultur zusammenführte und die akademische und politische Strenggläubigkeit seiner Zeitgenossen kritisch hinterfragte.

Becker wurde daher zu einer Art Wissenschaftsvagabund, zog zunächst von der Syracuse University (1960–1963) an die University of California in Berkeley (1965), wo die Studentenschaft sogar anbot, sein Gehalt zu übernehmen, als das Institut für Anthropologie seinen Vertrag nicht verlängern wollte. Nach einem Zwischenspiel an der San Francisco State University (1967–1969) fand er seine akademische Heimat schließlich an der Simon Fraser University in Vancouver, British Columbia, (1969–1974), wo die zweite Auflage von The Birth and Death of Meaning, The Denial of Death (auf Deutsch erschienen als Dynamik des Todes) und sein posthum veröffentlichtes Buch Escape from Evil entstanden.

Wenige Jahre später – Ende der 1970er Jahre – lernten sich die drei Autoren dieses Buchs an der University of Kansas beim Promotionsstudium in experimenteller Sozialpsychologie kennen. Wir entdeckten rasch unser gemeinsames Interesse an den elementaren Motiven menschlichen Verhaltens. Bei unseren Studien und Diskussionen fielen uns vor allem zwei sehr grundlegende menschliche Impulse ins Auge: Zum einen sind wir Menschen in hohem Maße darauf aus, unsere Selbstachtung und unser Selbstwertgefühl zu schützen. Zum anderen verlangt es uns massiv danach, die Überlegenheit der Gruppe, der wir selbst angehören, über andere Gruppen sicherzustellen.

Wir hatten jedoch nicht die geringste Ahnung, was diesen beiden Erscheinungsformen von Stolz und Vorurteil zugrunde liegen mochte, bis wir als Jungprofessoren Anfang der 1980er Jahre über Beckers Bücher stolperten. Sie waren für uns eine Offenbarung wie der Stein von Rosetta für die Sprachwissenschaft. In einer Mischung aus hochphilosophischer Prosa und schnörkelloser Laiensprache erklärte Becker, wie die Furcht vor dem Tod menschliches Verhalten bestimmt. Er beleuchtete viele der entscheidenden sozialpsychologischen Phänomene, die wir seit Jahren studiert und gelehrt, aber nie in vollem Umfang begriffen hatten. Plötzlich sahen wir eine Möglichkeit zu verstehen, warum wir so verzweifelt nach Selbstachtung gieren und warum wir Menschen, die anders sind als wir, fürchten, ablehnen und manchmal sogar zu vernichten suchen.

Vor jugendlicher Begeisterung sprühend ergriffen wir 1984 die Gelegenheit, Beckers Überlegungen auf der Jahrestagung der Society of Experimental Social Psychology mit anderen Sozialpsychologen zu teilen. Wir stellten damals unsere frisch entwickelte »Terror-Management-Theorie« vor, mit der wir auf Beckers Überlegung aufbauten, dass Menschen in erster Linie deshalb nach einem inhaltsreichen und sinnerfüllten Leben streben, weil sie dadurch ihre Todesfurcht in Schranken halten können. Sobald wir erwähnten, dass unsere Theorie Einflüsse aus Soziologie, Anthropologie, Existenzialphilosophie und der Psychoanalyse in sich vereinte, schalteten die Zuhörer einer nach dem anderen ab. Als wir dann zu den Gedanken von Marx, Kierkegaard, Freud und Becker kamen, stürmten die renommierteren Psychologen zu den Ausgängen.

Irritiert, aber unverdrossen bereiteten wir eine Veröffentlichung für das Aushängeschild der American Psychological Association, die Zeitschrift American Psychologist, vor. Einige Monate später bekamen wir Rückmeldung. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass dieser Artikel keinen Psychologen – tot oder lebendig – interessieren wird«, lautete das lakonische Urteil. Aber wir ließen nicht locker und baten den Herausgeber immer wieder, uns zu erklären, warum er unsere Überlegungen für unwert erachtete. Unser Nachhaken währte länger als die Dienstzeit des ersten Herausgebers, und endlich gab uns ein zweiter mitfühlenderer (oder vielleicht nur überlasteter) Herausgeber einen Hinweis, mit dem wir etwas anfangen konnten. »Auch wenn Ihre Überlegungen hier und da stichhaltig sind, wird niemand sie ernstnehmen, solange sie keine Beweise dafür vorlegen können.« An diesem Punkt dämmerte uns, dass unser Studium der Sozialpsychologie uns darauf vorbereitet hatte, genau das zu tun.

Wir haben das vergangene Vierteljahrhundert damit zugebracht zu untersuchen, wie die Angst vor dem Tod unser menschliches Tun und Treiben beeinflusst. Zuerst haben wir die Forschung nur zusammen mit unseren Studenten betrieben. Später, als unsere Theorie allmählich Fahrt aufnahm, kamen Kollegen rund um den Erdball hinzu. Heutzutage arbeiten Psychologen und auch Gelehrte anderer Disziplinen in aller Welt über die Terror-Management-Theorie, und dabei ist ein Spektrum an Erkenntnissen zusammengekommen, das weit über das hinausgeht, was Becker sich in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können.

Es gibt mittlerweile überzeugende Beweise dafür, dass der Tod in der Tat der Wurm ist, der Menschen das Dasein madig macht. Das Bewusstsein dafür, dass wir Menschen sterblich sind, wirkt sich in so gut wie allen Bereichen des menschlichen Lebens tiefgreifend auf unser Denken, Fühlen und Verhalten aus – ob uns dies nun bewusst ist oder nicht.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat die Angst vor dem Tod die Entwicklung von Kunst, Religion, Sprache, Ökonomie und Wissenschaft beeinflusst. Sie hat die Pyramiden Ägyptens hervorgebracht und die Twin Towers in Manhattan dem Erdboden gleichgemacht. Sie nährt Konflikte rings um den Erdball. Als Individuen bringt uns die Erkenntnis unserer eigenen Sterblichkeit dazu, ein Faible für schicke Autos zu entwickeln, ungesund lange in der Sonne zu brutzeln, unser Kreditkarten-Limit zu überziehen, wie die Irren zu fahren, mit einem vermeintlichen Feind den Kampf aufzunehmen, nach Ruhm zu gieren, und sei er noch so flüchtig – selbst wenn wir im Dschungelcamp Schaben essen müssen, um ihn zu erlangen. Der Tod sorgt dafür, dass wir den eigenen Körper mit Unbehagen und das Thema Sex mit gemischten Gefühlen betrachten. Das Bewusstsein für die Unausweichlichkeit unseres Todes könnte leicht dazu beitragen, dass wir uns selbst auslöschen, wenn wir es nicht schaffen, unseren Umgang damit zu verändern.

Die Angst vor dem Tod ist eine der Haupttriebkräfte menschlichen Handelns. In diesem Buch werden wir zeigen, dass diese Angst menschliches Handeln weit stärker prägt, als den meisten von uns klar ist. Tatsächlich treibt sie uns so sehr um, dass jeder Versuch, die Frage »Was lässt Menschen so handeln, wie sie es tun?« anzugehen, zutiefst unzulänglich ist, wenn er nicht das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit als zentralen Faktor berücksichtigt.

Auf den folgenden Seiten stellen wir Terror-Management-Theorie und -Forschung im Kontext relevanter Erkenntnisse aus anderen Gebieten wie Anthropologie und Archäologie vor. Wir veranschaulichen die einzelnen Punkte anhand historischer und zeitgenössischer Beispiele. Bei der Darstellung der Forschung haben wir versucht, Wissenschaftsjargon weitgehend zu meiden und lästige technische Einzelheiten auszusparen. Wir haben auch versucht, einige der angeführten Schlüsselexperimente dadurch lebendiger zu gestalten, dass wir sie aus der Perspektive der Teilnehmer geschildert haben, die Namen wurden natürlich geändert.

In Teil 1 führen wir in die Grundprinzipien der Terror-Management-Theorie ein und erläutern die beiden Säulen unserer Versuche zur Beherrschung unserer Todesfurcht: unser kulturelles Weltbild und unser Selbstwertgefühl. In Teil 2 begeben wir uns in die Frühgeschichte und versuchen die Fragen zu beantworten: »Wie und wann ist der Tod für unsere Vorfahren zum Problem geworden?« und »Wie gingen sie damit um?«. In Teil 3 fragen wir, welchen Einfluss das Bewusstmachen unserer Sterblichkeit auf unsere persönlichen und zwischenmenschlichen Unterfangen hat. Im letzten Kapitel stellen wir einige Gedanken darüber vor, welche Konsequenzen unsere Arbeit für das Verständnis der modernen Welt hat. Und wie wir die Realität des Todes annehmen können. In Fortführung der intellektuellen Reise Beckers besteht unser vorrangiges Ziel darin aufzuzeigen, bei wie vielen Gelegenheiten sowohl die edelsten als auch die abstoßendsten Formen menschlichen Strebens von dem Bewusstsein getrieben werden, dass wir sterblich sind, und darüber nachzudenken, wie wir diese Einsichten zur persönlichen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung nutzen können.

TEIL 1

TERROR-
MANAGEMENT

KAPITEL 1

Der Umgang mit der Angst vor dem Tod

Die Wiege schaukelt über einem Abgrund,
und der platte Menschenverstand sagt uns, daß unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.5

Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich

Am Weihnachtsabend 1971 überflogen die siebzehnjährige Juliane Koepcke6 und ihre Mutter, die deutsche Ornithologin Maria Koepcke, zusammen mit neunzig weiteren Passagieren die Regenwälder am Amazonas. Sie kamen aus Lima und waren auf dem Weg nach Pucallpa, um zusammen mit Julianes Vater, dem großen Zoologen Hans-Wilhelm Koepcke, Weihnachten zu feiern. Plötzlich schlug ein Blitz in den Treibstofftank des Flugzeugs ein. Die Maschine zerbarst zwei Meilen über dem dünn besiedelten Waldgebiet und ging in Rauch und Asche auf.

Juliane wurde aus der Maschine ins Freie katapultiert. Es herrschte gespenstische Stille. Noch immer auf ihrem Sitz festgeschnallt, trudelte sie durch die Luft, sah das Blätterdach des Urwalds rotierend näher kommen, die letzte Hürde vor ihrem, wie es schien, sicheren Tod. Das dichte Blattwerk bremste ihren Sturz. Sie fiel in Ohnmacht.

Als sie erwachte, schnallte sie sich vom Sitz los und tastete um sich. Ein Schuh fehlte, ebenso ihre Brille. Sie befühlte ihr Schlüsselbein, es war gebrochen. Sie entdeckte eine tiefe Schnittwunde am Bein, eine weitere am Arm. Eines ihrer Augen war komplett zugeschwollen, das andere ließ nur noch einen kleinen Schlitz zum Sehen. Ihr war schwindlig von einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Aber da sie unter Schock stand, spürte sie keinen Schmerz. Sie rief und rief und rief nach ihrer Mutter. Keine Antwort. Sie stellte fest, dass sie laufen konnte. Also lief sie los.

Elf Tage lang irrte Juliane durch den Dschungel – Heimstatt von Kaimanen, Taranteln, giftigen Fröschen, Zitteraalen und Stachelrochen. Sie erduldete sintflutartig Regengüsse, tückische Sümpfe, mörderische Hitze und die unablässigen Angriffe stechender Insekten. Endlich fand sie einen kleinen Bach. Sie dachte an das, was ihr Vater sie einst gelehrt hatte – dass nämlich die meisten Menschen in Wassernähe leben –, und folgte dem kleinen Wasserlauf bis zu einem größeren. Sie watete in das von Piranhas und Stachelrochen bevölkerte Wasser und begann langsam zu schwimmen und sich flussabwärts treiben zu lassen.

Ihr Schockzustand rettete sie. Sie war nicht hungrig und hatte das Gefühl, von einer dicken Watteschicht umhüllt zu sein. Aber die Wolken aus beißenden und stechenden Insekten plagten sie. Sie versuchte, sich unter Bäumen auszuruhen, doch an Schlaf war so gut wie nicht zu denken. Ihre Wunden wurden von Maden besiedelt. Beim Treiben auf dem Wasser verbrannte die Sonne sie so, dass ihre Haut zu bluten begann. Aber sie machte benommen weiter.

Schließlich stieß sie auf ein Motorboot. Sie besaß die Geistesgegenwart, Benzin auf die Maden zu gießen, um diese abzutöten. Nach ein paar Tagen fanden die Besitzer des Bootes sie in der Nähe ihrer kleinen Hütte und brachten sie in die nächste, sieben Stunden entfernte Stadt.

Sie war die einzige Überlebende des Unglücks.

Wir alle kennen erstaunliche Geschichten von Menschen, die allen Widrigkeiten zum Trotz dem Tod entgangen sind: die Überlebenden der Titanic und jenes legendären Siedlertrecks in der Sierra Nevada, der als Donner Party in die Geschichte eingegangen ist, oder diejenigen, die von den Bomben auf Dresden, Hiroshima und Nagasaki verschont geblieben sind. In solchen Geschichten spiegelt sich die Tatsache, dass alle Lebewesen mit einer biologischen Ausstattung zur Welt kommen, die auf Selbsterhaltung geeicht ist. Über Milliarden Jahre hat sich auf unserem Planeten eine Fülle an komplexen Lebensformen entwickelt, jede einzelne davon programmiert, lange genug zu überleben, um ihre Gene an kommende Generationen weitergeben zu können. Fische haben Kiemen, Rosen Dornen. Eichhörnchen vergraben Nüsse und buddeln sie Monate später wieder aus, Termiten fressen Holz. Der phantastischen Vielfalt an Strategien, mit denen Angehörige aller möglichen Arten ihrem fundamentalen biologischen Auftrag nachzukommen versuchen, der da lautet: Bleib am Leben, scheint keine Grenzen gesetzt.

Wenn Sie in Ihrem Speicher eine umherflatternde Fledermaus entdeckten und das Dunkel mit einem Tennisschläger in der Hand betreten würden, um sie zu vernichten, müssten Sie sich auf ein erbittertes Gefecht gefasst machen, denn sie wird um ihr Leben kämpfen. Sogar Regenwürmer wehren sich heftig gegen das Sterben, wie jeder bezeugen kann, der schon einmal versucht hat, einen Angelhaken zu bestücken. Sie teilen ihn in der Mitte durch – er bleibt am Leben. Sie versuchen ihn aufzuspießen – er wird sich winden, was das Zeug hält. Haben Sie ihn auf dem Haken, kotet er Ihnen auf die Hand.

Im Unterschied zu Fledermäusen und Würmern aber wissen wir Menschen, dass wir, egal, was wir auch tun, den Kampf gegen den Tod am Ende verlieren werden. Das ist ein zutiefst beunruhigender Gedanke. Wir glauben vielleicht, Angst vorm Sterben zu haben, weil unser Körper verwesen, nach Fäulnis riechen und letztlich zu Staub zerfallen wird, weil wir unsere Lieben zurücklassen, weil wichtige Dinge unerledigt bleiben oder weil wir den heimlichen Verdacht hegen, dass uns doch kein liebender Gott erwartet, um uns in die Arme zu schließen. Aber tief in uns steckt hinter all diesen Sorgen jener fundamentale biologische Auftrag. Wie Juliane Koepcke und andere Überlebende von Katastrophen bezeugen, tun wir so gut wie alles, um am Leben zu bleiben. Dennoch leben wir mit dem Wissen, dass diesem Wunsch letztlich die Erfüllung unausweichlich versagt bleiben wird.

Wie sind wir in diese Zwickmühle geraten? Obwohl wir Menschen wie alle anderen Lebensformen den elementaren biologischen Auftrag zu überleben ererbt haben, unterscheiden wir uns in mehreren entscheidenden Aspekten von allen anderen. Rein physisch gesehen beeindrucken wir nicht übermäßig. Wir sind nicht sonderlich groß, auch sind unsere Sinne nicht besonders geschärft. Wir bewegen uns viel langsamer als Geparden, Wölfe oder Pferde. Unsere Klauen sind nichts weiter als dünne, armselige Fingernägel, unsere Zähne nicht dafür gemacht, mehr als ein durchgegartes Steak zu verzehren.

Aber die kleine Gruppe afrikanischer Hominiden, von der wir alle abstammen, war hoch sozial, und dank der Evolution einer Großhirnrinde von respektabler Größe wurde unsere Art extrem intelligent. Diese Entwicklung begünstigte Kooperation und Arbeitsteilung und ließ unsere Vorfahren schließlich Werkzeuge, Ackerbau, Häuser, das Kochen und einen Haufen anderer praktischer Dinge erfinden. Wir, ihre Nachfahren, gediehen und vermehrten uns, unsere Zivilisationen schlugen in der ganzen Welt Wurzeln.

Die Evolution des menschlichen Gehirns stattete uns Menschen mit zwei besonders wichtigen intellektuellen Fähigkeiten aus: einem hohen Grad an Selbst-Bewusstsein und der Fähigkeit, in zeitlichen Dimensionen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken. Nur wir Menschen sind, soweit wir wissen, uns unserer selbst als Wesen bewusst, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort existieren. Das ist ein wichtiges Kriterium. Im Unterschied zu Gänsen, Affen und Wombats können wir unsere gegenwärtige Situation im Licht sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft sorgsam überdenken, bevor wir uns für ein bestimmtes Handeln entscheiden.

Dieses Bewusstsein für unsere eigene Existenz verleiht uns ein hohes Maß an Verhaltensflexibilität, die uns hilft, am Leben zu bleiben. Einfachere Lebensformen reagieren auf ihre Umwelt starr und unflexibel. Falter beispielsweise fliegen stets zum Licht. Auch wenn ihr Verhalten im Allgemeinen nützlich sein mag, wenn es gilt, den Weg zu finden oder einem Räuber zu entgehen, kann es tödlich sein, wenn die Lichtquelle eine Kerze oder ein Lagerfeuer ist. Im Unterschied zu Schmetterlingen können wir Menschen unsere Aufmerksamkeit vom nie endenden Strom unserer sensorischen Wahrnehmung weglenken. Wir werden nicht unausweichlich von der Flamme angezogen. Wir können beschließen, ganz anders zu handeln, und das hängt nicht nur von unseren Instinkten ab, sondern auch von unserer Fähigkeit zu lernen und zu denken. Wir können alternative Reaktionen auf gegebene Situationen und deren Konsequenzen abwägen und uns neue Möglichkeiten vorstellen.

Unsere Selbstwahrnehmung hat uns im Allgemeinen gute Dienste geleistet. Sie hat unsere Fähigkeit, zu überleben, uns fortzupflanzen und unsere Gene an künftige Generationen weiterzugeben, gemehrt. Wir können über den Umstand nachdenken, dass jeder von uns, um es mit Otto Ranks wunderbaren Worten zu sagen, »der zeitliche Repräsentant der kosmischen Urkraft«7 ist. Wir stammen alle von den allerersten lebenden Organismen ab und sind folglich mit diesen verwandt, ebenso mit jeder anderen erdbewohnenden Kreatur, die seither gelebt hat oder in Zukunft leben wird. Was für ein phantastisches Glück, am Leben zu sein und gleichzeitig darum zu wissen!

Weil wir Menschen wissen, dass wir existieren, wissen wir allerdings auch, dass wir eines Tages nicht mehr existieren werden. Der Tod kann uns jederzeit ereilen, wir können ihn weder vorhersagen noch steuern. Das ist eine entschieden unliebsame Nachricht. Auch wenn das Glück es will, dass wir den Angriffen giftiger Insekten und bissiger Wildtiere, Messern, Geschossen, Flugzeugabstürzen, Autounfällen, Krebserkrankungen und Erdbeben entkommen, wissen wir doch, dass wir nicht ewig weitermachen können.

Dieses Bewusstsein ist die Schattenseite menschlicher Intelligenz. Wenn Sie einen Augenblick darüber nachdenken, stellt uns das Wissen um unsere Sterblichkeit vor ein entsetzliches Dilemma, es fühlt sich an wie ein schlechter Witz der Weltgeschichte. Auf der einen Seite teilen wir mit allen Lebewesen das dringende Verlangen nach Fortbestand unserer Existenz, auf der anderen sind wir klug genug zu begreifen, dass wir mit diesem fundamentalen Streben letztlich unabdingbar scheitern werden. Wir zahlen einen hohen Preis für das Bewusstsein unserer selbst.

Die natürliche und grundsätzlich angepasste Reaktion auf die ungeheure Bedrohung durch den Tod ist Angst. Alle Säugetiere, nicht nur wir Menschen, kennen Angst. Wenn eine Antilope einen Löwen sieht, der im Begriff ist, über sie herzufallen, sendet die Amygdala in ihrem Gehirn Signale an ihr limbisches System, das dann aus der angeborenen Palette an Verhaltensweisen eine der drei Alternativen Flucht, Angriff oder Totstellen herauspickt und auslöst. Bei uns passiert etwas Ähnliches. Wann immer wir uns einer tödlichen Bedrohung gegenübersehen – das kann ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug sein, ein Straßenräuber mit einem Messer, ein Engegefühl im Brustkorb, ein verdächtiger Knoten irgendwo an unserem Körper, extreme Turbulenzen im Flugzeug, ein Selbstmordattentäter, der seine Bombe inmitten einer Menschenmenge zündet – nimmt uns das Angstgefühl komplett in Beschlag. Wir spüren entweder den Drang, zu fliehen oder uns zu wehren, oder erstarren einfach zur Salzsäule. Die Panik hat uns im Griff.

Und jetzt kommt der wirklich tragische Teil unseres Menschseins: Nur wir Menschen können diese Angst dank unserer vergrößerten und hoch entwickelten Großhirnrinde auch in Abwesenheit einer lauernden Gefahr empfinden. Unser Tod »wartet wie ein alter Lüstling«, wie es der große belgische Chansonnier Jacques Brel einst formulierte, und lauert irgendwo im Schatten unserer Psyche. Diese Erkenntnis droht uns in einen dauerhaften Zustand existentieller Angst zu versetzen.

Der Dichter W. H. Auden hat dieser rätselhaften menschlichen Besonderheit ein Denkmal gesetzt:

Glücklich die Häsin am Morgen, denn sie kann die

Gedanken des Jägers nicht lesen. Glücklich

Das Blatt, das den Herbst nicht erahnt. Glücklich fürwahr

Die Wasserlinse, üppig bis zur Erstickung

Wuchernd im Teich, der Wüsten Saum nur benetzend …

Aber der Mensch, der sein Lied in- und auswendig kennt,

Und sofort erkennt, wenn der Tod es stört, dem Schrei des Sturmtauchers gleich,

Was soll er tun, außer sich vor dieser Erkenntnis zu schützen? 8

Diese allgegenwärtige Möglichkeit, von lähmender Angst befallen zu werden, ist die Crux des menschlichen Daseins. Um diese Angst in den Griff zu bekommen, müssen wir uns verteidigen.

Wie wir mit Angst umgehen

Zum Glück sind wir Menschen eine überaus erfindungsreiche Art. Sobald die Evolution unsere Intelligenz bis zu dem Punkt hatte gedeihen lassen, dass uns unsere ultimative existentielle Not anfing bewusst zu werden, nutzten wir genau diese Intelligenz, um geeignete Mittel zu entwickeln, die potentiell zerstörerische existentielle Angst in Schach zu halten. Das kulturelle Weltbild, das wir mit anderen teilen – die Glaubenssysteme, die wir schaffen, um uns das Wesen der Wirklichkeit zu erklären –, geben uns ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, begründen den Ursprung des Universums, geben uns Orientierung für ein rechtschaffenes Verhalten auf Erden und verheißen Unsterblichkeit.

Seit den frühesten Tagen der Menschheit haben die den Tod fürchtenden Menschen Trost in ihrer Weltanschauung gesucht und erfahren. Durch alle Zeitalter und rings um den Globus ist die überwiegende Mehrzahl der Menschen früher und heute durch eine Religion dahin gebracht worden zu glauben, dass ihre Existenz auch nach dem Eintritt des physischen Todes in irgendeiner Form andauert. Manche von uns glauben daran, dass unsere Seelen gen Himmel aufsteigen, wo wir unsere uns vorangegangenen Lieben wiedertreffen und uns im Glanz eines liebenden Schöpfers sonnen werden. Andere »wissen«, dass unsere Seelen im Augenblick des Todes in anderer Form wiedergeboren werden. Wieder andere sind davon überzeugt, dass unsere Seelen sich einfach zu einem anderen, unbekannten Daseinsort aufmachen. In all diesen Fällen glauben wir, dass wir auf die eine oder andere Weise Unsterblichkeit erfahren, das heißt unsterblich im eigentlichen Sinne des Wortes sind.

Daneben bieten unsere Kulturen aber auch die Hoffnung auf Unsterblichkeit im übertragenen Sinne, symbolische Unsterblichkeit, nennt dies Robert Lifton – das Gefühl, dass wir Teil von etwas sind, das größer ist als wir selbst und noch lange nach unserem Tod fortdauern wird. Das ist der Grund dafür, dass wir bestrebt sind, Teil von sinnspendenden Gruppen zu sein und einen dauerhaften Einfluss auf die Welt zu haben – ob durch unser kreatives Wirken in Kunst und Wissenschaft, durch Gebäude und Menschen, die nach uns benannt sind, durch unseren Besitz und unsere Gene, die wir an unsere Kinder weitergeben, oder durch die Erinnerungen, die andere an uns haben. So wie wir diejenigen, die wir geliebt und bewundert haben und die vor uns gestorben sind, in Erinnerung behalten, wird es uns auch ergehen, glauben wir. Symbolisch »leben wir weiter« in unseren Werken, den Menschen, die wir gekannt haben, den Grabsteinen auf unseren Gräbern und in unseren Nachfahren.

Diese kulturell definierten Möglichkeiten, über den Tod hinaus zu bestehen, geben uns das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zu einer fortbestehenden Welt zu leisten. Sie bewahren uns vor dem Gefühl, nichts weiter zu sein als ziellose Tiere, die nach ihrem Tod aufhören zu sein. Unser Glaube an Unsterblichkeit im eigentlichen oder übertragenen Sinne – faktisch erfahrbare und symbolische Unsterblichkeit – hilft uns mit der potentiellen Furcht umzugehen, die uns das Wissen eingibt, dass unser physischer Tod unausweichlich ist.

Das bringt uns zu den zentralen Grundsätzen der Terror-Management-Theorie. Wir Menschen handhaben das Problem unseres Wissens um die eigene Sterblichkeit, indem wir uns zweier elementarer psychologischer Mittel bedienen. Zum einen müssen wir das Vertrauen in unsere Weltanschauung, unser kulturelles Weltbild, aufrechterhalten, um unserer Wirklichkeitswahrnehmung Ordnung, Bedeutung und Beständigkeit zu verleihen. Auch wenn wir unser kulturelles Weltbild in der Regel als garantiert nehmen, so handelt es sich im Grunde doch um ein fragiles menschliches Konstrukt, für dessen Schaffung, Aufrechterhaltung und Verteidigung Menschen eine Menge Kraft und Energie aufwenden. Da wir unausgesetzt an der Schwelle der Erkenntnis stehen, dass unser Dasein zerbrechlich und gefährdet ist, klammern wir uns an die Regierungs-, Bildungs- und Religionsinstitutionen und -rituale unserer Kultur und festigen dadurch unsere Überzeugung, dass das menschliche Leben etwas Einzigartiges, Sinnerfülltes und Ewigwährendes ist.

Aber das Leben im Allgemeinen so zu sehen, genügt nicht; wir müssen vor allem unser eigenes Leben so sehen. Die Wege zu faktisch erfahrbarer und symbolischer Unsterblichkeit, die uns unser Weltbild vorgibt, erfordern es, dass wir uns als wertvolle Angehörige unserer Kultur empfinden. Somit ist das zweite entscheidende Mittel im Umgang mit unserer Todesfurcht ein Gefühl für die eigene Bedeutung, gemeinhin als Selbstachtung oder Selbstwertgefühl bezeichnet. So wie sich kulturelle Weltbilder unterscheiden, unterscheidet sich auch die Art und Weise, wie wir Selbstwertschätzung erwerben und aufrechterhalten. Bei den sudanesischen Dinka wird der Mann am höchsten geschätzt, der die größte Zebu-Herde sein Eigen nennt. Auf den Trobriand-Inseln wird der Wert eines Mannes an der Größe einer Pyramide aus Süßkartoffeln gemessen, die er vor dem Haus seiner Schwester aufschichtet. Vielen Kanadiern gilt der Mann, der mit seinem Schläger am besten Gummi-Pucks in Netze zu donnern vermag, die von maskierten Gegnern bewacht werden, als Held der Nation.

Das Streben nach Selbstachtung treibt uns alle an, und zwar mit aller Macht. Selbstachtung schützt uns gegen das Rumoren des Ungemachs, das sich unter der Oberfläche unseres täglichen Tuns verbirgt. Selbstachtung versetzt jeden von uns in die Lage zu glauben, dass wir bleibende, bedeutsame Geschöpfe und keine schnöden Kreaturen aus gemeiner Materie sind, die unabdingbar der Vergänglichkeit anheimfallen werden. Diese Kombination aus Festigung und Bestätigung unseres Weltbildes einerseits und unseres eigenen Werts andererseits vermag uns vor der Angst vor dem unausweichlichen Tod, die allein dem Menschen zu eigen ist, zu bewahren. Und genau diese beiden Impulse haben einen Großteil dessen angetrieben, was die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte zuwege gebracht hat.

Die Vorstellung, dass das Bewusstsein unserer Sterblichkeit eine entscheidende Rolle für unser Denken und Handeln spielt, ist uralt. Sie findet sich in der Bibel, der Thora, im Koran und in alten buddhistischen Texten. Vor zweieinhalbtausend Jahren sah der griechische Historiker Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges das Problem des Todes als primäre Ursache für langwierige gewaltsame Auseinandersetzungen. Sokrates zufolge besteht die Aufgabe der Philosophie darin, »sterben zu lernen«. Im Verlauf der vergangenen zwei Jahrhunderte sind diese Ideen von Philosophen (wie Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche), Theologen (Paul Tillich und Martin Buber, um nur zwei zu nennen), Psychoanalytikern und existentiellen Psychologen (von Sigmund Freud über Otto Rank bis Robert Jay Lifton) aufgegriffen worden, von den großen literarischen Werken der Weltliteratur von Sophokles über Shakespeare bis Philip Roth gar nicht zu reden.

Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Psychologie ist dem Problem des Todes bislang jedoch nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Selbst heute stehen viele Psychologen ihm überraschend gleichgültig gegenüber. Wer die Werke der einschlägigen zeitgenössischen Sozialwissenschaftler durchforstet, in denen versucht wird, Klarheit zu erlangen über Dinge wie die Natur des Menschen, Geist, Kultur, Religion, Krieg, Geschichte und Bewusstsein, könnte zu dem Schluss kommen, dass der Tod nicht nur unwichtig, sondern so gut wie nicht vorhanden ist.

Das liegt zum Teil vermutlich daran, dass vielfach angenommen wird, unsere Beziehung zum Tod lasse sich nicht auf wissenschaftlich solide Weise verstehen oder untersuchen. In der postfreudianischen Ära, in der die Psychologie noch zu kämpfen hatte, als legitime Wissenschaft überhaupt ernstgenommen zu werden, waren die Wissenschaftler mit so großen, weitreichenden Überlegungen eher vorsichtig, vor allem wenn es dabei um den Einfluss unbewusster Gedanken und Gefühle auf das Alltagsverhalten ging.

Uns als experimentelle Sozialpsychologen verwunderte das. Warum sollten sich diese Überlegungen nicht wissenschaftlich fassen und überprüfen lassen? Vielleicht ließ sich die wissenschaftliche Methode ja dahin entwickeln, dass man mit ihr klären konnte, wie Menschen mit unbewussten existentiellen Ängsten umgehen.

Wir fingen an Studien durchzuführen, in denen eine Gruppe (die Versuchsgruppe) gezielt für einen kleinen Moment mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert wurde, die andere (die Kontrollgruppe) hingegen mit einem anderen Thema. Wir wollten herausfinden, ob die Probanden der Versuchsgruppe größere Anstrengungen als die Kontrollgruppe unternehmen würden, an ihren kulturell erworbenen Überzeugungen festzuhalten. Wir begannen mit diesen Experimenten im Jahr 1987 in Tucson, Arizona, und testeten unsere These an zweiundzwanzig Richtern von städtischen Gerichten. Von da an fingen die Dinge an spannend zu werden.

Auftritt Richter Michael Garner, der uns bei unserem ersten wissenschaftlichen Experiment zur Seite stand.

Urteil über eine Hure

Die Akte einer Prostituierten zu lesen und eine Kaution festzusetzen, gehörte zum täglich Brot von Michael Garner. Wie jeden Morgen kam er zur Arbeit, setzte sich in sein Amtszimmer und beschäftigte sich mit den üblichen Vergehen, die in der zurückliegenden Nacht registriert worden waren: Trunkenheit am Steuer, Ladendiebstahl, Ruhestörung. Dann schlug er die Mappe mit den Anmerkungen des Staatsanwalts zum Fall einer gewissen Carol Ann Dennis auf.

Die Polizeimeldung und der Bericht des Staatsanwalts erklärten übereinstimmend, dass die Fünfundzwanzigjährige kurz nach halb zehn an der Miracle Mile festgenommen worden war. Carol Ann hatte in knappen Shorts, High Heels und schulterfreiem Oberteil an der Straßenecke gestanden und auf Freier gewartet. Ein Mann zwischen dreißig und vierzig in einem Pick-up-Truck war an den Straßenrand gefahren und hatte das Fenster heruntergekurbelt. Keiner von beiden hatte das Zivilfahrzeug der Polizei bemerkt, dass ein Stück weiter die Straße hinunter wartete.

Laut Polizeibericht hatte man Carol Ann Handschellen angelegt, sie ins Stadtgefängnis verfrachtet und der Aufforderung zur Unzucht beschuldigt. Da sie keine feste Adresse angeben konnte, wartete sie darauf, gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt zu werden.

Richter Garner klappte die Mappe zu und seufzte. Er hatte solche Fälle schon früher erlebt; im Regelfall betrug die Kaution für diese Art von Ordnungswidrigkeit 50 Dollar. Dann nahm er sich eine zweite Mappe mit ein paar Persönlichkeitsfragebögen vor, die er auf Bitten eines Richterkollegen für dessen Freundin ausfüllen sollte, die ihrem Professor bei einer wissenschaftlichen Studie zu »Persönlichkeit, Gesinnung und Kautionsentscheidungen« assistierte.

Einer der Bögen enthielt zwei in eigenen Worten zu beantwortende Fragen zur »moralisch-ethischen Grundhaltung«. Als Erstes baten wir den Richter: »Bitte beschreiben Sie kurz die Gefühle, die der Gedanke an Ihren eigenen Tod in Ihnen hervorruft.«

»Ich denke nicht viel darüber nach, aber ich glaube, ich wäre sehr traurig beim Gedanken an meine Familie, der ich fehlen würde«, schrieb er.

Als Nächstes baten wir den Richter: »Schreiben Sie so genau wie möglich nieder, was mit Ihnen geschehen wird, wenn Sie sterben, und was passiert, wenn Sie gestorben sind.«

Er schrieb: »Ich nehme an, dass ich durch einen Schmerztunnel gehen muss und dann am Ende Licht sehe. Ich werde wahrnehmen, wie mein Körper begraben wird und schließlich in der Erde verwest, aber meine Seele wird zum Himmel aufsteigen, wo ich meinen Erlöser schaue.«

Nach ein paar weiteren Fragen hielt der Richter einen kurzen Schwatz mit seinem Büroangestellten und ging dann wieder an seine Arbeit.

Wie urteilten nun Richter Garner und die anderen Richter, die wir kurz über ihr eigenes Ende hatten nachdenken lassen, im Falle der Kaution für Carol Ann Dennis? Die Richter der Kontrollgruppe, die den Fragebogen nicht ausgefüllt hatten, setzten die Kaution auf durchschnittlich 50 Dollar fest. Die Richter aber, die sich kurz mit ihrem eigenen Tod befasst hatten, verdonnerten Carol Ann (die es übrigens in Wirklichkeit nicht gab) zu einer sehr viel höheren Kaution – im Schnitt lag diese bei 455 Dollar, mehr als das Neunfache des normalen Satzes. Die Richter, die über ihr Ende sinniert hatten, hatten Justitias Waagschalen aus dem Lot gebracht, und zwar heftig, man kann schon sagen, gekippt.9

Richter werden in der Regel für extrem rationale Fachleute gehalten, die jeden Fall auf der Basis von Tatsachen abwägen. Und in der Tat waren die Richter auch steif und fest davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit Fragen zum Thema Tod unmöglich Auswirkungen auf ihre Urteilsfindung haben könne. Wie also hat ein so flüchtiges Aufmerkenlassen ihre Entscheidungen so radikal – und ohne ihr Wissen – verändern können?

Als wir das Experiment planten, hatten wir uns überlegt, das Richter im Allgemeinen Menschen sind, die von vornherein sehr klare Vorstellungen von richtig und falsch haben, und wir dachten, dass das Verhalten von Carol Ann Dennis gegen ihr Moralempfinden verstoßen müsste. Die Ergebnisse zeigten, dass die Richter, die über ihre eigene Sterblichkeit nachgedacht hatten, sich besonders intensiv an das zu halten versuchten, was ihre Kultur ihnen als richtig vorgab. Demzufolge hielten sie das Recht eifriger hoch als ihre Kollegen, die zuvor nicht mit dem Gedanken an ihren Tod konfrontiert worden waren. Durch das Festsetzen einer extrem hohen Kaution für die vermeintliche Prostituierte stellten sie sicher, dass diese zur Verhandlung erscheinen und nicht nur einen Denkzettel, sondern eine Strafe bekommen würde, die für ihren Verstoß gegen die geltende Moral »verdient war«.

Das Bewusstmachen der eigenen Vergänglichkeit provoziert jedoch nicht nur negativere Reaktionen denen gegenüber, die sich unseren eigenen Werten nicht verschreiben, sondern führt auch zu positiveren Reaktionen denen gegenüber, die diese hochhalten. In einer Studie verdreifachte die kurze Beschäftigung mit dem Tod die Summe, die Leute als Belohnung für jemanden vorschlugen, der der Polizei ein schweres Verbrechen anzeigte.10 Und die Wirkung dieser Denkanstöße beschränkt sich nicht auf diejenigen, die wir für besonders unmoralisch oder besonders edel halten. Sie verstärkt ganz allgemein unser grundsätzliches Bedürfnis, unser Vertrauen in die Richtigkeit unserer Überzeugungen und das Gutsein unserer Kultur zu festigen. Wenn uns unsere Sterblichkeit kurz bewusst geworden ist, reagieren wir in der Regel allen und allem gegenüber, durch die oder das unsere liebgewordenen Überzeugungen bestärkt werden, großzügig, und ablehnend gegen alles und jeden, das oder der diese Überzeugungen in Frage stellt.

In einer anderen Untersuchung, die wir kurz nach unserer Studie mit den Richtern durchführten, bestellten wir eine Gruppe amerikanischer Studenten in unser Labor. Wir baten die Probanden der Kontrollgruppe, etwas Unverfängliches zu beschreiben – in diesem Fall die Gefühle, die der Gedanke an Essen und das Essen selbst in ihnen auslösen. Diejenigen in der Versuchsgruppe hatten zuvor dieselben unschönen Fragen rund um den Tod zu beantworten, die wir Richter Garner gestellt hatten.

Wenige Minuten später baten wir beide Gruppen, zwei Interviews durchzulesen, von denen wir (fälschlicherweise) behaupteten, wir hätten es aus der Zeitschrift Political Science Quarterly entnommen: eines mit einem Professor, der sich unerschütterlich hinter das politische System Amerikas stellte, und eines mit einem anderen Professor, der vehement darauf schimpfte. Der proamerikanische Professor räumte ein, dass die Vereinigten Staaten gewisse Schwierigkeiten hätten. Das ökonomische Gefälle sei ein Problem, stellte er fest, und die Regierung habe außenpolitische Fehler gemacht. Aber im Prinzip, so sein Resümee, »werden in diesem Land die Menschen und nicht die Regierung das letzte Urteil über den Wert dessen fällen, was ich zu sagen habe. Das ist es, was dieses Land zu einem großartigen Ort für ein Leben in Freiheit macht.«

Der antiamerikanische Professor hingegen räumte einige der vielen Tugenden Amerikas ein, kritisierte aber im Weiteren den üblen Einfluss der Machteliten und das »ökonomisch motivierte und amoralische Verhalten der Vereinigten Staaten im Ausland«. Er kam zu dem Schluss, dass »Moral mit unserer Außenpolitik absolut nichts zu tun hat. Das ist der Grund dafür, dass die Vorstellung, die Vereinigten Staaten seien Vorreiter einer demokratischen und freien Welt, kompletter Unsinn ist.« Er ließ sogar durchblicken, dass er einen gewaltsamen Sturz der damaligen Regierung für in Ordnung halte.

Alle Studenten in unserer Studie fanden gut, was der proamerikanische Professor zu sagen hatte. Alle hielten ihn für sachkundiger und näher an der Wahrheit als den antiamerikanischen Professor. Diejenigen aber, die wir zuerst kurz mit Fragen zu ihrem eigenen Tod konfrontiert hatten, beurteilten den proamerikanischen Professor sehr viel positiver und den antiamerikanischen sehr viel negativer als ihre Kommilitonen in der Kontrollgruppe.11

Seither konnten wir in mehr als fünfhundert Studien und Umfragen aufzeigen, in wie vielen Zusammenhängen uns unsere kulturellen Weltbilder vor der Angst bewahren, die das Wissen um die Unausweichlichkeit unseres Todes in uns anderweitig heraufbeschwören würde. Sehen wir uns mit Dingen konfrontiert, die uns an den Tod gemahnen, reagieren wir, indem wir diejenigen kritisieren und bestrafen, die unsere Überzeugungen ablehnen oder dagegen verstoßen; diejenigen hingegen, die sie teilen und hochhalten, loben und belohnen wir. Die Probanden wurden auf verschiedenste Weise mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert. Es gab nicht nur Fragen zum Tod zu beantworten, sondern auch Bildmaterial zu schrecklichen Unfällen anzuschauen, einen Satz über Tod und Sterben zu schreiben oder einfach einen Bestatter oder einen Friedhof aufzusuchen. Faszinierenderweise waren die Reaktionen, mit denen sie ihre Weltsicht bestärkten, einzig und allein mit den Andeutungen und Fragen zum Thema Tod korreliert.12 Das ist entscheidend: Das Bewusstmachen anderer negativer Ereignisse wie soziale Zurückweisung, das Scheitern bei einer Prüfung, starke Schmerzen oder der Verlust von Gliedmaßen durch einen Autounfall, hatten nicht dieselbe Wirkung wie das Erinnertwerden an die eigene Sterblichkeit.

Wir werden in diesem Buch zeigen, dass unser Bestreben, unserer existentiellen Angst Herr zu werden, buchstäblich alles menschliche Tun beeinflusst. Ja, der Gedanke an unsere Sterblichkeit reicht in alles und jedes, vom Trivialen bis hin zum Monumentalen – was Sie zu Mittag essen, wie viel Sonnencreme Sie sich am Strand gönnen, für wen Sie bei der nächsten Wahl stimmen werden, Ihr Konsumverhalten, Ihre körperliche und geistige Gesundheit, wen Sie lieben und wen Sie hassen.

Aber diese Angst ist nicht angeboren. Als Säuglinge sind wir zu jung, um uns auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als darauf, gefüttert und warm gehalten zu werden. Wie und warum also gerät jedes Menschenkind in eine von Symbolen regierte Welt, die für ihn Sinn, Bedeutung und Wert verkörpert, und gelangt irgendwann dahin, diese vehement zu verteidigen? Und wie und wann betritt der Tod die psychologische Bühne?