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Der Autor:

James Rebanks ist der Herdwick-Schäfer, dem Zehntausende auf Twitter folgen, wenn er sein Schäferleben schildert (@herdyshepherd1). Seine Familie bewirtschaftet seit über sechshundert Jahren denselben Fleck Erde.

Das Buch:

Manche Menschen gestalten ihr Leben ganz nach ihren eigenen Wünschen. Nicht so James Rebanks. Er ist der älteste Sohn eines Schäfers, der selbst wiederum der älteste Sohn eines Schäfers ist. James Rebanks und seine Familie leben und arbeiten seit Generationen im nordenglischen Lake District, einer Gebirgs- und Seenlandschaft von außerordentlichen Schönheit, durch und durch geprägt von der Schafhaltung. Das Leben der Schäfer verläuft heute wie vor Jahrhunderten im Takt der Jahreszeiten und der Arbeiten, die sie mit sich bringen. Ein Wikinger würde die Abläufe immer noch verstehen: Die Schafe werden über den Sommer auf die Berge getrieben, dann wird im Tal Heu gemacht. Auf den herbstlichen Schafauktionen werden die Herden verjüngt. Dann müssen die Schafe heil über den Winter gebracht werden, was zermürbende Anstrengungen kostet. Der Frühling vergeht in einem schwindelerregenden Taumel, wenn die Lämmer geboren und die Schafe für die Rückkehr in die Berge vorbereitet werden.

In diesen Nachrichten aus einer uralten Landschaft erzählt ein moderner Schäfer von einer tief wurzelnden Bodenständigkeit, von einer Lebensweise, die wenig von sich reden macht und die Geschichte dennoch grundlegend beeinflusst hat. In atmosphärischer, klarer Prosa nimmt uns James Rebank mit durch das Schäferjahr; in einzigartigen Szenen schildert er das bäuerliche Leben und die existenzielle Verbundenheit mit dem Land, die die meisten von uns verloren haben. Er berichtet vom harten Arbeitsleben, von den Menschen in seiner Umgebung, von seiner Kindheit, von seinen Eltern und Großeltern, von einem Menschenschlag, der das traditionsreiche Leben weiterführt, auch wenn die Welt ringsum sich ändert. Viele Geschichten handeln von Menschen, die sich verzweifelt bemühen, den Verhältnissen, aus denen sie stammen, zu entfliehen. Dies ist die Geschichte eines Mannes, der alles daransetzt, dort, wo er herkommt, bleiben zu können.

James Rebanks

Mein Leben als Schäfer

Deutsch von Maria Andreas

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Shepherd’s Life. A Tale of the Lake District«

im Verlag Allen Lane (Penguin Random House UK), London.


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Copyright © 2015 James Rebanks

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Favoritbüro nach einem Entwurf von Buxdesign

Covermotiv: plainpicture/Richard Jenkins

Satz: Max Widmaier

ISBN 978-3-641-18323-3
V003


www.cbertelsmann.de

Gewidmet dem Andenken meines Großvaters, W. H. Rebanks,

und meinem Vater, T. W. Rebanks, in tiefem Respekt

Zum oberen Ende dieser Täler hin trafen wir auf eine vorbildliche Republik von Schäfern und Landwirten. Jedem dieser Männer diente der Pflug nur dem Erhalt der eigenen Familie, gelegentlich half man auch dem Nachbarn aus. Mit zwei, drei Kühen deckte jede Familie ihren Bedarf an Milch und Käse. Das einzige Bauwerk, das sich über die Wohnstätten erhob, war das Gotteshaus als Haupt dieses wahren Commonwealth. Seine Mitglieder existierten inmitten eines mächtigen Reichs als Idealgesellschaft oder wohlge­ordnete Gemeinschaft, deren Verfassung von den schützenden Bergen selbst gegeben und geregelt war. Hier gab es weder hochwohlgeborene Aristokraten noch Ritter oder Junker; doch viele dieser bescheidenen Söhne der Berge lebten in der Gewissheit, dass der Boden, den sie beschritten und bestellten, seit mehr als fünfhundert Jahren im Besitz von Männern ihres Namens war, im Blut mit ihnen verwandt …

William Wordsworth, A Guide Through the District of the Lakes in the North of England, 1810

Dem Land verhaftet –

traditionelle Bergschäferei auf den Fells

Die Hügel und Berge im Lake District, einer überwältigend schönen, von vielen Seen durchzogenen Gebirgslandschaft im Nordwesten Englands, werden von den Einheimischen Fells genannt. Ähnliche Landschaften heißen im Norwegischen Fjells, im Schwedischen Fjälls.

Werden Schafe erstmals in ihrem Leben zur Hochweide auf die Fells geführt, entwickeln die Tiere eine unauslöschliche Bindung an ihr Weidegebiet, das sie noch nach Jahren wiedererkennen. Für dieses Phänomen haben die Schäfer der Region ein eigenes Wort: Sie nennen solche Schafe hefted, »dem Land verhaftet«. Darin steckt die altnordische Wurzel hefð, »Tradition«.

~

Wir waren anders, von Grund auf anders, das wurde mir an einem verregneten Vormittag im Jahr 1987 bewusst. In der Gesamtschule unserer nächstgelegenen Kleinstadt, einem schäbigen Betonbau typisch Sechzigerjahre, hatten sich sämtliche Schüler in der Aula versammelt. Ich war ungefähr dreizehn, hockte inmitten all der anderen schulischen Leistungsverweigerer und ließ die Ansprache der kampfesmüden alten Lehrerin über mich ergehen. Es ging wieder einmal darum, dass wir uns doch höhere Berufsziele stecken sollten als nur Landarbeiter, Schreiner, Maurer, Elektriker oder Frisörin. Die Frau hatte uns diese Predigt schon unzählige Male gehalten, reine Zeitverschwendung, wie sie selbst wusste. Ebenso wie unsere Väter und Großväter, Mütter und Großmütter waren wir fest entschlossen, zu sein, was wir waren und immer schon gewesen sind. Viele von uns waren nicht auf den Kopf gefallen, dachten aber nicht im Traum daran, ihren Grips in der Schule vorzuführen. Das wäre uns nicht gut bekommen.

~

Zwischen dem Weltverständnis dieser Lehrerin und unserem eigenen klaffte ein Abgrund. Letztes Jahr hatten alle Schüler unseres Jahrgangs, denen eine Schulbildung nicht völlig egal war, aufs Gymnasium gewechselt. Übrig blieben nur die Loser, die nun die nächsten drei Jahre an einem Ort absitzen mussten, von dem sich alle nur wegwünschten. Das führte zu einer Situation ähnlich einem Guerillakrieg: Lehrer, die ihre Illusionen weitgehend verloren hatten, standen den angeödetsten, aggressivsten Jugendlichen gegenüber, die man sich nur vorstellen kann. Unsere ganze Klasse spielte gern ein »Spiel«, bei dem es darum ging, innerhalb einer Unterrichtsstunde schulische Ausstattung von größtmöglichem Wert zu schrotten und das Ganze als »Panne« zu verkaufen.

Bei solchen Aktionen war ich gut.

Der Boden war übersät mit kaputten Mikroskopen, Tierpräpa­raten, zersplitterten Stühlen und zerfetzten Büchern. Eine in Form­aldehyd konservierte Froschleiche lag mit gespreizten Gliedern auf dem Boden wie ein Brustschwimmer. Die Gashähne brannten wie eine Bohrinsel, ein Fenster bekam einen Sprung. Die Lehrerin starrte uns nur noch an, in Tränen aufgelöst und völlig am Ende, während ein Techniker versuchte, die Ordnung wiederherzustellen. Eine Mathestunde gewann für mich erst an Reiz, als der Lehrer und ein Mitschüler mit Fäusten aufeinander losgingen. Der Junge rannte davon, die Treppe hinunter und über die schlammigen Sportplätze, der Lehrer immer hinterher, bis er den Jungen niederschlug, ehe er in die Stadt entwischen konnte. Wir klatschten, als hätten wir ein spannendes Rugby-Duell verfolgt. Von Zeit zu Zeit versuchte jemand – stets ein Stümper –, die Schule in Brand zu stecken. Ein Junge, den wir schikanierten, brachte sich ein paar Jahre später mit seinem Auto um. Es war, als steckten wir in einem Ken-Loach-Film fest: Niemand wäre überrascht gewesen, wenn ein magerer Junge mit einem Turmfalken aufgetaucht wäre.

Einmal hielt ich unserem verblüfften Direktor vor, die Schule sei in Wahrheit ein Gefängnis und ein »Übergriff auf meine Persönlichkeitsrechte«. Er sah mich befremdet an und fragte: »Aber was willst du denn zu Hause?«, als könne es darauf unmöglich eine Antwort geben. »Auf dem Hof arbeiten«, erwiderte ich genauso entgeistert – warum kapierte der Mann nicht, wie einfach die Sache war? Er zuckte resigniert mit den Schultern, meinte, ich solle mich nicht lächerlich machen, und ließ mich stehen. Wenn man etwas wirklich Gravierendes angestellt hatte, schickte er einen nach Hause. Deshalb überlegte ich, ob ich ihm nicht einen Ziegelstein durchs Fenster werfen sollte, traute mich dann aber doch nicht.

1987 hing ich also in dieser Schulversammlung meinen Tagträumen nach; ich starrte in den Regen hinaus und fragte mich, mit welchen Arbeiten die Männer auf unserem Hof gerade beschäftigt waren und welche ich davon wohl übernommen hätte. Irgendwie drang zu mir durch, dass von den Tälern des Lake District die Rede war, in denen mein Großvater und Vater ihre Höfe bewirtschafteten. Da schaltete ich auf Empfang. Aber schon nach ein paar Minuten Zuhören wurde mir klar, was diese Lehrkraft von uns hielt: Wir seien zu blöd und zu fantasielos, um »aus unserem Leben etwas zu machen«. Wir müssten über uns selbst hinauswachsen, wetterte sie. Wir seien zu beschränkt, um auch nur den Wunsch zu verspüren, diese Gegend zu verlassen, eine Gegend, in der es nur provinzielle Engstirnigkeit gebe und schmutzige Arbeit, die zu nichts führe. Hier hätten wir keine Zukunft, wir sollten endlich die Augen aufmachen und das einsehen. Aus ihrer Sicht war jeder, der so früh wie möglich von der Schule abgehen und mit Schafen arbeiten wollte, geistig mehr oder weniger minderbemittelt.

Dass wir, unsere Väter und unsere Mütter stolze, hart arbeitende und intelligente Menschen sein könnten, die Nützliches, vielleicht sogar Bewundernswertes leisteten, überstieg den ­geistigen Horizont dieser Frau. Erfolg definierte sich für sie über Bildung, Ehrgeiz, Unternehmungsgeist und eine glanzvolle Karriere, doch damit konnten wir nicht punkten. Ich glaube nicht, dass an dieser Schule jemals das Wort »Universität« fiel. Dort hätte auch keiner von uns hingewollt. Denn wer wegging, gehörte nicht mehr dazu. Er veränderte sich, und damit gab es für ihn kein Zurück mehr, was wir instinktiv spürten. Bildung war ein »Ausweg«, ein Weg in die Welt hinaus, aber dorthin wollten wir gar nicht, wir hatten unsere Wahl längst getroffen. Später begriff ich, dass man in modernen Industriegesellschaften geradezu besessen davon ist, »weiterzukommen« und »etwas aus seinem Leben zu machen«. Darin drückt sich eine Abwertung aus, die ich unerträglich finde: Wer bleibt, wo er ist, und körperlich arbeitet, gilt nicht viel.

Ich hörte der Lehrerin zu und ärgerte mich immer mehr, als sich herausstellte, dass sie unsere Gegend kannte und seltsamerweise auch noch zu lieben vorgab. Aber sie redete und dachte in Begriffen, die meiner Familie und mir völlig fremd waren. Sie liebte eine »wilde« Landschaft voller Berge, Seen, Muße und Abenteuer, bevölkert von einigen wenigen Menschen, denen ich nie begegnet war. Der Lake District war in ihrem Monolog die Spielwiese von umherstreifenden Bergsteigern, Lyrikern, Wanderern und Fantasten … Menschen, die im Gegensatz zu unseren Eltern oder uns »wirklich etwas geleistet hatten«. Ab und zu ließ sie in ehrfürchtigem Ton einen Namen fallen und wartete vergeblich auf ein Zeichen von Interesse. Einer der Namen war Alfred Wainwright, ein anderer Chris Bonnington, und immer wieder ließ sie sich des Langen und Breiten über einen gewissen William Wordsworth aus.

Ich hatte von keinem dieser Leute je gehört. Ich glaube, außer den Lehrern hatte niemand in der Aula von ihnen gehört.

~

In jener Schulversammlung begegnete mir zum ersten Mal diese im Kern romantische Sicht unserer Region. Es schockierte mich nicht wenig, dass auf die Landschaft, die ich und Menschen meinesgleichen so liebten und seit Jahrhunderten bewohnten, auch noch andere Leute Besitzanspruch erhoben, mit Argumenten, die ich kaum nachvollziehen konnte.

Später las ich Bücher, befasste mich mit jenem »anderen« Lake District und begann ihn besser zu verstehen. Ich erfuhr, dass die Außenwelt bis etwa 1750 kaum Notiz von unserer gebirgigen Ecke im Nordwesten Englands genommen hatte. Wenn doch, tat man sie als arm, unproduktiv, primitiv, rau, hässlich und rückständig ab. Ich konnte es kaum fassen, dass bis dahin niemand die Schönheit dieser Landschaft gesehen hatte, dass sie niemandem einen Besuch wert gewesen war – und verfolgte fasziniert, wie sich innerhalb weniger Jahrzehnte alles veränderte. Straßen wurden gebaut und später Eisen­bahnen, die den Lake District leicht erreichbar machten. Und mit der einsetzenden Romantik, die das Pittoreske entdeckte, nahmen viele Menschen Berge, Seen und schroffe Landschaften wie die unsere anders wahr. Unsere Landschaft wurde plötzlich zum Magneten für Schriftsteller und Künstler, zumal die Alpen wegen der napoleonischen Kriege als Reiseziel ausfielen und die frühen Touristen gezwungen waren, stattdessen die heimischen Berglandschaften zu erkunden.

Die neue Begeisterung der Besucher richtete sich allerdings von Anfang an auf eine Fantasielandschaft, eine idealisierte, »geistige« Landschaft. Sie wurde zum Gegenpol anderer Entwicklungen, zum Beispiel der industriellen Revolution, die kaum hundert Meilen südlich ihren Ausgang nahm. Mit unserer Landschaft ließen sich Philosophien oder Ideologien illustrieren. Viele betrachteten den Lake District als Refugium, dessen herbe Landschaft und Natur Gefühle und Empfindungen wecken wie kein anderer Ort. Für viele Menschen existiert diese Landschaft, damit sie darin wandern oder klettern, sie betrachten, sie malen, über sie schreiben oder einfach nur von ihr träumen können. Viele möchten ihren Urlaub oder sogar ihr Leben hier verbringen.

Vor allem aber erfuhr ich, dass unsere Landschaft den Rest der Welt veränderte. Hier wurde zum ersten Mal der Gedanke formuliert, dass wir bei manchen Orten oder Dingen (ungeachtet aller Eigentumsrechte) ein unmittelbares Gefühl von Besitz empfinden, weil sie so schön, anregend oder einfach so besonders sind. Der romantische, im Lake District beheimatete Dichter William Wordsworth machte 1810 den Vorschlag, die Landschaft solle »eine Art nationaler Besitz werden, auf den ein jeder Anrecht habe und daran teilhaben solle, der Augen hat, um zu sehen, und ein Herz, um sich zu erfreuen«. Hier wurden Argumente formuliert, die heute weltweit den Natur- und Denkmalschutz prägen. Jede geschützte Landschaft auf der Welt, jedes Monument des National Trust, jeder Nationalpark, jedes UNESCO-Weltkulturerbe enthält ein wenig von diesen Worten in seiner DNA.

In den Jahren, nachdem ich die Schule verlassen hatte und erwachsen wurde, erlebte ich selbst, dass wir nicht die Einzigen sind, die diese Landschaft lieben. Sie ist für den Rest des Landes und zahllose andere Menschen auf der ganzen Welt zum malerischen Tummelplatz geworden – ohne Rücksicht auf Verluste. Um zu erkennen, was das heißt, brauche ich nur über den Pass nach Ullswater zu fahren, wo Autoschlangen über die Straßen kriechen und Menschenmassen sich am Seeufer drängen. Das hat sein Gutes und weniger Gutes. Heute strömen jedes Jahr 16 Millionen Besucher in ein Gebiet mit 43 000 Einwohnern. Sie geben jährlich über eine Milliarde Pfund aus. Mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze in der Region hängen vom Tourismus ab, und viele der Bauern sind darauf angewiesen, ihr Einkommen durch Bed & Breakfast oder andere Angebote aufzubessern. Aber in manchen Tälern sind über zwei Drittel der Häuser Zweitwohnsitze oder Feriendomizile, und viele Einheimische können sich das Wohnen in ihrer eigenen Gemeinde nicht mehr leisten. Sie sprechen missmutig davon, dass sie ins Abseits gedrängt wurden, und wir alle wissen, dass wir in dieser Landschaft in jeder Hinsicht nur noch eine winzige Minderheit darstellen. Es gibt Orte, die sich nicht mehr wie unsere eigenen anfühlen, als hätten die Gäste das Gästehaus übernommen.

Das Bild, das jene Lehrerin von unserer Landschaft hatte, wurde also erst in den letzten zweihundert Jahren von einer zunehmend verstädterten und industrialisierten Gesellschaft erschaffen. Der Lake District wurde für weite Kreise der Gesellschaft, denen die Verbindung zum Land abhandengekommen war, zur Traumlandschaft.

Wir, die Menschen, die dieses Land bewirtschaften, hatten nie solche Träume. Wir waren bereits hier und taten, was wir heute noch tun.

Ich hätte der Lehrerin gern gesagt, dass sie völlig schieflag. Dass sie diese Region und ihre Menschen überhaupt nicht kannte. Es dauerte Jahre, bis sich meine Gedanken klärten, aber ich glaube, ich hatte sie von Anfang an, in einer ungefähren, unausgereiften Form. Ich hatte auch schon eine grobe Vorstellung davon, dass es wichtig war, Bücher zu schreiben, wenn Bücher einem Ort Gestalt geben. Ich wusste, dass wir Bücher brauchten, die von uns handelten, die von uns selbst geschrieben waren. Aber in dieser Schulversammlung 1987 war ich dreizehn und sprachlos, und so machte ich nur mit der Hand ein Furzgeräusch. Alle lachten. Die Lehrerin brach ihre Predigt ab und verließ wütend das Podium.

~

Wenn Wordsworth und seine Freunde den Lake District »erfanden« oder »entdeckten«, dann bekam unsere Familie erst 1987 etwas davon zu spüren, als ich nach Hause ging und die Behaup­tungen der Lehrerin zu hinterfragen begann. Was sie uns da aufgetischt hatte, kam mir von Anfang an faul vor. Wie konnte es sein, dass die Geschichte unserer Landschaft nicht von uns handelte? Das erschien mir als Betrug, als klassischer Fall dessen, was die Historiker »Kultur­imperialismus« nennen, wie ich später erfuhr.

Damals wusste ich noch nicht, dass Wordsworth in der Gemeinschaft der Schäfer und Kleinbauern des Lake District ein politisches und gesellschaftliches Ideal sah, dessen Bedeutung und Wert weit über die Region hinausreichten. Die Leute hier regierten sich selbst, frei von den aristokratischen Eliten, die anderswo das Leben der Menschen beherrschten – in Wordsworths Augen das Modell einer Gesellschaft, wie sie sein sollte. Wordsworth sah in uns einen wichtigen Gegenentwurf zum kommerziellen, urbanen und zunehmend industriellen England, das überall sonst in Erscheinung trat. Das war schon damals eine idealistische Sicht der Dinge, aber zumindest hatte der Dichter erkannt, dass der Lake District von Menschen mit einer eigenen Kultur und Geschichte bevölkert war. Er glaubte, dass mit der wachsenden Wertschätzung dieser Landschaft von den Besuchern auch Verantwortung gefordert sei. Sie müssten sich bemühen, die regionale Kultur wirklich zu verstehen. Andernfalls würde der Tourismus zur Keule, die vieles von dem, was das Besondere dieser Gegend ausmache, zerstören werde. Weiter erkannte Wordsworth, dass ein Schäfer eine andere Sicht dieser Landschaft besaß, eine Sicht von eigenständigem Wert, ein beachtlich moderner Gedanke. Davon zeugen diese verworfenen Zeilen der im Jahr 1800 verfassten Skizze von »Michael, ein Hirtengedicht«:

Kein Zweifel, hättest du direkt gefragt,

ob er die Berge liebe, so hätt er freilich

plump die Frage nochmals wiederholt,

dich angestarrt und wohl gesagt, sie seien

furchteinflößend anzuschau’n. Doch hättst du

weiter fortgeführt euer Gespräch,

gefragt nach seiner Arbeit und dem Treiben

von Erd und Himmel, gesehen hättest du

das Dunkle, Wunderliche seines Denkens,

das Staunen, Ehrfurchtsvolle – tief

wie Religion durchwirkt’ es ihm das Herz.

Aber davon war mir lange nichts bekannt, und ich warf ­Wordsworth vor, er habe uns hier nicht gesehen und aus dem Lake District ­einen Ort gemacht, wo andere Leute romantisch umher­streifen.

Ob es uns bewusst ist oder nicht, ob direkt oder indirekt – in unserer Einstellung zu dem, was uns umgibt, werden wir alle von kulturellen Quellen beeinflusst, von deren Sichtweisen und Standpunkten. Meine Sicht dieser Landschaft stammt nicht aus Büchern, sondern hat einen anderen Ursprung: Es ist ein älteres Bild, ererbt von den Menschen, die vor mir hier waren.

Was nun folgt, ist zum Teil die Schilderung unserer Arbeit im Verlauf eines Jahres, zum Teil ein autobiografischer Bericht über meine Kindheit und Jugend in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren und über die Personen in meiner Umgebung, zum Beispiel über meinen Vater und meinen Großvater. Zum Teil erzähle ich aber auch eine neue Version der Geschichte des Lake District, nämlich aus der Perspektive der Menschen, die dort heute leben, und aus der ihrer Vorfahren.

Es ist die Geschichte einer Familie und ihrer Schäferei, doch darin spiegelt sich auch die umfassendere Geschichte der Menschen, die in der modernen Welt vergessen werden. Es geht hier um die Notwendigkeit, die Augen zu öffnen und diese Vergessenen zu sehen, die mitten unter uns leben, deren Leben oft stark von Traditionen geprägt und tief in der Vergangenheit verwurzelt ist. Wenn wir die Menschen in den Gebirgsausläufern Afghanistans verstehen wollen, sollten wir vielleicht zuerst versuchen, die Menschen in den Gebirgsausläufern unseres eigenen Landes zu verstehen.

Sommer

Ich habe einen großen Teil meines Lebens auf dem Land gelebt, hatte aber nie das Gefühl, dass ich dazugehörte … Es ist so merkwürdig … Ich habe nie eine solche Mentalität erlebt, wie sie hier zu spüren ist … Ich muss schon deshalb darüber reden, weil sie so eigenartig ist – diese Hartnäckigkeit der Kinder, mit der sie sich allem und jedem außerhalb des Dorfs widersetzen … Die Dorfkinder … sind überzeugt, dass sie etwas besitzen, was kein Zugezogener jemals erwerben kann, ein Leben, das auf eine geheimnisvolle Weise derart vollkommen ist, dass es reine Zeitverschwendung wäre, nach anderem zu suchen.

Daphne Ellington, Lehrerin