Das Buch
Mit alten »Ural«-Motorrädern auf den Spuren Napoleons, 4000 Kilometer durch Eis und Schnee, von der Beresina zurück nach Paris. Voller Humor, Motorpannen und jeder Menge Wodka – und immer mit der Frage im Kopf: War Napoleon ein Held oder ein Spinner?
»Tessons bestes Buch, stilistisch der epochalen Dramatik der Ereignisse ganz und gar gewachsen« LIBÉRATION
Der Autor
SYLVAIN TESSON, geboren 1972 in Paris, ist Schriftsteller, Filmemacher und ein großer Reisender. Er fuhr mit dem Fahrrad um die Welt und unternahm monatelang Expeditionen – durch den Himalaja, von Sibirien nach Indien zu Fuß und immer wieder nach Zentralasien. Für seine Reisebeschreibungen und Essays wurde er mit dem Prix Goncourt de la nouvelle und dem Prix Medicis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »In den Wäldern Sibiriens«.
Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de
SYLVAIN
TESSON
NAPOLEON
UND ICH
Eine abenteuerliche Reise
von Moskau nach Paris
Aus dem Französischen von
Sabine Müller und Holger Fock
Knaus
für meine Mutter,
Marie-Claude Tesson-Millet
»Inzwischen setzte sich alles, was noch
atmete, in Marsch.«
Sergeant François Bourgogne, Kriegserlebnisse
»Extreme der Willenlosigkeit!
Um ihr zu entgehen, lese ich von Zeit zu Zeit
irgendein Buch über Napoleon. Der Mut der
anderen dient uns manchmal als Tonikum.«
E. M. Cioran, Notizen, 17. Januar 1958
»Ich lese die Abenteuer des Kapitän Coignet,
in denen vier Franzosen immer über zehntausend
Korsen triumphieren. Die Zeiten haben sich geändert.«
Paul Morand, Journal inutile, Bd. 2, 1973 – 1976,
11. Februar 1976
»Laut kämpfen, ist sehr tapfer –
Doch ritterlicher sei,
Find ich, wer angreift in der Brust
Des Schmerzes Reiterei
(…)
Wir bauen drauf, dass Engel sie
In Flügelprozession
– Im Gleichschritt führen Rang um Rang –
Aus Schnee die Uniform.«
Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, »Laut kämpfen …«
BERESINA [be:resina], russisch Березина, Subst. fem.;
Fluss in Weißrussland, rechter Nebenfluss des oberen Dnjepr; Länge: 613 km. War 1812 beim Rückzug Napoleons von seinem Russlandfeldzug Schauplatz einer der Schlachten zwischen seinen Truppen und den Truppen des Zaren. – Fam. (Es wird enden) wie an der Beresina, Bezeichnung für eine katastrophale Lage. Zur Erinnerung an den Opfergang der Schweizer Brigade gingen die vier letzten Strophen des Liedes »Die Nachtreise« als »Beresinalied« in die Geschichte ein: »Unser Leben gleicht der Reise / Eines Wandrers in der Nacht«, Text von Carl Ludwig Gisecke, Musik von Johann Immanuel Müller.
Inhalt
Juli, Baffininsel.
Sechs Monate vor der Abreise.
Einige Tage vor der Abreise.
Moskau, im November.
Erster Tag.
Von Moskau nach Borodino.
Zweiter Tag.
Von Borodino nach Wjasma.
Dritter Tag.
Von Wjasma nach Smolensk.
Vierter Tag.
Von Smolensk nach Borissow.
Fünfter Tag.
Von Borissow nach Wilna.
Sechster Tag.
Von Wilna nach Augustów.
Siebter Tag.
Von Augustów nach Warschau.
Achter Tag.
Von Warschau nach Pniewy.
Neunter Tag.
Von Pniewy nach Berlin.
Zehnter Tag.
Von Berlin nach Naumburg.
Elfter Tag.
Von Naumburg nach Bad Kreuznach.
Zwölfter Tag.
Von Bad Kreuznach nach Reims.
Der letzte Tag.
Von Reims zum Invalidendom (Paris).
Bibliographischer Hinweis
Juli, Baffininsel.
Sechs Monate vor der Abreise.
Ideen zu einer Reise kommen einem oft unterwegs. Die Fantasie trägt den Reisenden dann weit weg von der misslichen Lage, in die er sich gebracht hat. In der Wüste Negev träumt man von einem schottischen Glen, im Monsunregen vom Hoggar, an der Westwand des Grand Dru von einem Wochenende in der Toskana. Der Mensch ist nie zufrieden mit seinem Schicksal, immer strebt er nach etwas anderem, pflegt den Widerspruchsgeist, möchte dem Augenblicklichen entkommen. Unzufriedenheit ist der Motor seines Handelns. »Was mache ich hier?« heißt ein Buch von Bruce Chatwin, und das ist die einzige Frage, die zählt.
In jenem Sommer begegneten wir täglich ächzenden Eisbergen. Sie tauchten urplötzlich im Nebel auf, zogen traurig und einsam vorbei wie Eiswürfel im abendlichen Whisky. Unser Segelboot, La Poule (Die Henne), fuhr von einem Fjord zum nächsten. Die dunstverschleierte Sonne goss Tag und Nacht ihr milchiges Licht über die Küste der Baffininsel. Manchmal kamen wir längsseits einer Wand, die sechshundert Meter aus dem Wasser aufragte. Dann packten wir unsere Seile aus und unternahmen eine Klettertour. Der Granit war fest, die Haken mussten mit viel Kraft eingeschlagen werden. Dafür hatten wir Daniel Du Lac, den kühnsten von uns. Er fühlte sich wohl, wenn er über dem Wasser hing – mehr als auf dem Bootsdeck. Während er uns den Weg bahnte, trat er Felsgestein los. Die Brocken zischten hinter unserem Rücken hinunter und klatschten mit dem Geräusch eines wohlverdienten Kinnhakens auf das Wasser.
Es folgte Cédric Gras, der sich besonders durch seinen Gleichmut auszeichnete. Ich fürchtete mich vor dem Abstieg. Die Stimmung an Bord war nicht fröhlich. In der Messe schlürfte jeder schweigend seine Suppe. Der Kapitän kommandierte uns herum, und abends betrachtete er uns als sein Auditorium. Wir mussten seinen Großtaten lauschen und uns seine Ansichten über jene Wissenschaft anhören, zu deren Spezialist er geworden war: Schiffbruch. Es gibt überall Möchtegern-Napoleons; im Allgemeinen enden sie auf Schiffen, dem einzigen Ort, wo sie über ein Reich herrschen können. Seines war achtzehn Meter lang.
Eines Abends stand ich mit Gras auf dem Vorderdeck. Vor dem Bug des Schiffes prusteten Wale, schwammen träge, rollten sich auf die Seite: das Leben von Dickhäutern.
»Wir müssen mal wieder eine richtige Reise zusammen unternehmen, Alter. Ich hab diese Mormonenkreuzfahrt satt.«
»Was ist denn eine richtige Reise?«, wollte Gras wissen.
»Eine Verrücktheit, die uns nicht loslässt«, antwortete ich, »die uns in eine andere Dimension versetzt; in einen Mythos abdriften lässt, wir fallen in eine Art Delirium, es ist ein Ritt durch Geschichte und Geografie, Wodka getränkt, eine Tour à la Kerouac, eine Unternehmung, bei der wir abends keuchend, mit Tränen in den Augen vor einem Abgrund stehen. Im Fieber …«
»Ach?«
»Ja. Im Dezember dieses Jahr sind wir, du und ich, doch auf der Moskauer Buchmesse. Warum nicht mit dem Motorrad mit Beiwagen zurückfahren? Auf einer schönen russischen Ural. Du sitzt im Körbchen im Warmen und kannst den ganzen Tag lesen. Ich steuere die Maschine. Wir starten auf dem Roten Platz, fahren immer westwärts geradeaus Richtung Smolensk, Minsk, Warschau. Und weißt du was?«
»Ne, weiß ich nicht.«
»Dieses Jahr jährt sich der Russlandfeldzug zum zweihundertsten Mal.«
»Das gibt’s doch nicht.«
»Wie wäre es, wenn wir zum Gedenken an Napoleons Soldaten diese viertausend Kilometer machten? Ihren Geistern, ihrem Opfergang zu Ehren. In Frankreich kümmert sich kein Mensch um die alten Haudegen. Sie sind alle mit dem Maya-Kalender beschäftigt. Reden alle vom ›Weltuntergang‹ und merken nicht, dass die Welt längst tot ist.«
»Da ist was dran«, sagte Gras.
»Lass uns die Grande Armée grüßen. Vor zweihundert Jahren träumten die Jungs von anderen Dingen als von schnellem Internet. Sie waren bereit zu sterben, um die Moskauer Zwiebeltürme in der Sonne glänzen zu sehen.«
»Aber das war ein grässliches Abschlachten!«, wandte er ein.
»Na und? Es wird eine Gedenkreise. Wir werden sicher auch an einigen Katastrophen vorbeischrammen, das kann ich dir versprechen.«
»Gut, einverstanden.«
Nach einer Weile gesellte sich Priscilla zu uns. Sie war bei allen unseren Reisen dabei. Mit ihren Fotokameras, ihren Duftölen und ihrer Yogi-Gestik. Wir teilten ihr unseren Plan mit. Am Horizont trieb sich eine blaustichige Sonne herum. Das Meer war aus Stahl. Ein Finnwal butterte dieses Quecksilber mit seiner Schwanzflosse. Plötzlich fragte Priscilla:
»Warum genau wollt ihr die Rückzugsroute nachfahren?«
Backbord prustete ein Wal Wasserstaub aus. Die Dunstwolke blieb in der klaren Luft hängen.
»Um uns mit diesem Federbusch zu schmücken, meine Liebe.«