Das Buch
Die Erde in der Zukunft: Afrika ist zur Supermacht Nummer eins geworden – ein geradezu paradiesischer Ort, an dem Krieg, Kriminalität und Hungersnöte der Vergangenheit angehören. Es ist die Welt von Geoffrey Akinya, dem Spross eines gewaltigen Familienimperiums, der eigentlich nichts lieber möchte, als in Ruhe im Amboseli-Becken Elefanten zu beobachten. Doch als Geoffreys Großmutter Eunice, eine legendäre Astronautin und Weltraumforscherin, stirbt, hinterlässt sie ihrer Familie ein geheimnisvolles Artefakt auf dem Mond. Ein Artefakt, das den guten Namen der Familie Akinya auf ewig zerstören könnte. Noch während Eunice’ Asche am Fuße des Kilimandscharo verstreut wird, macht sich Geoffrey auf den Weg zum Mond, um das mysteriöse Erbe seiner Großmutter zu bergen. Dort angekommen begreift er, dass seine Großmutter Geheimnisse mit ins Grab genommen hat, die nicht nur die Zukunft Afrikas, sondern die der ganzen Menschheit für immer verändern könnten.
Okular ist der atemberaubende Auftakt einer neuen Trilogie, in der Alastair Reynolds die Geschichte der Familie Akinya erzählt – eine Geschichte, die Hunderttausende von Jahren in die Zukunft und in die Weiten unserer Galaxis hineinreicht.
Der Autor
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete viele Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt Agentur ESA, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Von Alastair Reynolds sind unter anderem im Heyne Verlag erschienen: Unendlichkeit, Himmelssturz und Aurora. Gemeinsam mit Stephen Baxter schreibt Alastair Reynolds gerade an den Medusa-Chroniken.
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Alastair Reynolds
Okular
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe
BLUE REMEMBERED EARTH
Deutsche Übersetzung von Irene Holicki
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Übersetzung Zitat: Leonhard Olschner in Moderne englische Lyrik, Englisch/Deutsch, ed. Willi Erzgräber and Ute Knoedgen (Stuttgart: Reclam 1976) S. 325
Deutsche Erstausgabe 10/2016
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2012 by Alastair Reynolds
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Umschlagillustration: Carr Design Studio
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-18522-0
V001
www.diezukunft.de
Für Stephen Baxter und Paul McAuley:
Freunde, Kollegen und Hüter der Flamme
»Und ich vermag nicht, einem Wetterwind zu sagen,
wie die Zeit einen Himmel tickte um die Sterne.«
– Dylan Thomas
Es ist unerlässlich, von den Anfängen zu sprechen. Zuvor sei jedoch eines klargestellt. Was immer uns hierhergebracht und zu dieser Schilderung veranlasst hat, ließe sich niemals auf eine einzige Ursache zurückführen. Wenn wir etwas daraus gelernt haben, dann dies, dass das Leben niemals so einfach, niemals so schematisch abläuft.
Man könnte sagen, alles habe in dem Augenblick begonnen, als unsere Großmutter den Entschluss zu ihrer letzten großen Tat fasste. Oder als »Ocular« etwas entdeckte, was Arethusas Aufmerksamkeit erregte, einen rätselhaften Fleck auf einem Planeten, der um einen anderen Stern kreiste. Oder als sich Arethusa ihrerseits moralisch verpflichtet fühlte, unserer Großmutter diese Entdeckung mitzuteilen.
Vielleicht gab auch den Ausschlag, dass Hector und Lucas in der Buchführung der Familie keinen einzigen offenen Posten dulden wollten, auch wenn es sich damals nur um ein belangloses Detail zu handeln schien. Oder dass Geoffrey mit der Nachricht vom Tod unserer Großmutter vom Himmel geholt wurde und sich gezwungen sah, seine Arbeit mit den Elefanten zu unterbrechen und zum Stammsitz der Familie zurückzukehren. Oder sein Entschluss, Sunday alles zu gestehen, und ihre Entscheidung, ihren Bruder nicht mit Verachtung zu strafen, sondern lieber den Weg der Vergebung zu gehen.
Man könnte sogar sagen, alles hätte in dem Moment vor anderthalb Jahrhunderten begonnen, als ein Baby namens Eunice Akinya im ehemaligen Tansania seinen ersten mühsamen Atemzug tat. Oder als sie einen Herzschlag danach mit ihrem ersten lauten Schrei ein Leben voller Ungeduld ankündigte. Für unsere Großmutter drehte sich die Welt niemals schnell genug. Sie schaute so lange über die Schulter und forderte sie auf, sich zu beeilen, bis die Welt sie eines Tages beim Wort nahm.
Doch auch Eunice wurde geprägt. Mag sein, dass sie mit ihrem Zorn geboren wurde, doch erst als ihre Mutter sie in der Stille einer Serengeti-Nacht unter dem wolkenlosen Himmel im Schein der Milchstraße in den Armen hielt, fing sie an, nach etwas zu greifen, was für immer unerreichbar war.
Alle diese Sterne, Eunice. Diese winzigen Diamantenlichter. Du kannst sie haben, du musst es bloß stark genug wollen. Doch anfangs musst du geduldig und später musst du weise sein.
Und das war sie. Unendlich geduldig und unendlich weise. Doch wenn die Mutter Eunice prägte, wer prägte die Mutter? Soya kam vor zweihundert Jahren in einem Flüchtlingslager zur Welt, zu einer Zeit, als es noch Hungersnöte und Kriege gab, Dürren und Völkermorde. Woher nahm sie die Kraft, der Welt diese Naturgewalt zu schenken, dieses Kind, das unsere Großmutter werden sollte?
Damals wussten wir davon natürlich nichts. Eunice war, wenn wir überhaupt an sie dachten, eine kalte, unnahbare Gestalt. Keiner von uns hatte sie je berührt oder persönlich mit ihr gesprochen. Sie lebte ganz allein in ihrem selbst errichteten Metallgefängnis voller Dschungelpflanzen, das in eisiger Kälte den Mond umkreiste. Wenn sie von dort auf uns herabschaute, schien sie in ein anderes Jahrhundert zu gehören. Sie hatte Großartiges geleistet – hatte ihre eigene Welt verändert und auf anderen Welten unauslöschliche menschliche Spuren hinterlassen –, doch all das waren die Taten einer viel jüngeren Frau gewesen, die nur entfernt mit unserer fernen, immer gereizten und gleichgültigen Großmutter verwandt war. Als wir geboren wurden, hatte sie ihre glänzendsten und besten Zeiten längst hinter sich.
Jedenfalls dachten wir das.
Prolog
Es war Ende Mai, die lange Regenzeit ging zu Ende. Die Erde hatte sich Wasser von den Wolken geliehen, nun trieb der Himmel mit endlosen Tagen voller Hitze und Trockenheit die Schulden ein. Für die Kinder war es eine Erlösung. Nachdem sie sich wochenlang im Haus gelangweilt hatten, durften sie endlich wieder ins Freie und konnten außerhalb der Gärten und jenseits der Mauern durch die Wildnis streifen.
Dort stießen sie auf die Todesmaschine.
»Ich höre immer noch nichts«, sagte Geoffrey.
Sunday seufzte und legte ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter. Sie war zwei Jahre älter als Geoffrey und ziemlich groß für ihr Alter. Die beiden standen auf einem rechteckigen Felsen, mehrere Schritte vom Fluss entfernt, der immer noch viel schlammiges Wasser führte.
»Da«, rief sie. »Jetzt musst du ihn doch hören!«
Geoffrey umklammerte das hölzerne Flugzeug, das er mitgebracht hatte.
»Nein«, sagte er. Er hörte nur den Fluss und das leise, schläfrige Rauschen der Akazien, die unter der Ofenhitze schmachteten.
»Er steckt in Schwierigkeiten«, sagte Sunday entschlossen. »Wir müssen ihn suchen, dann sagen wir Memphis Bescheid.«
»Vielleicht sollten wir zuerst Memphis Bescheid geben und erst dann nach ihm suchen.«
»Und wenn er inzwischen ertrinkt?«
Das hielt Geoffrey für unwahrscheinlich. Das Wasser stand nicht mehr so hoch wie noch vor einer Woche, die Regenzeit näherte sich dem Ende. Noch drängten sich dunkle Wolken am Horizont, manchmal rollte der Donner über die Ebenen, doch über ihnen war der Himmel klar.
Außerdem waren sie diesen Weg schon oft gegangen. Hier gab es keine Häuser und erst recht keine Dörfer oder Städte. Die Pfade, denen sie folgten, waren eher von Elefanten als von Menschen ausgetreten worden. Und sollten zufällig doch Massai in der Nähe sein, dann wäre bestimmt keiner von deren Jungen in Bedrängnis geraten.
»Könnten es die Dinger in deinem Kopf sein?«, fragte Geoffrey.
»An die habe ich mich inzwischen gewöhnt.« Sunday hüpfte von dem Stein und deutete auf die Bäume. »Ich glaube, es kommt von dort.« Sie marschierte los, dann drehte sie sich zu Geoffrey um. »Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du Angst hast.«
»Ich habe keine Angst.«
Vorsichtig überquerten sie das Gelände. Der Boden trocknete bereits, aber es gab noch sumpfige Stellen. Zum Schutz vor Schlangen trugen sie hohe Stiefel und dicke lange Hosen, dazu Hemden mit kurzen Ärmeln und Hüte mit breiter Krempe. Obwohl sie durch den Schlamm stapften und sich durchs Unterholz kämpften, blieben ihre Kleider so leuchtend bunt, wie sie sie am Morgen angezogen hatten. Von Geoffreys Armen konnte man das nicht behaupten. Sie waren voller Schlammflecken, und die Büsche mit den spitzen Dornen hatten feine, schmerzhafte Kratzer hinterlassen. Er hatte nicht vergessen, wie Memphis ihn einmal gelobt hatte, als er nach einem Sturz auf den harten Marmorboden des Familiensitzes nicht geweint hatte, und deshalb bewusst darauf verzichtet, mit einem Befehl an sein Armband den Schmerz zu unterdrücken.
Sunday verschwand zielstrebig zwischen den Akazien, und Geoffrey eilte hastig hinterher. Sie kamen am schmutzig weißen Sockel einer alten Windmühle vorbei.
»Gleich sind wir da«, rief Sunday und sah sich nach ihm um. Ihr Hut hüpfte, von der Kinnschnur gehalten, auf ihrem Rücken munter auf und ab. Geoffrey drückte sich seinen eigenen Hut fester auf die krausen Locken.
»Uns kann nichts passieren«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Der Mechanismus passt auf uns auf.«
Was sich hinter den Bäumen befand, wusste er nicht. Sie waren zwar schon oft in dieser Gegend gewesen, aber deshalb kannten sie noch lange nicht jeden Busch, jeden Hügel und jede Senke.
»Hier ist etwas!«, rief Sunday. Geoffrey konnte sie nicht mehr sehen. »Der Regen hat den ganzen Hang weggespült, eine richtige Schlammlawine! Jetzt ragt etwas aus der Erde!«
»Sei vorsichtig!«, rief Geoffrey.
»Es ist eine Maschine«, rief sie zurück. »Ich glaube, der Junge ist darin eingeklemmt.«
Geoffrey nahm seinen ganzen Mut zusammen und stapfte weiter. Die träge schwankenden Äste bildeten ein Gitter vor dem Himmel, der mit eisvogelblauen Splittern die Lücken füllte. Einen oder zwei Meter links von ihm raschelte etwas im trockenen Laub. Das dichter werdende Gestrüpp krallte sich in seine Hosenbeine. Ein Riss entstand, und Geoffrey beobachtete mit mattem Staunen, wie sich die Stoffränder wieder zusammenfügten.
»Hier«, rief Sunday. »Komm schnell, Bruder!«
Nun konnte er sie sehen. Sie waren am Rand einer schüsselförmigen Senke herausgekommen, die von dichten Bäumen umstanden war. Ein Stück der Schüsselwand war weggebrochen und hatte eine steile Rinne hinterlassen.
Dort ragte etwas aus der gelblich-braunen Erde, ein Kasten aus Metall, etwa so groß wie ein Airpod.
Geoffrey warf abermals einen Blick zum Himmel.
»Was ist das?«, fragte er, obwohl er bereits eine schreckliche Vorahnung hatte. Er hatte solch ein Ding in einem seiner Bücher gesehen. Er erkannte es an den vielen kleinen Rädern an der frei liegenden Seite, viel zu viele für einen Personen- oder Lastwagen. Und die Räder liefen in Raupenketten aus Metallplatten, die durch Gelenke miteinander verbunden waren wie die Segmente eines Wurms.
»Willst du behaupten, du weißt das nicht?«, fragte Sunday.
»Es ist ein Panzer«, antwortete er. Das Wort war ihm plötzlich wieder eingefallen. Trotz seiner Angst und obwohl er lieber irgendwo anders gewesen wäre, fand er es faszinierend, was die Erde da ausgespuckt hatte.
»Was sollte es wohl sonst sein? Der kleine Junge ist wohl irgendwie hineingeklettert, und nun kommt er nicht mehr heraus.«
»Es gibt keine Tür.«
»Der Panzer muss sich bewegt haben«, überlegte Sunday. »Deshalb kann er nicht heraus – die Tür ist wieder im Schlamm versunken.« Sie ging jetzt dicht an der Kante entlang, aber noch auf dem Gras auf die Stelle zu, wo der Hang nachgegeben hatte. Dort kauerte sie sich nieder und stützte sich mit den Fingerspitzen auf den Boden. Ihr Hut hüpfte zwischen ihren Schultern hin und her.
»Wie kannst du ihn hören, wenn er drinnen ist?«, fragte Geoffrey. »Wir sind jetzt ganz nahe, und ich höre immer noch nichts! Die Stimme muss in deinem Kopf sein, und sie muss mit den Maschinen zu tun haben.«
»So ist das nicht, Bruder. Man hört nicht einfach Stimmen.« Sunday hatte sich umgedreht, sodass sie mit dem Gesicht zum Hang schaute, setzte die Füße in den Schlamm und hielt sich mit den Händen fest. Dann machte sie sich an den Abstieg.
Geoffrey wusste nicht, was er tun sollte, und schickte sich an, ihr zu folgen.
»Wir müssen jemanden zu Hilfe rufen. Es heißt doch immer, wir sollen keine alten Sachen anfassen.«
»Wir sollen so vieles nicht tun«, gab Sunday zurück.
Sie setzte den Abstieg fort. Einmal rutschte sie aus, fing sich aber wieder. Ihre Stiefel gruben tiefe Furchen in das freiliegende Erdreich. Ihre Hände waren voller Lehm. Sie drehte den Kopf, um über die linke Schulter zu schauen. Ihr Gesichtsausdruck verriet äußerste Konzentration.
»Das geht nicht gut«, klagte Geoffrey. Er ließ sich an der gleichen Stelle hinunter und versuchte, möglichst ihren Hand- und Fußspuren zu folgen.
»Wir sind hier!«, rief Sunday mit einem Mal und setzte einen Fuß auf die schräge Seitenwand des Panzers. »Wir wollen dich retten!«
»Was sagt er?«
Zum ersten Mal nahm sie ihn ernst. »Du kannst ihn immer noch nicht hören?«
»Ich mache dir nichts vor, Schwester.«
»Er sagt: ›Bitte beeilt euch. Ich brauche eure Hilfe.‹«
»Auf Suaheli?« Eine durchaus vernünftige Frage.
»Ja«, antwortete Sunday prompt. Dann überlegte sie. »Ich denke schon. Warum sollte er nicht Suaheli sprechen?«
Sie stand nun mit beiden Füßen auf dem Panzer und machte, achtsam wie ein Seiltänzer, einen Schritt nach rechts. Geoffrey hielt inne. Er wagte kaum zu atmen, um keine Erschütterung auszulösen. Wenn der Panzer im Schlamm weiterrutschte, würden sie beide mit auf den Grund des Lochs gerissen werden.
»Sagt er es immer noch?«
»Ja«, antwortete Sunday.
»Du bist ihm so nahe, eigentlich müsste er dich inzwischen gehört haben.«
Sunday breitete beide Arme aus und ging in die Knie. Dann klopfte sie einmal, zweimal an die Wand des Panzers. Geoffrey holte tief Luft und setzte den Abstieg zaghaft fort. Das Holzflugzeug hielt er auch weiterhin mit einer Hand hoch über dem Kopf.
»Er antwortet nicht. Wiederholt nur immer das Gleiche.« Sunday griff mit einer Hand über die Schulter und setzte sich den Hut wieder auf. »Ich habe Kopfschmerzen. Es ist zu heiß.« Sie schlug ein weiteres Mal gegen die Panzerwand, diesmal stärker. »Hallo!«
»Sieh nur«, sagte Geoffrey.
Etwas Merkwürdiges war geschehen. Rings um die Stelle, wo Sunday auf den Panzer geschlagen hatte, rasten farbige Wellen nach außen: rosa und grün, blau und golden. Die Wellen verschwanden im Erdreich und kehrten als feste Farbblöcke zurück, die sich wie Tintenkleckse ausbreiteten, ohne sich zu vermischen. Die Farben flackerten und pulsierten und passten sich schließlich der Farbe des rötlichen Schlamms an.
»Wir sollten jetzt gehen«, mahnte Geoffrey.
»Wir können ihn nicht im Stich lassen.« Dennoch stand Sunday auf. Geoffrey kletterte nicht mehr weiter. Ein Glück, dass seine Schwester endlich Vernunft annahm. Er unternahm den wackeren Versuch, sich vorzubeugen, um ihr die Hand zu reichen, wenn sie nahe genug heran war.
Doch Sunday benahm sich auf einmal sehr merkwürdig. »Tut weh«, nuschelte sie und fasste sich an die Stirn.
»Komm hier rauf«, drängte Geoffrey. »Lass uns nach Hause gehen.«
Sunday balancierte immer noch auf der schrägen Seitenwand des Panzers und sah ihn an. Kleine, aber rasend schnelle Bewegungen schüttelten ihren Körper. Sie versuchte vergeblich, etwas zu sagen.
»Sunday!«
Sie kippte nach hinten, fiel hangabwärts auf die Erde und rollte mit Armen und Beinen strampelnd nach unten. Ihr Hut hüpfte wild auf und ab. Auf dem Grund des Loches, wo das Wasser stand, kam sie, Arme und Beine weit von sich gestreckt, mit dem Gesicht im Schlamm zu liegen.
Zunächst war Geoffrey starr vor Schreck. Dann überlegte er, ob sie sich wohl etwas gebrochen hätte. Und schließlich kam ihm die vage Erkenntnis, dass seine Schwester womöglich nicht atmen konnte.
Er kroch zur Seite über den Rand des Erdrutsches und tastete sich bis dahin, wo der Boden noch fest und mit Gras und Büschen bewachsen war. Dort brachte er so viel Geistesgegenwart auf, dass er sich sein Armband an den Mund hielt und auf den dicken Knopf drückte, um mit dem Familiensitz zu sprechen.
»Bitte!«
Memphis meldete sich rasch. Der Junge hörte seine tiefe, klangvolle, bedächtige Stimme. »Was gibt es, Geoffrey?«
Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Bitte, Memphis. Sunday und ich waren draußen unterwegs und haben dieses Loch im Boden gefunden. Der Regen hat die Erde abrutschen lassen. Da ragt ein Panzer heraus.« Er hielt inne, um Atem zu holen. »Sunday wollte dem Jungen helfen, der in dem Panzer war. Aber dann hat sie Kopfschmerzen bekommen und ist hinuntergefallen. Jetzt liegt sie auf dem Boden, und ich kann ihr Gesicht nicht sehen.«
»Einen Moment, Geoffrey.« Memphis hörte sich unglaublich ruhig an. Er schien so wenig überrascht, als hätte er etwas Derartiges am heutigen Tag mehr oder weniger erwartet. »Ja, ich sehe, wo ihr seid. Geh zu deiner Schwester und drehe sie so, dass sie nicht mehr auf dem Gesicht, sondern auf der Seite liegt. Aber pass beim Hinunterklettern sehr gut auf. Ich bin gleich bei euch.«
Memphis’ nüchterne Anweisungen nahmen Geoffrey viel von seiner Angst. Zwar kam es ihm vor wie eine Ewigkeit, doch schließlich berührten seine Stiefel den nassen Grund des Loches, und er konnte mit schmatzenden Schritten auf seine Schwester zugehen.
Ihr Gesicht lag nicht im Wasser, sondern hatte sich in einen etwas erhöhten Flecken trockener Erde eingedrückt. Mund und Nase waren frei, doch sie zitterte immer noch, und zwischen ihren Lippen quoll blasiger Schaum hervor.
Über Geoffrey schwirrte etwas durch die Luft. Er klappte die Krempe seines Huts hoch. Das Summen kam von einer Maschine nicht größer als die Spitze seines Daumens.
»Ich habe euch gefunden«, ließ sich Memphis aus Geoffreys Armband vernehmen. »Du tust jetzt genau, was ich dir sage. Drehe deine Schwester auf den Rücken. Du musst sehr stark sein.«
Geoffrey kniete nieder. Solange Sunday zitterte und Schaum vor dem Mund hatte, wollte er sie lieber nicht allzu genau ansehen.
»Sei ein tapferer Junge, Geoffrey. Deine Schwester hat einen Krampfanfall. Du musst ihr helfen.«
Er stellte das rote Holzflugzeug auf den Boden, ohne Rücksicht darauf, dass es Schlammflecken bekam. Dann schob er die Hände unter Sundays Körper und versuchte sie anzuheben. Ihre heftigen Zuckungen machten ihm Angst.
»Nimm deine ganze Kraft zusammen, Geoffrey. Ich kann dir erst helfen, wenn ich bei euch bin.«
Geoffrey ächzte vor Anstrengung. Vielleicht kamen ihm Sundays Krämpfe zu Hilfe, jedenfalls löste sie sich endlich mit einem Ruck aus dem Schlamm und lag nicht mehr mit dem Gesicht nach unten.
»Geoffrey, hör mir genau zu. Ich weiß nicht, warum, aber mit Sundays Kopf stimmt irgendetwas nicht, und ihr Armband funktioniert nicht richtig. Du musst ihm sagen, was es tun soll. Hörst du mich?«
»Ja.«
»Siehst du die zwei roten Knöpfe, einer auf jeder Seite? Du musst sie beide gleichzeitig drücken.«
Sein Armband sah genauso aus wie das ihre, nur die roten Knöpfe fehlten. Sunday hatte diese Knöpfe erst nach ihrem zehnten Geburtstag bekommen, sie hatten also wohl etwas mit den Maschinen zu tun, die ihr die Neuropraktiker in den Kopf eingesetzt hatten. Er hatte solche Maschinen noch nicht.
Er hob ihren Arm an, konnte ihn aber nur mit Mühe ruhig halten. Nun versuchte er, mit Daumen und Zeigefinger das Armband zu umfassen. Es fiel ihm schwer. Seine Hand war nicht groß genug.
»Was passiert jetzt, Memphis?«
»Nichts Schlimmes.«
Die blauen Knöpfe an seinem Armband waren viel leichter zu drücken als diese roten. Er geriet in Panik, bis er erkannte, dass er beide Hände einsetzen musste. Auch dann gelang es nicht gleich. Er hatte wohl nicht fest genug gedrückt, denn es geschah nichts. Er versuchte es noch einmal mit aller Kraft, und plötzlich, es war wie ein Wunder, hörte Sunday zu zucken auf.
Nun lag sie regungslos da.
Geoffrey setzte sich neben sie und wartete. Er konnte sehen, dass sie atmete. Ihre Augen waren jetzt geschlossen. Sie wirkte nicht so lebendig wie vorhin, als sie auf dem Panzer gestanden und ihn angesehen hatte, dennoch hatte er das unweigerliche Gefühl, seine Schwester sei zurückgekehrt.
Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war glühend heiß. Er richtete den Blick zum Himmel.
Wenig später war Memphis zur Stelle. Er schwebte mit dem Airpod über der Senke und schaute herab, dann flog er eine Kurve und verschwand hinter den Bäumen, die die Senke umstanden. Das Airpod war so leise, dass Geoffrey die Ohren spitzen musste, um sein schwächer werdendes Motorengeräusch zu hören, als es nach unten sank.
Etwa eine Minute später erschien Memphis leibhaftig am oberen Rand der Mulde. Nach kurzem Zögern kam er, halb rutschend, halb laufend und mit weit ausgebreiteten Armen, um das Gleichgewicht zu halten, den Hang herab. Als er Sunday erreichte, legte er ihr die Hand auf die Stirn und nahm sich dann ihr Armband vor.
Geoffrey beobachtete ihn ängstlich. »Wird sie wieder gesund?«
»Ich denke schon, Geoffrey. Das hast du sehr gut gemacht.« Memphis schaute zum Panzer zurück, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Wie nahe ist sie ihm gekommen?«
»Sie hat darauf gestanden.«
»Es ist eine böse Maschine«, erklärte Memphis. »Hier hat einmal ein Krieg stattgefunden, einer der letzten in Afrika.«
»Sunday hat gesagt, in dem Panzer wäre ein kleiner Junge.«
Memphis hob das Mädchen vom Boden auf und wiegte es in seinen Armen. »Schaffst du es, allein hinaufzuklettern, Geoffrey?«
»Ich glaube schon.«
»Wir müssen Sunday zum Familiensitz zurückbringen. Es wird alles gut, aber je schneller sie zu einem Neuropraktiker kommt, desto besser.«
Geoffrey eilte voraus, fest entschlossen, Memphis zu beweisen, dass er selbst auf sich aufpassen konnte. »Und was ist mit dem kleinen Jungen?«
»Den gibt es nicht. In dem Panzer sind nur Maschinen, und einige davon sind sehr klug.«
»Das ist nicht der erste Panzer, den du siehst?«
»Nein«, sagte Memphis zurückhaltend. »Der erste ist es nicht. Aber als ich das letzte Mal einen fahren sah, war ich noch sehr klein.« Geoffrey schaute zurück und sah Memphis’ Lächeln aufblitzen. Offensichtlich wollte er verhindern, dass Geoffrey Albträume von Tötungsmaschinen bekam, die die Erde unsicher machten. »Inzwischen gibt es nur noch ganz wenige, und die sind wie der hier in der Erde vergraben.«
Jetzt waren sie beide auf dem Weg nach oben. »Wie konnte er entkommen?«
Memphis blieb stehen, um Atem zu holen. Es war sicher nicht leicht, mit Sunday auf den Armen das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Das Artilekt hat die Maschinen in Sundays Kopf entdeckt. Dann hat es herausgefunden, wie es mit ihnen sprechen und wie es Sunday vorgaukeln konnte, dass jemand nach ihr rief.«
Die Vorstellung, dass eine Maschine seine Schwester getäuscht hatte – und zwar so geschickt, dass sie beinahe auch ihn selbst überzeugt hätte –, jagte Geoffrey kalte Schauer über den Rücken, obwohl er sich schwitzend bergan kämpfte.
»Was wäre passiert, wenn sie nicht gestürzt wäre?«
»Vielleicht hätte sich der Panzer bemüht, sie zu überreden, dass sie ihm half. Oder er hätte versucht, eine verborgene Schwäche auszunützen. Wie auch immer, er war schuld daran, dass deine Schwester in Krämpfe fiel.«
»Aber der Panzer ist sehr alt, und Sundays Maschinen sind noch ganz neu. Wie konnte er sie täuschen?«
»Sehr alte Dinge sind manchmal klüger als sehr neue Dinge. Oder zumindest gerissener.« Während sie miteinander sprachen, waren sie unentwegt weiter hinaufgestiegen und hatten die Oberkante des Hangs beinahe erreicht. »Deshalb sind sie verboten oder werden zumindest sehr sorgfältig kontrolliert.«
Geoffrey schaute sich nach dem halb vergrabenen Koloss um. Der Anblick erfüllte ihn mit einer seltsamen Mischung aus Angst und Mitleid. »Was wird nun aus dem Panzer?«
»Jemand wird sich darum kümmern«, sagte Memphis freundlich. »Für uns hat deine Schwester jetzt Vorrang vor allem anderen.«
Sie waren auf festem Boden angelangt. Ein schmaler Pfad schlängelte sich durch die Bäume. Geoffrey hatte ihn auf dem Weg hierher nicht bemerkt, aber aus der Luft war er wohl deutlich zu erkennen gewesen. An seinem Ende wartete, noch außer Sicht, das Airpod.
»Wird sie wieder gesund?«
»Ich glaube nicht, dass ein größerer Schaden entstanden ist. Es war gut, dass du da warst und die Maschinen abschalten konntest. Ach je.« Memphis war unvermittelt stehen geblieben.
Geoffrey trat neben ihn. »Ist etwas mit Sunday?«
»Nein«, sagte der dünne Mann, immer noch ohne die Stimme zu erheben. »Es ist Mephisto. Er ist vor uns auf dem Pfad. Kannst du ihn sehen?«
Im Halbdunkel unter den Baumkronen versperrte ihnen eine riesige, mit Sonnenflecken gesprenkelte Gestalt den Weg. Der Elefant wühlte mit seinem Rüssel im Staub. Er hatte nur einen Stoßzahn, der andere war abgebrochen. Seine Streitlust war an seiner Haltung deutlich abzulesen. Die Stirn war zum Rammbock gesenkt.
»Mephisto ist ein alter Bulle«, sagte Memphis. »Er ist sehr aggressiv und hütet eifersüchtig sein Revier. Ich hatte ihn schon aus der Luft bemerkt, aber es sah so aus, als wäre er in die andere Richtung unterwegs, und deshalb hoffte ich, heute nicht mit ihm zusammenzutreffen.«
Geoffrey war verwirrt und erschrocken. Er war schon oft Elefanten begegnet, aber diese Unsicherheit bei seinem Mentor war ihm neu.
»Wir könnten um ihn herumgehen«, schlug er vor.
»Das wird Mephisto nicht zulassen. Er kennt die Gegend viel besser als wir, und er ist schneller, vor allem, wenn ich Sunday tragen muss.«
»Warum will er uns nicht vorbeilassen?«
»Er ist nicht ganz richtig im Kopf.« Memphis hielt inne. »Geoffrey, bitte sieh jetzt nicht hin. Ich muss etwas tun, was ich gern vermieden hätte.«
»Was hast du vor?«
»Schau weg und schließ die Augen.«
Das war ein strenger Befehl, und Geoffrey gehorchte. Nur das Rascheln des Laubs unterbrach die Stille. Dann gab es einen dumpfen Schlag, Staub wirbelte auf, und brechende Äste und umknickende Baumstämme erzeugten eine Salve von trockenen Knacklauten.
»Halte dich an meiner Jacke fest und folge mir«, wies ihn Memphis an. »Du darfst die Augen erst wieder aufmachen, wenn ich es dir sage. Versprichst du mir das?«
»Ja«, sagte Geoffrey.
Doch er hielt sein Wort nicht. Als sie in den kühlen Schatten der Bäume traten, schlug Memphis einen Bogen um ein Hindernis und zog Geoffrey mit sich. Der Junge öffnete die Augen und spähte durch den Staub, der noch in der Luft hing. Mephisto lag auf der Seite, ein Auge war zu sehen. Es stand offen, aber es war kein Leben darin. Die riesige graue Gestalt mit der runzligen Haut war vollkommen reglos. Der Bulle war tot.
»Hast du Mephisto getötet?«, fragte Geoffrey, als sie das Airpod erreicht hatten.
Memphis öffnete schweigend die hintere Tür und legte Sunday vorsichtig auf den gepolsterten Sitz. Er schwieg auch weiter, als sie aufstiegen und zum Familiensitz zurückflogen. Memphis weiß Bescheid, dachte Geoffrey. Memphis wusste, dass Geoffrey hingesehen hatte und dass zwischen ihnen nichts mehr so sein würde wie früher.
Erst später fiel ihm ein, dass er das rote Holzflugzeug unten im Loch gelassen hatte.
ERSTER TEIL