Das Buch
Die Katze des Dalai Lama lebt mit Seiner Heiligkeit unter einem Dach und ist ständig von Yogis, Lamas und anderen buddhistischen Würdenträgern umgeben. Doch was das Meditieren betrifft, ist sie eine echte Niete – so kann es nicht weitergehen! Doch wo anfangen? Und was gegen die geistige Unruhe tun, die einen immer dann wie eine wildgewordene Horde Flöhe überfällt, wenn man sich gerade entspannen will?
Auch in ihrem neuesten Abenteuer durchstreift unsere »kleine Schneelöwin« die magische Welt zu Füßen des mächtigen Himalaja, erfährt von ihren liebenswerten Bewohnern so einiges über buddhistische Weisheit, Gelassenheit und Achtsamkeit – und gelangt schließlich zu der Einsicht, dass es keinen besseren Augenblick gibt als das Hier und Jetzt.
Der Autor
David Michie, geboren in Simbabwe, lebt heute in Australien. Ursprünglich Thriller-Autor, gelingt es dem praktizierenden Buddhisten und Meditationslehrer mit Bravour, buddhistische Prinzipien in moderner, unterhaltsamer Form einem breiten Publikum nahezubringen.
Weitere Informationen unter: www.davidmichie.com
David Michie
Die Katze des Dalai Lama und der Zauber des Augenblicks
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Kurt Lang
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Dalai Lama’s Cat and the Power of Meow« im Verlag Hay House Inc., USA.
Copyright © 2015 by David Michie
Originally published in 2015 by Hay House Inc., USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Lotos Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Karin Weingart
Covergestaltung: Guter Punkt, München,
unter Verwendung des Motivs der englischen Originalausgabe, © Thinkstock
Illustrationen: © branche caria – Fotolia.com
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-18551-0
V002
www.ansata-integral-lotos.de
www.facebook.com/Integral.Lotos.Ansata
Ich habe mit mehreren Zen-Meistern gelebt – alles Katzen.
Eckhart Tolle (Autor von Jetzt! Die Kraft der Gegenwart)
Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet.
Entspringen reinem Geist dein Wort und deine Taten,
folgt das Glück dir nach, unfehlbar wie ein Schatten.
Buddha, Dhammapada
Prolog
Zu meiner Schande muss ich dieses Buch mit einem überaus peinlichen Geständnis eröffnen. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu sprechen, schließlich lebe ich mit dem Dalai Lama unter einem Dach, bin ständig von den Mönchen des Namgyal-Klosters umgeben und begegne den berühmtesten Meditationsmeistern des tibetischen Buddhismus. Da sollte man eigentlich meinen, dass zu meinen vielen Qualitäten auch die Kunst des Meditierens zählt.
Doch weit gefehlt, liebe Leser!
Ich bin mit meinen hypnotischen blauen Augen, dem kohlschwarzen Gesicht und dem üppigen cremefarbenen Fell unbeschreiblich schön, dazu international bekannt. Die Berühmten und Mächtigen dieser Welt, mögen sie nun im Oval Office, im Buckingham Palace oder zurückgezogen in den Hügeln Hollywoods residieren, erkundigen sich regelmäßig nach meinem Befinden.
Nur … was die Meditation betrifft, bin ich alles andere als ein Naturtalent.
Dabei habe ich es schon oft versucht. Aber sobald ich mich auf meine Atmung konzentrieren will, wandern meine Gedanken automatisch zu Mrs. Trincis gehackter Hühnerleber oder den Schmerzen in meinen Hinterbeinen. Manchmal schaffe ich es sogar irgendwie, an beides gleichzeitig zu denken.
Der Glaube, wir Katzen seien achtsame Kreaturen, die ständig »im Hier und Jetzt leben«, ist weit verbreitet. Nun, dass wir über eine hohe Konzentrationsfähigkeit verfügen, steht außer Zweifel. Insbesondere wenn unser Jagdinstinkt geweckt wird. Jedoch verbringen wir auch viel Zeit mit Denken, selbst wenn man es uns vielleicht nicht ansieht. Andererseits: Wie viele eurer Gedanken sind denn sichtbar? Und wenn sie es wären – glaubt ihr, dass euch dann auch nur ein einziger Freund bliebe?
Solltet ihr jemals Zweifel daran gehabt haben, dass euer samtpfotiger Gefährte Verstand und Gefühl besitzt, dann beobachtet doch einfach mal, was geschieht, wenn eure Katze einschläft und die bewusste Kontrolle über ihren Körper verliert. Unweigerlich werdet ihr ein Zucken der Gliedmaßen, ein Zittern des Mäulchens wahrnehmen, womöglich sogar ein Schniefen oder Miauen hören. Was sollten diese Phänomene anderes sein als unwillkürliche Begleiterscheinungen des Traums, der sich in unserem Geist abspielt? Katzen sind tatsächlich zu großer Achtsamkeit fähig. Doch wir sind auch denkende Wesen.
Ich für meinen Teil denke vielleicht sogar ein bisschen zu viel.
Genau aus diesem Grund kam ich zu dem Schluss, dass die Meditation zwar nützlich, lebensverändernd und definitiv das Richtige für mich wäre, dass ich aber noch nicht sofort damit anfangen müsste. Vielleicht nächstes Jahr, wenn sich die Mönche des Namgyal-Klosters zum Retreat zurückzogen. Wäre das nicht der ideale Zeitpunkt, um mich ernsthaft damit zu beschäftigen? Oder während der dunklen Wintermonate, in denen viele Lebewesen den natürlichen Drang verspüren, sich von der Welt zurückzuziehen und der kontemplativen Innenschau zu widmen? An Gelegenheiten, meine Meditationspraxis wiederaufzunehmen, mangelte es jedenfalls nicht.
Nur heute tat sich keine auf.
Vielen Meditationswilligen mangelt es an Praxis. Sie mögen ein Dutzend Bücher zum Thema gelesen haben, aber sie meditieren nicht regelmäßig. Bis vor Kurzem, liebe Leser, zählte auch ich zu diesen Dilettanten. Bis ich eine tief greifende Veränderung durchmachte. Aber so geht es den meisten: Irgendein Ereignis wird zum Auslöser, treibt einen auf einen Weg, den man »eigentlich« schon des Öfteren einschlagen wollte. Was aber nie so recht geklappt hatte.
Nur wenige sind geborene Meditationskünstler. Andere arbeiten hart an sich. Den meisten von uns aber drängt sich die Meditation irgendwann regelrecht auf. Ich will meine Geschichte nicht nur deshalb mit euch teilen, weil sie so außergewöhnlich ist – kein Wunder, schließlich bin ich selbst ziemlich außergewöhnlich. Nein, vor allem will ich euch die Geschichte, wie ich zur Meditation kam, erzählen, weil ich glaube, dass ihr sie nachvollziehen könnt. Sie versteht. Vielleicht sogar ein winzig kleines bisschen von euch selbst in mir wiederfindet – was ja nicht das Schlechteste wäre, oder?
Liebe Leser, macht es euch auf eurem Lieblingssofa oder -sessel gemütlich. Sorgt für einen ausreichenden Vorrat an Getränken und Snacks. Schaltet das nervtötende Handy aus oder verbannt es in einen anderen Raum. Überredet euren heiß geliebten schnurrenden Freund, sich zu euch zu gesellen.
Seid ihr bereit? Sitzt ihr bequem?
Sehr schön. Dann fangen wir an.
Erstes Kapitel
Alles begann mit meiner sprichwörtlichen Neugier. Ein streunender Hund hatte die Nacht auf der Fußmatte vor unserer Residenz zugebracht. Als ich am Morgen aus dem Gebäude trat, hielt ich inne, weil ich den üblen Geruch witterte, den er hinterlassen hatte, und versuchte, seine Rasse zu bestimmen. Auch auf dem Rückweg blieb ich noch einmal kurz auf dem Fußabtreter stehen.
Kurze Zeit später lag ich auf der Fensterbank in den Gemächern des Dalai Lama im ersten Stock. Mein Lieblingsplatz – nicht zuletzt, weil man von dort mit geringem Aufwand sehr viel beobachten kann. Außerdem gibt es nichts Schöneres, als mit dem Dalai Lama in einem Raum zu sein. Ob es nun an seiner Präsenz, seiner Energie oder seiner Liebe liegt – wenn man in seiner Nähe ist, überkommt einen unweigerlich eine tiefe Glückseligkeit und man hat die unumstößliche Gewissheit, dass unter der Oberfläche alles gut ist, was auch geschehen mag.
An besagtem Morgen hatte ich es mir also gerade auf der Fensterbank gemütlich gemacht und wartete darauf, in die wohlwollende Aura des Dalai Lama eintauchen zu können, als mich plötzlich ein starker Juckreiz befiel. Ich drehte den Kopf und leckte mich wie wild, doch davon wurde das Jucken nur noch schlimmer! Ich kratzte mich wie verrückt und biss mir sogar stellenweise die Haut von Bauch und Rücken. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Als wäre mein Körper von Kopf bis Pfote das Ziel einer Armee unsichtbarer Angreifer!
Seine Heiligkeit sah besorgt von seinem Schreibtisch auf.
Nur wenige Augenblicke später hörte das Jucken so unvermittelt auf, wie es begonnen hatte. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? War es eine der unergründlichen Launen des Karmas gewesen?
Später an diesem Tag, als ich gerade von einem Spaziergang zurückkehrte, erfolgte der nächste Angriff. Der Schmerz kam so unerwartet und war so stark, dass ich von dem Aktenschrank im Assistentenbüro sprang, unsicher auf dem Boden landete und mir wild zappelnd den Rücken leckte und kratzte. Mit einem Mal schienen hundert kleine Plagegeister auf meiner Haut zu krabbeln und mich mit glühend heißen Zangen zu kneifen. Es war so schlimm, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als daran, diese Plage schnellstens wieder loszuwerden.
Tenzin – die rechte Hand des Dalai Lama in allen weltlichen und diplomatischen Angelegenheiten – spähte an seinem Schreibtisch vorbei. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, eine Mail an einen skandinavischen Popstar zu schreiben, der in den Achtzigern große Erfolge gefeiert hatte. Nun sah er mich überrascht an.
»KSH?« Wie gewöhnlich sprach er mich mit meinem offiziellen Titel an: Katze Seiner Heiligkeit. »So kenne ich dich ja gar nicht.«
Gut beobachtet. Aber sonst wurde ich ja auch nicht von diesen grässlichen Juckattacken gequält, die mich im weiteren Tagesverlauf und auch die Nacht über heimsuchten. Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren.
Am nächsten Tag rief der Dalai Lama gleich in der Frühe seinen Assistenten zu sich. »Tenzin, unsere kleine Schneelöwin hat arge Probleme.«
Normalerweise hüpfte mein Herz vor Freude, wenn mich Seine Heiligkeit mit diesem Kosenamen anredete. Doch nicht an jenem Morgen. Stattdessen zuckte ich wie aufs Stichwort zusammen und ging mit gefletschten Zähnen auf meinen juckenden Schwanz los.
»Das hat sie gestern auch schon gemacht«, sagte Tenzin. Die beiden beobachteten mich eine Weile, warfen sich dann einen vielsagenden Blick zu und stellten gleichzeitig die Diagnose: »Flöhe!«
Tenzin ließ ein Flohhalsband bringen, das er offenbar an meinem Hals befestigen wollte. Dieses Halsband, so versicherte er mir, würde nicht nur meinen Qualen ein Ende setzen, sondern eine Zeit lang auch die Flöhe fernhalten.
Flöhe? Ich? Das musste ich erst einmal verdauen. War die Katze des Dalai Lama nicht immun gegen solche ordinären und wenig standesgemäßen Beschwerden? Noch dazu hatte ich mir dieses Ungeziefer von einem streunenden Hund geholt. Konnte ich noch tiefer sinken?
Zunächst sträubte ich mich gegen Tenzins Bemühungen. Schließlich wollte ich der Öffentlichkeit keinen so deutlichen Hinweis auf mein peinliches Leiden geben. Mit festem Griff und beruhigenden Worten legte er mir jedoch das Halsband um und stellte mich danach im Erste-Hilfe-Zimmer unter Quarantäne. Der Dalai Lama war außer Haus, um eine wichtige Mönchsprüfung zu beaufsichtigen, und so nutzte Tenzin die Gelegenheit für einen gründlichen Frühjahrsputz des Büros Seiner Heiligkeit und aller anderen Räumlichkeiten, in denen ich mich aufgehalten hatte.
Auch der Fußabtreter wurde einer genaueren Inspektion unterzogen. Er war dermaßen flohverseucht, dass er entsorgt und durch eine schöne neue Kokosfasermatte mit kurzen Borsten und einem roten Rand ersetzt wurde. Das Sicherheitspersonal erhielt die Anweisung, die Augen nach dem streunenden Hund offen zu halten. Sobald er sich wieder zeigte, würde man ihn im Kloster aufnehmen, bis ein geeignetes Heim für ihn gefunden war.
Es sah ganz so aus, als hätte sich die Angelegenheit damit erledigt.
Dummerweise ist im Leben aber alles etwas komplizierter. Obwohl ich zum Glück schnell von den Flöhen befreit war, hatten sie mich doch so traumatisiert, dass ich sie zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit plötzlich und ohne erkennbaren Grund auf mir zu spüren glaubte. Ich saß beispielsweise in stiller Kontemplation auf der Fensterbank und wurde aus heiterem Himmel von einer Juckattacke heimgesucht. Oder ich bereitete mich auf eine Meditationssitzung vor, und plötzlich beherrschte das Ungeziefer meine Gedanken. Dann kratzte und biss ich mir wie wild im Fell herum, weil ein halbes Dutzend imaginärer Schädlinge sein Unwesen darin trieb. Selbst wenn es mir gelang, eine körperliche Reaktion zu unterdrücken, stellte dieses Phänomen doch eine unwillkommene Ablenkung dar. In gelegentlichen Augenblicken der Ruhe versuchte ich mir einzureden, dass ich das Trauma überwunden hätte, doch schon kurz darauf belehrte mich ein neuerlicher Anfall eines Besseren. Ich mochte zwar nicht mehr von Flöhen befallen sein, litt aber immer noch unter ihnen.
Zur selben Zeit geschah etwas, was unsere kleine Gemeinschaft in ihren Grundfesten erschütterte. Und obwohl ich Augenzeugin des Vorfalls war, hätte ich mir die Auswirkungen, die er auf mein Leben haben sollte, nie vorstellen können. Außerdem erfuhr ich, dass nicht nur Katzen unter Flöhen leiden.
Es geschah während eines der Festessen, die der Dalai Lama regelmäßig für prominente Gäste ausrichtet. Eine Delegation hochrangiger Würdenträger aus dem Vatikan war zum Mittagessen gekommen. Mrs. Trinci – die Köchin des Dalai Lama für besondere Gelegenheiten – arbeitete unten in der Küche. Sie gab sich allergrößte Mühe, jeden Gast Seiner Heiligkeit vollständig zufriedenzustellen. Seit drei Tagen schon war sie eifrig am Werk und kümmerte sich persönlich um jedes noch so kleine Detail. Für sie als Italienerin war es Ehrensache, sich bei einem Besuch von Landsleuten in gastronomische Höhen aufzuschwingen, die denen der besten Restaurants Roms in nichts nachstanden.
Nachdem die Pastateller abgeräumt waren, folgte ein unterhaltsamer Austausch zwischen Seiner Heiligkeit und den Gästen – wobei er nicht nur mit Worten kommunizierte, sondern auch durch seine pure Präsenz. Obwohl ich den erstaunlichen Effekt, den der Dalai Lama auf seine Mitmenschen hat, jeden Tag aufs Neue beobachten kann, wird mir dabei nie langweilig. Heute nun kamen also die Besucher aus dem Vatikan in den Genuss dieser tiefen Glückseligkeit. Unterdessen wartete ich mit wachsender Ungeduld auf mein eigenes Mittagessen.
Wenn man mich fragen würde, wen ich von allen Menschen im Namgyal-Kloster – mit Ausnahme Seiner Heiligkeit natürlich – am liebsten habe, gäbe es wohl nur eine Antwort: Mrs. Trinci. Sie ist lebhaft, überschwänglich und die unbestrittene Chefin der Küche. Als sie mich zum ersten Mal erblickte, nannte sie mich die schönste Kreatur auf Erden. Ich muss nur in die Küche spazieren, und schon nimmt sie mich in den Arm, stellt mich vorsichtig wie eine zerbrechliche Mingvase auf die Arbeitsfläche und serviert mir auf einem Unterteller saftige Leckerbissen. Und wenn ich die gehackte Hühnerleber dann mit hörbarem Vergnügen verzehre, himmelt sie mich mit ihren bernsteinfarbenen, von stark getuschten Wimpern umrandeten Augen an und flüstert mir süße Komplimente ins Ohr.
Selbst wenn ich nicht persönlich zugegen war, dachte sie noch an mich. Egal, für wen Mrs. Trinci ihre aufwendigen Menüs zubereitete, für Gäste aus dem Weißen Haus, aus der Prager Burg oder dem Palácio da Alvorada, sie vergaß nie, eine Schüssel mit laktosefreier Milch oder – zu ganz besonderen Gelegenheiten – einen Löffel Schlagsahne für meine Wenigkeit auf den Dessertwagen zu stellen.
An diesem Tag wurde – wie üblich vom Beifall der Gäste begleitet – eine Auswahl von Panna cotta, Tiramisù und verschiedenen Torten serviert. Nach dem Dessert zogen sich die Kellner, die die Gesellschaft bedient hatten, nach und nach zurück, bis nur noch Dawa, der Oberkellner, anwesend war. Ich sah zum Dessertwagen hinüber – und vermisste mein kleines weißes Souffléförmchen.
Ja, war denn das die Möglichkeit? Sollte mich Mrs. Trinci etwa vergessen haben?
Ich war nicht die Einzige, der etwas auffiel. Wie ich so dasaß – schockiert angesichts des Fehlens der üblichen Leckerbissen –, unterbrach Seine Heiligkeit eine angeregte Diskussion über den heiligen Franziskus von Assisi und sah erst Dawa, dann mich und schließlich den Dessertwagen an. Er musste nicht einmal etwas sagen – Sekunden später öffnete Dawa die Tür, um flüsternd entsprechende Anweisungen zu erteilen.
Meine Aufmerksamkeit hatte sich unterdessen dem entfernten Heulen einer Sirene zugewandt. Ein Krankenwagen schien direkt in unsere Richtung zu kommen.
Ich spitzte die Ohren. Kein Zweifel: Die Ambulanz preschte tatsächlich den Hügel herauf. Sobald das weiße Gefährt mit blinkenden Lichtern das Eingangstor zum Namgyal passiert hatte, sprang ich auf.
Genau wie Tenzin. Die Sirene machte sowieso jedes Gespräch unmöglich. Er entschuldigte sich und ging zum Fenster. Neugierig blickten wir eine Weile hinaus. Der Krankenwagen fuhr langsam durch den Innenhof. Mönche und Touristen machten den Weg frei und schauten der heulenden Erscheinung ungläubig nach. Das Fahrzeug kam näher, die Sirene wurde unerträglich laut und verstummte dann plötzlich, als der Krankenwagen um die Ecke bog und außer Sicht geriet.
Unbehagliches Schweigen folgte. Die Gäste am Tisch hoben besorgt die Augenbrauen. Einige Angehörige der Delegation aus dem Vatikan bekreuzigten sich. Tenzin kehrte auf seinen Platz zurück, und die Gespräche wurden wieder aufgenommen.
Auch im Innenhof wimmelte es schon bald erneut von Mönchen in roten Roben und Touristenführern, die ihre Regenschirme schwangen. Kurzzeitig vergaß ich sogar, wie schnöde ich beim Mittagessen übergangen worden war – bis mir endlich Dawa mit einer eleganten Verbeugung meine Mahlzeit servierte.
Kurze Zeit später verabschiedete sich der Besuch aus dem Vatikan von Seiner Heiligkeit. Die Delegierten versprachen, über Skype in Kontakt zu bleiben, und verließen mit flatternden Soutanen das Gebäude. Der Dalai Lama blieb allein zurück, stand eine Weile mit vor dem Herzen zusammengelegten Händen da und murmelte leise Mantras. Das hatte ich ihn schon öfter tun sehen, diesmal aber wusste ich intuitiv, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.
Nur wenige Sekunden später kam Tenzin über den Flur geeilt.
»Eure Heiligkeit, ich bedaure, Euch mitteilen zu müssen, dass Mrs. Trinci einen Herzanfall erlitten hat, wahrscheinlich einen Infarkt.«
Ich sah auf. Hatte ich das richtig verstanden?
Das Mitgefühl Seiner Heiligkeit war nicht nur auf seinem Gesicht zu erkennen, sondern erfüllte den ganzen Raum; es schien so mächtig, dass kein Lebewesen im Umkreis des Namgyal davon unberührt blieb.
»Die Sanitäter waren sofort zur Stelle«, fuhr Tenzin fort. »Sie wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Ich halte Euch selbstverständlich über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden.«
Der Dalai Lama nickte. »Vielen Dank«, sagte er. »Möge sie sich schnell und vollständig erholen.«
Tenzin legte ebenfalls die Hände vors Herz, bevor er sich entfernte.
Es folgten trübsinnige Tage. Die Nachricht von Mrs. Trincis Herzanfall machte weit über den Namgyal hinaus die Runde. Obwohl sie nicht jeden Tag im Palast zugegen war, stellte sie doch eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Belegschaft dar. Für ihr aufbrausendes Temperament war sie ebenso bekannt wie für ihr goldenes Herz. Und es gab wenige im Namgyal, die noch nicht in den Genuss ihrer herausragenden Kochkunst gekommen waren – sei es auch nur in Form eines der leckeren Kekse, die sie regelmäßig für die Mönche backte.
Die ersten offiziellen Mitteilungen aus dem Krankenhaus bestätigten die Befürchtung, dass es sich um einen Herzinfarkt gehandelt hatte. Weitere Untersuchungen schlossen sich an. Dann warteten wir lange auf Nachricht über den Verlauf der Behandlung. Ein paar Tage später rief Mrs. Trincis Tochter Serena an, um Seine Heiligkeit über den Zustand ihrer Mutter in Kenntnis zu setzen. Der Dalai Lama rezitierte gerade Mantras, daher stellte er das Telefon auf Lautsprecher, damit er sich die Perlen seiner Mala auch weiterhin durch die Finger gleiten lassen konnte.
Serena hatte ihre Kindheit in McLeod Ganj verbracht. Sobald sie alt genug war, um eine Karotte zu schälen, hatte sie als Souschefin in der Palastküche gearbeitet. Ihre Mutter war bereits in jungen Jahren zur Witwe geworden, sodass Seine Heiligkeit so etwas wie eine Vaterrolle für Serena eingenommen und sich stets liebevoll um sie gekümmert hatte. Sie war mit seinem Zuspruch und seinem Rückhalt aufgewachsen.
Selbst als Serena im Erwachsenenalter nach Europa ging, um sich in verschiedenen berühmten Restaurants ausbilden zu lassen, blieb diese besondere Bindung zum Dalai Lama bestehen. Und auch zu mir. Serena und ich waren seit unserer ersten Begegnung dicke Freunde. Ihre Mutter sei aus dem Krankenhaus entlassen worden, berichtete sie jetzt. Der Herzinfarkt hatte keine bleibenden Schäden hinterlassen. Eine Operation war nicht notwendig, und Schmerzen hatte sie auch keine. Allerdings litt Mrs. Trinci unter Bluthochdruck und würde von jetzt an Medikamente nehmen müssen. Zusätzlich hatte der Arzt ihr zur Stressbewältigung eine altbewährte Methode empfohlen: die Meditation.
Sofort bot Seine Heiligkeit an, sie zu unterrichten. Ein Angebot, das Serena sehr glücklich machte. »Privatstunden beim Dalai Lama!«, rief sie entzückt.
»Du bist natürlich ebenfalls herzlich eingeladen«, fügte Seine Heiligkeit hinzu. »Wenn wir unter Stress leiden und die Gemütsruhe fehlt, ist die Meditation umso wichtiger. Das gilt für uns alle.«
Ich saß auf einem Sessel in der Nähe und folgte der Unterhaltung aufmerksam.
»Schmerz ist unvermeidlich«, fuhr der Dalai Lama fort, »doch das Leid nicht. Wir alle müssen seelische Wunden hinnehmen und Herausforderungen überwinden. Doch es kommt darauf an, wie wir damit umgehen. Bleiben wir den Wunden und ihren Ursachen verhaftet? Oder gelingt es uns, sie loszulassen und unserem Leiden so ein Ende zu bereiten?«
Allmählich bekam das Gespräch für mich auch eine persönliche Bedeutung.
»Und hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel.«
Ich drehte mich zu Seiner Heiligkeit um und stellte fest, dass er mich direkt ansah.
Eigentlich hatte ich Mrs. Trinci und Serena schon in den nächsten Tagen in den Räumlichkeiten Seiner Heiligkeit erwartet. Doch es verging erst eine und dann noch eine Woche, ohne dass sie sich blicken ließen. Offenbar waren sie aus irgendeinem Grund verhindert. Serena hätte einen solchen Termin nie vergessen. Und welchen Grund sollte Mrs. Trinci haben, diese einmalige Gelegenheit auszuschlagen? Meine eigene posttraumatische Flohstörung war zwar nicht ansatzweise so gefährlich wie ein Herzinfarkt, aber dennoch ein Quell ständiger geistiger Unruhe. Daher konnte ich es kaum erwarten, dass mir der Dalai Lama diesen besorgniserregenden Umstand erklärte.
Wie sich herausstellte, dauerte es über einen Monat, bis Mrs. Trinci und Serena eines späten Nachmittags den Namgyal betraten. Kurze Zeit später wurden sie in das Gemach Seiner Heiligkeit geführt. Gewöhnliche Besucher pflegten respektvoll Platz zu nehmen. Doch diese beiden waren keine gewöhnlichen Besucher – sie gehörten zur Familie. Sobald mich Mrs. Trinci auf der Fensterbank erblickte, kam sie auf mich zugeeilt.
»Ach dolce mio, meine Kleine!«, rief sie aus.
Ich stand auf, streckte mit einem wohligen Schauder die Vorderpfoten, wölbte genießerisch den Rücken und ließ mir den Hals kraulen.
»Oh, was ist denn das?«
»Ein Flohhalsband«, sagte Seine Heiligkeit.
»Mamma mia, mein armer kleiner Schatz!« Sie beugte sich vor und rieb ihr Gesicht an meinem Mäulchen. »Was hast du nur durchmachen müssen. Und wie sehr habe ich dich vermisst!«
»Sie hat Sie auch vermisst.« Seine Heiligkeit stand neben seinem Stuhl und beobachtete alles mit einem Lächeln. »Und besonders die Leckerbissen aus der Küche«, fügte er kichernd hinzu.
»Keine Sorge, davon bekommt sie im Café mehr als genug«, meinte Serena belustigt. Sie war eine der Inhaberinnen meines Stammlokals, des Himalaja-Buchcafés, das nur zehn Minuten von hier entfernt war.
Sobald die drei es sich bequem gemacht hatten, schlich ich mich in ihre Nähe, damit mir kein Wort entging.
»Nun, meine Liebe«, sagte Seine Heiligkeit und nahm Mrs. Trincis Hand, wie er es mit jedem Besucher tat. Dann sah er ihr tief in die Augen. »Wie geht es Ihnen?«
Seine Präsenz und das Mitgefühl, das er verströmte, waren zu viel für Mrs. Trinci. Überwältigt brach sie in Tränen aus und suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Unter heftigem Schluchzen erklärte sie, welch großer Schock der Herzinfarkt gewesen war, wie verzweifelt sie sich gewünscht hatte, dass alles wieder wie früher würde. Doch diesen Wunsch hatte ihr der Arzt nicht erfüllen können. Wenn sie ihren Bluthochdruck unter Kontrolle bekommen und weiteren Herzproblemen vorbeugen wollte, würde sie zu einer neuen Normalität finden und sich auf einige Veränderungen einstellen müssen.
Von meinem Platz auf dem Teppich aus betrachtete ich Mrs. Trinci aufmerksam. Sie wirkte verändert, weniger energiegeladen und vital als sonst. Vielleicht lag es daran, dass sie sich die Wimpern nicht getuscht und auch auf die bei jeder Bewegung charakteristisch klimpernden Armreifen verzichtet hatte. Anscheinend war ihr die für sie typische unerschütterliche Selbstsicherheit abhandengekommen. Zum ersten Mal überhaupt erlebte ich Mrs. Trinci als verletzlich. Ich ging zu ihrem Stuhl hinüber, sprang hoch, setzte mich neben sie und schnurrte beruhigend.
»Der Arzt hat mir empfohlen zu meditieren. Und ich wäre Euch überaus dankbar, wenn Ihr mir zeigen könntet, wie das funktioniert«, sagte sie und streichelte mich.
»Ja, darüber habe ich bereits mit Serena gesprochen«, antwortete Seine Heiligkeit. »Wann war das noch mal?«
Mrs. Trinci wandte sich Serena zu. »Vor zehn Tagen?«
»Vor einem Monat.«
»Ein Monat«, bekräftigte der Dalai Lama nachdenklich.
Mehr musste er gar nicht sagen. Im einsetzenden Zwielicht schrie die unausgesprochene Frage förmlich danach, beantwortet zu werden, sodass sich Mrs. Trinci schließlich nicht mehr davor drücken konnte. »Ich … ich bin nicht früher gekommen, weil …« Sie schüttelte traurig den Kopf, »… weil ich nicht weiß, ob ich überhaupt meditieren kann.«
Befürchtete sie etwa, von Seiner Heiligkeit zurechtgewiesen zu werden? Es war schwer zu sagen, ob es ihr peinlich war oder ob die Verzweiflung aus ihr sprach. Der Dalai Lama allerdings grinste amüsiert, als hätte sie einen Witz gemacht. Und damit war alle Anspannung im Raum wie weggeblasen. Sowohl Mrs. Trinci als auch Serena ließen sich von der Fröhlichkeit des Dalai Lama anstecken, und schließlich lachten alle drei über Mrs. Trincis Antwort.
»Aber verraten Sie mir doch«, sagte Seine Heiligkeit immer noch amüsiert, »wie Sie auf die Idee kommen, Sie könnten nicht meditieren?«
»Weil ich es versucht habe!« Mrs. Trinci erhob die Stimme. »Mehrmals.«
»Und?«
Sie erwiderte seinen Blick. »Mein Geist ist völlig außer Kontrolle.«
»Sehr gut!« Er legte die Hände aufeinander und kicherte über ihre Bemerkung. »Haben Sie das früher schon einmal bemerkt?«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Nein. Eigentlich nicht. Aber ich habe mich auch noch nie so konzentriert.«