Buch
Trends sind eines der faszinierendsten Phänomene menschlicher Gesellschaften. Wie entstehen sie und wodurch? Malcolm Gladwell, Wissenschaftskolumnist beim »New Yorker«, wagt eine neue Antwort auf diese sehr alten Fragen: Trends, Ideen oder soziale Verhaltensweisen verbreiten sich genauso wie ein Virus epidemisch, jahrelang sind gerade mal ein paar Menschen davon betroffen, dann aber binnen kurzem ganze Massen. Worauf es ankommt, das ist der »Tipping Point«, jener magische Moment also, in dem die Ansteckung ausgelöst wird. Wir neigen zu dem Glauben, dass nur groß dimensionierte Maßnahmen auch ähnlich große Wirkungen erzielen. Weit gefehlt, behauptet Gladwell und belegt mit detaillierten Nachweisen das Gegenteil: Wer eine schlecht gehende Firma, eine Bekleidungs- oder Schuhmarke auf den richtigen Weg bringen oder wer soziales Verhalten ändern will, kann gerade auch mit kleinen, aber präzisen Eingriffen Erfolg haben. So ist es beispielsweise nachgewiesen, dass scheinbar so unbedeutende Maßnahmen wie die Reparatur von Straßenlaternen und das konsequente Entfernen von Graffiti die Verbrechensrate in Manhattan deutlich reduziert haben.
Autor
Der Journalist Malcolm Gladwell arbeitet seit 1996 für »The New Yorker«. Zuvor war er als Reporter und Bürochef der »Washington Post« in New York tätig. Gladwell wurde 1963 in England geboren, er ist aufgewachsen in Ontario, Kanada und lebt heute in New York.
Malcolm Gladwell
Tipping Point
Wie kleine Dinge
Großes bewirken können
Aus dem amerikanischen Englisch
von Malte Friedrich
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Tipping Point. How Little Things Can Make a Big Difference« bei Little, Brown and Company, Boston/New York/ London.
1. Auflage
Durchgesehene Taschenbuchausgabe Oktober 2016
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2002 der Originalausgabe by Malcolm Gladwell
Copyright © 2016 der durchgesehenen Neuausgabe
by Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Eckard Schuster
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Getty Images / Maarten Wouters
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
KF · Herstellung: Str.
ISBN: 978-3-641-18914-3
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Eltern,
Joyce und Graham Gladwell
INHALT
EINLEITUNG
EINS
Die drei Regeln von Epidemien
ZWEI
Das Gesetz der Wenigen:
Vermittler, Kenner Und Verkäufer
DREI
Der Verankerungsfaktor:
»Sesamstrasse«, »Blue’s Clues« und das Erziehungsvirus
VIER
Die Macht Der Umstände (Teil eins):
Bernie Goetz oder Explosion und schrumpfen der Verbrechensrate in New York City
FÜNF
Die Macht der Umstände (Teil zwei):
Die magische Zahl einhundertfünfzig
SECHS
Fallstudie eins:
Gerüchte, Sportschuhe und die Macht der Übersetzung
SIEBEN
Fallstudie zwei:
Selbstmord, Rauchen und die Suche nach der nicht süchtig machenden Zigarette
SCHLUSS
ANMERKUNGEN
DANKSAGUNG
EINLEITUNG
Für die Hush Puppies – die klassischen amerikanischen Wildlederschuhe mit der leichten Kreppsohle – kam der Tipping Point irgendwann zwischen Ende 1994 und Anfang 1995. Die Marke war bis zu diesem Zeitpunkt praktisch tot gewesen. Es wurden nur noch etwa 30000 Paar im Jahr verkauft, zum größten Teil in der Provinz und in Schuhläden in Kleinstädten. Wolverine, die Firma, die die Hush Puppies herstellt, dachte daran, die Produktion der Schuhe, die sie berühmt gemacht hatten, ganz einzustellen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Bei Modeaufnahmen wurden zwei leitende Wolverine-Manager – Owen Baxter und Geoffrey Lewis – von einem Designer aus New York angesprochen, der ihnen berichtete, dass die klassischen Hush Puppies in den Clubs und Bars in Downtown Manhattan plötzlich der letzte Schrei seien. »Er erzählte uns«, erinnert sich Baxter, »dass es Läden im East Village und in Soho gebe, wo die Schuhe verkauft würden. Die Besitzer hätten begonnen, in die alten Tante-Emma-Läden zu laufen, wo die Schuhe noch vorrätig waren, und sie aufzukaufen.« Baxter und Lewis waren zunächst nur verblüfft. Wie konnten Schuhe, die offensichtlich nicht mehr in Mode waren, ein solches Comeback erleben? »Er sagte uns, dass Isaac Mizrahi selbst diese Schuhe trage«, sagt Lewis. »Ich muss hinzufügen, dass wir zu der Zeit keine Ahnung hatten, wer Isaac Mizrahi war.«
Bis zum Herbst 1995 überstürzten sich die Ereignisse. Zuerst rief der Designer John Bartlett an. Er wollte in seiner Frühlingskollektion Hush Puppies einsetzen. Dann rief eine weitere Designerin aus Manhattan an, Anna Sui, die für ihre Modenschau ebenfalls Hush Puppies wollte. In Los Angeles setzte der Designer Joel Fitzgerald einen sieben Meter hohen aufblasbaren Basset, das Markenzeichen der Hush Puppies, auf das Dach seines Modegeschäfts in Hollywood und wandelte eine danebenstehende Kunstgalerie in eine Hush-Puppies-Boutique um. Als die Arbeiten noch im Gange waren – die Wände wurden gestrichen und Regale aufgebaut –, kam der Schauspieler Pee-Wee Herman herein und wollte zwei Paar kaufen. »Es war total von Mund zu Mund«, erinnert sich Fitzgerald.
1995 verkaufte die Firma 430000 Paar der klassischen Hush Puppies, im nächsten Jahr viermal so viele und im darauffolgenden Jahr noch mehr, bis Hush Puppies wieder ein unverzichtbarer Teil der Kleidung junger amerikanischer Männer geworden waren. 1996 gewannen die Hush Puppies auf dem Council of Fashion Designers Dinner den Preis als bestes modisches Accessoir, und der Vorstandsvorsitzende von Wolverine stand neben Calvin Klein und Donna Karan auf der Bühne und nahm einen Preis für eine Leistung entgegen, zu der die Firma – wie er als Erster zugeben würde – fast nichts beigetragen hatte. Der Verkauf von Hush Puppies war förmlich explodiert, und es hatte alles mit einer Handvoll junger Leute im East Village und in Soho begonnen.
Diese ersten Jugendlichen, wer immer sie gewesen sein mögen, hatten sicherlich nicht vor, die Hush Puppies wieder populär zu machen. Sie trugen sie aus dem einzigen Grund, weil niemand sonst sie trug. Dann nahmen zwei Modedesigner die Idee auf und gebrauchten die Schuhe, um etwas ganz anderes zu verkaufen – Haute Couture. Die Schuhe waren nur eine Zutat, mehr nicht. Und dann war es innerhalb eines Jahres passiert – die Hush Puppies brachen alle Rekorde. Sie erreichten einen bestimmten Punkt, und von da an wurde es zu einer Lawine. Wie war das möglich? Wie schaffen es ein Paar Schuhe für dreißig Dollar, die von einer Handvoll junger Hipster und Designer in Manhattan entdeckt werden, innerhalb von zwei Jahren, jedes Kaufhaus in den Vereinigten Staaten zu erobern?
1.
Es gab eine Zeit, das ist noch nicht lange her, als sich ganze Viertel in den hoffnungslos armen Stadtteilen von New York, in Brownsville und East New York etwa, nach Einbruch der Dunkelheit in Geisterstädte verwandelten. Normale arbeitende Menschen wagten sich im Dunkeln nicht auf die Straße. Man sah keine Kinder auf Fahrrädern. Ältere Leute saßen nicht auf den Treppen vor den Haustüren oder auf Parkbänken herum. In diesen Teilen Brooklyns war der Drogenhandel so offenkundig, und die Bandenkriege waren so allgegenwärtig, dass die meisten Menschen es vorzogen, sich nach der Dämmerung in die Sicherheit ihrer Wohnungen zurückzuziehen. Polizisten, die in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren in Brownsville Dienst taten, berichten, dass der Polizeifunk nach Einbruch der Dunkelheit von Nachrichten über jede vorstellbare Art von Gewalt und Kriminalität überquoll. 1992 gab es in New York City 2145 Morde und 626182 Gewaltverbrechen, wobei der Schwerpunkt der Straftaten in Distrikten wie Brownsville und East New York lag. Aber dann geschah etwas Seltsames. An einem rätselhaften und kritischen Punkt begann die Verbrechensrate sich zu drehen. Sie erreichte den Tipping Point und kippte. Innerhalb von fünf Jahren fiel die Anzahl der Morde um 64,3 Prozent auf 770, und die Gewaltverbrechen halbierten sich auf 355893. In Brownsville und East New York belebten sich die Gehsteige, Fahrräder kehrten zurück, und alte Leute erschienen wieder auf den Bänken und vor den Haustüren. »Früher war es nichts Ungewöhnliches, auf den Straßen Maschinenpistolenfeuer zu hören wie irgendwo im Dschungel von Vietnam«, sagt Inspektor Edward Massadri, Chef des Polizeireviers von Brownsville. »Man hörte die automatischen Waffen in Bed-Sty und Brownsville und besonders in East New York. Jetzt hör ich so was nicht mehr.«1
Die Polizei der Stadt New York wird einem dazu sagen, dass es die neue Polizeistrategie war, die diese dramatische Verbesserung zustande brachte. Kriminologen verweisen auf das Nachlassen des Crack-Handels und die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung. Ökonomen sagen, dass die allmähliche Verbesserung der Wirtschaftslage in der Stadt im Laufe der Neunzigerjahre diejenigen jungen Leute in Lohn und Brot brachte, die sonst zu Kriminellen geworden wären. Das sind die konventionellen Erklärungen für das Ansteigen und Abflauen sozialer Probleme, aber letztlich sind sie alle ebenso wenig zufriedenstellend wie die Aussage, dass es die jungen Leute im East Village waren, die den beispiellosen Erfolg der Hush Puppies auslösten. Die Veränderungen im Drogenhandel, in der Bevölkerungsstruktur und in der Wirtschaft sind alle langfristige Trends, die im ganzen Land stattfinden. Sie erklären nicht, warum die Verbrechensrate in New York so viel radikaler abgesunken ist als in anderen Städten des Landes, und sie erklären auch nicht, warum dies in so außerordentlich kurzer Zeit geschah. Was die Fortschritte in der Polizeiarbeit angeht, so sind sie sicher wichtig. Aber es gibt eine rätselhafte Lücke zwischen dem Maß der Veränderung in der Polizeistrategie und der Größe der Wirkung auf Orte wie Brownsville und East New York. Schließlich ebbte das Verbrechen in New York nicht langsam ab, als sich die Lebensbedingungen allmählich verbesserten. Seine Quote stürzte ab. Wie kann die Veränderung einer Handvoll von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Indizes innerhalb von fünf Jahren zu einer Verringerung der Mordrate um zwei Drittel führen?
2.
Der Tipping Point ist die Biografie einer Idee, und die Idee ist sehr einfach. Sie besagt, dass man die dramatische Verwandlung von unbekannten Büchern in Bestseller oder den Anstieg des Rauchens unter Jugendlichen oder das Phänomen der Mundpropaganda oder eine ganze Anzahl von anderen geheimnisvollen Veränderungen im Alltagsleben am besten versteht, wenn man sie sich als Epidemien vorstellt. Ideen und Produkte und Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich genauso wie ein Virus.
Der Aufstieg der Hush Puppies und das dramatische Sinken der Verbrechensrate in New York sind Lehrbuchbeispiele für den Ablauf einer Epidemie. Obwohl sie auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, haben sie eine grundlegende Struktur gemeinsam. Niemand schaltete eine Anzeige und teilte den Leuten mit, dass die traditionellen Hush Puppies »cool« seien und dass man sie tragen sollte. Diese jungen Leute zogen die Schuhe einfach an, wenn sie in Clubs oder Cafés gingen oder in den Straßen von Manhattan herumliefen, und indem sie das taten, setzten sie andere Leute ihrem Sinn für Mode aus. Sie infizierten sie mit dem Hush-Puppies-»Virus«.
Das Sinken der Verbrechensrate in New York verlief mit Sicherheit in genau der gleichen Form. Es war nicht so, dass eine riesige Zahl potenzieller Mörder im Jahr 1993 plötzlich aufschreckte und beschloss, keine Verbrechen mehr zu begehen. Und es war auch nicht so, dass es der Polizei plötzlich auf magische Weise gelang, in vielen Situationen einzugreifen, die ansonsten einen tödlichen Ausgang genommen hätten. Was geschah, ist etwas anderes: Die kleine Anzahl von Menschen in der kleinen Anzahl von Situationen, auf welche die Polizei oder die neuen gesellschaftlichen Kräfte Einfluss nahmen, fingen an, sich anders zu verhalten, und dieses Verhalten sprang irgendwie auf andere potenzielle Kriminelle in ähnlichen Situationen über. Auf irgendeine Weise wurde eine große Anzahl von Menschen in New York innerhalb kurzer Zeit von einem Anti-Verbrechens-Virus »infiziert«.
Und schließlich liefen beide Veränderungen sehr schnell ab. Sie bauten sich nicht langsam und stetig auf. Es ist lehrreich, sich die Kurve der Verbrechensrate in New York von, sagen wir, Mitte der Sechzigerjahre bis Ende der Neunzigerjahre anzuschauen. Die Kurve sieht aus wie ein riesiger Torbogen. 1965 wurden in der Stadt 200000 Gewaltverbrechen begangen, und von diesem Punkt an beginnt diese Zahl steil anzusteigen. Sie verdoppelt sich innerhalb von zwei Jahren und steigt kontinuierlich, bis sie in der Mitte der Siebzigerjahre 650000 pro Jahr erreicht. Auf dieser Ebene verharrt sie die nächsten zwei Jahrzehnte, um dann im Jahr 1992 ebenso steil zu sinken, wie sie dreißig Jahre zuvor gestiegen war. Die Verbrechensrate in New York ging nicht langsam zurück. Sie flachte nicht sanft ab. Sie erreichte einen bestimmten Punkt, und dann war es so, als ob jemand mit aller Kraft auf die Bremse getreten hätte.
Diese drei Eigenschaften – zum einen die Ansteckung, zum zweiten die Tatsache, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können, und zum dritten, dass die Veränderung nicht allmählich, sondern jäh in einem dramatischen Moment eintritt – sind die gleichen drei Prinzipien, die bestimmen, wie Masern sich durch eine Grundschulklasse bewegen oder wie die Grippe in jedem Winter die Menschen erfasst. Von den dreien ist das dritte, das epidemische Prinzip – die Tatsache, dass Epidemien sich in dramatischer Schnelligkeit ausbreiten oder zurückgehen –, das bedeutendste. Denn dieses Prinzip erklärt zugleich die anderen beiden und erlaubt Erkenntnisse darüber, warum gesellschaftliche Veränderungen sich heute so entwickeln, wie sie es tun. Und den dramatischen Moment einer Epidemie, wenn alles plötzlich umschlagen kann, nennt man Tipping Point.
3.
Eine Welt, die den Regeln von Epidemien folgt, unterscheidet sich sehr von der Welt, in der wir im Augenblick zu leben glauben. Denken Sie einen Moment lang über das Konzept der Ansteckung nach. Wenn ich das Wort benutze, denken Sie an Erkältung oder Grippe oder vielleicht an etwas sehr Gefährliches wie HIV oder Ebola. Wir haben alle eine sehr spezifische, biologische Vorstellung davon, was Ansteckung bedeutet. Aber wenn es Verbrechensepidemien gibt oder Modeepidemien, dann muss es Formen von Ansteckung geben, die nichts mit Viren zu tun haben. Haben Sie zum Beispiel schon mal an Gähnen gedacht? Gähnen ist eine überraschend machtvolle Handlung. Nur weil Sie das Wort »Gähnen« in den letzten beiden Sätzen gelesen haben – und die zwei zusätzlichen »Gähnen« in diesem Satz –, wird eine beträchtliche Zahl von Ihnen innerhalb der nächsten Minuten gähnen. Während ich dies niedergeschrieben habe, musste ich zweimal gähnen. Wenn Sie dies an einem öffentlichen Ort lesen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein gewisser Prozentsatz der Leute, die Sie gähnen sahen, jetzt auch gähnen. Und ein Prozentsatz der Leute, die diejenigen Leute beobachteten, die Sie haben gähnen sehen, gähnen jetzt auch und so weiter und so fort in einem sich stets erweiternden gähnenden Kreis.
Gähnen ist unglaublich ansteckend. Ich habe einige von Ihnen, die diese Zeilen lesen, zum Gähnen gebracht, einfach indem ich das Wort »Gähnen« niederschrieb. Die Leute, die gähnten, als sie Sie gähnen sahen, wurden durch den Anblick Ihres Gähnens infiziert – was eine zweite Art der Ansteckung ist. Sie haben vielleicht sogar nur gegähnt, weil sie Sie haben gähnen hören, denn das Gähnen ist auch akustisch ansteckend: Wenn man blinden Menschen ein Tonband mit Gähngeräuschen vorspielt, werden sie auch gähnen. Und schließlich: Wenn Sie gegähnt haben, als Sie dies gelesen haben, ist Ihnen da der Gedanke durch den Kopf gegangen – wie unbewusst und flüchtig auch immer –, dass Sie müde sein könnten? Ich habe den Verdacht, dass dies bei einigen von Ihnen so gewesen ist, was bedeutet, dass Gähnen auch emotional ansteckend sein kann. Einfach indem ich das Wort niederschreibe, kann ich Ihnen ein Gefühl einpflanzen.2 Kann das Grippevirus so etwas tun? Ansteckung ist also eine Eigenschaft, die in den unerwartetsten Dingen liegen kann, und das müssen wir im Kopf behalten, wenn wir epidemische Veränderungen erkennen und diagnostizieren wollen.
Das zweite unter den Prinzipien von Epidemien – dass kleine Veränderungen große Wirkungen haben können – ist auch eine ziemlich radikale Vorstellung. Wir sind so sozialisiert worden, dass wir Ursache und Wirkung einander grob annähern. Wenn wir eine starke Emotion ausdrücken wollen, wenn wir etwa jemanden davon überzeugen wollen, dass wir ihn oder sie lieben, dann wissen wir, dass wir leidenschaftlich und direkt sprechen müssen. Wenn wir jemandem eine schlechte Nachricht überbringen müssen, sprechen wir leise und wählen jedes Wort sorgfältig. Man hat uns gelehrt zu denken, dass das, was wir in eine Beziehung oder eine Transaktion oder ein System investieren, in seiner Intensität und Bedeutung direkt dem Ergebnis entspricht.
Nehmen Sie zum Beispiel die folgende Denksportaufgabe. Ich gebe Ihnen ein großes Stück Papier und fordere Sie auf, es einmal zu falten, dann das gefaltete Stück zu nehmen und es nochmals zu falten, und dann noch einmal und noch einmal und noch einmal, bis Sie das ursprüngliche Papier fünfzig Mal gefaltet haben. Wie dick, glauben Sie, wird der zusammengefaltete Papierstapel schließlich sein?
Um die Frage zu beantworten, werden die meisten Leute das Blatt vor ihrem geistigen Auge falten und zu dem Schluss kommen, dass es schließlich so dick wie ein Telefonbuch ist oder, wenn sie mutig sind, so hoch wie ein Kühlschrank. Aber die richtige Antwort lautet, dass der Papierstapel so hoch wäre wie die Entfernung zur Sonne. Und wenn man ihn noch einmal falten könnte, so hoch wie die Entfernung zur Sonne und zurück. In der Mathematik nennt man so etwas eine geometrische Progression. Wenn ein Virus sich in einer Population ausbreitet, verdoppelt er sich wieder und wieder, bis er (bildlich gesprochen) in fünfzig Schritten auf die Distanz zwischen Erde und Sonne angewachsen ist. Unsere menschliche Vorstellungskraft tut sich schwer mit dieser Art von Progression, weil das Ergebnis – die Wirkung – so weit außerhalb jeglicher Proportionalität zur Ursache zu stehen scheint. Um die Macht von Epidemien zu erfassen, müssen wir unsere Vorstellung von Proportionalität aufgeben. Wir müssen uns auf die Möglichkeit einstellen, dass kleine Ereignisse große Veränderungen auslösen können und dass diese Veränderungen manchmal sehr schnell eintreten.
Diese Möglichkeit einer schnellen Veränderung steht im Zentrum der Idee des Tipping Point, und sie mag durchaus diejenige Vorstellung sein, die für uns am schwersten zu akzeptieren ist. Der Ausdruck wurde zum ersten Mal in weiteren Kreisen bekannt, als er in den Siebzigerjahren benutzt wurde, um die Flucht weißer Bevölkerungsgruppen aus den Zentren der älteren Städte im Nordosten der USA in die Vorstädte zu beschreiben. Wenn die Zahl zugezogener schwarzer Amerikaner in einem bestimmten Stadtviertel einen gewissen Punkt erreicht hatte – zum Beispiel 20 Prozent –, machten Soziologen die Beobachtung, dass dieses Viertel »kippte«: Die verbleibenden Weißen zogen ziemlich umgehend auch weg.
Der Tipping Point ist der Moment der kritischen Masse, die Schwelle, der Siedepunkt. Es gab einen Tipping Point für Gewaltverbrechen Anfang der Neunzigerjahre in New York und einen Tipping Point für das Wiederauftauchen der Hush Puppies, genauso wie es einen Tipping Point für die Einführung neuer Technologien gibt. Sharp produzierte das erste preiswerte Faxgerät im Jahr 1984 und verkaufte etwa 80000 dieser Geräte im ersten Jahr. In den nächsten drei Jahren kauften Betriebe aller Art langsam und stetig immer mehr Faxgeräte, bis 1987 so viele Leute ein Fax besaßen, dass es für jeden sinnvoll war, sich so ein Gerät anzuschaffen. 1987 war der Tipping Point des Faxgerätes. Eine Million Geräte wurden in diesem Jahr verkauft, und bis 1989 waren zwei Millionen in Betrieb. Mobiltelefone folgten der gleichen Kurve. Im Laufe der Neunzigerjahre wurden sie kleiner und billiger, und der Service wurde besser, bis die Technologie im Jahr 1998 den Tipping Point erreichte und plötzlich jeder ein Mobiltelefon besaß. (Eine Erklärung der mathematischen Abläufe des Tipping Point findet sich in den Anmerkungen.3)
Alle Epidemien haben Tipping Points. Jonathan Crane, ein Soziologe, der damals an der University of Illinois lehrte, hat die Wirkung untersucht, die die Zahl von sogenannten »role models« – hier verstanden als soziale Vorbilder – in einem Stadtviertel auf die Jugendlichen dieser Gemeinde ausübt. Zu diesen Vorbildern zählte er die Akademiker, Manager, Lehrer, die das Census Bureau als »high status« definiert hat. Er untersuchte das Verhältnis der Zahl der Vorbilder in einer Gemeinde zu Teenagern, die noch zur Schule gingen. Und er stellte fest, dass es kaum Unterschiede hinsichtlich der Zahl der Frühschwangeren oder der Schulabgänger ohne Abschluss gab, wenn der Prozentsatz der High-Status-Vorbilder zwischen 40 und 5 lag. Sank aber die Zahl dieser Vorbilder in einer Gemeinde auf unter 5 Prozent, nahmen die Problemfälle schlagartig zu. Im Falle schwarzer Schulkinder zum Beispiel verdoppelte sich die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss, wenn der Prozentsatz der Vorbilder nur um 2,2 Prozentpunkte sank – von 5,6 auf 3,4 Prozent. Beim selben Tipping Point verdoppelte sich auch fast die Rate der Schwangerschaften unter weiblichen Teenagern, die sich vor Erreichen dieses Punktes kaum verändert hatte. Wir setzen intuitiv voraus, dass die sozialen Probleme in einem Stadtviertel in einer Art stetiger Progression zunehmen. Aber manchmal ist dieser Prozess alles andere als stetig: Wenn der Tipping Point erreicht ist, schlägt die Situation plötzlich um, Schulen verlieren die Kontrolle über ihre Schüler, und Familien lösen sich in kurzer Zeit auf.
Ich kann mich daran erinnern, wie ich als Kind zuschaute, als unser junger Hund zum ersten Mal Schnee erlebte. Er war zugleich verblüfft und entzückt und überwältigt. Er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, während er in der seltsamen federleichten Substanz herumschnüffelte. Er winselte angesichts dieser geheimnisvollen Veränderung seiner Umwelt. Am Morgen seines ersten Schnees war es nicht viel kälter gewesen als am Abend zuvor. Die Temperatur mag am Abend des vorhergehenden Tages zwei Grad Celsius gewesen sein, und am Morgen ein Grad unter null. Mit anderen Worten: Fast nichts hatte sich verändert, und doch – das war das Erstaunliche – war fast alles anders. Der Regen hatte sich in etwas ganz anderes verwandelt. Schnee! Wir sind im Kern alle Geschöpfe der Allmählichkeit, unsere Erwartungen messen wir am stetigen Fluss der Zeit. Aber die Welt des Tipping Points ist ein Ort, an dem das Unerwartete zum Normalfall wird, wo die radikale Veränderung mehr ist als nur eine Möglichkeit. Sie ist – entgegen all unserer Erwartungen – eine Gewissheit.
Auf der Spur dieses radikalen Gedankens werde ich Sie mit nach Baltimore nehmen, damit Sie etwas über die Syphilisepidemie in dieser Stadt erfahren. Ich werde Sie mit drei faszinierenden Menschentypen bekannt machen, die ich Kenner, Vermittler und Verkäufer nenne und die eine entscheidende Rolle in den Mundpropaganda-Epidemien spielen, die unsere Vorlieben und Trends und Moden diktieren. Ich werde Sie in das Studio mitnehmen, wo die Kindersendungen »Sesamstraße« und »Blue’s Clues« produziert werden, und in die faszinierende Welt des Mannes, der daran mitwirkte, den Columbia Record Club zu schaffen. An diesen Beispielen wollen wir untersuchen, wie Botschaften beschaffen sein müssen, damit sie die größtmögliche Wirkung auf das Publikum haben. Ich entführe Sie in eine Hightech-Firma in Delaware, um über Tipping Points zu sprechen, die das Gruppenleben bestimmen, und in die U-Bahn von New York, um zu verstehen, wie die Verbrechensepidemie dort beendet wurde. Der Sinn dieser Streifzüge ist es, zwei einfache Fragen zu beantworten, die den Kern all dessen bilden, was wir als Erzieher, Eltern, Geschäftsleute und Politiker gern erreichen würden. Warum lösen bestimmte Ideen oder Verhaltensweisen oder Produkte Epidemien aus und andere nicht? Und was können wir tun, um bewusst positive Epidemien auszulösen und unter Kontrolle zu behalten?
EINS
DIE DREI REGELN VON EPIDEMIEN