Text zum Buch
Caroline Shipley ist voller Vorfreude, denn ihr Mann Hunter hat sie zur Feier ihres Hochzeitstages in ein Luxushotel in Mexiko eingeladen. Gemeinsam mit ihren beiden kleinen Töchtern reisen sie an und beziehen ihre komfortable Suite. Doch was als paradiesischer Aufenthalt geplant war, wandelt sich zum tiefen Trauma in Carolines Leben, von dem sie sich nie erholen wird – denn eines Abends wird die zweijährige Samantha aus der Suite entführt und bleibt für immer verschwunden. Caroline zerbricht beinahe an dem Verlust und muss sich auch noch den Verdächtigungen der Presse stellen, an der Entführung beteiligt gewesen zu sein. Die Jahre vergehen, und irgendwann gibt Caroline selbst den letzten Funken Hoffnung auf, dass Samantha doch noch am Leben ist. Bis sie eines Tages den Anruf einer mysteriösen jungen Frau erhält, die behauptet, ihre verlorene Tochter zu sein – und damit einen Strudel von Ereignissen auslöst, der Caroline die schockierende Wahrheit darüber offenbart, was wirklich geschah in jener heißen Sommernacht in Mexiko …
Weitere Informationen zu Joy Fielding sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Joy Fielding
Die Schwester
Roman
Deutsch von Kristian Lutze
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »She’s Not There«
bei Ballantine Books, an imprint of Random House,
a division of Penguin Random House, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2016 by Joy Fielding, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Juli 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18952-5
V005
www.goldmann-verlag.de
Für Haydan und Skylar
Gegenwart
Es war noch nicht mal acht Uhr am Morgen, und schon klingelte das Telefon. Selbst bei geschlossener Badezimmertür und laufender Dusche konnte sie den markanten Drei-Glocken-Klingelton erkennen, der ein eingehendes Ferngespräch ankündigte. Sie beschloss, ihn zu ignorieren, weil es wahrscheinlich sowieso nur ein Telefonverkäufer oder die Presse war. Beide Alternativen waren widerwärtig, aber wenn sie die Wahl hätte, würde Caroline sich für den Telefonverkäufer entscheiden. Telefonverkäufer waren bloß auf ihr Geld aus. Die Presse wollte ihr Blut. Auch nach all der Zeit noch.
Fünfzehn Jahre morgen.
Sie hielt den Kopf unter den heißen Strahl und spürte, wie der Schaum des Shampoos über ihre geschlossenen Augen und Wangen floss. Das konnte nicht stimmen. Wie konnten fünfzehn Jahre endloser Tage und schlafloser Nächte so schnell vergangen sein? Sie hätte gedacht, dass wenigstens die öffentliche Neugier inzwischen abgeflaut wäre. Aber wenn überhaupt, war dieses Interesse mit jedem weiteren Jahrestag eher noch größer geworden. Seit Wochen riefen Reporter an, manche aus so weit entfernten Ländern wie Australien und Japan: Wie war ihr Leben heute? Gab es irgendwelche neuen Spuren? Irgendwelche neuen Männer? Vielleicht einen weiteren Selbstmord? Hatte sie noch Hoffnung, ihre Tochter jemals wiederzusehen? Galt sie für die Polizei immer noch als Verdächtige im Fall des verschwundenen Kindes?
Nur dass Samantha kein Kind mehr sein würde. Sie war kaum zwei Jahre alt gewesen, als sie in einem mexikanischen Luxusresort spurlos aus ihrem Bettchen verschwunden war, während ihre Eltern, wie die Presse zu berichten wusste, »sich mit Freunden in einem Restaurant in der Nähe amüsiert hatten«. Heute wäre ihre Tochter siebzehn.
Vorausgesetzt, dass sie noch lebte.
Und um einige der Fragen zu beantworten: Es gab keine neuen Spuren; sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben; es war ihr mittlerweile egal, was die Polizei von ihr dachte; und ihr Leben wäre sehr viel besser, wenn die Geier von der Presse sie verdammt noch mal endlich in Ruhe lassen würden.
Mit gesenktem Kopf griff sie nach oben, um die Dusche abzudrehen, und stellte befriedigt fest, dass das aufdringliche Klingeln aufgehört hatte. Ihr war klar, dass es nur ein vorübergehender Aufschub sein würde. Wer immer angerufen hatte, würde es wieder versuchen. Das war immer so.
Sie trat auf den geheizten grau-weißen Marmorboden ihres Badezimmers, wickelte sich in einen weißen Frotteebademantel und wischte mit einer Hand einen Streifen in den beschlagenen Spiegel über dem doppelten Waschbecken. Sie starrte in die müden grünen Augen einer sechsundvierzigjährigen Frau mit feuchtem braunen Haar, kein Vergleich zu der reservierten Schönheit mit dem gehetzten Blick, die die Zeitungen zum Zeitpunkt von Samanthas Verschwinden beschrieben hatten, wobei sie es irgendwie geschafft hatten, die Worte reserviert und Schönheit hässlich und anklagend klingen zu lassen. Um den zehnten Jahrestag herum war aus der Schönheit eine auffällige Erscheinung geworden, reserviert hatte sich in distanziert verwandelt. Und im vergangenen Jahr hatte ein Reporter sie noch weiter degradiert, zu einer immer noch attraktiven Frau mittleren Alters. Es war ein nachlässiges Kompliment, aber trotzdem vernichtend.
Egal. Daran hatte sie sich gewöhnt.
Caroline rubbelte ihre Kopfhaut kräftig mit einem weißen Handtuch ab und sah ihre neue Frisur schlaff um ihr Kinn hängen. Der Frisör hatte versprochen, dass sie mit einem Bob jünger aussehen würde, doch er hatte ihr feines Haar falsch eingeschätzt, das sich einfach nicht in Form bringen ließ. Caroline atmete tief durch und dachte, dass die Zeitungsartikel sie morgen wahrscheinlich als »die ehemals attraktive Mutter des vermissten Kindes Samantha Shipley« bezeichnen würden.
Spielte es überhaupt eine Rolle, wie sie aussah? Wäre sie, die Rabenmutter, in den Augen der öffentlichen Meinung weniger schuldig – der Vernachlässigung ihres Kindes, des Mordes –, weil sie nicht mehr so attraktiv war wie zu der Zeit, als ihre Tochter verschwunden war? Damals hatten die Medien ihr alles vorgeworfen, vom Schnitt ihrer Wangenknochen bis zur Kürze ihrer Röcke, vom Glanz ihres schulterlangen Haars bis zur Farbe ihres Lippenstifts. Selbst die Aufrichtigkeit ihrer Tränen war angezweifelt worden; eine Boulevardzeitung hatte bemerkt, dass ihre Wimperntusche bei einer Pressekonferenz seltsamerweise unversehrt geblieben war.
Ihr Ehemann hatte nur einen Bruchteil der Gehässigkeit abbekommen, der sich Caroline ausgesetzt sah. Bei all seiner Attraktivität hatte Hunters gutes Aussehen etwas Harmloses, was ihn weniger zur Zielscheibe gemacht hatte. Während Carolines angeborene Schüchternheit unglücklicherweise oft distanziert wirkte, ließ Hunters Extrovertiertheit ihn zugänglich und offen erscheinen. Er wurde als ein Vater porträtiert, der kaum die Fassung bewahren konnte und sich an seine ältere Tochter Michelle klammerte, ein pausbäckiges Kind von fünf Jahren, während seine Frau stocksteif neben ihnen stand, abgesondert und allein.
Nirgendwo wurde erwähnt, dass es Hunter gewesen war, der darauf bestanden hatte, dass sie an dem Abend ausgingen, obwohl die engagierte Babysitterin nicht erschienen war. Oder dass er Mexiko kaum eine Woche nach Samanthas Verschwinden verlassen hatte, um zu seiner Anwaltskanzlei in San Diego zurückzukehren. Auch der sprichwörtliche Tropfen nicht, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, der letzte Verrat, der ihre Ehe endgültig zum Scheitern verurteilt hatte.
Aber natürlich war das auch ihre Schuld gewesen.
»Alles meine Schuld«, sagte Caroline zu ihrem Spiegelbild, zog den Föhn aus der Schublade unter dem Waschbecken, richtete ihn auf ihren Kopf wie eine Pistole, schaltete ihn ein und blies den Strom heißer Luft direkt in ihr Ohr.
Beinahe gleichzeitig ging das Klingeln wieder los. Ein langer, gefolgt von zwei kurzen Tönen, die ein weiteres Ferngespräch ankündigten. »Hau ab«, rief sie in Richtung Schlafzimmer, dann: »Oh verdammt.« Sie schaltete den Föhn aus, marschierte ins Schlafzimmer und schnappte das Telefon vom Nachttisch neben ihrem großen Doppelbett, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht einmal flüchtig auf die Morgenzeitung zu gucken, die auf ihrem ungemachten Bett lag. »Hallo.«
Stille, gefolgt von einem Besetztzeichen.
»Na super.« Sie legte das Telefon wieder in die Schale, während ihr Blick unerbittlich von der Titelseite der Zeitung angezogen wurde. Neben der alljährlichen Wiederaufbereitung grausamer Fakten und schäbiger Andeutungen, der lüsternen Aufzählung aller Details – Ehebruch! Selbstmord! Wahre Geständnisse! – prangte ein großes Foto ihrer zweijährigen Tochter Samantha, die aus ihrem Bettchen zu ihr hochlächelte, neben einer Zeichnung, wie ihre Tochter heute aussehen könnte. Caroline sank mit weichen Knien aufs Bett, als das Telefon erneut klingelte. Sie riss es aus der Schale, noch bevor der erste Ton verklungen war. »Bitte. Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«
»Ich nehme an, du hast die Morgenzeitung gesehen«, sagte eine vertraute Stimme. Sie gehörte Peggy Banack, Leiterin des Marigold-Hospizes, einer Einrichtung für Sterbende mit zwölf Betten im Herzen von San Diego. Peggy war seit dreißig Jahren Carolines beste Freundin, seit fünfzehn Jahren ihre einzige.
»Ließ sich kaum vermeiden.« Wieder kämpfte Caroline gegen den Impuls an, auf die Titelseite zu schielen.
»Die Arschlöcher schreiben jedes Jahr dasselbe. Alles okay mit dir?«
Caroline zuckte die Achseln. »Glaub schon. Wo bist du?«
»Auf der Arbeit.«
Natürlich, dachte Caroline. Wo sollte Peggy an einem Montagmorgen um acht Uhr sonst sein?
»Hör mal, tut mir leid, dass ich dich damit behelligen muss«, sagte Peggy, »gerade heute …«
»Was ist?«
»Ich hab nur überlegt … Ist Michelle schon losgefahren?«
»Michelle ist bei ihrem Vater. Sie ist häufig dort, seit das Baby …« Caroline atmete tief ein, um nicht zu würgen. »Sollte sie heute Morgen arbeiten?«
»Wahrscheinlich ist sie auf dem Weg.«
Caroline nickte und wählte die Nummer von Michelles Handy, sobald sie sich von Peggy verabschiedet hatte. Selbst jemand so selbstzerstörerisch Eigensinniges wie ihre Tochter konnte nicht so dumm sein, gerichtlich verordnete Sozialstunden zu schwänzen.
»Hi, hier ist Micki«, hauchte ihre Tochter so tonlos, dass Caroline ihre Stimme kaum erkannte. »Hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Nicht einmal ein »bitte«, dachte Caroline, ärgerte sich über den Spitznamen Micki und fragte sich, ob ihre Tochter ihn gerade deswegen benutzte. »Michelle«, sagte sie spitz, »Peggy hat gerade angerufen. Offenbar bist du zu spät für deine Schicht. Wo bist du?« Sie legte auf, atmete tief durch und rief dann Hunters Festnetznummer an, fest entschlossen, nicht gleich das Schlechteste anzunehmen. Vielleicht hatte der Wecker ihrer Tochter nicht geklingelt. Vielleicht war ihr Bus verspätet. Vielleicht trat sie in diesem Moment durch die Eingangstür des Hospizes.
Vielleicht schläft sie aber auch mal wieder nach einer Partynacht ihren Rausch aus, meldete sich ungebeten die Stimme der Realität. Vielleicht hatte sie auch ein paar Gläser zu viel getrunken, bevor sie sich ans Steuer ihres Wagens gesetzt hatte, ohne sich um ihre Verurteilung wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss und den vorübergehenden Führerscheinentzug zu scheren. Vielleicht hatte die Polizei sie angehalten und damit den Deal, den ihr Vater mit dem Distriktstaatsanwalt ausgehandelt hatte, zunichtegemacht, einen Deal, durch den eine Gefängnisstrafe zugunsten von mehreren hundert Sozialstunden vermieden worden war. »Verdammt, Michelle. Bist du wirklich so unverantwortlich?« Erst als sie den Gedanken laut ausgesprochen hatte, merkte Caroline, dass jemand am anderen Ende der Leitung war.
»Caroline?«, fragte ihr Exmann.
»Hunter.« Caroline brachte seinen Namen nur mit einem unbehaglichen Zögern über die Lippen. »Wie geht es dir?«
»Okay. Und dir?«
»Es muss.«
»Hast du die Morgenzeitung gesehen?«
»Ja.«
»Keine leichte Zeit im Jahr«, sagte er, wie immer gut darin, das Offensichtliche festzustellen.
»Nein.« Obwohl du ja offenbar ganz gut zurechtkommst, dachte sie. Eine junge Frau, ein zwei Jahre alter Sohn und ein neugeborenes Mädchen, um das verlorene zu ersetzen. »Ist Michelle da?«
»Ich glaube, sie hilft Diana mit dem Baby.«
Wie aufs Stichwort drangen die Schreie eines Säuglings an den Hörer. Caroline schloss die Augen und versuchte, sich die neueste Ergänzung von Hunters Familie nicht vorzustellen. »Peggy hat angerufen. Michelle müsste längst im Hospiz sein.«
»Wirklich? Ich dachte, sie geht heute Nachmittag. Einen Moment. Micki«, rief Hunter laut. »Es ist wahrscheinlich bloß ein Missverständnis.«
»Wahrscheinlich«, wiederholte Caroline ohne Überzeugung.
»Wie fandest du die Zeichnung?«, fragte Hunter auf einmal.
Caroline spürte, wie ihr der Atem stockte, so perplex war sie, dass ihr früherer Mann dermaßen nüchtern darüber reden konnte, als ob es um ein abstraktes Kunstwerk und nicht ein Bild ihres vermissten Kindes ging. »Ich … sie ist …«, stotterte sie, während ihr Blick zwischen dem Foto und der Zeichnung hin und her schoss. »Sie haben ihr dein Kinn gegeben.«
Hunter ließ ein Geräusch irgendwo zwischen einem Lachen und einem Seufzen vernehmen. »Das ist komisch. Diana hat das Gleiche gesagt.«
Oh Gott, dachte Caroline.
»Was ist los?«, hörte Caroline Michelle ihren Vater fragen.
»Deine Mutter ist dran«, sagte Hunter, und seine Stimme entfernte sich, als er Michelle den Hörer gab. »Offenbar solltest du im Hospiz sein.«
»Ich gehe heute Nachmittag«, erklärte Michelle ihrer Mutter ohne jede Spur des tonlosen Hauchens auf ihrer Mailbox.
»Du kannst nicht einfach gehen, wann es dir passt«, sagte Caroline.
»Wirklich? So funktioniert das nicht?«
»Michelle …«
»Komm runter, Mutter. Ich habe die Schicht mit einem anderen Mädchen getauscht.«
»Nun, sie ist noch nicht zum Dienst erschienen.«
»Sie kommt bestimmt. Mach dir keine Sorgen. Sonst noch was?«
»Vielleicht solltest du Peggy anrufen und Bescheid sagen …«
»Danke. Mach ich.«
»Michelle …«
»Ja?«
»Ich dachte, vielleicht könnten wir heute Abend essen gehen …«
»Ich kann nicht. Ich bin mit meiner Freundin Emma verabredet.«
»Emma?«, wiederholte Caroline und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Habe ich sie schon mal gesehen?«
»Bloß ungefähr ein halbes Dutzend Mal.«
»Wirklich? Ich kann mich nicht erinnern …«
»Das liegt daran, dass du dich nie an eine meiner Freundinnen erinnerst.«
»Das ist nicht wahr.«
»Aber sicher doch. Egal, ich muss Schluss machen. Bis später.«
Die Verbindung wurde beendet. Caroline warf das Telefon aufs Bett und sah es zwischen den zerwühlten Laken verschwinden. »Verdammt.« Hatte Michelle recht? Ihre Tochter hatte immer viele Freundinnen gehabt, von denen sich Carolines Erinnerung nach keine besonders lange gehalten hatte, sodass es schwer gewesen war, auf dem Laufenden zu bleiben. Noch etwas, wofür sie sich schuldig fühlen konnte.
Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass es fast halb neun war. In einer halben Stunde musste sie in der Schule sein. Sie raffte sich auf, bereits erschöpft bei dem Gedanken an dreiundzwanzig alles andere als begeisterte Schüler, die auf ihren Stühlen herumlümmelten und sie mit glasigen Augen und unverhohlenem, einhelligem Widerwillen für ihr Fach anstarrten.
Wie konnte man Mathematik nicht mögen, fragte sie sich. Sie hatte etwas so Strahlendes, Reines, Wahres. Ihr Vater war Mathematiklehrer gewesen und hatte ihr seine Leidenschaft vererbt. Es ging um mehr als das bloße Kombinieren und das Finden von Lösungen. In einer irrationalen Welt voller Zufälle und Mehrdeutigkeiten genoss sie die Absolutheit der Mathematik, fand Trost in der Tatsache, dass es keinen Raum für Interpretation und Ambivalenz, sondern immer nur eine richtige Antwort gab, deren Richtigkeit man beweisen konnte. Ein weiteres Indiz dafür, dass Mathematik absolut nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hatte, wie Michelle garantiert einwenden würde.
Caroline kehrte ans Waschbecken zurück und föhnte ihr Haar trocken. Dann zog sie den dunkelblauen Rock und die weiße Seidenbluse an, die sie am Abend zuvor bereitgelegt hatte. »Hast du nichts anderes anzuziehen?«, hatte Michelle sie einmal gefragt.
»Und selber?«, hatte Caroline entgegnet und auf die Standarduniform ihrer Tochter gezeigt, enge Jeans und ein zu großes T-Shirt. Wie viele junge Frauen ihrer Generation verfolgte Michelle eifrig die neuesten Modetrends, angesagten Diäten und Fitnesstipps. »Alles in Maßen« war ein Konzept, das ihr ähnlich fremd war wie die Mathematik.
»Okay«, sagte Caroline. »Zeit zum Aufbruch.« Sie war schon spät dran. Sie betete stumm, dass im Lehrerzimmer noch eine Kanne Kaffee bereitstand. Sie konnte vieles ertragen, doch ein Tag ohne Kaffee gehörte nicht dazu.
Als sie schon auf dem Weg zur Tür war, fing das Telefon wieder an zu klingeln, ein kurzer Ton, gefolgt von zwei langen, ein weiteres Ferngespräch, wahrscheinlich der Anrufer von eben. »Geh nicht ran«, ermahnte Caroline sich laut. Aber sie war schon unterwegs in die Küche, von dem Ton angezogen wie von einem Magnet. »Hallo?«, fragte sie, als sie den Hörer beim vierten Klingeln abnahm.
Schweigen.
»Hallo?«
Man hörte jemanden atmen.
Super, dachte Caroline. Das hatte ihr gerade noch gefehlt – ein obszöner Anrufer. Und nicht mal ein Ortsgespräch. »Ich lege jetzt auf«, verkündete sie und ließ die Hand mit dem Hörer sinken.
»Warten Sie.«
Sie hielt den Hörer wieder ans Ohr. »Haben Sie etwas gesagt?«
Schweigen.
»Okay. Ich lege jetzt auf.«
»Nein. Bitte.«
Es war die Stimme eines Mädchens im Teenageralter, vielleicht auch jünger. Sie hatte etwas Drängendes, etwas zugleich Fremdes und Vertrautes, das Caroline ausharren ließ. »Wer ist da?«
Wieder Schweigen.
»Hören Sie, ich habe wirklich keine Zeit für …«
»Ist dort das Haus von Caroline Shipley?«, fragte das Mädchen.
»Ja.«
»Sind Sie Caroline Shipley?«, fuhr sie fort.
»Sind Sie eine Reporterin?«
»Nein.«
»Wer sind Sie?«
»Sind Sie Caroline Shipley?«
»Ja. Wer ist da?«
Wieder schwieg die Stimme am anderen Ende.
»Wer ist da?«, wiederholte Caroline. »Was wollen Sie? Ich lege jetzt auf …«
»Ich heiße Lili.«
Fieberhaft ging Caroline im Kopf die Liste all ihrer ehemaligen und aktuellen Schülerinnen durch und versuchte, ein Gesicht zu dem Namen zu finden, aber vergeblich. »Was kann ich für Sie tun, Lili?«
»Ich sollte Sie wahrscheinlich nicht anrufen …«
»Was wollen Sie?« Warum war sie immer noch am Telefon, Herrgott noch mal? Warum legte sie nicht einfach auf?
»Ich glaube …«
»Ja?«
»Ich habe mir die Zeichnungen im Internet angesehen.« Lili zögerte. »Von Ihrer Tochter … wissen Sie.«
Caroline ließ den Kopf sinken. Auf ein Neues, dachte sie. Es passierte jedes Jahr um die Zeit. Vor fünf Jahren hatte ein Mann aus Florida angerufen und behauptet, die Tochter seines neuen Nachbarn würde den jüngsten Porträtskizzen von Samantha verdächtig ähnlich sehen. Caroline war unverzüglich nach Miami aufgebrochen und hatte alle drei Auftritte von Michelle in der Schultheateraufführung von Oliver! verpasst, nur um ihre Hoffnungen enttäuscht zu sehen, als der Verdacht des Mannes sich als gegenstandslos erwies. Im folgenden Jahr hatte eine Frau berichtet, Samantha in einer Warteschlange bei Starbuck’s in Tacoma, Washington, gesehen zu haben. Ein weiterer nutzloser Ausflug war gefolgt. Und nachdem nun in den Zeitungen und im Internet die neuesten Zeichnungen kursierten … »Lili«, begann sie.
»Das ist es ja gerade«, unterbrach das Mädchen sie, und Caroline spürte, wie ihre Knie weich wurden. »Ich glaube, Lili ist nicht mein richtiger Name.« Sie zögerte. »Ich glaube, mein richtiger Name ist Samantha. Ich glaube, ich bin Ihre Tochter.«
Vor fünfzehn Jahren
»Sind wir bald da?«, quengelte Michelle auf dem Rücksitz des brandneuen weißen Lexus’. Sie zerrte an ihrem Sicherheitsgurt und trat in Carolines Rücken.
»Bitte, tu das nicht, mein Schatz«, sagte Caroline, drehte sich auf dem Beifahrersitz um und sah ihre mürrische Fünfjährige an. Neben Michelle schlief Samantha friedlich in ihrem Kindersitz. Und damit war, dachte Caroline, während ihr Blick zwischen ihren beiden Kindern hin und her zuckte, der Unterschied zwischen den beiden Mädchen auf den Punkt gebracht: die eine Tochter ein zappeliger Naseweis voller kindischer Anwandlungen, die andere ein perfektes kleines Dornröschen. Eltern, die eins ihrer Kinder bevorzugten – das beste Beispiel war ihre eigene Mutter –, hatte Caroline immer verachtet, aber sie musste zugeben, dass es manchmal schwerer war als gedacht, genau das nicht zu tun.
»Ich hab keine Lust mehr auf Autofahren.«
»Ich weiß, mein Schatz. Bald sind wir da.«
»Ich will Saft.«
Caroline blickte zum Fahrersitz. Ihr Mann schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Caroline ließ die Schultern hängen. Sie konnte verstehen, dass Hunter nicht wollte, dass die beigefarbenen Ledersitze seines neuen Autos mit Saft bekleckert wurden, doch sie wusste auch, dass es weitere fünfzehn Minuten Gebettel und Tritte bedeutete. »Gleich sind wir da, meine Süße. Dann kannst du Saft haben.«
»Ich will aber jetzt Saft haben.«
»Guck mal, das Meer«, versuchte Hunter sie abzulenken. »Guck mal, wie schön …«
»Ich will nicht das Meer gucken. Ich will Saft.« Michelles Stimme wurde lauter. Caroline wusste, dass ihre Tochter dabei war, sich in einen ausgewachsenen Wutanfall hineinzusteigern, und es nur noch eine Frage der Zeit war, bevor es einen Ausbruch gab, bei dem die Scheiben scheppern würden. Sie blickte erneut zu Hunter.
»Wenn wir jetzt nachgeben …«, flüsterte er.
Caroline seufzte tief und starrte aus dem Seitenfenster. Sie wusste, dass er recht hatte, und beschloss, sich auf den spektakulären Blick auf den Ozean neben der gut ausgebauten Mautstraße zu konzentrieren. Vielleicht würde Michelle ihrem Beispiel folgen.
»Ich hab Durst«, erklärte Michelle und machte diese Hoffnung schnell zunichte. Dann eine volle Oktave höher und mit kurz vor den Tränen zitternder Stimme: »Ich hab Durst.«
»Halt durch, Liebes. Wir sind gleich da.«
Und tatsächlich tauchte vor ihnen Rosarito Beach mit dem Grand Laguna Resort auf, einem Luxushotel mit Spa, das Hunter ausgewählt hatte, um dort ihren zehnten Hochzeitstag zu feiern. Rosarito lag zwischen dem Pazifik und den ersten Erhebungen von Bajas Goldküste und war nur knapp fünfzig Kilometer von San Diego entfernt. Die Nähe zur Grenze zwischen den USA und Mexiko machte es zu einem beliebten Reiseziel für Südkalifornier, bot es doch die Gelegenheit, ein fremdes Land zu besuchen und eine andere Kultur zu erleben, ohne eine lästig lange Reise auf sich nehmen zu müssen.
Nach fünfundzwanzig Kilometern überwältigender Strecke auf der atemberaubenden Küstenstraße erreichten sie die Innenstadt von Rosarito, sechseinhalb Kilometer Strand mit Ferienapartments, Souvenirshops, Restaurants und fantastischen Resorts. Sie hatten sich für das Grand Laguna entschieden, weil die Website nicht nur romantische Strände mit umwerfenden Sonnenuntergängen, sondern auch ein nachmittägliches Programm für Kinder unter zehn Jahren versprochen hatte. Abends bot das Hotel einen Babysitterservice an, sodass Caroline und Hunter ein wenig dringend benötigte Zeit für sich haben würden. Ihr Mann war in letzter Zeit zunehmend abgelenkt gewesen, vor allem weil die Kanzlei, in der er hoffte, zum Partner ernannt zu werden, kürzlich mit einer anderen Kanzlei fusioniert hatte, wodurch sein Status in der Schwebe war. Caroline wusste, dass das ein weiterer Grund war, warum Hunter so begeistert von Rosarito gewesen war. Wenn die Arbeit rief, konnte er innerhalb von Stunden zurück an seinem Schreibtisch sein.
Eigentlich hatte die Reise gut begonnen. Samantha war eingeschlafen, praktisch sobald sie zu Hause losgefahren waren, und Michelle schien mit ihrer neuen Wonder-Woman-Puppe zufrieden zu sein. Leider war Wonder Woman bei einem unbesonnenen Flugversuch auf dem Boden gelandet und unter den Vordersitz gerutscht, was Michelles erste Tränenflut ausgelöst hatte. Dann hatten dichter Verkehr auf dem Highway 5 und Verzögerungen am Grenzübergang San Ysidro nach Tijuana aus den fünfzig Kilometern eine neunzigminütige Tortur gemacht. Caroline fragte sich, ob sie auf Hunter hätte hören sollen, als er vorgeschlagen hatte, die Mädchen die Woche zu Hause zu lassen. Aber das hätte bedeutet, sie ihrer Mutter anzuvertrauen, und das hätte Caroline nie getan. Ihre Mutter hatte bei ihren eigenen Kindern genug Unheil angerichtet.
Caroline sah ihren zwei Jahre jüngeren Bruder Steve vor sich, einen attraktiven Mann mit hellbraunem Haar, einem unwiderstehlichen Lächeln und haselnussbraunen Augen mit goldenen Flecken. Mit seinem natürlichen Charme war er der ganze Stolz und die Freude seiner Mutter. Aber was er an Charme im Überfluss hatte, fehlte ihm an Ehrgeiz; seit er erwachsen war, streifte er seine beruflichen Anläufe so regelmäßig ab, wie eine Schlange sich häutete. Seit einem Jahr versuchte er sich in der Immobilienbranche und hatte zur Überraschung aller – mit Ausnahme seiner Mutter natürlich, in deren Augen er ohnehin nichts verkehrt machen konnte – offenbar tatsächlich Erfolg. Vielleicht hatte er endlich seine Nische gefunden.
»Ich hab Duuurrrst«, jammerte Michelle und drohte das Wort bis ins Unendliche auszudehnen.
»Mäuschen, bitte. Du weckst das Baby.«
»Sie ist kein Baby.«
»Sie schläft…«
»Und ich hab Durst.«
»Okay, das reicht«, fauchte Hunter, drehte sich auf seinem Sitz um und drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Hör auf deine Mutter! Und sofort Schluss mit dem Theater!«
Michelles Reaktion war spontane und totale Hysterie. Ihr Geschrei erfüllte den Wagen, prallte von den Fenstern ab und rüttelte Samantha wach, sodass nun beide Kinder schrien.
»Meinst du immer noch, dass Kinder eine gute Idee waren?«, fragte Hunter lächelnd. »Vielleicht hatte dein Bruder doch den richtigen Riecher.«
Caroline sagte nichts. Hunter wusste sehr gut, dass ihr Bruder und seine Frau Becky seit Jahren vergeblich versuchten, eine Familie zu gründen. Die Erfolglosigkeit dieser Bemühungen war Ursache großer Spannungen zwischen den beiden, eine Situation, die Carolines Mutter nach Kräften auskostete. Immer wieder tadelte sie Becky nur halb im Scherz, weil sie nicht für weitere Enkelkinder sorgte, was wiederum zu unnötigen Spannungen zwischen ihrer Tochter und ihrer Schwiegertochter führte.
Teile und herrsche, dachte Caroline. Nach diesem Motto lebte ihre Mutter. Nichts Neues unter der Sonne.
»Wie lange noch?«, fragte Caroline.
»Wir müssten gleich da sein. Halt durch.«
Caroline legte ihre Stirn ans Seitenfenster und schloss die Augen, während die durchdringenden Schreie ihrer Töchter sich wie Sirenen überlappten. Nicht gerade ein verheißungsvoller Auftakt für ihren Urlaub. Nun denn, dachte sie. Es konnte nur besser werden.
Alle waren sie da und warteten schon auf sie.
Zuerst glaubte Caroline, sie wäre in den paar Minuten bis zu ihrer Ankunft im prachtvollen Grand Laguna Resort Hotel eingeschlafen und würde noch träumen. Aber nachdem sie sich aufgerichtet und das Fenster heruntergelassen hatte, erkannte sie, dass das, was sie sah, in der Tat sehr real war. Vor dem Haupteingang des Hotels standen wirklich sechs Personen und winkten ihr mit einem zufriedenen und selbstgefälligen Ausdruck in den vertrauten Gesichtern lachend zu. »Was ist hier los?«, fragte sie Hunter, als ein Hotelangestellter in einer steifen weiß-goldenen Uniform vortrat, um die Wagentür zu öffnen.
»Willkommen im Grand Laguna«, sagte er, doch seine Worte gingen in dem Chor von »Überraschung!« unter, der ihr entgegenschlug.
»Alles Gute zum Hochzeitstag«, sagte Hunter, und das Lächeln auf seinen Lippen breitete sich bis zu seinen sanften braunen Augen aus. Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss.
»Das verstehe ich nicht.«
Er küsste sie noch einmal. »Ich dachte, du fändest es schön, unseren Jahrestag mit ein paar Verwandten und Freunden zu feiern.«
»Hey, ihr zwei«, rief Carolines Bruder Steve. »Meine Güte, nehmt euch doch ein Zimmer.«
»Gute Idee«, sagte Hunter lachend, stieg aus dem Wagen und wurde sofort von den drei wartenden Männern umringt.
»Ist das nicht das absolut Malerischste, was du je gesehen hast?«, preschte Steves Frau Becky vor.
Caroline drückte sich aus dem Beifahrersitz hoch und warf einen raschen Blick auf das zehnstöckige, korallenfarbene Gebäude in Hufeisenform, das von blauem Himmel und Palmen gerahmt wurde. Es war zugegebenermaßen genauso fantastisch wie versprochen.
»Du wirkst ein bisschen überwältigt«, flüsterte ihre Freundin Peggy und zog sie in ihre Arme. Ihr lockiges braunes Haar kitzelte Carolines Nase. Beide Frauen waren mit etwa eins fünfundsechzig und gut fünfundfünfzig Kilo ungefähr gleich groß und schwer und schmiegten sich vertraut aneinander.
»Ich bin völlig geplättet«, sagte Caroline und wandte sich zu ihrem Mann. »Wie hast du das geschafft?«
»Dein Bruder ist schuld. Es war seine Idee.«
»Wir konnten euch doch nicht zehn Jahre Eheglück ohne uns feiern lassen«, sagte Steve lachend.
Caroline blickte von einem lächelnden Gesicht zum nächsten: ihr Bruder und seine Frau, ihre alten Freunde Peggy und Fletcher Banack, ihre neuen Freunde Jerrod und Rain Bolton. Ehrlich gesagt hatte sie sich darauf gefreut, ihren Mann eine ganze Woche für sich allein zu haben. Es war lange her, dass sie den Luxus von intimen Abendessen zu zweit genossen hatten, Zeit, sich zurückzulehnen und zu entspannen, Zeit, um sich wieder näherzukommen. Aber die kollektive Begeisterung war so offensichtlich und ansteckend, dass Carolines gemischte Gefühle rasch verflogen.
»Mommy! Mommy! Hol mich hier raus.«
»Ich komme, mein Schatz.«
»Darf ich?« Peggy öffnete die hintere Tür und hob Michelle aus dem Wagen. »Boah. Du bist ja so ein großes Mädchen geworden.«
»Ich will Saft«, sagte Michelle.
Becky war auf die andere Wagenseite gegangen, hatte Samantha aus ihrem Kindersitz genommen und wiegte die Zweijährige in ihren Armen, während sie ihren Kopf mit Küssen bedeckte. »Hallo, wunderbares Mädchen. Wie geht’s meinem kleinen Engel?«
»Sie ist nicht wunderbar, und sie ist kein Engel«, protestierte Michelle.
Samantha streckte die Arme zu ihrer Mutter aus.
»Oh, darf deine Tante dich nicht mal ein paar Minuten im Arm halten?« Widerwillig gab Becky Samantha an ihre Mutter weiter, trat einen Schritt zurück und strich ihre kurzen dunklen Haare hinters Ohr. Caroline fand, dass sie hinter ihrem Lächeln müde wirkte, und fragte sich, ob sie und ihr Bruder wieder gestritten hatten.
»Wieso habt ihr so lange gebraucht?«, fragte Rain, während ein Portier das Gepäck aus dem Kofferraum lud. »Wir warten schon seit über einer Stunde. In dieser Hitze zerfließe ich.«
»Also, zerflossen oder nicht, du siehst großartig aus.«
Rain lächelte, gerade breit genug, um ihre strahlend weißen Zähne aufblitzen zu lassen, und warf ihr welliges honigblondes Haar über die linke Schulter ihres geblümten Kaftans. Ihre Augen waren blau, ihr Lippenstift rot und ihre nackten Arme sonnengebräunt und wohlgeformt. Als ehemaliges Model wäre sie auch ohne die Tonne Make-up, die sie immer auflegte, hübsch gewesen. Nicht zum ersten Mal wunderte Caroline sich, dass Rain einen so farblosen Mann wie Jerrod zum Partner auserkoren hatte. Er war knapp zehn Zentimeter kleiner als seine Frau, wirkte mindestens ein Jahrzehnt älter als vierzig und so unscheinbar wie sie strahlend. Die beiden gaben ein interessantes Paar ab.
Die Gruppe ging durch hohe Glastüren in eine mit Blumen geschmückte, klimatisierte Lobby. Samantha schmiegte sich glücklich in die Arme ihrer Mutter, während Michelle an ihrer rechten Hüfte klebte und so energisch an ihrer weißen Bluse zerrte, dass Caroline fürchtete, der Stoff könnte reißen. »Seid ihr alle zusammen gekommen?«, fragte sie.
»Steve und Becky sind mit ihrem eigenen Wagen da«, erklärte Peggy. »Wir sind mit Rain und Jerrod gefahren.«
»Heißt du Rain?«, fragte Michelle.
Rain schüttelte lachend ihre blonde Mähne. »Ja. Meine Mutter war sehr melodramatisch und wahrscheinlich mehr als nur ein bisschen depressiv, wenn man es recht bedenkt.«
»Ich finde, das ist ein komischer Name«, sagte Michelle.
»Michelle«, ermahnte Caroline sie, als sie an die Rezeption kamen. »Sei nicht unhöflich.«
»Ich muss mal«, verkündete das Kind.
»Scheiße«, sagte Hunter.
»Mommy«, sagte Michelle. »Daddy hat ein böses Wort gesagt.«
Carolines Blick schweifte durch die im spanischen Stil gestaltete Lobby zu dem Hof zwischen den beiden gewaltigen Flügeln des Hotels.
»Wartet, bis ihr alles gesehen habt. Es gibt einen riesigen Pool und ein absolut hinreißendes Gartenrestaurant. Außerdem ein Kinderbecken und natürlich den Ozean …« Becky wies in die ungefähre Richtung.
»Und die Zimmer sind sehr schön«, fügte Peggy hinzu.
»Sind wir alle auf derselben Etage?«
Rain lachte höhnisch. »Nicht mal im selben Flügel. Ihr seid auf der Seite.« Sie wies nach rechts. »Und wir anderen sind alle da lang.« Sie drehte sich nach links.
»Mommy, ich muss mal.«
»Ich weiß, meine Süße. Kannst du es noch ein paar Minuten anhalten?«
»Vergiss nicht, Michelle für den Kid’s Club anzumelden«, sagte Steve spitz.
»Was ist ein Kid’s Club?«
»Oh, du wirst so viel Spaß haben«, schwärmte Becky. »Jeden Nachmittag bastelt und malt ihr oder sucht vergrabene Schätze oder fangt Krebse …«
»Ich will keine Krebse fangen.«
»Na ja, dann gehst du schwimmen oder baust Sandburgen oder spielst mit den anderen Kindern …«
»Ich will nicht mit anderen Kindern spielen. Ich will mit meiner Mommy spielen.«
»Keine Angst, mein Schatz«, sagte Caroline. »Wir haben bestimmt ganz viel Zeit zum Spielen.«
»Geht Samantha auch in den Kinderclub?«, fragte Michelle.
»Nein«, sagte Caroline. »Sie ist noch zu klein.«
»Sie ist nicht klein. Sie ist groß.«
»Das besprechen wir später«, sagte Hunter, als die Frau an der Rezeption ihm die Schlüsselkarten für das Zimmer gab.
»Suite 612«, sagte die junge Frau, und ihre dunklen Augen funkelten.
»Oh, ihr habt eine Suite«, sagte Becky mit einem leicht neidischen Unterton. »Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.«
»Vielen Dank, dass du uns andere schlecht aussehen lässt«, witzelte Fletcher, als alle in den wartenden Fahrstuhl drängten.
»Hier drin sind zu viele Leute«, beklagte Michelle sich laut.
Caroline konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie hatte genau das Gleiche gedacht.
Aus irgendeiner Tasche drang das Star-Wars-Thema in den beengten Raum.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Becky und verdrehte die Augen zur Decke, während Steve ein Handy aus der Tasche seiner Jeans zog. »Schon wieder?«
»Hallo, Mutter«, sagte Steve und hielt mit einer Hand das Telefon ans Ohr, während er die andere in die Luft warf, als wollte er sagen: Was soll man machen?
»Sie hat vor höchstens einer Stunde schon mal angerufen«, erläuterte Becky.
»Ja, sie sind gerade angekommen. Wolltest du Caroline sprechen? Nicht? Okay. Ja, sie ruft dich bestimmt später an.« Er sah Caroline fragend an. Sie warf ihm einen Blick zu, der sagte: Vielen Dank auch. »Was? Ja, ich weiß, dass es gefährlich ist. Glaub mir, ich habe nicht die Absicht, Parasailing zu machen.«
»Gott segne ihr kleines schwarzes Herz«, sagte Becky. »Die Frau gibt nie Ruhe.«
»Nein. Auch Ausritte am Strand interessieren mich nicht. Man weiß nie, was die Pferde getrunken haben. Nein, ich mache mich nicht über dich lustig. Ich verstehe deine Sorge unbedingt. Ja, okay. Bis später. Hab dich auch lieb. Tschüss.« Steve schob das Telefon wieder in die Tasche. »Was soll ich sagen?«, meinte er lachend. »Sie sorgt sich eben um ihren Jungen.«
»Hat Grandma Mary ein schwarzes Herz?«, fragte Michelle.
»Nein, Liebes«, sagte Caroline. »Natürlich nicht.«
»Bis wir es ganz sicher wissen, müssen wir wohl bis zu ihrer Obduktion warten«, sagte Hunter.
»Soll das ein Witz sein?«, höhnte Becky. »Die Frau wird uns alle überleben.«
»Wirklich sehr liebenswürdig, ihr beiden«, sagte Steve. »Ihr sprecht von Carolines und meiner Mutter. Zeigt ein wenig Respekt.«
Beckys spöttisches Schnauben erfüllte die Fahrstuhlkabine.
»Das war nicht gerade das, was ich gemeint hatte«, sagte Steve.
»Sechster Stock«, verkündete Fletcher zu Carolines großer Erleichterung. »Alle aussteigen.«
»Und, wie findest du es?«, fragte Hunter Caroline, als endlich alle aus ihrer Zweizimmersuite verschwunden waren.
Mit Samantha im Arm ging Caroline durch das hell möblierte Wohnzimmer zu dem Fenster mit Blick auf den Innenhof und betrachtete das Gartenrestaurant direkt unter ihr. Hellrote Sonnenschirme schwebten über Tischen mit weißen Decken inmitten von rot und weiß blühenden Sträuchern. Auf der einen Seite lag ein riesiger amöbenförmiger Pool, der von rot-weiß gestreiften Liegestühlen gesäumt war. Alles war buchstäblich nur einen Steinwurf entfernt. Die Welt zu den Füßen, dachte Caroline, drehte sich zu ihrem Mann um und ließ den Blick über die hellgelben Wände, das rote Samtsofa und den rot-goldenen Sessel wandern. »Es ist wunderschön. Alles. Das hast du toll gemacht.« Sie ging um den Couchtisch aus dunklem Holz in seine ausgebreiteten Arme.
»Warst du wirklich überrascht, oder hast du nur so getan?«
»Soll das ein Witz sein? Ich war absolut schockiert.«
»Ja? Nun, vielleicht hab ich noch ein paar Überraschungen im Ärmel, Mrs Shipley.« Er knabberte an ihrem Ohrläppchen.
»Mommy«, rief Michelle aus dem Badezimmer. »Mommy, ich bin fertig. Komm abwischen.«
»Ist sie nicht alt genug, das selber zu machen?«, fragte Hunter, als Caroline ihm Samantha reichte und ins Bad ging.
»Und, wie findest du es?«, stellte Caroline ihrer Tochter dieselbe Frage, die Hunter eben an sie gerichtet hatte, als sie Michelle in das gelb-weiße Kinderschlafzimmer führte. An einer Wand stand ein Doppelbett mit einer gold und weiß gemusterten Überdecke, an der gegenüberliegenden Wand war ein Kinderbett mit einem identischen, aber kleineren Überwurf aufgestellt worden, an der Wand dazwischen war ein Fenster.
»Ich finde es doof.«
Warum überrascht mich das nicht, dachte Caroline. »Was gefällt dir denn nicht, Schätzchen?«
»Ich will mein eigenes Zimmer.«
»Nun, komm schon. Es macht bestimmt Spaß, in einem Zimmer mit deiner Schwester zu schlafen.«
»Ich will in deinem Zimmer schlafen.«
Das Telefon klingelte. Gott sei Dank, dachte Caroline, froh über die Unterbrechung. Selbst mit ihrer Mutter zu telefonieren wäre eine Erleichterung.
»Das war Rain«, sagte Hunter, der Sekunden später den Kopf ins Zimmer steckte. »Sie hat für heute Abend um acht Uhr einen Tisch im Gartenrestaurant reserviert.«
»Vorausgesetzt, wir bekommen einen Babysitter.«
»Schon erledigt.«
Caroline blickte von dem lächelnden Kleinkind in den Armen ihres Mannes zu dem schmollenden Kind an ihrer Seite und wieder zurück zu Hunter. »Mein Held«, sagte sie.