Wir, Ritter der Ehrenrunde
Prominente berichten vom Sitzenbleiben
Zusammengestellt, bearbeitet und herausgegeben von Tobias Haberl und Alexandros Stefanidis
Kösel
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Umschlagmotiv: shutterstock/Chesky; shutterstock/koya979
Lektorat: Cordula Hubert, Olching
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18037-9
V003
www.koesel.de
Inhalt
Einleitung
Iris Berben: »Im Schultheater spielte ich den Zappelphilipp und den Räuberhauptmann – das sagt eigentlich alles.«
Roger Willemsen: »Ich verlegte mich früh auf intelligentes Verwahrlosen.«
Konstantin Wecker: »Wer die Klappe aufriss, bekam gern mal eine geschmiert.«
Anselm Reyle: »Wir fingen früh an zu schwänzen, zu saufen und zu kiffen.«
Marcel Reif: »Meine Mutter war verzweifelt, mein Vater einfach nur still.«
Tim Raue: »Ich weiß nicht einmal, ob mein Vater noch lebt. Und ganz ehrlich: Es interessiert mich auch nicht.«
Hans Zippert: »G8 oder G9? Für mich galt G12.«
Jürgen Fliege: »Meine Chancen beim weiblichen Geschlecht tendierten gegen Null.«
Frank-Markus Barwasser: »Ich brachte der Lehrerin Blumen mit, um sie zu beruhigen und zu bestechen.«
Lilo Wanders: »Ich war eine Art Zauberwesen, ein Schamane, irgendwie anders als die anderen.«
Ferris MC: »Ich wollte nie Lob dafür, dass ich geil in Mathe bin.«
Reinhold Beckmann: »Ich hatte ein Ziel, aber kein berufliches. Ich wollte einfach nur nach Amerika.«
Alexandros Stefanidis: »Wer weiß schon, was geworden wäre, hätte mein älterer Bruder Ari am 17. Februar 1988 in der großen Pause nicht Anne-Marie geküsst, die Tochter unseres Schuldirektors.«
Janine Meyer: »Mein kompletter Freundeskreis hatte sich von mir abgewendet.«
Tom Bartels: »Ich muss in eine Art Realitätsverlust hineingeschlittert sein.«
Michael Brandner: »Auf dem Gymnasium kam ich mir vor wie deportiert.«
Literaturhinweis
Die Herausgeber
Einleitung
In Deutschland sind im Jahr 2014 rund 150 000 Schüler sitzen geblieben. Und natürlich kann es sein, dass in dieser großen Gruppe ein junges Genie, etwa ein künftiger Literaturnobelpreisträger, die Begründerin einer noch unbekannten Wissenschaft oder der nächste Steve Jobs, zu finden ist. Aber mal unter uns: Wer sitzen bleibt, der hat das meist verdient. Oder?
Kaum ein Thema wird so kontrovers diskutiert wie Sinn und Unsinn einer »Ehrenrunde« in der Schule. Befürworter und Gegner tauschen seit Jahren ihre Argumente aus.
Einer der prominentesten Gegner ist der Philosoph Richard David Precht. Er sagt: »Das Sitzenbleiben setzt nur eine Abwärtskarriere in Gang, die den Staat ein Schweinegeld kostet. Außerdem verlieren die Sitzenbleiber die Freunde aus der vorherigen Klasse, werden in der neuen Klasse stigmatisiert und langweilen sich in den Fächern, die sie wiederholen müssen, obwohl sie da keine großen Lücken hatten.«
Auf der anderen Seite argumentiert etwa Josef Kraus, seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbands: »Sitzenbleiben ist kein Trauma. Das Gros der Sitzenbleiber hat in drei oder vier Fächern eine Fünf. Einen solchen Schüler in die nächsthöhere Jahrgangsstufe hineinzuschieben, heißt, dass die jungen Leute ständig ihren Frustrationen hinterherlaufen. Für mich ist es humaner, einem 13-Jährigen zu sagen: Du wiederholst jetzt ein Jahr, weil es für dich eine Chance zur Konsolidierung ist. Das ist besser, als ihn bis zur Prüfung zur hieven und dann zu sagen: April, April, du bist einfach nicht leistungsstark genug.«
Das ist offenbar auch die Mehrheitsmeinung: Für das Bildungsbarometer des Ifo-Instituts befragte TNS Infratest im Jahr 2014 mehr als 4000 erwachsene Deutsche. Mehr als drei Viertel der Befragten sind dagegen, das Sitzenbleiben abzuschaffen.
Tatsache ist: Nach jeder noch so intensiven Diskussionsrunde steht man wieder am Anfang und ist so klug wie zuvor. Der Grund: Sitzenbleiben ist zu einer Art Glaubensfrage geworden. Es gibt genügend vernünftige Gründe des Für und Wider. Aber warum fragen wir nicht diejenigen, die es selbst erlebt haben?
Es war diese Frage, die uns zu diesem Buch inspiriert hat. Uns dazu angestachelt hat, mehr als hundert Anfragen an Prominente aus der Republik zu schicken – mit der Bitte, uns von ihren Erlebnissen zu erzählen, uns zu offenbaren, warum sie sitzen geblieben sind, ob und welche Wunden dies hinterlassen hat und was, zum Beispiel, ihre Eltern oder damaligen Freunde über sie dachten. Die meisten antworteten uns freundlich, dass sie darüber schlicht nicht reden möchten, das sei »zu privat«. Einige gaben an, sie hätten keine Zeit, etwa Winfried Kretschmann, der einst in der 11. Klasse sitzen blieb, später als Lehrer Biologie, Chemie und Ethik unterrichtete und 2011 zum ersten Grünen-Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gewählt wurde. Kretschmann selbst sagt: »Ich war eher ein braves Kind, aber kein braver Jugendlicher.« Ein anderer Politiker, dessen Name immer wieder in Internet-Listen »berühmter Sitzenbleiber« erscheint, ließ uns wissen, dass wir einer Zeitungsente aufgesessen seien: »Bei Ihrem Buchprojekt kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Eine Ehrenrunde habe ich nie gedreht.« Sein Name: Klaus Wowereit.
Und es war ein Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der beim Verlag den Ausschlag für dieses Buch gab. Der Autor des Artikels: Hans Zippert. Er schreibt: »Über den Sinn des Sitzenbleibens wird allgemein viel diskutiert. Politiker, die ein-, manchmal sogar zweimal wiederholt haben, melden sich zu Wort und behaupten, es habe ihnen nicht geschadet. Aber warum sind sie dann Politiker geworden? Ich habe bislang geschwiegen, obwohl ich möglicherweise über die profundesten Kenntnisse zu diesem Thema verfüge, denn ich bin dreimal sitzen geblieben. Und die Frage, ob es mir geschadet hat, kann ich erst am Ende dieses Besinnungsaufsatzes beantworten, denn dann weiß ich ja auch erst, was ich geschrieben habe. Es ist mir schon immer schwergefallen, die Folgen meines Tuns im Voraus zu bedenken, daher rührten unter anderem die Probleme in der Schule.« (Sie finden seinen Erklärungsversuch auch in diesem Buch.)
Wer die Listen jener durchkämmt, die es trotz eines Wiederholungsjahres noch zu erklecklichem Ruhm gebracht haben, kommt nicht umhin festzustellen, dass es ihnen wohl nicht geschadet hat. Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, zum Beispiel, »schrieb viel lieber als zu lernen«, nannte sich schon mit 14 Jahren einen »lyrisch-dramatischen Dichter« – und blieb dreimal sitzen, verließ das Gymnasium gar ohne Abschluss. Oder Otto von Bismarck – er hatte Probleme mit der Schuldisziplin, Altgriechisch war sein Stolperstein. Die Folge: ein zusätzliches Schuljahr. Die Liste ließe sich mit vielen illustren Namen fortsetzen.
Bitte nicht falsch verstehen: Wir wollen das Sitzenbleiben mit diesem Buch nicht in den Himmel heben. Denn wer die Listen der Berühmten einmal durchhat, erkennt schnell, dass in den vergangenen Jahrzehnten viele hunderttausend Schüler eine Klasse wiederholt haben, die in keiner dieser Listen auftauchen.
Dieses Buch hat einen sehr schlichten Auftrag. Es soll all jenen eine Hilfe und ein Genuss sein, die das Schicksal einer Ehrenrunde ereilt – ob als Schüler oder Eltern. Jeder der Prominenten, die hier zu Wort kommen, hat seine eigene Sicht auf das Erlebte. Sie sind Befürworter wie Gegner des Sitzenbleibens.
Der Liedermacher Konstantin Wecker, der sehr eindringlich beschreibt, dass er eigentlich als »Rinnstein-Poet« leben wollte, floh geradezu vor dem Drill auf seinem Münchner Gymnasium. Der Maler Anselm Reyle entschloss sich mit 13 Jahren, ein Punk zu sein. »Physik«, sagt er, »habe ich gleich zu Beginn des siebten Schuljahres ein paarmal geschwänzt und dann die Entscheidung getroffen, dass es wesentlich sinnvoller ist, bis zum Jahresende überhaupt nicht mehr zu kommen, damit der Lehrer gar nicht weiß, dass es mich gibt.« Sportreporter Marcel Reif bereut dagegen, bezeichnet sich selbst als »Großmaul« und »Kasperl« in der Schule: »Als ich wirklich die Klasse wiederholen musste, war das Gelächter des Publikums schallend laut. Die gleichen Jungs, die mir frenetisch zugejubelt hatten, wenn ich störend durch die Gänge gesaust war, zeigten jetzt offen ihre Schadenfreude. Das hat mir zu denken gegeben. Ich hatte mich mit einer großen Leichtigkeit des Seins verzockt. Die Ehrenrunde hätte nicht sein müssen, so ein Fach wie Biologie, da muss man halt auch mal ein Buch aufschlagen und was lernen.« Oder Spitzenkoch Tim Raue. Für ihn ist das Wiederholungsjahr noch heute ein »Makel«, wie er bekennt. »Sitzenbleiben war ’ne ganz harte Nummer für mich. Ich fühlte mich ausgestoßen und empfand das Sitzenbleiben als mentale Demütigung.«
Als Herausgeber möchten wir an dieser Stelle dem Verlag für die Möglichkeit danken, dieses Buch auf die Beine gestellt zu haben. Unser besonderer Dank geht an unseren Lektor Gerhard Plachta, der uns den Weg wies, uns beratend zur Seite stand und immer ein offenes Ohr für uns hatte. Namen von Mitschülern und Lehrern wurden geändert.
Übrigens: Einer der Herausgeber war ein Musterschüler, der andere bekam in der 7. Klasse auf dem Gymnasium einst dies von seinem Klassenlehrer gesagt: »Alexandros, du wirst nie Abitur machen! Du bist zwar nicht dumm, aber wohl der faulste Schüler, der je in diesem Klassenzimmer gesessen ist.« Na ja, was soll man sagen? Natürlich hatte der Mann recht. Damals.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre!
Tobias Haberl und Alexandros Stefanidis
München, November 2015
Iris Berben
»Im Schultheater spielte ich den Zappelphilipp und den Räuberhauptmann – das sagt eigentlich alles.«
Iris Berben war rebellisch und schön, aufmüpfig und vorlaut. Kein Wunder, dass sie zweimal sitzen geblieben ist. Kein Wunder, dass sie eine faszinierende Frau geworden ist.
Meine Schulzeit war geprägt von Umzügen und Schulwechseln. Insgesamt war ich auf sieben Schulen, darunter mehrere Internate. Eine Zeitlang habe ich bei meinen Großeltern gelebt. Diese Unruhe hat sich auf mein Wesen und meine Noten übertragen, aber das verstand ich damals noch nicht. Wie sollte ich auch? Ich war ein junges Mädchen, dessen Mutter weit weg in Portugal lebte.
Zuerst ging ich auf das Sacré-Coeur-Internat in Hamburg, eine strenge und elitäre Lehranstalt. Wir waren 21 Schülerinnen und 25 Nonnen, alles war streng hierarchisch organisiert, die Mutter Oberin mussten wir mit Handkuss begrüßen. Wir durften auch kaum telefonieren. Wer seinen Eltern was erzählen wollte, schrieb einen Brief. Eigentlich hätte ich dort gar nicht sein dürfen, weil meine Mutter geschieden war, aber man hat mich als Sonderfall aufgenommen.
Als ich die 7. Klasse wiederholen musste, war ich geschockt. Vorher war mir alles in den Schoß gefallen, ich hatte nie viel lernen müssen, um im guten Mittelfeld zu liegen – in der Grundschule war ich sogar eine der Besten gewesen. Ich dachte, es würde ewig so weitergehen: die Schule als Spiel und notwendiges Übel, das man mit überschaubarem Aufwand hinter sich bringen konnte. Und dann das: Klassenziel verfehlt! Zurück in die 7. Klasse!
Schuld war Latein. Diese Sprache lag mir nicht, sie gefiel mir auch nicht, irgendwann verlor ich den Anschluss, lernte keine Vokabeln mehr. Ich war ein unruhiges und schwer zu beschäftigendes Mädchen, heute würde man sagen: ein ADHS-Kind. Dazu kam, dass ich in meinen Lateinlehrer verschossen war, Mein Gott, wie habe ich den angehimmelt. Ich weiß noch, dass auf dem Lateinbuch der Kopf von Julius Caesar abgebildet war, und ich immer dachte, genauso sieht er auch aus, so markant und schön. Ich fuhr während jeder Stunde im Kopf Achterbahn, am Ende bekam ich eine Sechs und fühlte mich persönlich beleidigt. Ich war überzeugt davon, dass er mich schon irgendwie durchkommen lassen würde. Aber warum sollte er? Für ihn war ich einfach nur eine schlechte Lateinschülerin, meine Liebe konnte er nicht mal ahnen, meine Noten waren miserabel und am Ende hielt ich das Zeugnis in der Hand – Klassenziel verfehlt! – und bekam Schnappatmung.
Meine Mutter war nicht gerade begeistert, als die Nachricht kam, aber anders als für mich brach für sie keine Welt zusammen. Sie war eine liberale, sehr unabhängige und selbstbewusste Frau, ein Freigeist. Für sie war diese Ehrenrunde gar kein so großes Thema. Ich hatte viel mehr daran zu knabbern und weiß auch, warum. Erstens: Ich hatte versagt. Zweitens: Ich musste zurück zu den Kleinen. Drittens: Ich schämte mich. Viertens: Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, dass mein Internat ziemlich teuer war. Ich war zwar erst dreizehn, konnte aber sehr wohl einschätzen, dass meine alleinerziehende Mutter nun ein zusätzliches Jahr Schulgebühren zahlen musste.
Meine Rolle innerhalb der Klasse war die des Klassenkasperls. Ich hatte eine große Klappe, hinter der ich meine Sensibilität verstecken konnte. Merkwürdigerweise fand ich mich in der neuen Klasse viel schneller zurecht, als ich befürchtet hatte. Ich fühlte mich sogar relativ schnell ganz gut aufgehoben, verbrachte ein, zwei Jahre ohne größere Probleme – bis ich in der 9. Klasse noch einmal sitzen blieb, diesmal wegen Mathe und Physik.
Ich weiß, dass ich nicht dumm war, ich war einfach faul und hatte tausend andere Dinge im Kopf. Erschwerend kam hinzu, dass ich mehrmals das Internat gewechselt hatte, ich bin sogar dreimal rausgeflogen: Iris, du passt nicht in unsere Gemeinschaft, hieß es damals. Heute kann ich mich darüber amüsieren, aber damals hat das schon an mir genagt, dieser Vorwurf, anders, nicht gemeinschaftstauglich zu sein. Das hat wehgetan und natürlich habe ich mich nächtelang gefragt, was das ist, was mich so unpassend macht. Ich weiß noch genau, welche die beiden Rollen waren, die ich im Schultheater gespielt habe, einmal war ich der Zappelphilipp und einmal der Räuberhauptmann. Das sagt eigentlich alles.
Ich war ein verhaltensauffälliges Mädchen, unruhig, ein Störenfried, der vorkommen wollte und das Internat als Bühne betrachtete, um sich austoben zu können. Ich rauchte, ich traf mich mit Jungs, einmal habe ich einer Erzieherin eine Ohrfeige gegeben, als sie über die Scheidung meiner Mutter gelästert hat. Meine Mutter war mir heilig, ich wollte sie auf keinen Fall beleidigt sehen. Die Schule war beides, ein schrecklicher Ort, aber auch eine Bühne für meinen kindlichen Narzissmus. Ich war Klassensprecherin, ich wurde zur Miss Internat gewählt. Ich weiß noch, dass wir jeden Freitagabend Noten für unser Betragen bekamen. Lag der Durchschnitt unter einem bestimmten Wert, durfte man am Wochenende nicht nach Hause. Ich durfte nie nach Hause, bin aber regelmäßig abgehauen.
Immer wieder legte ich mich mit den Lehrern an, die anders als heute wirkliche Respektspersonen waren. Die Distanz zwischen uns Schülern und dem Lehrkörper war riesig. Wenn ich heute Lesungen an Schulen halte, kann ich es kaum glauben, in welchem Ton die Schülerinnen und Schüler mit den Lehrern sprechen. Das wäre damals undenkbar gewesen. Ich weiß sogar noch, wie es sich anfühlt, wenn man mit dem Rohrstock eins auf die Finger bekommt.
Es gab einen Deutschlehrer auf dem Internat in St. Peter-Ording, der hat mich gefordert, der mochte mich und hat sich mit mir auf Augenhöhe unterhalten. Schon damals war klar, Sprache, Texte, Literatur, das gefällt mir, damit werde ich mich auch später auseinandersetzen. Dem Lehrer habe ich noch Jahre danach Briefe geschrieben, aber der Rest?
Dass ich mit meiner Schulzeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Ängsten bis heute nicht abgeschlossen habe, merke ich an meinen Träumen. Ich habe wiederkehrende Träume, die immer gleich ablaufen. In einem sitze ich vor dem leeren Blatt und finde den ersten Satz nicht. Ich schwitze und leide und kann den anderen Schülern zuschauen, wie sie nach und nach ihre vollgeschriebenen Arbeitsblätter abgeben und den Raum verlassen. Das ist doch bemerkenswert. Ich meine, ich bin 65 Jahre alt und träume immer noch von meiner Schulzeit. Und wenn ich ehrlich bin, leide ich auch gelegentlich darunter, dass ich nie mein Abitur gemacht habe. Es klingt vielleicht kokett, wenn ich das sage, aber es stimmt; das ist eine Schraube, die in mir noch nicht komplett festgezogen ist. Ich spüre eine Lücke, und wenn ich an Schulen oder Universitäten auf dem Podium sitze und lese, kommt es immer wieder vor, dass ich innerlich bebe und denke: »Oh mein Gott, ich erzähle diesen jungen Menschen vom Leben. Hoffentlich kriegt keiner raus, dass ich nicht mal das Abi habe.« Alle reden von der »Grande Dame«, manchmal heiße ich »Die Berben«, und dann sitze ich da und lese und denke: »Ach Kinder, wenn ihr wüsstet …«
Iris Berben