Cover

Estelle Maskame

Dich darf ich nicht lieben
DARK LOVE 1

Roman

Aus dem Englischen von
Cornelia Röser

Wilhelm Heyne Verlag
München

Die Originalausgabe DID I MENTION I LOVE YOU?
(DIMILY Series) erschien bei Black & White Publishing Ltd. Edinburgh
Die Übersetzung wurde gefördert durch
das Europäische Übersetzer-Kollegium in Straelen



Vollständige deutsche Erstausgabe 5/2016
Copyright © 2015 by Estelle Maskame
Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
nach dem Originaldesign von stuartpolsondesign.com
unter Verwendung der Bilder von Shutterstock
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN 978-3-641-18473-5
V006
www.heyne.de

Für meine Leser, die von Anfang an dabei waren.
Denn dies ist nicht mein Buch, sondern unseres.

Kapitel 1

Wenn ich aus Filmen und Büchern eines gelernt habe, dann, dass Los Angeles die coolste Stadt mit den coolsten Leuten und den coolsten Stränden ist. Und deshalb habe ich immer – wie wohl jedes Mädchen – davon geträumt, eines Tages den Golden State zu besuchen. Irgendwann wollte ich über den Sand von Venice Beach joggen, die Sterne meiner Lieblingsstars auf dem Walk of Fame berühren und einmal hinter dem Hollywood-Schriftzug stehen und über die wunderschöne Stadt blicken.

Das, und das andere langweilige Zeug, das man als Touri so macht.

Einen Knopf im Ohr, achte ich halb auf die Musik und halb auf das Gepäckband, das vor mir seine Kreise zieht, während ich verzweifelt nach einer freien Stelle suche, um meinen Koffer vom Band zu holen. Ich finde eine Lücke und quetsche mich hinein. Um mich herum drängeln und rufen die Leute, eine Frau schreit ihren Partner an, ihr Gepäck sei gerade vorbeigefahren, und er schreit zurück, es sei gar nicht ihres gewesen. Ich verdrehe die Augen und konzentriere mich auf den khakifarbenen Koffer, der auf mich zukommt. Dass es meiner ist, erkenne ich an den Songtexten, die ich mit schwarzem Filzstift auf die Seiten geschrieben habe. Energisch packe ich ihn am Griff und zerre ihn so schnell wie möglich vom Band.

»Hier drüben!«, ruft jemand hinter mir. Die erstaunlich tiefe Stimme meines Vaters erkenne ich sofort, obwohl sie halb von meiner Musik überlagert wird. Ich könnte die Lautstärke bis zum Anschlag aufdrehen und würde ihn wahrscheinlich trotzdem noch aus kilometerweiter Entfernung hören. Diese Stimme ist mit zu viel Wut und Schmerz verbunden, um sie zu ignorieren.

Als Mom mir erzählt hat, dass Dad mich für den Sommer zu sich einlädt, kriegten wir beide erstmal einen Lachanfall, weil es einfach so hirnrissig war. »Du brauchst nichts mit ihm zu tun zu haben«, hat sie mir seitdem jeden Tag versichert. Drei Jahre lang hatten wir nichts von ihm gehört, und dann sollte ich plötzlich den ganzen Sommer bei ihm verbringen? Es hätte doch gereicht, wenn er mich vielleicht hin und wieder mal angerufen hätte, um zu fragen, wie’s mir geht, und nach und nach wieder Anteil an meinem Leben zu nehmen. Aber nein, er hat beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen und mich gleich für acht Wochen zu sich einzuladen. Mom war total dagegen. Sie fand, er habe keine acht Wochen mit mir verdient, und meinte, damit könne er die bereits verlorene Zeit auch nicht wieder aufholen. Aber Dad ließ nicht locker und versuchte immer eindringlicher, mich davon zu überzeugen, dass ich Kalifornien lieben würde. Warum er plötzlich aus heiterem Himmel beschlossen hat, sich zu melden? Ich weiß es nicht. Vielleicht hofft er, die Beziehung zwischen uns wieder kitten zu können – eine Beziehung, die er abgebrochen hat, als er einfach weggegangen ist. Ich bezweifle, dass das überhaupt möglich ist. Trotzdem habe ich irgendwann nachgegeben und meinen Vater angerufen, um ihm zu sagen, dass ich komme. Allerdings hatte meine Entscheidung weniger mit ihm zu tun, als eher mit der Vorstellung von heißen Sommertagen und herrlichen Stränden und der Möglichkeit, sich in ein braungebranntes Abercrombie-&-Fitch-Model mit Eightpack zu verlieben. Außerdem gab es da noch einen anderen Grund, warum ich Portland gerne eintausendvierhundert Kilometer hinter mir lassen wollte.

Ich bin also nicht sonderlich begeistert, die Person zu sehen, die gerade auf mich zukommt.

In drei Jahren kann sich eine Menge verändern. Vor drei Jahren war ich acht Zentimeter kleiner als jetzt, mein Dad hatte damals noch keine sichtbaren grauen Strähnen im Haar, und diese Situation wäre nicht so absurd gewesen.

Ich gebe mir alle Mühe zu lächeln – oder zu grinsen –, damit ich nicht erklären muss, warum ich so ein mürrisches Gesicht mache. Es ist immer viel leichter, einfach zu lächeln.

»Schau an, da ist ja mein kleines Mädchen!«, sagt Dad. Er macht große Augen und schüttelt ungläubig den Kopf darüber, dass ich nicht mehr genauso aussehe wie mit dreizehn. Wirklich schockierend, dass eine Sechzehnjährige sich seit der achten Klasse tatsächlich verändert hat.

»Ja«, sage ich und ziehe den Knopf aus dem Ohr. Das Kabel baumelt in meiner Hand, und aus den Kopfhörern vibriert leise die Musik.

»Du hast mir gefehlt, Eden«, sagt er, als müsste es mich überglücklich machen zu hören, dass mein Vater, der seine Familie verlassen hat, mich vermisst. Vielleicht erwartet er, dass ich ihm in die Arme falle und ihm auf der Stelle alles verzeihe. Aber so funktioniert das nicht. Vergebung kann man nicht erwarten, man muss sie sich verdienen.

Doch wie dem auch sei, ich werde acht Wochen lang bei ihm wohnen. Da sollte ich wohl wenigstens versuchen, meine Feindseligkeit zu verbergen. »Du mir auch.«

Dad strahlt mich an, dabei graben sich die Grübchen in seine Wangen wie ein Maulwurf in die Erde. »Gib mir die Tasche«, sagt er, nimmt meinen Koffer und zieht ihn auf den Rollen hinter sich her.

Während ich ihm durch den L.A. International Airport folge, halte ich angestrengt nach Filmstars oder Models Ausschau, die vielleicht zufällig direkt an mir vorbeilaufen, aber auf dem Weg nach draußen kann ich niemanden entdecken.

Auf dem riesigen Parkplatz schlägt mir Wärme ins Gesicht, die Sonne kribbelt auf der Haut, und ein leichter Wind fährt mir durch die Haare. Der Himmel ist größtenteils blau, abgesehen von ein paar zaghaften Schleierwolken.

»Ich dachte, hier wäre es heißer«, bemerke ich und bin ein bisschen angefressen, weil Kalifornien doch nicht vollkommen frei von Wind und Wolken und Regen ist, wie die ganzen Klischees immer behaupten. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass die öde Stadt Portland im Sommer heißer sein könnte als Los Angeles. Echt enttäuschend, in diesem Moment möchte ich am liebsten gleich wieder nach Hause, obwohl Oregon auch nicht gerade der Hit ist.

»Es ist doch trotzdem ziemlich warm«, sagt Dad und zuckt mit den Schultern, als wollte er sich im Namen des Wetters entschuldigen. Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und kann förmlich sehen, wie er sein Hirn nach etwas durchforstet, was er sagen könnte. Aber es gibt nichts zu sagen, außer wie unbehaglich diese Situation ist.

An einem schwarzen Lexus bleibt er mit meinem Koffer stehen, und ich beäuge den polierten Lack skeptisch. Vor der Scheidung haben Mom und Dad sich einen klapprigen Volvo geteilt, der alle vier Wochen liegengeblieben ist. Wenn wir Glück hatten. Entweder ist sein neuer Job extrem gut bezahlt, oder er wollte damals nicht so viel Geld für uns ausgeben. Vielleicht waren wir ihm das nicht wert.

»Ist offen«, sagt er und deutet mit dem Kinn auf den Wagen, während er den Kofferraum öffnet und mein Gepäck hinein befördert.

Ich gehe zur Beifahrerseite, setze den Rucksack ab und steige ein, das Leder unter meinen nackten Oberschenkeln ist glühend heiß. Schweigend warte ich einige Sekunden, bis Dad sich hinters Lenkrad klemmt.

»Und, hattest du einen guten Flug?«, fragt er, offenbar in dem Versuch, ein normales Gespräch anzufangen. Er lässt den Motor an und setzt aus der Parklücke zurück.

»Ja, war in Ordnung.« Ich schnalle mich an und starre dann ausdruckslos auf die Straße, den Rucksack behalte ich auf dem Schoß. Weil die Sonne blendet, krame ich meine Sonnenbrille aus der Fronttasche des Rucksacks und setze sie seufzend auf.

Ich kann förmlich hören, wie er schluckt, bevor er tief Luft holt und fragt: »Und wie geht’s deiner Mutter?«

»Fantastisch«, sage ich schon fast zu enthusiastisch, weil ich unbedingt betonen will, wie gut sie ohne ihn zurechtkommt. Sie kommt gut zurecht. Nicht direkt fantastisch, aber auch nicht schlecht. In den letzten Jahren hat sie sich sehr bemüht, die Scheidung als eine Erfahrung anzusehen, aus der sie lernen kann. Sie möchte glauben, dass sie dadurch eine lebensbejahende Botschaft erhalten hat oder weiser geworden ist. Aber wenn ich ehrlich sein soll, hat es nur dazu geführt, dass sie Männer hasst. »Ging ihr wirklich nie besser.«

Daraufhin nickt Dad und hält das Lenkrad fester. Wir verlassen das Flughafengelände und fahren auf den Boulevard. Die Straße hat viele Spuren, und auf jeder sausen die Autos nur so dahin. Der Verkehr ist dicht, aber es geht relativ zügig voran. Das Stadtbild wirkt offen, über die Straßen neigen sich keine hoch aufragenden Wolkenkratzer wie in New York, aber sie sind auch nicht von Bäumen gesäumt wie in Portland. Die einzige wirklich positive Erkenntnis: Es gibt wirklich Palmen. Ein Teil von mir hat sich immer gefragt, ob sie womöglich nur ein Mythos sind.

Wir fahren unter einer Ansammlung von Straßenschildern hindurch – eins über jeder Spur –, auf denen die umliegenden Städte und Viertel angezeigt werden, doch wir sind so schnell, dass ich die Namen nicht entziffern kann. Als sich die Stille erneut ausbreitet, räuspert sich Dad und startet einen neuen Anlauf.

»Santa Monica wird dir gefallen.« Er lächelt kurz. »Es ist eine tolle Stadt.«

»Ja. Hab’s gegoogelt.« Ich lehne meinen Arm ans Fenster und schaue stur auf die Straße. Bis jetzt sieht L.A. nicht so glamourös aus wie auf den Bildern im Internet. »Da gibt’s diesen komischen Pier, oder?«

»Genau. Den Pacific Park.« Ein Sonnenstrahl fällt auf den goldenen Ehering an seinem Finger. Ich seufze. Er bemerkt es. »Ella freut sich schon so, dich kennenzulernen«, sagt er.

»Und ich erst.« Eine glatte Lüge.

Ella ist Dads neue Frau, wie er mir vor Kurzem mitgeteilt hat. Ein Ersatz für meine Mutter: etwas Neues, Besseres. Aber das ist der Punkt, den ich nicht verstehe. Was soll an dieser Ella besser sein als an meiner Mom? Ihre Geschirrspültechnik? Ihr Hackbraten?

»Hoffentlich versteht ihr beiden euch«, sagt Dad nach einem Augenblick erdrückender Stille und fädelt sich in die rechte Spur ein. »Ich möchte wirklich, dass es funktioniert.«

Mag sein, dass Dad das möchte, ich allerdings bin von dieser ganzen Wiedervereinte-Familie-Sache immer noch nicht vollkommen überzeugt. Mir gefällt die Vorstellung einfach nicht, eine Stiefmutter zu haben. Ich will eine klassische Kernfamilie, wie man sie auf den Cornflakes-Verpackungen sieht. Mit Mom, Dad und mir. Ich mag keine Veränderungen.

»Wie viele Kinder hat sie noch mal?«, frage ich herablassend. Ich bin nämlich nicht nur mit einer Stiefmutter gesegnet, sondern auch mit Stiefbrüdern.

»Drei«, entgegnet Dad. So langsam reagiert er ein bisschen gereizt auf meine abweisende Haltung. »Tyler, Jamie und Chase.«

»Okay«, sage ich. »Wie alt?«

Während er antwortet, sieht er ein Stück voraus ein Stoppschild und geht vom Gas. »Tyler ist gerade siebzehn geworden, Jamie ist vierzehn, und Chase … Chase ist elf. Versuch, mit ihnen auszukommen, Maus.« Er schaut mich flehend von der Seite an.

»Oh.« Bis gerade hatte ich erwartet, auf ein paar Kleinkinder zu treffen, die kaum einen zusammenhängenden Satz sagen können. »Okay.«

Eine halbe Stunde später fahren wir durch einen kurvige Straße, die am Stadtrand zu liegen scheint. Zu beiden Seiten der Straße stehen Bäume und bieten mit ihren dicken Stämmen und knorrigen Ästen Schutz vor der Hitze. Die Häuser sind allesamt größer als das, in dem ich mit Mom wohne, und jedes hat eine individuelle Architektur. Keine zwei Häuser haben die gleiche Form, Farbe oder Größe. Dads Lexus hält vor einem Haus aus weißem Stein.

»Hier wohnst du?«

Die Deidre Avenue sieht viel zu normal aus, sie könnte auch mitten in North Carolina liegen. L.A. sollte nicht so normal sein, sondern glamourös und abgehoben und total surreal, aber das ist es nicht.

Dad nickt, stellt den Motor ab und klappt die Sonnenschutzblende hoch. »Siehst du das Fenster da?« Er zeigt auf eins, das im ersten Stock genau in der Mitte liegt.

»Ja?«

»Das ist dein Zimmer.«

»Aha«, sage ich. Für einen achtwöchigen Besuch hatte ich kein eigenes Zimmer erwartet. Aber das Haus sieht ziemlich groß aus, also gibt es bestimmt genug freie Zimmer. Ich bin jedenfalls froh, dass ich nicht auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer schlafen muss. »Danke, Dad.« Als ich aussteigen will, stelle ich fest, dass es nicht nur Vorteile hat, kurze Hosen zu tragen. Pro: Die Beine bleiben bei diesem Wetter kühl und frisch. Kontra: Meine Oberschenkel kleben am Ledersitz von Dads Lexus fest. Und so brauche ich eine geschlagene Minute, um endlich aus dem Wagen zu kommen.

Dad geht zum Kofferraum, holt mein Gepäck heraus und stellt es auf den Gehweg. »Gehen wir lieber rein«, sagt er, zieht den Griff raus und rollt den Koffer hinter sich her.

Ich mache einen großen Schritt über den Parkstreifen und folge meinem Dad über die Steinplatten zur Haustür. Mahagoni-vertäfelt, genau wie es sich für die Häuser reicher Leute gehört. Die ganze Zeit starre ich auf meine Converse und betrachte meine Handschrift auf dem weißen Gummirand. Genau wie auf meinen Koffer habe ich mit schwarzem Filzstift Songtexte darauf geschrieben. Die Schrift anzusehen hilft mir, mich zu beruhigen. Ein bisschen jedenfalls. Bis wir die Haustür erreichen.

Das Haus selbst ist – obwohl ein hassenswerter Tempel des Konsums – recht hübsch. Verglichen mit dem, in dem ich heute Morgen aufgewacht bin, könnte es glatt als Fünf-Sterne-Hotel durchgehen. Ein Range Rover parkt in der Auffahrt. Wie protzig!

»Nervös?«, fragt Dad, der vor der Tür stehen bleibt und mich aufmunternd anlächelt.

»Ziemlich«, gebe ich zu. Ich habe versucht, nicht an die endlose Liste der Dinge zu denken, die schiefgehen könnten, aber tief drinnen habe ich Angst. Was ist, wenn sie mich absolut nicht leiden können?

»Das brauchst du nicht.« Er öffnet die Tür, und wir treten ein, der Rollkoffer schabt über den Parkettboden.

Im Flur empfängt uns sofort ein überwältigender Lavendelduft. Eine Treppe führt ins Obergeschoss, und auf der rechten Seite liegt offenbar das Wohnzimmer, soweit ich das durch die angelehnte Tür erkennen kann. Ein Stück vor mir öffnet sich ein großer Türbogen zur Küche, und aus dieser Küche kommt mir eine Frau entgegen.

»Eden!«, ruft sie. Sie umarmt mich herzlich, wobei ihre enorme Oberweite ein bisschen im Weg ist. Dann tritt sie einen Schritt zurück, um mich zu mustern. Möglichst ungerührt erwidere ich ihren Blick. Sie ist schlank und blond. Aus irgendeinem Grund hatte ich erwartet, dass sie meiner Mom ähnlich sieht, aber anscheinend hat Dad zusammen mit seinem Lebensstandard auch seinen Frauengeschmack geändert. »Es ist so schön, dich endlich kennenzulernen!«

Ich weiche einen kleinen Schritt zurück und kämpfe gegen den Drang, die Augen zu verdrehen oder eine Grimasse zu schneiden. Für derart respektloses Verhalten würde mich Dad bestimmt auf direktem Weg zurück zum Flughafen schleifen. »Hi«, sage ich stattdessen.

Und dann rutscht ihr heraus: »Mein Gott, du hast ja Daves Augen!«, was so ziemlich das Schlimmste ist, was man mir sagen kann, weil ich so viel lieber die Augen meiner Mutter hätte. Mom hat mich nämlich nicht verlassen.

»Meine sind dunkler«, murmle ich zornig.

Ella vertieft das Thema nicht weiter, sondern lenkt das Gespräch in eine völlig andere Richtung. »Du musst die anderen kennenlernen. Jamie, Chase, kommt runter!«, ruft sie die Treppe hinauf und wendet sich dann wieder an mich. »Hat Dave dir von der Gartenparty heute Abend erzählt?«

»Gartenparty?«, wiederhole ich. Geselliges Beisammensein steht ganz bestimmt nicht auf der Liste der Dinge, die ich unbedingt in Kalifornien erleben will. Ganz besonders nicht, wenn es ein Beisammensein von lauter Fremden ist. »Dad?« Ich schaue ihn von der Seite an, zwinge mich, ihn nicht mit tödlichen Blicken zu durchbohren, und hebe fragend die Augenbrauen.

»Wir schmeißen den Grill an und laden die Nachbarn ein«, erklärt er. »Es gibt doch keinen besseren Start in die Sommerferien als einen richtig schönen Grillabend.« Ich wünsche mir, er würde einfach aufhören zu reden.

Ehrlich gesagt hasse ich Menschenansammlungen genauso sehr wie Grillabende. »Super«, sage ich.

Unter lautem Poltern kommen zwei Jungs die Treppe herunter. Sie nehmen immer zwei Stufen auf einmal, ihre Schritte dröhnen auf dem Eichenholz.

»Ist das Eden?«, fragt der Ältere der beiden, als sie bei uns sind. Er flüstert es Ella ins Ohr, aber ich höre es trotzdem. Das muss Jamie sein. Und der Jüngere mit den großen Augen ist dann wohl Chase.

»Hey«, sage ich und setze ein strahlendes Lächeln auf. Wenn ich die Unterhaltung auf der Fahrt richtig in Erinnerung habe, ist Jamie vierzehn. Obwohl er zwei Jahre jünger ist als ich, sind wir etwa gleich groß. »Was geht so?«

»Ach, nichts Besonderes«, antwortet Jamie. Er ist unverkennbar Ellas Sohn, die blitzenden blauen Augen und die wirren blonden Haare lassen keinen Zweifel an der Verwandtschaft. »Möchtest du was trinken?«

»Ich brauche nichts, danke«, sage ich. Mit seiner aufrechten Haltung und dem Bemühen um gute Manieren wirkt er reif für sein Alter. Vielleicht werden wir uns ja ganz gut verstehen.

»Willst du Eden nicht Hallo sagen, Chase?«, ermuntert Ella ihren Sohn.

Chase wirkt sehr zurückhaltend. Auch er hat Ellas makellose Gene geerbt. »Hi«, murmelt er, ohne mich direkt anzusehen. »Mom, darf ich zu Matt rübergehen?«

»Natürlich, Schätzchen. Aber sei um sieben wieder da.« Ich frage mich, ob Ella der Typ Mutter ist, der einem für ein paar Krümel auf dem Wohnzimmerteppich Hausarrest aufbrummt, oder eher der Typ, den es nicht stört, wenn man mal für zwei Tage verschwindet. »Wir grillen doch heute Abend.«

Chase nickt und schiebt sich an mir vorbei. Eilig öffnet er die Haustür und schließt sie wieder hinter sich, ohne sich von einem von uns zu verabschieden.

»Mom, soll ich ihr das Haus zeigen?«, fragte Jamie, kaum dass sein Bruder weg ist.

»Das wäre toll«, antworte ich an ihrer Stelle. Jamies Gesellschaft ist ganz bestimmt angenehmer als die von Dad oder Ella oder beiden zusammen. Ich sehe überhaupt keinen Sinn darin, Zeit mit Menschen zu verbringen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben will. Also halte ich mich fürs Erste an meine neuen, wunderbaren Stiefbrüder. Bestimmt finden sie diese ganze Situation genauso merkwürdig wie ich.

»Das ist nett von dir, Jay«, sagt Ella. Sie wirkt erleichtert, dass sie mir nicht selbst zeigen muss, wo das Bad ist. »Zeig Eden ihr Zimmer.«

Dad nickt mir kurz zu und lächelt. »Wir sind in der Küche, falls du was brauchst.«

Während ich noch versuche, nicht verächtlich zu schnauben, nimmt Jamie meinen Koffer und schleppt ihn die Treppe hinauf. Im Augenblick brauche ich nur zwei Dinge: sonnengebräunte Beine und frische Luft, und beides bekomme ich bestimmt nicht, wenn ich mit Dad im Haus rumhänge.

Ich will gerade hinter Jamie die Treppe hinaufsteigen, da höre ich meinen Vater hinter mir zischen: »Wo ist Tyler?«

»Ich weiß es nicht«, sagt Ella.

Ihre Stimmen werden leiser, als wir uns entfernen, aber nicht leise genug, denn ich kann Dads Antwort noch hören. »Du hast ihn gehen lassen?«

»Ja«, sagt Ella, und dann sind wir außer Hörweite.

»Dein Zimmer ist gleich gegenüber von meinem«, teilt Jamie mir auf dem Treppenabsatz mit. »Du hast das coolste Zimmer mit der besten Aussicht.«

»Tut mir leid.« Ich lache leise und versuche weiter zu lächeln, während er auf eine der fünf Türen zugeht. Aber ich kann mir nicht verkneifen, kurz stehen zu bleiben und einen Blick in den Flur unter uns zu werfen, wo Ella mit ihren blonden Haaren gerade durch den Türbogen in der Küche verschwindet.

Sieht aus, als wäre sie der Typ, den es nicht stört, wenn man einfach mal verschwindet.

Kapitel 2

Wenn ich mein Zimmer für die Sommerferien mit nur einem Wort beschreiben müsste, würde ich »schlicht« sagen. Mehr kann man kaum sagen zu einem Bett, weißen Wänden und einer einfachen Kommode. Außer, dass es da drinnen noch dazu unglaublich heiß ist.

»Die Aussicht ist hübsch«, sage ich zu Jamie, obwohl ich nicht einmal in der Nähe des Fensters bin und die Aussicht deshalb gar nicht sehen kann.

Jamie lacht. »Dein Dad meint, du kannst es dir selbst so einrichten, wie du magst.«

Ich sehe mich in diesem, meinem Zimmer um, umkreise den beigefarbenen Teppich und schaue in die Einbauschränke. Die Schiebetüren sind verspiegelt. Viel cooler als mein winziger Schrank zu Hause. Und es gibt ein eigenes Bad. Ich werfe einen Blick hinein und ziehe zufrieden die Augenbrauen hoch. Die Dusche sieht aus, als hätte sie noch nie jemand benutzt.

»Gefällt es dir?«, fragt Dad hinter mir. Der Klang seiner Stimme lässt mich herumfahren, und er begrüßt mich mit einem breiten Lächeln. Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, wann er ins Zimmer gekommen ist. »Tut mir leid, dass es so heiß ist, ich schalte gleich die Klimaanlage an. Gib ihr fünf Minuten.«

»Schon gut«, sage ich. »Ich mag das Zimmer.« Es ist fast doppelt so groß wie meins zu Hause in Portland, und so schlicht es auch sein mag, ist es fast unmöglich, es nicht zu mögen.

»Hast du Hunger?« Fragen sind offenbar das Einzige, worin Dad zurzeit richtig gut ist. »Du warst den ganzen Nachmittag unterwegs, da musst du ja halb verhungert sein. Was möchtest du essen?«

»Nichts, danke«, sage ich. »Ich glaube, ich gehe eine Runde laufen. Mir die Beine vertreten und so.« Ich will meine tägliche Laufroutine nicht unterbrechen, und eine schnelle Joggingrunde scheint mir eine gute Möglichkeit, die Nachbarschaft zu erkunden.

Auf dem alternden Gesicht meines Vaters sehe ich Zweifel. Er runzelt die Stirn und seufzt, als hätte ich ihn gebeten, mir Gras zu kaufen.

»Dad«, sage ich nachdrücklich. Ich lege den Kopf schief und ringe mir ein freundliches, aber falsches Lachen ab. »Ich bin sechzehn. Ich darf schon alleine raus, und ich will mich nur ein bisschen umschauen.«

»Nimm wenigstens Jamie mit«, schlägt er vor. Jamie zieht die Augenbrauen hoch – ob neugierig oder überrascht, kann ich nicht genau sagen. »Jamie«, sagt Dad, »du joggst doch gern, oder? Würdest du Eden begleiten, damit sie sich nicht verläuft?«

Jamie lächelt mitfühlend und sagt: »Klar, ich geh mich umziehen.« Wahrscheinlich kennt er das Problem überfürsorglicher Eltern, die einen wie ein fünfjähriges Kind behandeln.

Alles in allem sieht es so aus, als stünde mir ein ganz fabelhafter Start hier in Santa Monica bevor. Es ist gerade mal der erste Tag, und schon ist die Spannung zwischen Dad und mir fast unerträglich. Ich werde gezwungen, an einer Grillparty mit einer Horde Fremder teilzunehmen und bekomme Geleitschutz für eine simple Joggingrunde.

Es ist gerade mal der erste Tag, und ich bereue schon, dass ich hergekommen bin.

»Lauft nicht zu weit«, sagt Dad, bevor er geht. Er lässt die Tür offen, obwohl ich ihm hinterherrufe, er soll sie zumachen.

Jamie legt eine Hand an den Türrahmen. »Willst du jetzt gleich los?«, fragt er.

Ich zucke die Achseln. »Wenn es dir recht ist.«

Mit einem knappen Nicken verlässt er das Zimmer. Er denkt wenigstens daran, die Tür zuzumachen.

Weil ich nicht zu viel Zeit im Haus verschwenden will – besonders, da die Klimaanlage nicht zu funktionieren scheint –, hieve ich meinen Koffer auf die weiche Matratze und öffne den Reißverschluss. Erfreut stelle ich fest, dass alle meine Habseligkeiten vom Laptop bis zur Lieblingsunterwäsche heil und unversehrt angekommen sind. Normalerweise quillt nach einer Reise die Hälfte meiner Sachen aus dem Koffer, weil die Gepäckabfertiger oft so miserabel sind. Ich arbeite mich zum Boden meines Koffers vor, weil meine Laufklamotten das Erste waren, was ich eingepackt habe.

Als ich in mein Luxusbad stolziere, um mich frischzumachen und umzuziehen, vibriert mein Handy als freundliche Erinnerung daran, dass sich der Akku bald verabschieden wird. Mir fällt ein, dass ich Amelia nach der Landung anrufen sollte, also lege ich die Shorts und den Sport-BH auf den Waschbeckenrand und setze mich im Schneidersitz auf den blitzblanken Toilettendeckel. Da ich meine beste Freundin auf Kurzwahltaste habe, wird schon Nanosekunden später die Verbindung hergestellt.

»Hallöchen«, meldet sich Amelia mit einer albernen Stimme, die wie eine Mischung aus Comicfigur und Sportkommentator klingt.

»Hallo«, erwidere ich im gleichen Ton und lache. Doch dann seufze ich. »Hier ist es ätzend. Kann ich nicht den Sommer über zu dir kommen?«

»Das wäre toll. Es ist jetzt schon total komisch ohne dich.«

»So komisch, wie seine neue Stiefmutter kennenzulernen?«

»Nicht ganz«, sagt Amelia. »Ist sie okay? Sie ist doch nicht so eine superfiese Stiefmutter wie in Cinderella, oder? Und was ist mit den Stiefbrüdern? Haben sie dich schon zum Babysitten verdonnert?«

Ich schüttle den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen kann. Wenn sie wüsste, dass es genau andersrum ist. »Eigentlich sind es keine Kinder mehr.«

»Was?«

»Eher, na ja, Jugendliche.«

»Jugendliche?«, wiederholt sie. Vor meiner Abreise habe ich sie zwei Wochen lang ununterbrochen damit zugetextet, wie viel Angst ich vor dem Zusammentreffen mit meinen Stiefbrüdern hätte, weil ich mit Kindern unter sechs Jahren einfach nicht klarkomme. Wie sich herausstellt, sind sie alle deutlich älter.

»Ja«, sage ich. »Sie sind okay. Einer ist ein bisschen schüchtern, aber er ist der Jüngste, da ist das wohl normal. Der andere ist ein bisschen älter, und ich glaube, wir werden uns gut verstehen. Wer weiß. Er heißt Jamie.«

»Ich dachte, du hättest drei Brüder«, sagt Amelia. »Du hast gesagt, es sind drei.«

»Den dritten habe ich noch nicht getroffen«, erkläre ich. Bis zu diesem Moment hatte ich vergessen, dass ich nicht nur zwei, sondern drei Brüder habe, die sich ein Urteil über mich bilden werden. »Wahrscheinlich lerne ich ihn nachher kennen. Jetzt will ich mit Jamie joggen gehen.«

»Eden«, sagt Amelia in strengem, aber freundlichem Ton. »Du bist gerade erst angekommen. Entspann dich. Du siehst gut aus.«

»Nein.« Ich klemme mir das Handy mit der Schulter ans Ohr und ziehe die Schuhe aus. »Haben sie noch irgendwas über mich gesagt?«, frage ich langsam, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen will. Aber diese Neugier ist immer da, sie nagt an mir, und ich kann mich nicht dagegen wehren. Jedes Mal werde ich schwach.

In der Leitung herrscht Schweigen. »Denk nicht daran, Eden.«

»Das heißt dann wohl ja«, sage ich hauptsächlich zu mir selbst. Es ist nur ein Flüstern, so leise, dass Amelia mich eigentlich nicht gehört haben kann. Wieder vibriert mein Handy. »Hör mal, der Akku ist gleich leer. Heute Abend muss ich zu einem öden Grillfest bei Dad im Garten. Wenn da alle blöd sind, schreibe ich dir die ganze Zeit SMS, damit ich nicht ganz vergesse, dass ich Freunde habe.«

Amelia lacht, und ich kann mir denken, dass sie übertrieben mit den Augen rollt, wie sie es so oft macht. »Klar. Halt mich auf dem Laufenden.«

Bevor ich auch nur Tschüss sagen kann, lässt mich mein Handy im Stich, also lege ich es auf den Waschbeckenrand und greife stattdessen zu meinen Laufsachen. Joggen ist toll, um den Kopf frei zu kriegen, und genau das will ich jetzt. Mühelos schlüpfe ich in die Laufklamotten – das mache ich so oft, dass ich es inzwischen im Schlaf könnte –, dann gehe ich nach unten und betrete zum ersten Mal die Küche. Hier werde ich von schwarz glänzenden Arbeitsflächen, weiß glänzenden Schränken und noch schwärzer glänzendem Fußboden empfangen. Alles strahlt um die Wette.

»Wow«, sage ich, betrachte erst die Wasserflasche in meiner Hand und dann das blitzblanke Spülbecken unter dem Fenster. Fast habe ich Angst, es zu benutzen.

»Gefällt’s dir?«, fragt Dad, und erst da bemerke ich, dass er schon wieder da ist. Ständig taucht er wie aus dem Nichts auf, so, als würde er mich auf Schritt und Tritt verfolgen.

»Die ist doch erst gestern eingebaut worden, oder?«

Er schmunzelt und sieht mich kopfschüttelnd an, dann geht er zum Spülbecken und dreht den Wasserhahn auf. »Hier. Jamie wartet vor dem Haus auf dich. Er dehnt sich schon mal.«

Ich schlurfe um die Kücheninsel herum, fülle ungeschickt die Flasche, bis sie überläuft, und schraube den Deckel drauf. Schleunigst verziehe ich mich aus der Küche, bevor Dad noch irgendetwas sagen kann. Keine Ahnung, wie ich acht Wochen mit ihm überstehen soll.

Endlich bin ich draußen bei Jamie, der auf dem Gehweg hin und her trabt. Als er mich sieht, bleibt er stehen und grinst. »Ich mach mich nur warm.«

»Darf ich mitmachen?«

Er nickt, ich trinke schnell einen Schluck Wasser, und stelle mich dann neben ihm auf. Wir drehen ein paar langsame Runden um den Rasen, und dann laufen wir los und joggen in gemütlichem Tempo durch die schöne Wohngegend.

Zum ersten Mal seit Langem laufe ich ohne Musik, allerdings nur, weil ich es unhöflich fände, Jamie ganz auszublenden. Wir unterhalten uns kurz, und hin und wieder sagt einer von uns »Ein bisschen langsamer?«, das ist alles. Aber das macht mir nichts. Die Sonne knallt vom Himmel, als wären ihre Strahlen in der letzten Stunde stärker geworden, und die Gegend ist wirklich schick. Anwohner gehen mit ihren Hunden spazieren, fahren Fahrrad oder schieben Kinderwagen; vielleicht verliebe ich mich ja doch noch in diese Stadt.

»Hasst du deinen Vater eigentlich?«, fragt Jamie plötzlich, als wir auf dem Rückweg sind. Die Frage kommt so unerwartet, dass ich fast über meine eigenen Füße stolpere.

»Was?« ist das Einzige, was mir als Antwort über die Lippen kommt. Ich sammle meine Gedanken und richte den Blick vor mir auf den Gehweg. »Es ist … kompliziert.«

»Ich mag ihn«, sagt Jamie, oder besser gesagt keucht er es. Ich bin überrascht, dass er überhaupt noch mit mir mithalten kann.

»Oh.«

»Ja. Aber zwischen euch beiden ist es irgendwie unentspannt.«

»Stimmt.« Auf der Unterlippe kauend, überlege ich, wie ich das Thema wechseln könnte. »Hey, das Haus da drüben ist ja cool.«

Jamie ignoriert mich völlig. »Warum ist es so unentspannt?«

»Weil er nervt«, antworte ich schließlich. Und das stimmt. Mein Vater nervt. »Es nervt, dass er uns verlassen hat. Es nervt, dass er nie anruft. Er nervt einfach total.«

»Hab’s geschnallt.«

Damit ist unsere Unterhaltung beendet. Wir joggen nach Hause zurück, dehnen uns auf dem Rasen und gehen dann rein zum Duschen. Dad lässt es sich nicht nehmen, uns auf dem Weg nach oben an die Grillparty zu erinnern, die in zwei Stunden anfängt. Jamie und ich nicken uns zu, dann verschwindet jeder in sein eigenes Zimmer.

Weil ich mich jetzt eklig und verschwitzt fühle, schließe ich nur schnell das iPhone zum Laden an und stelle mich dann sofort unter die funkelnde Dusche. Das Wasser tut richtig gut, und ich dusche eine halbe Stunde lang, wovon ich die meiste Zeit einfach dastehe und den heißen Dampf genieße. Zu Hause war Duschen nie so schön.

Letztendlich brauche ich die verbleibenden anderthalb Stunden, um mich fertig zu machen. Am liebsten würde ich in Jogginghosen auf der Terrasse auftauchen, aber ich glaube nicht, dass Ella das so gut fände. Also krame ich eine enge Hose und einen Blazer aus dem Koffer. Sportlich-elegant, das müsste gehen.

Ich ziehe mich an, föhne mir die Haare und drehe sie in leichte Wellen ein, anschließend lege ich frisches Make-up auf. Als ich gerade etwas Körperspray aufsprühe, dringt der Geruch von … Grillfleisch in mein Bad. Es muss kurz vor sieben sein.

Ich gehe nach unten und folge dem Duft in die Küche. Durch die offenstehenden Terrassentüren sehe ich, dass das Gartenfest bereits in vollem Gange ist. Von irgendwoher kommt Musik, Erwachsene schlendern in Grüppchen über den Rasen, und auch sonst ist für alles gesorgt, was solche Veranstaltungen so ätzend macht. Ich entdecke Chase, der mit ein paar Kindern in seinem Alter im Pool ist. Dann sehe ich Dad, der versucht, gleichzeitig Burger auf dem Grill zu wenden und einen Tanzschritt aus den Achzigern hinzulegen. Er sieht unglaublich peinlich aus.

»Eden!«, ruft jemand. Ich blicke mich suchend um und stelle irritiert fest, dass es Ella ist. »Komm raus zu uns.«

Wenn ich einen Anfall vortäusche, kann ich mich vielleicht zurück in mein Zimmer flüchten. Oder, noch besser, gleich nach Hause. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich hab nicht auf die Zeit geachtet.«

»Aber nein, nein, alles bestens«, sagt Ella. Sie schiebt sich die Sonnenbrille in die Haare und kommt kurz ins Haus, um mich nach draußen zu ziehen. »Hoffentlich hast du Hunger.«

»Na ja, eigentlich …«

»Das sind unsere Nachbarn von gegenüber«, unterbricht sie mich und nickt dem Paar in den mittleren Jahren zu, das gerade vor uns steht. »Dawn und Philip.«

»Wie schön, dich kennenzulernen, Eden«, sagt Dawn. Offenbar haben Dad oder Ella oder beide schon jeden von meiner Anwesenheit in Kenntnis gesetzt. Philip lächelt mich schief an.

»Gleichfalls«, gebe ich zurück und weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Erzählen Sie mir doch Ihre Lebensgeschichte. Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus, Dawn und Philip? Stattdessen lächle ich.

»Unsere Tochter müsste auch bald kommen«, fährt Dawn fort, und sofort fühle ich mich unbehaglich. »Sie kann dir Gesellschaft leisten.«

»Oh, cool«, sage ich und wende den Blick ab. Freundschaften mit anderen Mädchen zu schließen hat noch nie zu meinen Stärken gehört. Mädchen machen mir Angst. Und wenn ich sie nicht kenne, ist es noch schlimmer. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sage ich und lächle zum Abschied.

Panisch ergreife ich die Flucht vor ihnen und Ella und hoffe, weiteren peinlichen Vorstellungsrunden zu entgehen. Eine knappe Dreiviertelstunde lang funktioniert es. Ich stehe am Zaun rum und verziehe das Gesicht über den furchtbaren Mainstream-Mist, der aus den Lautsprechern am anderen Ende des Gartens kommt. Es ist mir schon peinlich, überhaupt nur hier zu sein. Als das Essen endlich fertig ist und alle ordentlich zulangen, übertönt der Stimmenlärm wenigstens die entsetzliche Popmusik. Ich stochere ein paar Minuten in meinem Burger herum, bevor ich den ganzen Teller in den Müll schmeiße. Und als ich gerade denke, dass ich Ella den kompletten Abend erfolgreich aus dem Weg gegangen bin, beschließt sie, mich zu jedem einzelnen Gast zu schleifen, um mich als ihre neue Stieftochter vorzustellen.

»Da ist ja Rachael«, sagt sie, als sie mich zum nächsten Nachbargrüppchen führt.

»Rachael?«, wiederhole ich. Falls sie mir schon vorgestellt wurde, habe ich es vergessen. Innerhalb der letzten Stunde musste ich mir so viele neue Namen merken, dass ich anfange, sie alle auszublenden.

»Die Tochter von Dawn und Philip«, erklärt mir Ella. Sie deutet hinter mich und ruft, bevor ich mich auch nur umdrehen kann: »Rachael, hier sind wir!«

Mist. Ich hole tief Luft, rede mir ein, dass sie nett und freundlich sein wird, und tackere mir das breiteste, falscheste Lächeln ins Gesicht, das ich zustande bringe. Das Mädchen kommt zu uns.

»Oh. Ähm. Hi«, plappere ich.

Ella strahlt uns an. »Eden, das ist Rachael.«

Rachael lächelt ebenfalls, was dazu führt, dass wir aussehen wie ein Trio von Serienkillern. »Hi.« Sie lächelt Ella verlegen an.

Ella kapiert die Message. »Dann lass ich euch mal allein«, sagt sie und schlendert davon, um noch mehr langweilige Gespräche mit langweiligen Menschen zu führen.

»Mit Eltern ist es immer so unentspannt«, sagt Rachael. Allein für diese Aussage mag ich sie schon. »Sitzt du hier schon die ganze Zeit fest?«

Ich wünschte, ich könnte Nein sagen. »Leider.«

Sie hat lange blonde Haare – garantiert nicht ihre natürliche Farbe. Aber das lasse ich ihr durchgehen, weil sie mich anscheinend bis jetzt noch nicht hasst. »Ich wohne gleich gegenüber, und du kennst ja wahrscheinlich noch niemanden hier – also, wir können gern was zusammen machen. Ehrlich, du kannst jederzeit rüberkommen.«

Der Vorschlag überrascht mich, und doch bin ich dankbar. Auf keinen Fall werde ich acht Wochen lang mit meinem Dad und seiner neuen Familie im Haus rumsitzen. »Ja, das klingt gut …« Meine Worte verlieren sich, als meine Aufmerksamkeit durch etwas vor dem Haus abgelenkt wird.

Die Lücken im Gartenzaun geben ein wenig Blick auf die Straße frei. Mit zusammengekniffenen Augen spähe ich hindurch. Da draußen läuft irrsinnig laute Musik, so laut, dass ich sie trotz des scheußlichen Gedudels hier im Garten hören kann, und dann rast ein schnittiges weißes Auto auf den Gehweg und rutscht an der Bordsteinkante entlang. Ich verziehe angewidert das Gesicht. Der Motor wird abgestellt, und die Musik reißt ab.

»Was ist denn da?«, fragt Rachael, aber ich bin zu sehr mit Gucken beschäftigt, um auch nur an eine Antwort zu denken.

Die Wagentür wird so grob aufgestoßen, dass ich überrascht bin, dass sie nicht gleich abfällt. Es ist schwierig, durch den Zaun etwas zu erkennen; ein großer, junger Mann steigt aus und knallt die Tür genauso gewaltsam zu, wie er sie geöffnet hat. Einen Augenblick zögert er, starrt das Haus an und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Wer er auch ist, er sieht extrem aufgebracht aus. Als hätte er eben seine gesamten Ersparnisse verloren oder als wäre sein Hund gerade gestorben. Und dann kommt er direkt aufs Gartentor zu.

»Was ist das denn für ein Vollidiot?«, raune ich Rachael zu, als der Typ näher kommt.

Bevor eine von uns noch etwas sagen kann, beschließt der Idiot, das Gartentor mit der Faust aufzustoßen und zieht damit alle Blicke auf sich. Als würde er es darauf anlegen, dass ihn keiner leiden kann. Ich komme zu dem Schluss, dass er vermutlich der Nachbar ist, den alle hassen und der jetzt wutschnaubend angestürmt kommt, weil er nicht zur ödesten Grillparty eingeladen wurde, die je ein Mensch veranstaltet hat.

»Entschuldigt die Verspätung«, sagt der Idiot sarkastisch und noch dazu laut und mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen. Seine Augen blitzen grün wie Smaragde. »Habe ich irgendwas verpasst – bis auf das Abschlachten der Tiere?« Dann zeigt er, wenn ich richtig sehe, dem Grill den Mittelfinger. »Hoffentlich hat euch die Kuh geschmeckt, die ihr gerade vertilgt habt.« Und dann lacht er. Er lacht, als wären all die angewiderten Gesichter das Unterhaltsamste, was er in diesem Jahr zu sehen bekommen hat.

»Will noch jemand Bier?«, höre ich Dad in die verstummte Menge rufen, und als sich alle leise lachend wieder ihren Gesprächen zuwenden, sehe ich den Vollidioten durch die Terrassentüren ins Haus verschwinden. Er knallt sie so fest zu, dass ich das Glas beinahe zittern sehen kann.

Ich bin baff. Ich habe keine Ahnung, was hier gerade passiert ist, wer das war oder warum er gerade ins Haus gegangen ist. Als ich merke, dass mir die Kinnlade runterhängt, klappe ich den Mund zu und wende mich an Rachael. Sie beißt sich auf die Lippe und setzt ihre Sonnenbrille auf. »Ich nehme mal an, du hast deinen Stiefbruder noch nicht kennengelernt?«

Kapitel 3

Ich weiß nicht genau, was ich mir von Los Angeles erwartet hatte, aber eins kann ich mit Sicherheit sagen: Einen Geisteskranken als Stiefbruder zu haben hat bestimmt nicht dazugehört.

»Er ist der dritte?«, zische ich, während die anderen Gäste den Vorfall einfach ignorieren. Ich hingegen kriege diese bizarre Szene einfach nicht mehr aus dem Kopf. Für wen hält sich dieser Typ?

»Äh, ja«, sagt Rachael lachend. »Du hast mein volles Mitgefühl. Und ich hoffe inständig für dich, dass dein Zimmer nicht in der Nähe von seinem liegt.«

»Warum?«

Plötzlich wirkt sie ein wenig nervös, so, als wäre ich gerade ihrem dunkelsten Geheimnis auf der Spur – einem Geheimnis, das ihr entsetzlich peinlich ist. »Er kann einem wirklich auf die Nerven gehen. Aber hey, dazu sollte ich besser nichts sagen. Das geht mich nichts an.« Mit geröteten Wangen und einem schiefen Lächeln wechselt sie schnell das Thema. »Hast du morgen schon was vor?«

»Ja«, sage ich, in Gedanken noch bei dem, was sie über mein Zimmer gesagt hat. »Äh, Moment, nein. Entschuldige, ich weiß auch nicht, warum ich ja gesagt habe. Äh …« Gar nicht peinlich, Eden.

Zum Glück schreibt Rachael mich dafür noch nicht als total bescheuert ab, sondern lacht wieder. »Sollen wir was unternehmen? Wir könnten zur Promenade gehen oder so.«

»Klingt gut.« Ich bin immer noch ein bisschen verwirrt und verärgert über den unverschämten Auftritt dieses Vollidioten. Hätte er nicht einfach die Haustür nehmen können? Oder den Mund halten?

»Da kann man irre toll shoppen.« Rachael redet weiter und wirft dabei immer wieder ihre blonden Haarsträhnen zurück, die ich jedes Mal ins Gesicht kriege. Endlich hört sie auf, über die Promenade zu plappern, und sagt: »Ich muss langsam mal los, hab noch ’ne Menge Zeug zu erledigen. Sorry, dass ich nicht länger bleiben kann. Mom wollte, dass ich auf dem Weg nach Hause kurz vorbeischaue und Hallo sage. Also, hallo.«

»Hallo.«

»Dann bis morgen«, sagt sie, verschwindet genauso schnell, wie sie gekommen ist, und lässt mich mit einem Haufen angetrunkener Erwachsener allein. Und mit Chase, der gerade auf mich zukommt.

»Eden«, sagt er. Er spricht meinen Namen so langsam und vorsichtig aus, als würde er ausprobieren, wie er ihm über die Lippen geht. »Eden«, wiederholt er, diesmal schneller und mutiger. »Weißt du, wo die Limo ist?« Langsam rücken auch seine Freunde näher; mit großen unschuldig-ängstlichen Augen schauen sie mich an. Genau, denke ich, weil ich ja ach-so-einschüchternd bin.

»Wahrscheinlich auf dem Tisch«, vermute ich. »Frag doch deine Mutter.«

»Die ist drinnen«, sagt Chase. In diesem Moment schubst ihn einer seiner Freunde auf mich zu und lacht, als wäre das der Gag des Jahrhunderts. Chase stolpert gegen mich, rappelt sich aber sofort wieder auf und weicht sichtlich verlegen ein Stück zurück. Ich spüre, dass mein Oberteil nass geworden ist. »Entschuldige«, sagt er und betrachtet den leeren Plastikbecher in seiner Hand, der vor einer Sekunde noch zu einem Viertel voll war.

»Schon okay«, sage ich. Eigentlich ist es sogar richtig klasse. Jetzt kann ich reingehen und mich umziehen und so dieser schrecklichen Grillparty entkommen. Ich ergreife also schnell die Flucht und laufe beschwingt, fast fröhlich ins Haus. Vielleicht hat Dad ja ein Bier zu viel intus und merkt es gar nicht, wenn ich den ganzen Abend nicht wieder rauskomme. Ich könnte in meinem sagenhaft schlichten Zimmer abhängen und Mom anrufen, mit Amelia videochatten oder mir vielleicht beide Beine brechen. Alles davon hört sich besser an, als allein hier draußen rumzustehen.

Mit einem erschöpften Seufzen – es war ein verdammt anstrengender Tag – gehe ich zur Treppe. Aber ich habe kaum einen Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als ich aus dem Wohnzimmer lautes Geschrei höre. Neugierig und fasziniert, komme ich gar nicht erst auf die Idee, es zu ignorieren. Also schleiche ich zur Wohnzimmertür, die einen schmalen Spalt offen steht.

Aus meinem eingeschränkten Blickwinkel sehe ich, wie Ella die Augen schließt, die Hände vors Gesicht legt und sich die Schläfen reibt. »Ich bin nicht mal zu spät«, höre ich eine männliche Stimme vom anderen Ende des Zimmers. Der Tonfall ist scharf, und ich erkenne auf Anhieb, dass es der Vollidiot ist.

»Du bist zwei Stunden zu spät!«, schreit Ella. Sie schlägt die Augen auf, und ich weiche hastig einen Schritt zurück, weil ich fürchte, sie könnte mich entdecken.

Der Idiot lacht. »Hast du echt geglaubt, ich komm nach Hause, um mir euer beschissenes Grillfest zu geben?«

»Was ist wirklich los? Vergiss doch das Grillen.« Ella läuft auf dem cremefarbenen Teppich auf und ab; jetzt kommt auch er kurz in mein Blickfeld. »Schon bevor du aus dem Wagen gestiegen bist, hast du dich wie ein trotziges Kind aufgeführt. Was ist los?«

Er ist ein bisschen außer Atem, presst die Lippen zusammen und legt den Kopf schief. »Nichts«, sagt er zähneknirschend.

»Das ist eindeutig nicht nichts.« Ellas Stimme klingt streng und strafend, weit entfernt von dem freundlichen Ton, den sie mir gegenüber zuvor angeschlagen hat. »Du hast mich mal wieder vor der ganzen Nachbarschaft lächerlich gemacht.«

»Na und?«

»Ich hätte dich gar nicht erst weglassen sollen.« Jetzt wirkt sie ruhiger, so, als wäre sie vor allem auf sich selbst wütend. »Ich hätte dir verbieten sollen zu gehen. Aber nein, ich wollte natürlich nachsichtig mit dir sein, und das ist der Dank, wie immer.«

»Ich wäre so oder so gegangen«, kontert der Idiot und schüttelt höhnisch lachend den Kopf. Er dreht mir den Rücken zu, was mir Gelegenheit gibt, ihn halbwegs in Ruhe zu mustern – vorhin ist er ja so schnell an uns vorbeigestürmt, dass ich kaum etwas erkennen konnte. »Was willst du dagegen machen? Mir wieder Hausarrest geben?« Er hat eine tiefe, heisere Stimme und fast pechschwarze Haare, die zerzaust, aber gepflegt sind. Er ist breitschultrig und groß. Sehr groß, fast zehn Zentimeter größer als Ella.

»Du bist unmöglich«, sagt sie mit zusammengebissenen Zähnen. Dabei fällt ihr Blick für einen Sekundenbruchteil an ihm vorbei und direkt auf mich.

Mir stockt der Atem. Eilig trete ich den Rückzug an und hoffe inständig, dass sie mich nicht entdeckt hat, dass sie nur die Tür gesehen hat und nicht die Person dahinter. Doch wie sich zeigt, ist die Hoffnung vergebens, denn nur Sekunden später geht die Tür auf, und ich bin noch nicht außer Sichtweite.

»Eden?« Ella tritt in den Flur und schaut auf mich herab – weil ich nämlich lang auf der Treppe liege. Mein überhasteter Versuch hinaufzurennen ist kläglich schiefgegangen.

»Äh«, sage ich. Wären meine Arme nicht wie erstarrt, würde ich jetzt mein Gesicht dahinter verbergen.