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Buch

Bitter enttäuscht von ihrem Freund lässt die junge Architektin Demi ihr Londoner Leben hinter sich und steigt in den Zug nach Cornwall. Dort hofft sie im Cottage ihres Großvaters unterzuschlüpfen. Doch diese Hoffnung zerschlägt sich. Stattdessen vererbt ihr ein gewisser Charles Lake völlig unerwartet einen Anteil an dem herrschaftlichen Anwesen Boscawen. Dessen Witwe Victoria ist alles andere als erfreut über diese Entwicklung. Sie war blutjung, als sie Charles geheiratet hat. Nun liegen lange Jahre in einer Ehe hinter ihr, die sie aus Vernunft, nicht aus Liebe eingegangen war. Nach Charles’ tragischem Unfalltod hoffte sie, freie Hand über Boscawen und vor allem dessen wunderschönen und von ihr innig geliebten Garten zu haben. Als sich dann auch noch herausstellt, dass von Charles’ Vermögen kaum genug Geld übrig ist, um das Landgut zu erhalten, müssen sich die beiden so unterschiedlichen Frauen zusammenraufen, um Boscawen vor dem Verkauf zu bewahren. Doch ein lange gehütetes schmerzliches Geheimnis liegt wie ein tiefer Graben zwischen ihnen. Und so muss sich jede für sich erst ihrer Vergangenheit stellen, bevor Demi und Victoria erkennen können, ob Boscawen ihnen beiden eine Zukunft bieten kann …

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sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

LIZ FENWICK

Ein Garten in Cornwall

Roman

Deutsch

von Kristina Lake-Zapp

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Under A Cornish Sky« bei Orion Books,
an imprint of The Orion Publishing Group, London
Der Abdruck der Passagen aus dem Gedicht »Der Köder« von John Donne geschieht mit freundlicher Genehmigung des Verlags Neue Kritik.
John Donne, »Der Köder« aus Hier lieg ich von der Lieb erschlagen. Lieder und Gedichte / Englisch – Deutsch. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Breitwieser. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main, 1994.
Ausgabe Juli 2016
Copyright © der Originalausgabe 20015 by Liz Fenwick
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Getty Images/David Clapp; Getty Images/Adam Burton

ISBN: 978-3-641-18696-8
V005
www.goldmann-verlag.de
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Für Andrew

Man schreit und springt nicht, man ruft nicht Hurra!, wenn man hört, dass man ein Vermögen bekommen hat. Man fängt an, die Verantwortlichkeiten zu erwägen und über Geschäftsangelegenheiten nachzudenken; auf einer Basis stetiger Zufriedenheit entstehen gewisse ernste Sorgen, und wir zeigen uns zurückhaltend und brüten mit feierlich besorgter Stirn über den uns zuteilgewordenen Segen.

Charlotte Brontë, Jane Eyre

Prolog

Kein Vermächtnis ist so reich als Ehrbarkeit.

Shakespeare, Ende gut, alles gut

Die Augen sehen sie an, und Demi lacht. Sie dreht sich zu dem Kind neben ihr um, dem Jungen, mit dem sie die ganze Woche über gespielt hat, aber er ist nicht da. Das Mädchen, das auf sie aufpasst, auch nicht. Sie ist allein mit dem Schmetterling und dem Sonnenschein. Der Schmetterling ist so schön. Sie tritt näher heran, und er fliegt davon, um auf einer Blüte zu landen. Demi schaut sich um und beschließt, ihm zu folgen. Er wird in die Richtung fliegen, in die die anderen gegangen sind. Vielleicht ist der Schmetterling in Wirklichkeit eine Fee oder ein kornischer Kobold. Mummy behauptet, Kobolde seien ungezogen, genau wie Demi, wenn sie ihre Karotten nicht isst.

Der Schmetterling verweilt einen kurzen Moment, doch im nächsten ist er schon wieder fort. Demi versucht, ihn zu fangen, aber das gelingt ihr nicht. Wenn sie wieder im Hotel ist, will sie den Schmetterling für Mummy malen.

Die lila Augen auf seinen Flügeln flattern, und er schwingt sich erneut in die Lüfte. Es muss eine Fee auf dem Rücken des Schmetterlings sitzen. Jetzt sinkt er wieder hinab, ruht sich aus, dann schwebt er taumelnd auf den Wald und die Blauglöckchen zu. Ihre Großmutter hat ihr alles über die Blauglöckchen erzählt. Dort, wo sie wachsen, wohnen die Feen, und sie darf niemals ohne Grannie oder Grandad einen Blauglöckchenwald betreten, sonst wird sie von den Feen in eine Falle gelockt. Die Großmutter hat ihr das vor langer Zeit erzählt, als sie noch sehr klein war. Aber der Schmetterling mit den lila Augen auf den Flügeln fliegt in den Wald, und Demi folgt ihm. Sie ist jetzt so groß, dass die Feen sie nicht fangen können, denn sie kann ganz schnell laufen.

Der Weg schlängelt sich durch die Bäume. Demi folgt ihm hüpfend und singt dabei ein Lied, das Grannie ihr beigebracht hat: »Blauglöckchen, Blauglöckchen, du bist wunderschön. Kannst du in die Zukunft seh’n? Blauglöckchen, Blauglöckchen, siehst du mich im Liebensreigen? Kannst du mir meinen Liebsten zeigen?« Sie bleibt stehen und lauscht. Werden die Blauglöckchen ihr verraten, wer sie liebt? Mummy liebt sie, Grannie liebt sie, Grandad liebt sie, und Charlie liebt sie. Das weiß sie auch ohne die Blauglöckchen.

Sonnenlicht fällt durch die Bäume und lässt den Grund blau und lila leuchten. Demi nimmt den Buntstift aus ihrer Tasche und tut so, als würde sie die Bäume und Blumen malen. Die Sonne steht hoch am Himmel. Ihr Magen knurrt, ihr Kopf tut weh. Sie wirbelt im Kreis, dreht sich und dreht sich, bis sie zu Boden fällt. Der Schmetterling verschwindet, und sie ist allein.

Sie ist im Feenwald, das weiß sie. Sie kann ihren Zauber spüren.

Ein Schmetterling schwebt in taumelndem Flug vor ihren Augen vorbei und teilt das Sonnenlicht für einen winzigen Augenblick in zwei Hälften. Eine Brise weht durch die Blauglöckchen. Demi schaudert. Werden sie läuten? Was hatte Grannie noch gleich gesagt? Wenn du die Blauglöckchen läuten hörst, stirbt jemand. Mummy hatte ihr verboten, Demi diese alten abergläubischen Geschichten zu erzählen. Demi legt die Hände über die Ohren, aber sie hört das Läuten trotzdem. Sie steht auf. Der Wind bläst nun kräftiger, und sie schaudert. Sie muss von hier fort. Ein Zweig knackt, und Demi schaut sich um. Sie kann nichts sehen außer Blumen und Bäumen. Sie läuft los und stolpert. Stürzt auf die ausgestreckten Hände. Schmerz. Blut. Tränen. Sie steht auf. Sie muss weiterlaufen, aber sie ist völlig außer Atem. »Mummy!«, schreit sie. Ihre Stimme wird vom Wind davongetragen. Mummy wird ihr Rufen nicht hören.

Ein Schatten verdunkelt den Weg. Demis Magen schnürt sich vor Angst zusammen. Es muss die Kowres sein, die furchteinflößende Riesin, von der Grannie erzählt hat. Sie wird sie fressen, wenn sie sich über das hintere Ende des Gartens hinauswagt. Die Großmutter hat ihr eine solche Riesin gezeigt, die sich auf dem Feld in Stein verwandelt hat, ganz in der Nähe, wo Grannie aufgewachsen ist.

Ihre Knie, die Hände und der Kopf tun weh, aber sie muss der Kowres entkommen. Sie wird sie fressen. Die Großmutter behauptet, die Kowres würde gerne Kinder verschlingen, die nicht tun, was man ihnen sagt.

Die steinerne Riesin ragt drohend vor ihr auf. Sie läuft darauf zu, weg von der anderen Kowres hinter ihr. Sie versucht, sich zu verstecken, aber die Kowres schnappt sie. Sie hat sie erwischt! Sie kann Ingwer riechen. Wird die Kowres sie fressen? Hat sie deshalb die Blauglöckchen läuten hören?

Frühling

Ein Sohn kann dem Verlust seines Vaters mit Gleichmut begegnen,

der Verlust seines Erbes hingegen könnte ihn in die Verzweiflung treiben.

Niccolò Machiavelli

Eins

Der Duft nach Geißblatt wehte durch das offene Fenster, Spätnachmittagssonnenschein fiel auf die zerwühlten Laken. Victoria lächelte. Der Duft von Adams Rasierwasser hing noch in der Luft. Sie zog die Decke über das Bett und schüttelte die Kissen auf. Es war schön und gut, einen trägen Nachmittag lang Sex mit ihrem jungen Geliebten zu haben, aber es wäre wirklich unangenehm, wenn Charles hereinspazierte und die Spuren dieses Nachmittags entdeckte. Vor ein paar Minuten hatte sie seinen Wagen die Auffahrt entlangkommen hören.

Sie nahm das grüne Seidenkleid vom Bügel und zog es sich über den Kopf. Was für ein wunderbares Gefühl, wenn der kühle Stoff über ihre Brustspitzen glitt! Sie schauderte. Es war eine Schande, dass sie zu dieser Party gehen mussten. Charles hätte genauso gut noch eine Weile in London bleiben können, dann hätte sie den ganzen Abend mit Adam genießen können, nicht nur den Nachmittag. Er machte sich ausgezeichnet, ganz zu ihrer Zufriedenheit. Besitz, alte Häuser und Sex … die absolute Wonne.

Victoria fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Obwohl es vor ein paar Jahren seine frühere Farbe verloren hatte, wirkte es nicht alt und grau, sondern glänzte wie polierter Stahl, auch die Struktur war nahezu unverändert. Sie legte Ohrringe an, dann griff sie nach ihrer Perlenkette. Charles hatte sie ihr zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Natürlich hatte sie sie selbst ausgewählt und sie exakt auf ihren Teint abgestimmt. Perlen zauberten einen so wundervollen Schimmer auf das Gesicht! Sie berührte ihren Hals. Trotz jahrelanger Sonneneinstrahlung war ihre Haut gut. Nicht nötig, einen Chirurgen aufzusuchen.

Sie streckte den Rücken durch und versuchte, die Kette im Nacken zu schließen, aber nur durch Tasten ließ sich das nicht bewerkstelligen. »Wo ist meine Brille?«, fragte sie laut und ließ den Blick über die Ablageflächen in ihrem Schlafzimmer schweifen.

»Auf deinem Kopf.« Charles stand in der Tür. Er trug einen dunklen Anzug, der trotz des raffinierten Schnitts seinen Bauch nicht kaschierte.

»Danke. Warum der Anzug?«

»Geschäftlich.« Er trat von einem Fuß auf den anderen.

»Dann hast du dein Ausscheiden aus dem Berufsleben also rückgängig gemacht?« Das wäre in der Tat eine hervorragende Nachricht.

»Nein.« Er ging zu ihr und nahm ihr die Perlen aus der Hand. Sie ließ sie sich von ihm um den Hals legen, aber seine Finger kämpften ebenfalls mit dem Verschluss. Sein Aftershave lag in der Luft, und sie wünschte sich, er würde sparsamer damit umgehen. Nach vierzig Jahren reagierte ihre Nase äußerst sensibel auf diesen Geruch. Als die Perlen endlich gesichert waren, legte er seine Hände auf ihre Schultern und rieb sie sanft. Victoria versuchte, Gefallen daran zu finden, aber es gelang ihr nicht. Er küsste sie seitlich auf den Hals, und sie sah im Spiegel, wie sich Unmut auf ihrem Gesicht bemerkbar machte. Als Charles’ blaue Augen aufblickten und die ihren suchten, änderte sie ihren Ausdruck rasch.

»Du siehst wie immer wunderschön aus, Tori.«

»Danke.« Sie drehte sich in seinen Armen um und richtete seine Krawatte. Er war eine gute Seele – das durfte sie nicht vergessen.

»Bitte hilf mir auf die Sprünge – aus welchem Anlass geben die Smiths diese Party?«

»Sie feiern die Verlobung ihrer Tochter.« Sie schluckte. Das war etwas, was sie nie würden feiern können.

»Ach ja.« Er wandte sich von ihr ab.

»Ich hasse es, wenn du so klingst.« Victoria knirschte mit den Zähnen. Selbst der Ausblick auf den Garten, den ihr Schlafzimmerfenster bot, konnte die Leere in ihr nicht füllen.

»Wovon redest du?« Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch, bevor er sagte: »Ich muss etwas mit dir besprechen. Es ist wichtig.«

Sie wirbelte herum. »Du weißt genau, was ich meine.« Oh, sie verabscheute ihn. Die Traurigkeit in seiner Stimme verdross sie, und jetzt sah er aus wie ein verletzter Welpe. So sollte ein zweiundsechzig Jahre alter Mann unter keinen Umständen aussehen.

»Tori, ich muss wirklich etwas mit dir besprechen.«

Sie schaute zu ihm auf. Ihr Blick streifte den Wecker auf ihrem Nachttisch. »Geht das schnell? Wir sollten schon da sein. Gehst du in deinem Anzug hin?«

»Nein, das geht nicht schnell.« Er blickte an sich hinab auf seine Hose. »Soll ich mich umziehen?«

Victoria seufzte. »Nein. Lass uns aufbrechen.« Sie ging aus dem Schlafzimmer und blieb oben an der Treppe stehen. Von hier aus konnte sie bis hinunter ins Foyer schauen. Sie musste Charles für all das dankbar sein. Ohne sein Geld hätte sie niemals ihren Familiensitz zurückkaufen können, Boscawen. Sie hörte seine schweren Schritte hinter sich, drehte sich lächelnd um und streckte die Hand nach ihm aus. Beinahe auf den Tag genau einundvierzig Jahre waren vergangen, seit sie am Abend ihrer eigenen Verlobungsfeier zusammen diese Stufen hinabgeschritten waren. Victoria schauderte, als sie an die erwartungsvollen Gesichter dachte, die sie unten erwartet hatten. Nur ein einziges Gesicht hatte nicht gelächelt.

»Tori, wo bist du?« Charles drückte ihre Hand.

»Entschuldige, hast du etwas gesagt?«

»Ja, etwas ziemlich Wichtiges. Jetzt behaupte nicht, dass du kein einziges Wort davon mitbekommen hast.« Er runzelte die Stirn, und sie sah, wie sich sein Doppelkinn weiter vervielfältigte, wie immer, wenn er finster dreinblickte.

»Es tut mir leid, ich habe gerade an unsere Verlobungsfeier gedacht.« Das wiederum brachte ihn zum Lächeln.

»Vierzig wundervolle gemeinsame Jahre.« Er küsste sie. »Ich danke dir, Liebling.«

»Es war mir ein Vergnügen«, log sie und nahm die Schlüssel zu seinem Wagen. Wenn sie jetzt nicht aufbrachen, würden sie sich ernsthaft verspäten, vor allem wenn sie das Pech hätten, hinter einem Traktor hängen zu bleiben.

Demi würde ihre Mutter nicht enttäuschen. Das war sie ihrem Andenken schuldig. Morwenna war so stolz auf sie gewesen und auf die Arbeit, die sie hier, bei Bottel & Lampard, geleistet hatte. Gerade heute hätte Demi Morwennas Glauben an ihre Fähigkeiten gebrauchen können. Der Tod ihrer Mutter war vollkommen überraschend gekommen. Wie hatte ihre gesunde, tüchtige Mutter einfach so sterben können? Demi hielt inne und drängte die Woge der Trauer zurück, die sie zu überwältigen drohte. Jetzt war nicht gerade der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Jetzt waren positive Gedanken gefragt. Sie würde diesen Job bekommen. Sie hatte ihn verdient, hatte hart dafür gearbeitet, und natürlich liebte sie ihn auch.

Sie strich ihren Rock glatt und schlug die Knöchel übereinander. Dabei hörte sie die Stimme ihrer Mutter im Kopf, die sie daran erinnerte, beim Sitzen die Schultern zurückzunehmen und sich ja nicht zusammenzukauern, um zu verbergen, was Morwenna ihre Vorzüge genannt hatte. Wie Demi diese »Vorzüge« hasste! Nicht nur dass sie deswegen während der Schulzeit ständig von den Jungs aufgezogen worden war, sie würde damit auch niemals wirklich elegant wirken. Ihre »Vorzüge« zogen einfach zu große Aufmerksamkeit auf sich.

Josh saß ihr gegenüber und wirkte ganz entspannt. Anders als sie wurde er nicht von dem wässrig gleißenden Sonnenlicht geblendet, welches durch das schmutzige Fenster hereinfiel. Sie runzelte die Stirn. Der Architekt, der dieses Gebäude entworfen hatte, hatte nur an die Außenwirkung gedacht und nicht daran, dass man Fenster auch putzen und öffnen musste, um frische Luft hereinzulassen.

Vermutlich war er ein Mann wie Josh gewesen. Mit ihm zusammen hatte Demi ein einjähriges Praktikum absolviert und während dieser Zeit ständig seine Entwürfe verbessern müssen. Er hatte sie um Hilfe gebeten, und sie hatte ihn unterstützt – obwohl sie sich nun fragte, warum, denn am Ende des Jahres würde nur einer von ihnen eine feste Anstellung bekommen. Josh war ganz versessen auf das äußere Erscheinungsbild, die praktischen Aspekte interessierten ihn nicht. Genau deswegen sollte sie diesen Job bekommen, denn sie achtete auf beides, weshalb ihre Entwürfe in jeder Hinsicht stimmig waren. Das war es, was sie am Beruf eines Architekten liebte.

Er sah sie an, dann wandte er den Blick ab. Wer wusste schon, was er während ihres mehrwöchigen Trauerurlaubs getan hatte? Sie hoffte, er hatte sich als Desaster für die Firma entpuppt, weil dieser Job momentan eines ihrer aktuellen Hauptprobleme lösen würde: Geld. Obwohl sie während des Praktikums eine kleine Summe verdient hatte, hatte sie doch das meiste davon ihrer Mutter für die Lebenshaltungskosten gegeben. Die Aufwendungen für das Begräbnis hatten das Konto ihrer Mutter erschöpft. Vermutlich würde Morwennas Lebensversicherung dafür aufkommen, aber noch war diese nicht ausbezahlt worden. Demi holte tief Luft. Es kam ihr immer noch nicht real vor, dass ihre Mutter tot war, und sie wollte es auch nicht wahrhaben, aber so war es nun einmal. Sie konnte es sich im Augenblick nicht leisten, etwas anderes als eine gut bezahlte Vollzeitstelle anzutreten. Wäre nicht ihr Freund Matt, hätte sie nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Demi biss sich auf die Lippe. Darüber nachzugrübeln, wie schrecklich die Dinge momentan für sie standen, brachte sie nicht gerade in die richtige Stimmung für das bevorstehende Einstellungsgespräch.

Ein Schweißtropfen lief ihr den Hals hinab, und sie sah, wie Josh ihm mit den Augen folgte, bis er unter dem Ausschnitt ihrer Bluse verschwand. Es war zu warm für den Blazer, den sie trug, aber wenn sie ihn auszog, würden doch nur alle auf ihr Dekolleté schielen, egal, wie brav ihre Bluse war. Sie würden nicht mit ihr, sondern mit ihrer Brust sprechen. Männer hatten es da leicht. Der schlimmste Fauxpas, den sie sich leisten konnten, war eine unpassende Krawatte – und Joshs Krawatte war ausgesprochen unpassend. Sie zeigte deutlich, dass er keinen Geschmack hatte. Sie würden den Job doch nicht etwa jemandem geben, der einen breiten Schlips mit rosa Punkten zu einem grün gestreiften Hemd und einem Glencheck-Anzug trug? Das wäre gleich aus verschiedenen Gründen ein Fehler.

Ihre eigene Kleidung war schon etwas älter, aber sie drückte eine unaufdringliche Eleganz aus – soweit ihre Kurven das zuließen, dachte sie trocken. Wäre sie diejenige, die die Entscheidung treffen dürfte, würde sie den Bewerber wählen, der die bessere Leistung bringen und dessen Kleidungsstil auf ein gewisses Grundverständnis von Farbe, Form und Design schließen lassen würde.

Draußen grollte Donner, und die Sonne verschwand in just dem Augenblick, in dem sich die Tür des Personalbüros öffnete. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies kein gutes Vorzeichen war. Ihr Konkurrent lächelte in ihre Richtung, doch er vermied direkten Augenkontakt.

»Demi und Josh, bitte kommen Sie herein.« Demi stand auf und stellte sich vor, sie wäre größer als nur eins sechsundfünfzig. Je eher dieses Gespräch vorüber wäre und sie den Job in der Tasche hätte, desto besser.

»Nehmen Sie Platz.« Die Personalchefin, Ms. Jones, ging zu ihrem Schreibtisch. Demi setzte sich ein gutes Stück vom Fenster entfernt. Sie wollte nicht noch weiter zerfließen.

»Zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Sie haben beide während Ihres Praktikums ausgezeichnete Arbeit hier bei Bottel & Lampard geleistet.« Sie lächelte Josh und Demi nacheinander an. Demi legte ihre Hände flach auf ihren Rock. Das hier lief gar nicht gut. Josh hatte keine gute Arbeit geleistet; passabel vielleicht, aber nur, weil sie ihm geholfen hatte.

»Es war mir eine Ehre, Teil des Teams zu sein«, erklärte Josh.

Was für ein Schleimer! Er hatte nichts anderes getan als sich zu beklagen, und ständig versucht, sie anzubaggern. Er war ein Arschloch, aber er war gerissen, das musste sie ihm zugestehen, aber auch nur das.

»Wie Sie wissen, können wir diesmal nur einen von Ihnen übernehmen, und die Entscheidung ist uns wirklich schwergefallen.« Ms. Jones verzog den Mund zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. Demi wusste, was sie sagen würde, als ihr Blick auf Demis linke Hand fiel. Ihr war entschlüpft, dass es ernst wurde mit Matt, und ja, das wurde es auch, dennoch hatte sie nicht vor, sofort eine Familie zu gründen.

»Nach einer ausführlichen Beratung mit dem gesamten Team haben wir daher beschlossen, Josh die Stelle anzubieten wegen der herausragenden Arbeit, die er mit den Entwürfen für die Badezimmer geleistet hat.«

»Aber …«, setzte Demi an, doch Josh erhob sich bereits.

»Wow, vielen Dank.« Er trat zwischen Demi und den Schreibtisch, sodass er der Personalchefin die Sicht verstellte.

Demi stand auf und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Das waren ihre Entwürfe, nicht seine. Das musste sie unbedingt klarstellen. Er gab ihre Arbeit als seine eigene aus. Sie konnte ihm diesen Diebstahl nicht durchgehen lassen. »Diese Entwürfe …« Sie trat an die Seite des Schreibtischs.

»Ach Demi, Ihre Arbeit war exzellenter Standard, aber leider haben wir nur einen Posten zu vergeben, und Josh passt in jeder Hinsicht zu unserer Firma. Selbstverständlich würden wir uns sehr freuen, wenn Sie weiterhin als Praktikantin für uns tätig sein möchten.« Erneut zuckten Ms. Jones’ Mundwinkel in die Höhe, aber das war auch schon alles. »Außerdem werde ich Ihnen ein begeistertes Empfehlungsschreiben ausstellen, sollten Sie beschließen, sich anderweitig umzuschauen.«

Einer der Firmenpartner kam herein. »Glückwunsch, Josh. Ausgezeichnete Arbeit.« Er wandte sich an Demi. »Es tut mir so leid, dass Sie uns verlassen.« Damit wandte er sich ab, und sie war entlassen. Dann begriff sie. »Josh passt in jeder Hinsicht zu unserer Firma.« Wie oft hatte man Demi eingeladen, nach der Arbeit mit ins Pub zu gehen, und sie hatte abgelehnt, um zu Hause bei Matt zu sein. Josh dagegen war jedes Mal mitgegangen. Sie kannten ihn – zumindest dachten sie das –, und sie war eine Idiotin allererster Güte, weil sie das Spiel nicht mitgespielt hatte.

Demi konnte sich nicht von der Stelle rühren. Josh schüttelte jetzt die Hand des Firmendirektors. Er sah Demi nicht an. Er war ein Dieb – aber was konnte sie tun? Hätte sie Einspruch erhoben, hätte sie wie eine schlechte Verliererin gewirkt, außerdem hätte sie trotzdem verloren …

Die restlichen Firmenpartner erschienen, eine Flasche Champagner wurde geöffnet. Niemand sah ihr in die Augen.

»Vielen Dank.« Sie würde das hier so würdevoll hinter sich bringen wie möglich. Ihre Mutter hätte gewollt, dass sie sich charmant und großmütig zeigte. Als der Champagner ausgeschenkt wurde, schlüpfte sie zur Tür hinaus.

Vor dem Personalbüro blieb sie stehen und lehnte sich gegen die Wand. Sie hatte zugelassen, dass jemand anders den Job bekam, der ihr zugestanden hätte. Zorn – auf sich selbst und auf Josh – stieg in ihr auf. Das hier war nicht die Probe für eine Schulaufführung. Das hier war das Leben. Das Überleben. Sollte sie wieder hineingehen und Josh mit seinem Betrug konfrontieren? Nein. Dafür war es zu spät. Hätte sie ihn gleich zur Rede gestellt, hätte es vielleicht funktioniert und nicht den Eindruck erweckt, sie würde aus Missgunst oder gar aus Neid handeln. Es war besser, es dabei zu belassen. Einfacher.

Die Empfangsdame kam den Gang entlang. »Demi, es tut mir so leid, dass man nicht Ihnen den Job angeboten hat.«

Demis Augen weiteten sich. Alle, nicht nur die Firmenpartner, wussten bereits davon. Selbst wenn sie tatsächlich hineinginge und ihnen die Wahrheit sagte, würden sie ihre Entscheidung nicht rückgängig machen. Sie würden wie Narren dastehen, und das wollte niemand, auch sie nicht.

Nicht Demi war die richtige Besetzung für diese Stelle, sondern ein Mann, der die Arbeit anderer als seine eigene ausgab? Mit gesenktem Kopf ging Demi zu ihrem Schreibtisch, um ihren Schirm und ihren Laptop zu holen. Die Sache war gelaufen, allerdings konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass das ihre eigene Schuld war. Ihre Mutter wäre enttäuscht. Vielleicht war es gut, dass sie das nicht mehr miterleben musste. Nein, das konnte nicht gut sein. Demi biss sich auf die Lippe, dann flüchtete sie, bevor sie mit weiterem Mitleid konfrontiert wurde.

Im Gedränge der U-Bahn-Station Westminster kämpfte Demi mit ihrem Schirm, aber er ließ sich nicht öffnen. Nach ein paar Versuchen warf sie ihn einfach in einen Mülleimer und trat hinaus in den Regen. Nutzloser Schirm. Genau dann, wenn sie ihn brauchte, verweigerte das verdammte Ding seine Arbeit. Der Regen peitschte aus allen Richtungen auf sie ein, als wollte er sie für ihre Dummheit bestrafen. Er schlug ihr ins Gesicht und durchnässte ihr Kostüm. Als sie die Mitte der Westminster Bridge erreichte, lehnte sie sich gegen die Mauer. Sie musste nachdenken, sich einen Plan zurechtlegen. Die Regentropfen prasselten auf die Wasseroberfläche der Themse, und nach anfänglichem Widerstand verschmolzen sie friedlich mit dem Fluss, um das zu tun, was Flüsse taten – fließen. Sie hatte keinen Widerstand geleistet, war einfach verschwunden und hatte diesen Fiesling die Lorbeeren für ihre Arbeit einheimsen lassen. Jetzt hatte er einen Job, und das Beste, was Bottel & Lampard für sie einfiel, war ein weiteres Praktikum. Der Bastard hatte für sich beansprucht, was ihr gehörte, während sie ihre Mutter beerdigte. Und was hatte sie dazu gesagt? Was hatte sie dagegen unternommen? Nichts. Sie hatte nicht einmal versucht, Widerstand zu leisten, bevor sie sich unsichtbar gemacht hatte.

Nach einer Weile riss sie sich vom Fluss los und mischte sich unter die übrigen Pendler. Es würde ein nasser Spaziergang zu ihrem Freund werden, aber wenigstens würde dort Wein auf sie warten.

»Kopf hoch, meine Liebe, so schlimm kann es nicht sein«, sagte der Zeitungsverkäufer an der Ecke und reichte ihr eine Zeitung, die sie sich über den Kopf hielt, während sie sein Lächeln erwiderte. Er hatte Recht. So schlimm war es gar nicht. Immerhin hatte sie Matt.

Unterwegs konzentrierte sie sich auf Dinge, auf die sie sich freute, zum Beispiel darauf, offiziell bei ihrem Freund einzuziehen. Seit sie das Apartment ihrer Mutter an den Vermieter übergeben hatte, hatte sie inoffiziell bei Matt gewohnt. Sie schluckte. Nein, sie würde jetzt nicht an ihre Mum denken. Stattdessen wollte sie sich Matts Begeisterung ausmalen, wenn sie Ja zu seinem Angebot sagte, fest mit ihm zusammenzuleben, und sich überlegen, was sie mit seiner Wohnung anstellen würde. Im Augenblick wirkte sie noch ein bisschen fad und trostlos, trotz der Designer-Farbe – ein Lavendelton, der auf den nach Norden gehenden Wänden grau wirkte. Die Einrichtung war wuchtig, schwarz und aus Leder, alles auf den gigantischen Fernseher ausgerichtet. Nicht einfach ein maskuliner Stil; nein, es fehlte die persönliche Note. Demi hatte nie verstanden, wie ein Mann, der sich so gut kleidete und eine solche Sorgfalt auf die Wahl seiner Garderobe legte, so wenig Mühe darauf verwenden konnte, seiner Wohnung einen persönlichen Touch zu verleihen.

Sie lächelte: All das würde sich jetzt ändern. Mit einer Schicht Farbe und ein paar Accessoires würde sie die Wohnung gemütlicher machen, damit sie sich mehr nach ihnen beiden anfühlte – leider hätte sie ja nun mehr als genug Zeit dafür. Matt würde die Veränderungen vermutlich nicht einmal bemerken. Er würde lediglich sein Filmstar-Grinsen aufsetzen, und sie würde dahinschmelzen.

Sie musste an den Blick denken, den die Personalchefin auf ihre linke Hand geworfen hatte, und fragte sich, warum in aller Welt sie verlauten lassen hatte, dass sich die Beziehung zwischen Matt und ihr festigte. Das bedeutete schließlich noch lange nicht, dass sie sofort heiraten und Kinder in die Welt setzen würde! Ihre Karriere war ihr wichtig, und sie war doch erst fünfundzwanzig.

Nass bis auf die Knochen und voller Sehnsucht nach einem Glas Wein und einer Umarmung blieb sie vor seiner Wohnung stehen. Hinter den Fenstern brannte Licht, was ungewöhnlich war, aber vielleicht war Matt früher nach Hause gekommen. Ob er eine Überraschungsfeier plante? Mein Gott, hatte sie wirklich geglaubt, sie würde den Job bekommen? Sie war ein solcher Dummkopf.

Nun, sie würden darüber lachen, was für ein Narr sie gewesen war. Sie hatte in letzter Zeit kaum noch gelacht, aus Gründen, die auf der Hand lagen. Ihre Freunde auf der Beerdigung ihrer Mutter wiederzutreffen hatte ihr gezeigt, wie sehr sie alle vermisste, genau wie den Spaß, den sie zusammen hatten. Matt mochte ihre Freunde nicht, was in Ordnung war – nun, mehr oder weniger –, trotzdem müsste sie mehr ausgehen. Sie liebte ihn, aber mitunter war er zu bestimmend. Die Musik, die sie vorgestern Abend gehört hatten, drang durch die geschlossene Tür. Demi runzelte die Stirn und zögerte. Sie hatten zu viel getrunken, und sie wollte lieber nicht daran denken, was sie an jenem Abend getan hatte …

Sie drehte den Schlüssel im Schloss und wäre beinahe hintenübergefallen ob der Wucht der Lautstärke, die ihr entgegenschlug. Jungs und ihre Spielzeuge – oder, in diesem Fall, ihre Surround-Anlage. Drinnen stellte sie ihre Tasche ab in der Hoffnung, dass ihr Computer trocken geblieben war, dann zog sie ihre Schuhe aus und schlich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Die Wände waren völlig nackt, was den riesigen Fernseher nur noch mehr in den Mittelpunkt rückte. Sie schloss die Lider und stellte sich vor, wie sie wohl mit ein paar gerahmten Kunstdrucken oder einem großen Ölgemälde aussehen mochten. Auf alle Fälle würde das dem Raum die persönliche Note geben, die er verdient hatte. Wenn die Lebensversicherung ihrer Mutter ausbezahlt war, könnte sie ihm vielleicht das Bild spendieren, das sie zusammen gesehen hatten. Es wäre so schön, sich für all seine Unterstützung zu bedanken. Er war ihr eine große Hilfe gewesen, als ihre Welt auseinanderbrach.

Stöhnen drang aus den Lautsprechern. Sie seufzte und öffnete die Augen. Matt schaute schon wieder einen Porno, was sie verabscheute. Auf sie hatte das nicht die Wirkung, die er sich erhoffte, eher war das Gegenteil der Fall. Pornos ließen ihr die Lust auf Sex vergehen. Beklommen trat sie hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern, doch als sie sich vorbeugte, um ihn auf den Kopf zu küssen, erstarrte sie plötzlich. Dort, auf dem Fünfzig-Zoll-Fernseher, war ihr nackter Körper zu sehen.

»Da bist du ja wieder, Demi.« Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich.

Sie machte einen Schritt nach hinten und schauderte, als ihr Stöhnen von den kahlen Wänden widerhallte. Was hatte er getan?

»Lass mich los!«

Er ließ ihre Hand fallen und stand auf, wodurch er ihr die Sicht verstellte. Sie betrachtete sein gutaussehendes Gesicht. Das Lächeln, mit dem er sie immer herumgekriegt hatte, kam ihr auf einmal falsch vor.

»Was … was ist das?«

»Das sind wir, Demi. Verdammt sexy!«

Demi schloss die Augen. Sie fühlte sich schwach. Haltsuchend griff sie nach der Sofalehne und versuchte, etwas zu sagen, aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Wie hatte er das tun können? Sie hatte Nein gesagt, als er sie darum gebeten hatte. »Wie …?«

»Mit meinem neuen Handy.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie konntest du?« Er hatte sie beim Sex gefilmt, obwohl sie ihm klipp und klar gesagt hatte, dass sie das nicht wollte. Dass ihr allein schon die Vorstellung zuwider war. Waren ihm ihre Gefühle denn völlig egal?

»Sei nicht so prüde. Das ist großartig – turnt mich total an!«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein!« Die Hände auf den Magen gedrückt, rannte sie ins Bad und übergab sich.

»Demi, jetzt sei doch nicht so! Du bist echt toll! Es gefällt dir nicht, wenn ich mir Filme mit anderen Frauen anschaue, also schaue ich nur dich an.« Seine Stimme, die durch die geschlossene Badezimmertür drang, klang seltsam fremd.

Sie antwortete nicht. Zitternd wusch sie sich das Gesicht. Er hatte gefragt. Sie hatte Nein gesagt. Und er hatte es trotzdem getan. Er war glücklich, angeturnt. Sie war angewidert, fühlte sich benutzt.

»Komm schon, Demi. Das ist doch bloß ein kleiner Spaß.«

Das kalte Wasser beruhigte ihre brennende Haut. Sie blickte in den Spiegel. Große, traurige Augen starrten ihr entgegen. Was sollte sie tun? Könnte sie bei jemandem bleiben, dem sie nicht vertrauen konnte? Er war enttäuscht gewesen, aber er hatte ihr versprochen, sie nicht zu filmen. Hatte sie gebeten, sich deswegen keine Sorgen zu machen, und das hatte sie auch nicht getan.

Sie öffnete die Tür, schob sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher aus. Dann sah sie sich um und erkannte, was für ein seelenloser Ort das hier wirklich war. Sie wandte sich Matt zu. Er trug eine locker sitzende Baumwollhose und ein Designerhemd, und er lächelte trotz dem, was er getan hatte. Er hatte keine Ahnung, kein schlechtes Gewissen. Es gab nur eins, was sie tun konnte: gehen. Sie drehte sich um, trat in den Flur hinaus und griff nach ihrer Tasche und ihren Schuhen.

»Demi, warte!«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Du kapierst es einfach nicht.«

»Nein, du kapierst es nicht.« Jetzt lächelte er nicht mehr. »Du solltest endlich erwachsen werden. Das macht mich nun mal an – und zwar richtig.«

»Ich habe Nein gesagt, Matt.« Sie zog ihre Schuhe an und rollte die Zehen ein, so nass waren sie auch von innen.

»Das hast du doch nicht so gemeint.«

»Doch. Natürlich habe ich das so gemeint.«

Er streckte die Hand nach ihr aus und bekam ihr Handgelenk zu fassen.

»Nein!« Sie befreite sich und verließ die Wohnung. Sie konnte hören, wie er ihren Namen rief, als sie auf die Straße floh und sich fragte, was sie jetzt tun sollte. Um die Ecke, auf halbem Weg zur U-Bahn-Station, suchte sie Zuflucht in einem Coffeeshop. Eine Tasse mit starkem Espresso würde ihr beim Nachdenken helfen. So viel zu der Umarmung, die sie erwartet hatte, so viel dazu, ihren Kummer in einem Glas Wein zu ertränken. Was nun? Sie scrollte durch die Kontaktliste in ihrem Handy und rief Sophie an.

»Hi, ich bin im Urlaub. Am einunddreißigsten könnt ihr wieder mit mir rechnen, gebräunt und entspannt. In dringenden Fällen hinterlasst mir bitte eine Nachricht oder schickt mir eine E-Mail.«

»Hi, Sophie. Ich werde dir eine E-Mail schicken, auch wenn ich nicht annehme, dass jemand deinen Schlüssel hat und ich ein paar Tage bei dir unterkommen kann?«

Als sie all ihre Freunde durchgegangen war und zwei Tassen Espresso getrunken hatte, machte der Coffeeshop zu. Jetzt stand sie auf dem Bürgersteig. Der Barista sperrte hinter ihr die Tür zu. Sie wollte nur noch nach Hause – aber sie hatte kein Zuhause. Die Anrufe, die sie getätigt hatte, zeigten ihr deutlich, dass eine Beziehungskrise ausgerechnet vor dem langen Bank-Holiday-Wochenende kein gutes Timing war. Sophie war verreist, Maia stand kurz vor der Geburt ihres Babys, und auch sonst schien niemand zu Hause zu sein. Demi ging erneut die Nummern durch. An wen könnte sie sich wenden? Sie wollte eigentlich nur zu ihrer Mum. Sie drängte die Tränen zurück, die angefangen hatten, sich mit dem Regen zu vermischen, der noch immer vom Himmel fiel.

Sie ging die Kontakte mit G durch, dann noch einmal. Grandad. Ihr Großvater. Sie drückte die Wahltaste und wartete. Das letzte Mal hatte sie ihn vor zwei Wochen gesehen, als sie ihn zum Bahnhof Paddington brachte, wo er den Zug zurück nach Cornwall nehmen wollte. Es brach ihr immer noch das Herz, wenn sie daran dachte, wie er ihr zum Abschied die Hand gedrückt hatte. Diese Geste war ihr in Erinnerung geblieben und kam jedes Mal wieder hoch, wenn sie von Trauer überwältigt wurde. Er hatte seine Frau verloren und nun auch noch sein einziges Kind. So sollte es im Leben eigentlich nicht laufen.

»Hallo?«

»Hi, Grandad, ich bin’s, Demi.«

»Demi, mein Schätzchen. Wie schön, von dir zu hören.«

Die Tränen begannen nun richtig zu fließen, und sie konnte sie nicht aufhalten.

Victoria drehte den Knauf der Wohnzimmertür und wartete dann, bis Charles zu ihr aufschloss.

»Glaub nicht, dass ich dir auf einen Drink Gesellschaft leiste. Ich muss noch etwas am Computer erledigen«, sagte er und ging in sein Arbeitszimmer.

»Na schön.« Sie drehte sich nicht um, um ihm nachzusehen, aber sie lauschte auf seine schweren Schritte auf dem Steinfußboden. Ihre Schultern entspannten sich, als sie das Wohnzimmer betrat. Charles war den ganzen Abend über gereizt gewesen und hatte ihr ständig zugeflüstert, dass sie sich dringend zusammensetzen und etwas besprechen müssten, wofür die Autofahrt zu kurz sei. Und jetzt, als sie endlich Zeit hatten, stürzte er sich auf seinen Computer, also konnte das, worum auch immer es gehen mochte, wohl doch nicht so dringend oder wichtig sein.

Mit einem Seufzer der Erleichterung schlüpfte Victoria aus ihren Schuhen. Vor dem Getränkewagen blieb sie stehen und schenkte sich einen Whisky ein. Nun würde sie wenigstens in Ruhe die Tageszeitungen zu Ende lesen können. Vielleicht sollte sie sich mehr für das interessieren, was ihr Mann mit seiner Zeit und seinem Computer anfing, aber die schlichte Tatsache, dass er nicht ständig um sie herumschwirrte oder versuchte, sich in die Instandsetzung ihres Gartens einzumischen, war eine Erleichterung. Als er vor ein paar Jahren den Großteil seines Anlagevermögens verkauft hatte, war sie verzweifelt gewesen. Er hatte – abgesehen von Geschäftsangelegenheiten – keinerlei Hobbys oder Interessen. Das Geschäft oder sie – dabei wollte sie unbedingt vermeiden, dass er ihr noch mehr Aufmerksamkeit schenkte, als er es ohnehin schon tat. Wie hatte es Maryon Pearson formuliert? »Ich habe ihn geheiratet, um in guten wie in schlechten Zeiten an seiner Seite zu sein, aber nicht, um gemeinsam mit ihm zu Mittag zu essen.«

Sie öffnete die hohen Fenstertüren, die auf die Terrasse hinausführten, damit die abgestandene Luft der kühlen Abendbrise weichen konnte. Der Garten von Deborah Smith hatte heute Abend prächtig ausgesehen. Victoria war neidisch, aber jetzt, da der Garten von Boscawen wieder ihr gehörte, würde er bald so großartig sein wie früher. Das Anwesen war fast wieder komplett, mit Ausnahme von Dower House, des ehemaligen Witwenhauses. Victoria furchte die Brauen. Sie liebte das Haus. Leider würde Boscawen nie mehr so sein, wie es zu Zeiten ihrer Urgroßmutter oder selbst ihrer Großmutter gewesen war, weder Boscawen House noch das Grundstück. Sie wären niemals in der Lage, das ganze Land zurückzukaufen, aber wenigstens gehörten ihnen der Wald, die Obstwiesen und sämtliche Gärten. Sie war sich sicher, dass Charles auch noch die Felder für sie kaufen würde, sollte der Bauer sich davon trennen, aber bislang sah es nicht danach aus. Sie durfte nicht enttäuscht sein. Der Großteil des Anwesens befand sich wieder in ein und demselben Besitz – ihrem. Nun, um genau zu sein, gehörte Boscawen Charles und ihr zusammen, aber das war ein und dasselbe. Gleich zu Beginn ihrer Ehe hatte er verkündet, dass alles, was er besaß, auch ihres war.

Sie trat hinaus auf die Terrasse und atmete die moschusartige Süße des Rosenstocks mit dem klingenden Namen New Dawn ein – Anbruch von etwas Neuem, eines neuen Tages oder eines neuen Zeitalters zum Beispiel –, der gerade zu blühen begann. Es war richtig gewesen, sie anzupflanzen, auch wenn ihre Urgroßmutter diese Sorte nicht ausgewählt hatte. Sie war froh, auf ihren jungen Gärtner Sam gehört zu haben. Der Australier schien sich instinktiv auf das Gärtnern zu verstehen, was seinen Mangel an Erfahrung wettmachte. Er arbeitete seit zwei Jahren für sie, und sie waren viele Male aneinandergeraten, aber er war definitiv eine Bereicherung. Und er war ein Augenschmaus.

Sie ließ die Blüte los, nach der sie gegriffen hatte, nahm einen Schluck von ihrem Whisky und ließ die aromatische Flüssigkeit ihre Zunge umspielen, bevor sie sie schluckte. Seit seiner Ankunft hatte sie versucht, Sam zu verführen, aber bislang hatte er kein Interesse bekundet. Sie war es nicht gewöhnt, dass Männer sie abwiesen. Tatsache war, dass ihr nur einer einfiel, der das ebenfalls getan hatte. Sie schlenderte an den Rand der Terrasse.

Bald würde der Sommer kommen. Es war Ende Mai und der Donnerstag vor dem Feiertagswochenende. Die Straßen würden sich mit Kurzurlaubern füllen, und sie war froh, sich fernab dieses Trubels zu befinden. Obwohl wunderschön, lag das Dörfchen Helford an dem gleichnamigen Fluss doch abseits genug der Ströme von Touristen, die im restlichen Cornwall einfielen. Helford war ein Ort, in dem die Zeit stehen geblieben war, und genau das liebte sie von ganzer Seele. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Es hatte eine Weile gedauert, aber nun konnte sie nach vorne sehen.

Es war schon nach zehn. Sie schloss halb die Lider und sah im Dämmerlicht den Garten ihrer Kindheit vor sich. Die Anlage war noch zu erkennen, aber das war auch schon alles. Teils verwildert, teils völlig brach, war lediglich der kärgliche Rest einer einst überwältigenden Pracht geblieben. Sie schüttelte den Kopf. Was für eine Verschwendung. All die Arbeit der Vergangenheit – verloren durch Unfähigkeit, Ignoranz und Vulgarität.

Sie und Sam hatten begonnen, den herrlichen Garten von damals wieder in Ordnung zu bringen und zu neuem Leben zu erwecken. Zu seinen Glanzzeiten hatte der Garten von Boscawen in der gesamten Grafschaft für neidvolle Bewunderung gesorgt. Ihre Urgroßmutter Edith hatte exotische Pflanzen aus der ganzen Welt mitgebracht, die unter ihrer sorgfältigen Pflege hier in Cornwall gediehen. Bis zum heutigen Tag hatten einige von ihnen überlebt, aber viele andere waren derart verwildert, dass sie ihre Schönheit verloren hatten. Andere waren ganz verschwunden.

Jahrelang hatte Victoria tatenlos zusehen müssen, wie der Garten mehr und mehr verkam. Alles, was sie hatte haben wollen, wurde ihr verwehrt, bis der Besitzer vor zwei Jahren in finanzielle Schwierigkeiten geriet und Charles in der Lage war, ihm ein Angebot zu unterbreiten.

Jetzt war ihr Traum in unmittelbare Reichweite gerückt – würde Charles nur endlich den Geldhahn aufdrehen. Ihre Pläne allein mit Sam und gelegentlich ein paar Aushilfen zu erfüllen würde Jahre dauern. Das reichte ihr nicht. Charles hatte keine Ahnung, was dafür erforderlich war. Vermutlich hörte er ihr gar nicht richtig zu. Sie lachte bitter. Nun, sie hörte ihm ja auch nicht zu.

Victoria drehte sich zum Haus um. Es hatte sie gewaltige Anstrengung und eine Riesensumme gekostet, aber mit Hilfe einer kleinen Armee von Dekorateuren und Handwerkern war es ihr gelungen, die Schäden zu beheben, die es über die Jahre hinweg genommen hatte. Der größte Teil war kosmetischer Natur gewesen, und natürlich hatte sie nicht wiedergutmachen können, dass die Einrichtung vor fast dreißig Jahren verkauft worden war. Das würde Victoria ihrer Schwägerin niemals verzeihen. Perry, ihr Bruder, war kaum einen Tag unter der Erde gewesen, als Julia das Haus mitsamt Mobiliar bereits zum Verkauf angeboten hatte.

Leider waren Victoria die Hände gebunden gewesen, weil Charles damals gerade erst sein ganzes Geld in ein neues Unternehmen gesteckt hatte. Ohnmächtig hatte sie zusehen müssen, wie das Familienerbe der Tregans Stück für Stück verschwand. Jahrelang war Victoria durch Auktionsräume gestreift, und es war ihr tatsächlich gelungen, etwas davon zu retten, allerdings nur einen Bruchteil. Warum sie den Aufwand betrieb, wusste sie selbst nicht. Sentimentalität, nahm sie an, denn es gab niemanden, an den sie das Haus oder sonstige Erbstücke hätte weiterreichen können. Sie war die letzte Tregan von Boscawen. Ihr Bruder war ohne einen Nachkommen gestorben, und sie war unfruchtbar. Sie hatte versagt.

Victoria machte auf dem Absatz kehrt und ging hinein. Es war am besten, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Sie konnte sie ohnehin nicht ändern. Aber sie könnte dem Garten zu alter Pracht verhelfen, damit etwas Wertvolles blieb, wenn die letzte Tregan Boscawen für immer verließ.