Udo Baer I Gabriele Frick-Baer
Flucht und Trauma
Wie wir traumatisierten Flüchtlingen
wirksam helfen können
Gütersloher Verlagshaus
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © Shutterstock / ZouZou
ISBN 978-3-641-19045-3
V003
www.gtvh.de
Inhalt
Einführung
Kapitel 1
Der Tanz am Rand des Abgrunds
Der Abgrund und das Verstörtsein
Erstarren und Verstummen
Seelische Minen
Aggressive und Friedfertige
Lernblockaden
Wenn der Hubschrauber kommt
Krieg in der Spielecke
»I’m so crazy«
Die Angstflut
Schuldgefühle ohne Schuld
Bloß nicht trauern
Selbstverunsicherung
Zwischen den Welten und Kulturen
Kapitel 2
Was ist ein Trauma?
Die Wunde, die existenziell bedroht
Die Wunde, die überfordert
Die Wunde, die nachwirkt
Die vier Monster der Entwürdigung
Kapitel 3
Der Traumaprozess
Erfahrungen im Heimatland
Die Schrecken der Flucht
Nach der Flucht
Das frühere Leben
Der Traumaprozess
Der Traumaprozess bei Flüchtlingen
Kapitel 4
Aus Erfahrungen lernen
Flüchtlingsländer Deutschland und Österreich
Nicht willkommen
»Wirtschaftsflüchtlinge«? - »Politische Flüchtlinge«?
Leugnen der Traumata und Folgen der Tabuisierung
Aus der eigenen Geschichte lernen
Kapitel 5
Was traumatisierte Flüchtlinge brauchen
Geborgenheit
Reden und Gehört-Werden
Gefühle zeigen und teilen
Ausdruck ohne Worte
Erfahrungen der Wirksamkeit
Kapitel 6
Wie Sie sich Flüchtlingen gegenüber gut verhalten
Nicht allein lassen, sondern begleiten
Nicht verharmlosen, sondern ernst nehmen
Mit dem Misstrauen umgehen
Der Weg des doppelten Respekts
Kapitel 7
Wie Begegnung gelingt
Sich interessieren
Sich berühren lassen
Spürende Begegnungen
Tridentität
Das große UND
Mit Krisen umgehen
Kapitel 8
Wenn Worte allein nicht reichen
Begegnungen über Kreativität
Praxisbeispiele
Kapitel 9
Den Kindern eine Zukunft
Auf der Flucht geboren
Alles mitbekommen
Verantwortung für die Eltern
Kapitel 10
Was die Helfer brauchen
Sich ernst nehmen
Traumafreie Räume
Unterstützung
Anhang
Interview mit Bosiljka Schedlich
Serviceadressen
Anmerkungen
Autorenportrait
Einführung
Die meisten der Flüchtlinge, die nach Deutschland, Österreich oder andere europäische Länder kommen, sind traumatisiert. Das heißt: Sie haben durch Krieg oder Verfolgung, Folter oder sexuelle Gewalt, durch den Tod und Verlust nahestehender Menschen und andere schlimme Ereignisse einen Schrecken erfahren, der sie bedroht und entwürdigt. Die Folgen dieses Schreckens schütteln sie nicht beim Grenzübertritt oder bei der Registrierung als Flüchtling ab. Diese Folgen bleiben, und sie werden umso schlimmer, je länger sie unbeachtet bleiben.
Deshalb sagen wir: Flüchtlingshilfe ist Traumahilfe, muss Traumahilfe sein. Da ist das Kind, das so gerne Deutsch lernen und mit den anderen spielen möchte. Aber es kann nicht, weil sein Kopf voller Schreckensbilder ist. Da ist der Jugendliche, der beim kleinsten Stress aggressiv wird, weil er nur kennt, dass man entweder Täter oder Opfer ist – und Opfer will er nie mehr sein. Da ist der Mann, der nicht mehr schlafen kann und zu trinken beginnt, weil ihn die Bilder, wie seine Frau durch die Bombe umkam, verfolgen. Und da ist die Frau, die sich nach Liebe sehnt, aber niemanden in ihre Nähe lassen kann, weil sie auf der Flucht vergewaltigt wurde.
Wer verstehen will, wie sich Flüchtlinge verhalten, wenn sie uns begegnen, und was sie oft verstört, wenn wir ihnen begegnen, muss wissen, dass die meisten traumatisiert sind. Nicht alles möglicherweise befremdliche Verhalten ist auf kulturelle oder religiöse Unterschiede zurückzuführen. Deswegen werden wir in diesem Buch auf die besonderen Erfahrungen von Flüchtlingen eingehen und beschreiben, welche Auswirkungen Traumata bei ihnen haben können – immer eingebettet in Erläuterungen, was Traumata sind und welche Folgen sie haben, gestützt auf wissenschaftliche Theorie, Forschung und Praxiserfahrungen. Und wir geben praktische Hinweise, was traumatisierten Flüchtlingen – auch bei besten Absichten – nicht hilft und was sie brauchen, wie Sie ihnen ganz konkret helfen können. Ganz gleich, ob Sie in einem Kindergarten, in der Seelsorge, in einer Schule oder einer Behörde, in einem Aufnahmeheim oder in einer Beratungsstelle tätig sind, ob ehrenamtlich oder professionell.
Dabei bringen wir Beispiele und erzählen auch kleine Geschichten über Flüchtlinge und von Flüchtlingen. Die Namen und persönlichen Angaben sind immer anonymisiert, die Zitate aus der jeweiligen Sprache übersetzt und sprachlich geglättet, ohne an den inhaltlichen Aussagen oder dem emotionalen Gehalt zu verlieren.
Sie haben sich dafür entschieden, dieses Buch zu lesen, und so gehen wir davon aus, dass wir Sie nicht mit Schreckensbildern konfrontieren müssen, um Sie zu berühren und ein offenes Ohr zu finden.
Wir sind uns bewusst, dass es »die« Flüchtlinge nicht gibt. Es sind Menschen, Persönlichkeiten, die sich unterscheiden, in aller Vielfalt und Individualität. Dazu kommen die kulturellen, religiösen und anderen Unterschiede aus Herkunft und biografischen Erfahrungen. Uns liegt am Herzen, dass diese individuellen Besonderheiten gewürdigt werden.
Würdigen, was ist – das ist unsere Orientierung. Für uns steht im Vordergrund, dass Flüchtlinge, bei all ihren persönlichen Fähigkeiten vorrangig Opfer traumatischer Erfahrungen sind. Individualität und Trauma verdienen unsere Achtung und unseren Respekt. Unser Anliegen ist es auch, diese Würdigung mit den Erfahrungen in Verbindung zu setzen, die in Deutschland gemacht wurden. Mit den Millionen Flüchtlingen am Ende des Zweiten Weltkriegs, mit den Millionen Flüchtlingen aus der DDR, mit den Hunderttausenden aus Osteuropa und den Bürgerkriegen der Staaten des ehemaligen Jugoslawien.
Wir wiederholen hier: Flüchtlingshilfe ist Traumahilfe, Flüchtlingshilfe muss Traumahilfe sein – diese Erkenntnis ist nicht neu, da können und da müssen wir an unseren eigenen Erfahrungen ansetzen und vieles besser machen, was in der Vergangenheit versäumt oder falsch gemacht wurde.
Kapitel 1
Der Tanz am Rand des Abgrunds
Der Abgrund und das Verstörtsein
Ein Trauma erschüttert einen Menschen in seinen Grundfesten. Wie sich das im Einzelnen zeigt, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt keine Listen mit bestimmten Symptomen, aufgrund derer man sagen kann, dass ein Mensch traumatisiert ist. Das Gesamtbild des Menschen und sein Gesamt-Erleben sind entscheidend. Wir müssen bei all den verallgemeinernden Beschreibungen immer berücksichtigen, wie ein Mensch das Trauma und die Traumafolgen individuell und subjektiv erlebt. Jedes Symptom, jede Erscheinungsform kann unterschiedliche Ursachen haben. Angstgefühle zum Beispiel können Folgen von Traumatisierungen sein, aber auch aus vielen anderen Alltagserfahrungen herrühren.
Ein Faktor ist den meisten Menschen, die Traumata erlebt haben, gemeinsam: die Erfahrung einer existenziellen Erschütterung. In vielen – unserer Erfahrung nach vor allem bei Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben – entsteht als Ausdruck ihrer Erschütterung das Bild eines Abgrundes, in den sie gefallen sind oder an dessen Rand sie stehen und in den sie zu stürzen drohen. »Ich balanciere am Rande des Abgrunds«, sagte eine traumatisierte Frau. Eine andere nannte es »aus der Welt gefallen«. Traumatisierte Kinder malen solche Abgründe z. B. als schwarze Löcher oder als Monster, die sie zu verschlingen drohen, oder zeichnen Bilder, in denen sie ins Nichts fallen. Viele träumen in solchen Bildern oder von Feuer, Bomben, übermächtig erscheinenden Menschen, die Zerstörung bringen oder Zerstörung »sind«. Oft herrscht das Empfinden tiefer Einsamkeit vor.
Das Hauptmerkmal, mit dem sich Folgen traumatischer Erfahrungen, vor allem in der unmittelbaren Zeit danach bemerkbar macht, ist, dass die traumatisierten Menschen verstört sind. Das fällt vor allem anderen auf. Nicht eine Liste von konkret definierbaren Störungen, sondern ein Verstörtsein, das den ganzen Menschen erfasst zu haben scheint, tritt in den Vordergrund. Die traumatisierten Menschen benennen diesen Zustand selbst mit Sätzen wie: »Ich stehe neben mir.«, »Ich bin durcheinander.«, »Ich löse mich auf.«, »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.« Und wieder andere beschreiben sich, als hätten sie »einen Schlag auf den Kopf bekommen« oder behaupten von sich: »Ich bin blöd geworden.«
Wenn Sie zehn Menschen darum bitten, einen Zustand des Verstörtseins zu beschreiben, dann werden Sie zehn verschiedene Beschreibungen erhalten. Doch allen wird etwas gemeinsam sein, nämlich dass die vorhandenen bekannten Muster und Ordnungen des Lebens und Erlebens erschüttert und noch keine neuen vorhanden sind, dass eine Verwirrung und ein Durcheinander herrscht, eine Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit in den Gefühlswelten und in den Verhaltensweisen.
Bei vielen Menschen, Kindern wie Erwachsenen, beobachten wir, dass sie nach einer traumatischen Erfahrung plötzlich »anders« sind. Wenn Sie mit einem Flüchtling in Kontakt kommen, der traumatisiert ist, dann können Sie natürlich einen Vergleich zwischen Vorher und Nachher nicht anstellen. Und doch wird Ihnen sein Verstörtsein wahrscheinlich auffallen. Wichtig ist, dass Sie ein solches Verhalten nicht ausschließlich auf kulturelle Unterschiede zurückführen, sondern als eine Traumafolge betrachten oder zumindest dies in Erwägung ziehen.
Zu diesem Anders- und Verstörtsein trägt auch bei, dass vorhandene Familienstrukturen und familiäre Rollen nicht mehr so sind, wie vor dem Beginn des traumatischen Prozesses. Ein Beispiel:
Saad hatte seinen Vater immer als stark und kraftvoll erlebt. Nun hatte er mehrmals auf der Flucht mitbekommen, dass der Vater auch hilflos war und traurig, dass er manchmal nicht mehr weiterwusste. Ihm fiel vor allem negativ auf, dass er sich von fremden Leuten herumkommandieren ließ, er, der doch immer so viel Wert darauf gelegt hatte, den Kurs der Familie selbst zu bestimmen. Nun wusste Saad nicht, was er davon halten sollte. Er wollte doch immer so werden wie sein Vater, so stark und kräftig, und seine Mutter und seine Schwestern beschützen. Und wenn er seine Mutter betrachtete, dann hatte auch sie sich verändert. Früher hatte sie immer sehr auf ihn aufgepasst und auf seine Schwestern. Doch jetzt war es manchmal so, als würde ihr dafür die Kraft nicht reichen. Oft schaute sie einfach ins Leere, minutenlang, und war gar nicht ansprechbar. Das alles verwirrte ihn.
Der Vater tat so, als wäre alles wie immer, und auch die Mutter bemühte sich darum. Saad wollte auch so tun, als wäre alles in Ordnung, als wäre alles wie früher, doch er wusste, das war nicht so. Und was an die Stelle seiner alten Sicherheiten getreten war, das war noch völlig offen.
Wie in dieser Flüchtlingsfamilie, so ist bei vielen anderen auch manches durcheinandergeraten, in den Menschen selbst, aber auch in ihren Beziehungen untereinander: Geschlechter- und Generationsrollen, familiäre Rollen sind erschüttert. Wie soll es auch anders sein in einem solchen traumatischen Prozess, den diese Menschen durchmachen mussten und müssen?
Viele versuchen, das Gewohnte aufrechtzuerhalten, oft in dem verzweifelten Bemühen, die Geborgenheit innerhalb der Familienstruktur zu bewahren. Manche glauben fest daran, sie bräuchten nur ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit, und dann würde alles so wie vorher. Doch wie vorher kann es nicht werden. Es braucht neue Prozesse, neue Erfahrungen, neue Verbindungen, neue Identitäten und ein neues Selbst- und Rollenverständnis innerhalb der Familie. Und diese notwendigen Prozesse brauchen Zeit. Der Weg durch das Verstörtsein und am Abgrund entlang bzw. aus dem Abgrund wieder hinauf, ist lang und mühsam.
Erstarren und Verstummen
Ein häufiger Versuch, unerträgliche Erfahrungen und damit eine häufige Traumafolge zu bewältigen, besteht darin, dass Menschen erstarren und auch verstummen. Hier ein Beispiel:
Als Walid endlich eine Schule besuchen konnte, sprach er kein Wort. Die Lehrerinnen versuchten alles Mögliche, um ihn zum Sprechen zu bewegen, doch er blieb stumm. Auch im Kontakt mit den Mitschülerinnen und Mitschülern sagte er kein Wort. Mit seinen großen, offenen Augen betrachtete er alles, was er in der Schule vorfand. Er schrieb auch brav ab, was er abschreiben sollte, doch kein Wort kam über seine Lippen.
Ein solches Verhalten ist oft ein Ausdruck des Erstarrens. Manchmal zeigt sich das Verstummen weniger offensichtlich. Dann betrifft es vor allem das Seelenleben, emotionale Äußerungen. Kinder oder Erwachsene können erzählen und reden, aber ohne innere Beteiligung und ohne das Mitgefühl anderer Menschen emotional zu berühren.
Sehr häufig erstarren Menschen rein körperlich:
Als die Familienhelferin, Frau K., die Mutter endlich aufsuchen konnte, bekam sie keinen Kontakt, keine innere Verbindung zu ihr. Ihre kurdische Klientin, Frau Ö., saß starr am Küchentisch, als sie Frau K. empfing. Ihr Blick wirkte leer, sie schaute ihre Besucherin nicht an, äußerte einige höfliche Floskeln, ihr Atem war flach und angestrengt. Frau K. dachte erst, sie hätte etwas falsch gemacht. Dann führte sie dies auf die möglichen kulturellen Unterschiede zurück. Gebot es vielleicht der Respekt vor ihr, dass Frau Ö. den Blick gesenkt hielt? Doch als sie genauer hinschaute und sich darauf einließ, wie sie die Begegnung erlebte, spürte sie, was dieser Frau und ihrer Familie widerfahren war, auch wenn sie nichts Genaues wusste, sondern nur vermuten konnte, dass es schlimme Erfahrungen waren, die diese Familie auf der sechs Monate langen Flucht erlebt hatte.
Eine Erstarrung kann unterschiedliche Formen haben, körperliche Erstarrung und seelische Erstarrung sind nicht voneinander zu trennen. Fast immer hat die Erstarrung zur Folge, dass Kontaktmöglichkeiten mit Kindern und anderen Familienangehörigen sehr eingeschränkt sind, dass es den Menschen buchstäblich »die Sprache verschlagen« hat, dass sie sich nur noch sehr eingeschränkt zeigen und kaum mitteilen können.
Seelische Minen
In eine existenziell bedrohliche Situation zu geraten, ist nervlich extrem aufregend. Und so wird es nicht erstaunen, dass ein erhöhtes Erregungsniveau gerade auch bei Flüchtlingen eine Folge von traumatischen Erfahrungen ist.
Die Erregungsverläufe der Menschen sind individuell unterschiedlich. Manche sind z. B. eher ruhige »Gesellen«, andere schnell »auf 180« oder befinden sich zumindest auf einem höheren Erregungsniveau als die meisten anderen. Bei einer traumatischen Erfahrung schießt nun die Erregung in die Höhe, ganz gleich von welchem Niveau ausgehend. Das vegetative System schaltet in einen Alarmzustand als Versuch, alle Abwehrkräfte zu mobilisieren, um eine Bedrohung abzuwenden. Doch die Meereswellen, die um das Schlauchboot branden, sind durch erhöhte Erregung genauso wenig abzuwehren wie Schüsse oder Bomben. Deswegen gehört zu den Folgen traumatischen Erlebens sehr oft, dass die Menschen nach Erfahrungen der Wirkungslosigkeit eines Alarmzustandes auf einem erhöhten Erregungsniveau bleiben. Sicherlich können Trost und Schutz in der Zeit unmittelbar nach der traumatischen Erfahrung die Erregung dämpfen und die Menschen wieder »herunterfahren«. Doch wer von den Flüchtlingen bekommt schon Trost und Hilfe, Parteilichkeit und Wärme?! Vor allem, da der traumatische Prozess für die meisten Flüchtlinge sehr lange dauert und sich durch viele Stationen zieht, führt das dazu, dass sich das erhöhte Erregungsniveau bedauerlicherweise festigt.
Muhammed erzählt: »Ich bin jetzt 30 und fühle mich wie 60. Immer bin ich müde. Wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mich nicht wieder. Hier in Deutschland müsste ich doch eigentlich zur Ruhe kommen, aber ich bin immer aufgeregt. Und ich kann nicht schlafen. Den ganzen Tag bin ich müde. Dann kippe ich abends oft einfach um und falle in den Schlaf, wie ohnmächtig. Doch nach zwei Stunden bin ich wieder wach, und mir geht alles im Kopf herum. Und dann schlafe ich nicht mehr ein. Ich denke, ich bin krank im Kopf.«
Bei vielen Flüchtlingen sind es die Ängste, die Bilder von Katastrophen-Situationen, die sie nicht einschlafen lassen, bei anderen wie hier bei Muhammed die allgemeine extreme Anspannung, die den nötigen Schlaf verhindert. Nicht wenige Menschen, die mit Flüchtlingen zu tun haben (und letztlich auch die Flüchtlinge selbst) bringen diese chronifizierte Hocherregung nicht in Verbindung mit den traumatischen Erfahrungen. Unruhe, extreme Anspannung und Aufgeregtheit gehören zum Alltag.
Bei manchen traumatisierten Flüchtlingen explodiert die Hocherregung.
Alissa, 11 Jahre, wurde oft ermahnt, andere nicht zu stören. Manchmal war sie so aufgeregt, dass sie sich »nicht mehr einkriegte«. Sie merkte dann selbst, dass sie kaum noch reden konnte, dass sie kaum noch mitbekam, was die anderen sagten. Sie war nicht mehr aufgeregt, sie war nur noch Erregung. Ihre Anspannung und Aufregung steigerten sich extrem, und es wurde für alle schwierig.
Sie selbst explodierte dann, zerstörte Dinge oder schrie – und erinnerte sich später kaum noch daran. Nur ein tiefes Schamgefühl blieb ihr erhalten und quälte sie.
In der Innenwelt von Alissa tobt ein Vulkan. Die extreme Anspannung findet keinen Weg nach außen. Nur manchmal, bei gelegentlichen Vulkanausbrüchen. Nicht nur Waffen-Minen können explodieren, auch seelische Minen. Und damit sind wir beim nächsten Phänomen, bei der Aggressivität.
Aggressive und Friedfertige
Wenn Menschen, um zunächst am Beispiel Alissas anzuknüpfen, »explodieren«, dann erscheint es Außenstehenden meistens so, als käme die Explosion »aus heiterem Himmel«. Für die Menschen selbst ist der Himmel, so wie sie ihn hier auf Erden erleben mussten, jedoch alles andere als heiter. Unabhängig davon, ob ihnen das bewusst ist oder noch nicht, hat sich der Zustand der extremen Erregung schon länger in ihnen eingenistet. Die »Explosion« ist nur eine Folge dessen.
Wenn Menschen über längere Zeit sehr »geladen« sind, dann kann ein wenig zusätzlicher Stress dazu führen, dass der Zustand nicht mehr auszuhalten ist und sich in Tobsuchtsanfällen, Schlägen oder anderen aggressiven Ausrastern entlädt. Das ist dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, der Stress, der für sich genommen keine aggressiven Ausbrüche hervorrufen würde, aber wegen des erhöhten Erregungsniveaus dazu führt. Wenn ein Seil extrem stark gespannt ist, dann reicht es manchmal, dass sich eine Fliege daraufsetzt, um es zerreißen zu lassen. Und, um in diesem Bild zu bleiben, richtet sich dann die Aggressivität gegen die Fliege und nicht gegen diejenigen, die das Seil gespannt haben, also gegen die Verantwortlichen des traumatisierenden Unglücks.
Eine weitere Quelle aggressiver Ausbrüche kann darin liegen, dass über einen langen Zeitraum immer wieder die gleichen Erfahrungen gemacht wurden. Dass nur Kraft zum Überleben zählt, dass nur Stärke akzeptiert wird, dass Menschen anscheinend ausschließlich die Wahl haben, Opfer oder Täter zu sein. Viele schlagen sich dann auf die Seite der Täter, und »Opfer« wird für sie zum Schimpfwort. Wer wiederholt und lange Verrohungen ausgesetzt ist, kann dazu neigen, selbst zu verrohen. Doch die meisten Menschen, die aggressiv wirken bzw. sich aggressiv verhalten, sind zu Mitgefühl und Solidarität mit anderen fähig, selbst dann noch, wenn sie zu der Überzeugung gekommen sind, dass sie sich beides nicht leisten können. Wer mitfühlt, »verliert«, scheint ein Verlierer zu sein.
Für Ali war Schwäche eine Beleidigung, und Menschen, die in seinen Augen Schwäche zeigten, beschimpfte er als Opfer. Oben oder unten, Macht oder Ohnmacht. Etwas anderes gab es für Ali nicht. Er versuchte, Mitschülerinnen und Mitschüler, sogar Lehrerinnen und Lehrer zu kontrollieren. Wenn er auf Widerstände stieß, drohte er Prügel an oder schlug gleich zu. Ali hatte auf der Flucht seinen jüngeren Bruder verloren, der durch eine Minenexplosion umgekommen war. Er hatte erlebt, dass auf der Flucht nur das Recht des Stärkeren galt, und er wollte unbedingt zu den Stärkeren zählen, um nicht unterzugehen, um niemals mehr fliehen zu müssen, um nicht auch das Schicksal seines Bruders erleiden zu müssen. Er hatte Scham- und Schuldgefühle, dass er seinen Bruder nicht beschützen konnte. Diese verstärkten seinen Drang, sich nie mehr als Opfer fühlen zu wollen.
Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch Menschen, die das Kämpfen völlig verlernt und ganz aus ihrem Leben gestrichen haben. Vielleicht haben sie sich – bewusst oder unbewusst – geschworen, nie so zu werden wie die Täter/innen, die ihnen Schreckliches angetan haben. Vielleicht haben sie sich in ein Lebensgefühl der Ohnmacht zurückgezogen und wissen keinen Ausweg mehr. Vielleicht haben sie resigniert.
Sarah ließ im Kindergarten alles mit sich machen. Sie hatte wache Augen, las und spielte gerne, leise für sich, aber sehr intensiv. Doch wenn jemand aggressiv wurde, erstarrte sie und ergab sich dem, was um sie herum geschah. Fast so, als wäre sie gar nicht da. Wenn ihr jemand etwas wegnahm, dann ließ sie es geschehen, verteidigte es nicht und beschwerte sich nicht. Sie erduldete es einfach.
Auch ein solches Verhalten kann in massiven Erfahrungen traumatisierender Gewalt wurzeln. Die einen kommen nicht mehr aus der Aggressivität heraus, für die anderen ist jede Aggressivität, selbst aus Notwehr, zu einer unmöglichen Regung, zu einem No-Go in ihrem Leben und Erleben geworden. Auch wenn diese Menschen nicht auffällig sind, so hat ihre innere Not doch ein enormes Ausmaß. Dieses Phänomen sollte nicht aus dem Blick geraten.
Lernblockaden
Zumeist lernen Flüchtlingskinder schnell Deutsch. Sie lernen durch Unterricht, durch Kontakt mit deutschsprachigen Kindern, sie lernen durch das Fernsehen und durch vieles andere mehr. Oft werden Kinder nach relativ kurzer Zeit zu Dolmetschern für ihre Familie.
Doch manchmal werden massive Lernblockaden sichtbar.
Als Farid in die Schulklasse kam, war er neugierig und hörte allem zu, was ihm geboten wurde. Doch es schien, dass er Schwierigkeiten damit hatte, das Neue aufzunehmen und irgendwie in sein Leben, in seine Welt zu integrieren. Er wirkte oft wie ein Exot, der sich in einer fremden Welt zurechtfinden musste. Farid behielt keine deutschen Worte, er schien sich nicht zu bemühen, deutsch zu sprechen, und wenn er es manchmal dann doch versuchte, gelang es ihm nicht. Oft wirkte sein Blick abwesend, so, als wäre er »nicht ganz da«, wie eine Lehrerin meinte. Farid war verstört.
Doch wenn die Klasse malte, zeigte er einen Eifer und eine Aufmerksamkeit, die alle verblüfften. Mit großer Entschiedenheit griff er sich die Stifte und Farben, vertiefte sich und malte ein Kriegsbild nach dem anderen ...
Manche Kinder – und das gilt nicht nur für Flüchtlingskinder – sind voll von Schreckenserfahrungen und schrecklichen Bildern. Sie sind »so voll«, dass nichts Neues hineinpasst, so sehr sie sich auch darum bemühen. Sie haben Lernblockaden und können ihrem Interesse und ihrer Neugier nicht folgen. Sie brauchen erst einmal Entlastung von dem, was in ihnen ist, was sie aufwühlt und »voll« macht. Malen und andere kreative Tätigkeiten sind Möglichkeiten, Schreckensbilder zumindest ein wenig loszuwerden, sie auf Papier zu bringen oder ihnen in Skulpturen Gestalt zu verleihen. Damit ist jedoch der Schrecken nicht verschwunden, aber der Druck und die Kraft des Schreckens werden geringer. So kann schließlich Neues in die Kinder hineingelangen, so können sie deutsche Sprachkenntnisse aufnehmen und anwenden. Oft führt der Weg zum Erlernen der deutschen Sprache bei stark traumatisierten Kindern und Jugendlichen über trauma-sensible Entlastungs- und Stärkungsangebote. Wie diese aussehen können, beschreiben wir später.
Wenn der Hubschrauber kommt
Zum traumatischen Prozess gehört, dass sich die existenziell bedrohlichen Erfahrungen in Gehirn und Körper gleichsam »festsetzen«. Es ist ein Überlebensmechanismus, dass sich Menschen, ohne es kontrollieren zu können, an extreme Situationen erinnern, wenn diese sie erneut bedrohen könnten. Dazu funktioniert im Gehirn ein spezielles Trauma-Gedächtnis, das über Ähnlichkeiten arbeitet. Das Donnern eines Sommergewitters hört sich zum Beispiel ähnlich an wie die Explosion einer Bombe oder die Geräusche eines Artilleriebeschusses. Wenn der traumatisierte Mensch dies hört, zuckt er unwillkürlich zusammen, bekommt Angst und sucht Schutz. Das Donnern des Gewitters etwa ist dann ein »Trigger«, ein Auslöser für die Wiederbelebung des Traumas. Solche Trigger gibt es unendlich viele.
Ein ganz alltäglicher Vormittag im Kindergarten: Alle Kinder spielen, es ist ruhig und friedlich. Da fliegt ein Rettungshubschrauber zum benachbarten Krankenhaus, und mehrere Flüchtlingskinder verstecken sich sofort unter den Tischen. Zwei erstarren, ein weiteres beginnt zu schreien und hält sich gleichzeitig die Ohren zu. Für die Kinder sind Hubschraubergeräusche ein Trigger, dass Tod und Verderben drohen, dass jeden Moment Bomben oder Schüsse fallen können.
Solche Trigger sind nie ganz zu vermeiden. Verzichten kann man z. B. auf eine Klebepistole, weil einige Flüchtlingskinder im Kindergarten vor ihr Angst haben und sie mit einer richtigen Pistole verwechseln.
Sie werden nicht in der Lage sein, alles zu erkennen, was bei Flüchtlingskindern und Erwachsenen als Trauma-Trigger wirken könnte. Es kann auch »nur« ein Blick sein, der an die Augen eines Soldaten erinnert, es kann ebenso Ihre fürsorgliche Berührung sein, die an ein überfallartiges Ergriffenwerden während der Flucht erinnert oder das Empfinden der Schutzlosigkeit, das plötzlich beim Einschlummern in der U-Bahn einen Menschen hochschrecken lässt. Da ist die Frau, die sich weigert, in eine Badewanne zu steigen, weil sie vor den Geräuschen des schwappenden Wassers nach den Erfahrungen auf dem Mittelmeer panische Angst bekommt.