cover
Titelseite

1

Das Mädchen blieb auf der Staumauer der Talsperre stehen und sah auf die Stadt hinunter.

Ihr fiel auf, dass die Sonne gerade hinter den Bergen verschwand. In den weit entfernten Fenstern brannte Licht, Autoscheinwerfer schlängelten sich durch die Straßen. War es wirklich schon so spät? Sie war auf einem Schulausflug gewesen und hatte in einem Bus gesessen, strahlend helle Morgensonne draußen, während sie zugesehen hatte, wie die Kiefern vor dem Fenster vorbeigeflogen waren. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte. Sie hatte Musik gehört und versucht, die penetrante Stimme ihrer Lehrerin zu ignorieren.

Wie viele Stunden war das her? Und wie war sie auf die Staumauer gekommen? Sie versuchte sich zu erinnern, sich alles wieder ins Gedächtnis zu rufen. Doch das Einzige, was zurückkehrte, war das Gefühl von Panik. Panik, dann Dunkelheit. Und dann nichts mehr.

Irgendetwas war passiert.

Sie lief hastig weiter, während es immer dunkler und kälter wurde. Eigentlich hätte sie frieren sollen, denn sie trug nur eine dünne Strickjacke, die für einen heißen Sommertag genügte, aber nicht für die frostige Nachtluft. Aber aus irgendeinem Grund war ihr nicht kalt, nicht einmal ein bisschen. Stattdessen hatte sie Angst.

Und Hunger.

Das Mädchen wurde immer schneller, während es angestrengt atmete. Sie dachte an ihre Eltern. Ihre Mutter war bestimmt außer sich vor Angst, ihr Vater wütend. Sie dachte an ihre Schwester. Und an Frédéric.

Sie warteten sicher schon auf sie. Sie würden ihr helfen, herauszufinden, was passiert war, ihr helfen, die fehlenden Stunden zu rekonstruieren. Plötzlich sehnte sie sich so sehr nach ihnen, dass es ihr den Atem nahm.

Nach Hause, dachte sie.

Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

2

Anton Chabou stand auf der Staumauer und beobachtete das stille Wasser.

Vor elf Monaten, als er den See zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sich eine tief hängende Wolke langsam das Tal hinuntergewälzt und auf die Wasseroberfläche gelegt. Dann war sie weitergerollt, wie der Geist eines Wasserfalls, und hatte sich auf die Stadt unterhalb des Staudamms zubewegt.

Jetzt, eine Stunde nach Sonnenuntergang, war die Luft frisch und klar. Die Oberfläche des Sees sah aus wie schwarzes Glas. Hinter ihm fuhr hin und wieder ein Auto vorbei. Bis auf schwere Lastwagen nutzten sämtliche Fahrzeuge aus der Gegend die Staumauer als Brücke über den See; sie war der schnellste Weg für alle, die nach Norden wollten und kein Problem damit hatten, die steilen Straßen hinaufzufahren. Kurz bevor er den Kontrollraum verlassen hatte, hatte er sogar eine junge Frau gesehen, die zu Fuß hinübergegangen war. Das kam selten vor. Die meisten Leute, die die Aussicht genießen wollten, kamen mit dem Auto.

Sein Mobiltelefon hielt er in der Hand. Er wollte den Anruf nicht machen, aber er wusste, dass es sein musste, auch wenn er der Neue war. Eric, sein Partner für diese Schicht, war seit zehn Jahren dabei, aber Eric hatte den Kopf geschüttelt, etwas vor sich hin gemurmelt und nichts mit der Sache zu tun haben wollen.

»Warte bis zum Schichtwechsel«, hatte Eric gesagt. »Tu so, als hätten wir es gerade erst bemerkt, und lass sie anrufen.« Dann hatte sich Eric mit finsterem Gesicht in den Kontrollraum gesetzt und nicht mehr darüber reden wollen.

Anton hatte bereits die erforderlichen Vorinspektionen durchgeführt, bevor er Eric darauf angesprochen hatte. Bei der Sichtprüfung der Stützpfeiler war kein Durchsickern zu erkennen gewesen und die Durchflussmessungen schienen in Ordnung zu sein. Er würde sich noch einen genaueren Überblick über den momentanen Zufluss verschaffen müssen, aber selbst wenn sämtliche Wasserquellen, die das Staubecken speisten, das Unmögliche getan und aus irgendwelchen Gründen alle gleichzeitig versiegt waren, war das keine Erklärung für das Absinken des Wasserspiegels, das er seit seinem Arbeitsantritt am Morgen beobachtet hatte.

Der See leerte sich und Anton hatte keine Ahnung, woran es lag.

Da Eric der leitende Techniker der Schicht war, kam seine Empfehlung, einfach abzuwarten, einem Befehl gleich, aber Anton wusste, dass er diese Empfehlung ignorieren musste. Er hatte die letzte Stunde damit verbracht, sich zu vergewissern, dass offenkundig alles in Ordnung war. Und dazu hatte er über den zentralen Wartungsschacht in die oberen und unteren Inspektionsgänge klettern müssen.

Die Inspektionsgänge waren enge kreisrunde Tunnel, die sich durch die Staumauer zogen, nur schwach beleuchtet waren und so wenig Platz boten, dass man kaum stehen konnte. Er hatte die ganze Zeit den Kopf einziehen müssen, damit er mit seinem Schutzhelm nicht an dem kalten grauen Beton über ihm entlangschrammte.

Als er den oberen Inspektionsgang verließ, hatte er Nackenschmerzen und schlechte Laune. Aber er hatte die Zähne zusammengebissen und war weiter hinabgestiegen, zu dem unteren Inspektionsgang. Theoretisch sah der untere Gang genauso aus wie der obere. Genauso wenig Platz, genauso wenig Licht. Doch jedes Mal, wenn er dort unten war, bekam er Platzangst, was ihm im oberen Gang nie passierte. Aus irgendeinem Grund musste er ständig an das Gewicht des Wassers über ihm denken; auf dem Weg zum Ende des Tunnels und wieder zurück huschte immer wieder ein Bild durch seinen Kopf: dunkles Wasser, das auf ihn zuschoss, eiskalt und tödlich.

Bei seiner spontanen Inspektion hatte er keine Probleme feststellen können. Der nächste Schritt bestand darin, die Messwerte an jeder einzelnen der neunzig Dehnfugen abzulesen und mit den letzten aufgezeichneten Werten zu vergleichen. Normalerweise wurde das einmal pro Woche gemacht und nahm fast die gesamte Schicht des Technikers in Anspruch, der das Pech hatte, an der Reihe zu sein. Sobald er sich bei einer kleinen Pause an der frischen Luft von dem Gefühl der Enge etwas erholt hatte, würde Anton wieder nach unten gehen und damit anfangen.

Sobald er den Anruf gemacht hatte.

Und daher stand er jetzt auf der Staumauer, das Telefon in der Hand, und suchte nach der Nummer, die man ihm vor fast einem Jahr gegeben hatte, damals, als er die Stelle angenommen hatte. Der Wind wurde stärker und war plötzlich schneidend kalt, was ihm aber wesentlich lieber war als die feuchte Kühle in den Gängen unten, die ihm bis in die Knochen gekrochen und nur schwer wieder loszuwerden war.

Er wählte.

»Ja?«, meldete sich die Stimme eines Mannes.

»Anton Chabou hier. Der Wasserspiegel sinkt. Wir haben keine Erklärung dafür.«

Für einen Moment war es still in der Leitung: »Sind Sie sicher?«, fragte die Stimme schließlich.

Anton wollte ihm die übliche Antwort eines Technikers geben, die darin bestand, die verbliebenen Möglichkeiten aufzuzählen und zu erklären, wie man weiter vorgehen würde, um die Sicherheit der Staumauer genauer beurteilen zu können. Aber die Stimme wusste das alles; der Mann wollte nur ein einziges Wort von Anton hören. Ja oder nein.

»Ja«, antwortete Anton.

»In zwei Stunden bin ich da.«

»Es wäre möglich, dass es nur ein –«, begann Anton, aber der Mann hatte bereits aufgelegt.

Anton steckte sein Handy in die Tasche und machte sich bereit, wieder in die Gänge zu klettern, um die Messwerte abzulesen. Um die Kälte in seinen Knochen loszuwerden, stampfte er mit den Füßen und bewegte sich, aber es nützte nicht viel.

Anton starrte auf den See hinaus und dachte an das, was darunter verborgen lag. Dachte an das, was man ihm erzählt hatte, als er die Stelle angenommen hatte, und an das, was er in den letzten Monaten gehört hatte – Gerüchte, die sich widersprachen. Er dachte an das, was er glaubte.

Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Dann machte er sich an den Abstieg.

3

Jérôme Séguret saß vor dem Lake Pub in seinem Wagen und fragte sich, womit zum Teufel er das alles verdient hatte.

Er kam gerade von Lucy Clarsen, die er in ihrem Zimmer über der Kneipe zurückgelassen hatte, und war enttäuscht und verwirrt.

»Tut mir leid«, hatte sie gesagt. »Es funktioniert eben nicht jedes Mal.«

Er hatte ihr so viel Geld gegeben wie immer, obwohl es nicht so gelaufen war wie geplant. Als er sie gefragt hatte, ob sie sich nächste Woche wieder sehen könnten, hatte sie bloß mit den Schultern gezuckt und eine ausweichende Antwort gegeben. Lucy war ganz locker geblieben, trotz der für ihn zutiefst peinlichen Situation. Er hatte ihr nicht in die Augen schauen können und sich gefragt, wie er sich nur vormachen konnte, dass ihre Sitzungen etwas brachten. Auf dem Weg zum Parkplatz hatte er seine Tochter Léna mit ihren Freunden an der Bar gesehen. Er war zu langsam gewesen; sie hatte ihn entdeckt und auch bemerkt, wen er besucht hatte. Wütend auf sich selbst, hatte er sich zu seinem Auto geschlichen.

Er klappte die Sonnenblende herunter, schob die Abdeckung des Spiegels zur Seite und starrte sich zornig an. Es war gar nicht einmal so lange her, dass alles in Ordnung, dass alles normal gewesen war. Der Familie war es finanziell gut gegangen, er hatte eine Frau gehabt, die er über alles geliebt hatte, und zwei Töchter, auf die er stolz gewesen war, selbst dann noch, als sie in die Pubertät gekommen waren. Damals hatte er noch gelächelt.

Die Augen, die ihm jetzt mit gehetztem Blick aus dem Spiegel entgegenstarrten, waren die eines anderen Mannes. Auf dem Papier war er vierundvierzig. Vor vier Jahren hatte er sich jünger gefühlt, als er war, und auch so ausgesehen. Aber jetzt? Man könnte ihn mindestens zehn Jahre älter schätzen. Sein Haar war schütter geworden, seine Haut fleckig, und seine Augen …

»Herrgott noch mal«, murmelte er, während er die Sonnenblende wieder hochklappte. Er konnte niemandem mehr in die Augen sehen. Vor allem nicht in seine eigenen. Scham und ein schlechtes Gewissen, zu gleichen Teilen. Das war alles, was jetzt noch in seinen Augen stand. Die Hoffnung war verschwunden, genauso wie sein Lächeln. Ausgelöscht an dem Tag, als sie Camille verloren hatten.

Seine Tochter war bei einem Busunfall gestorben, bei dem der Fahrer, eine Lehrerin und achtunddreißig Schüler, alle aus dem gleichen Jahrgang, ums Leben gekommen waren. Zwei Kinder, die ebenfalls für die Exkursion des Biologiekurses angemeldet gewesen waren, hatten sie verpasst. David Follin hatte sich zwei Tage zuvor das Sprunggelenk gebrochen, während er versucht hatte, mit dem Skateboard die längste Treppe der Stadt hinunterzufahren. Sein bester Freund Martin hatte ihn mit dem Handy dabei gefilmt und das Video auf YouTube gestellt, in der Nacht, bevor er selbst bei dem Unfall gestorben war.

Das andere Kind, das die Exkursion verpasst hatte, war Léna, Camilles Zwillingsschwester. An jenem Morgen hatte sie behauptet, krank zu sein. Jérômes Frau, Claire, hatte vermutet, dass Léna schwindelte, ihr dann aber doch geglaubt. Er wusste bis heute nicht, ob seine Tochter die Wahrheit gesagt hatte, hatte sich aber vorgenommen, nie danach zu fragen. Es war Claire gewesen, die Léna zur psychologischen Beratung begleitet hatte, Claire, die das Mädchen in den langen Nächten nach Camilles Tod in den Armen gehalten hatte. Jérôme hatte gespürt, wie die Distanz zwischen ihm und seiner Tochter – und zwischen ihm und seiner Frau – immer größer geworden war, aber er war so mit seiner eigenen Trauer beschäftigt gewesen, dass er nichts dagegen hatte tun können.

Vor dem Unfall waren er und David Follins Vater, Vincent, Freunde gewesen, in der schweren Zeit danach waren sie Saufkumpane geworden.

»David wird nicht damit fertig«, hatte Vincent gesagt. »Immer, wenn er die Eltern, einen Freund oder die Geschwister von einem der Schüler sieht, die gestorben sind, glaubt er, dass sie denken: ›Warum du? Warum lebst du noch?‹ Der Junge kann ja nicht mal atmen, ohne sich schuldig zu fühlen.«

Es hatte kein Jahr gedauert, bis David und seine Familie zurück in Vincents Heimatstadt, Cholet, gezogen waren.

In den Nächten, in denen es Jérôme nicht ertragen konnte, nüchtern zu sein, hatte er Vincents Gesellschaft vermisst. Und das waren in den ersten zwei Jahren nach dem Unfall die meisten Nächte gewesen.

Inzwischen trank er nicht mehr so viel, und wenn, dann in seinem Wohnzimmer. Es war billiger und es war ihm lieber, dabei allein zu sein. Er wohnte jetzt in einem heruntergekommenen Apartment im Zentrum, nicht mehr in dem Haus am Stadtrand, in dem Claire und Léna immer noch lebten. Er musste sparen, was nicht nur daran lag, dass er Miete zahlte – er war öfter bei Lucy Clarsen gewesen, als er es sich leisten konnte.

Bis vor vier Jahren war in Jérômes Leben alles in Ordnung gewesen. Dann war ein Bus von einer Bergstraße abgekommen und hatte sein Leben mit sich in den Abgrund gerissen.

Bis zu dem von der Kirche und der Stadtverwaltung gegründeten Sozialzentrum, das gleichzeitig als Obdachlosenheim fungierte, fuhr man zehn Minuten. Als Jérôme dort ankam, um an den regelmäßig stattfindenden Gesprächsabenden der von dem Busunglück betroffenen Eltern teilzunehmen, war es ihm gelungen, seine Frustration unter Kontrolle zu bringen.

Die Eltern. Na ja, die Eltern, die noch da waren.

Eines Abends hatte er angefangen zu rechnen. Er hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, der Trauer eine Größenordnung zu geben.

Achtunddreißig Kinder, achtunddreißig Familien: sechsundsiebzig Eltern und neunundzwanzig Geschwister. Der Busfahrer hatte eine Frau und zwei Söhne Anfang zwanzig gehabt. Die Lehrerin war verheiratet, aber kinderlos gewesen.

Bei einhundertneun engen Familienangehörigen hatte Jérôme aufgehört zu zählen. Das war’s dann gewesen mit der Rechnerei.

Viele waren weggezogen, so wie David Follins Familie. Zu viele Erinnerungen. Von den Eltern, die geblieben waren, hatten die meisten andere Kinder, die noch zur Schule gingen. Sie hatten sich dagegen entschieden, ein trauerndes Kind von seinen Freunden loszureißen und von allem, was vertraut und tröstlich war.

Für fast alle Eltern, die keine weiteren Kinder hatten, war Bleiben unmöglich gewesen. Jérôme hatte sich oft gefragt, was er und Claire getan hätten, wenn Léna auch an dem Ausflug teilgenommen hätte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich noch leerer gefühlt hätte als jetzt, aber er war sich sicher, dass Claire ein weiteres Opfer des Unfalls geworden wäre, wenn beide Mädchen gestorben wären.

Léna. Großer Gott, Léna. Sie war so abweisend zu ihren Eltern. So verschlossen und unerreichbar. Sie und Camille waren nicht nur Zwillinge gewesen, sie waren eineiige Zwillinge gewesen. Nach dem Unfall wurde Léna von den Leuten in der Stadt mit einem Argwohn angestarrt, der größer war als alles, was Jérôme je empfunden hatte. Und ganz gewiss größer als das, was David Follin erfahren hatte.

Wenn jemand Léna sah, sah er auch Camille. Ihr ganzes Leben lang hatten die Mädchen damit gespielt, dass sie ständig miteinander verwechselt wurden. Häufig gab sich die eine für die andere aus und dann amüsierten sie sich darüber, dass man sie nicht auseinanderhalten konnte, auch wenn es – wie sie behaupteten – so einfach war. Nach Camilles Tod schien diese Verwirrung immer noch vorhanden zu sein, als könnten die Leute sich nicht daran erinnern, welches der beiden Mädchen im Bus gesessen hatte. Einige sprachen Léna mit Camille an und schwiegen entsetzt, sobald sie ihren schrecklichen Fehler und den verstörten Gesichtsausdruck des jungen Mädchens bemerkten. Léna war ein Geist geworden. Eine wandelnde, redende Erinnerung an alles, was sie verloren hatten.

Ich bin nicht tot. Das hatte Léna ihren Eltern entgegengeschrien, wenn sich deren Frustration über das zunehmend unberechenbare Verhalten ihrer Tochter in einer lautstarken Auseinandersetzung entlud. Ich bin nicht tot. Wenn ich gestorben wäre, wärt ihr jetzt vielleicht glücklich.

Claire war zwar eine Weile zu den Treffen der Selbsthilfegruppe mitgegangen, hatte aber damit aufgehört, als ihre Beziehung zu Pierre, dem Leiter des Sozialzentrums, enger geworden war.

Jérôme hatte es zuerst gar nicht bemerkt. Er hatte ihr geglaubt, als sie gesagt hatte, sie habe die Gruppe satt, wisse aber, dass Jérôme mehr davon profitiere als sie. Es hatte erst einen Sinn ergeben, als sie Jérôme schließlich von sich und Pierre erzählt hatte.

Nach dem darauf folgenden Streit hatte er die Koffer gepackt. Es war natürlich klar gewesen, wer gehen würde. Léna brauchte ihre Mutter mehr als ihn.

Jérôme blieb vor dem Eingang des Sozialzentrums stehen. Es bestand aus einem Hauptbau und mehreren Nebengebäuden, hoch oben an einem Hang, mit Blick auf die Stadt. Ein friedlicher Ort; abgelegen, aber da die Stadt in Sichtweite war, fühlte man sich nicht isoliert. Perfekt, um gebrochene Seelen zu heilen, wie Jérôme annahm.

Er wünschte, er hätte noch Zeit, um eine Zigarette zu rauchen. Nach Einbruch der Dunkelheit gefiel ihm der Blick von hier oben – nachts sah die Stadt lebendiger aus, und Leben war etwas, das ihm fehlte. Aber er war schon ein wenig zu spät dran, daher ging er hinein.

Etwa zwanzig Personen waren gekommen, wie immer. Die meisten Eltern wechselten sich mit ihrem Partner ab. Jérôme fiel auf, dass sowohl Sandrine als auch ihr Mann anwesend waren, aber die beiden waren eine Ausnahme – Sandrine opferte den größten Teil ihrer Freizeit, um im Sozialzentrum auszuhelfen, und sie versäumte kein einziges Treffen der Gruppe.

Jérôme nahm sich einen Stuhl und ging damit zu der Lücke neben Sandrine. Als er bemerkte, dass Pierre gerade redete, versuchte er, nicht die Faust zu ballen. Er hatte noch nie in seinem Leben jemanden zusammengeschlagen, aber bei Pierre wäre es ihm ein Vergnügen.

Pierre leitete das Sozialzentrum und betreute auch die meisten Selbsthilfegruppen. Alkohol, Depressionen, Drogen, Scheidung (du meine Güte, die Ironie dahinter). Egal welches Problem man hatte: Pierre war da und gab frömmelnde Ratschläge, die einem vermutlich nicht halfen, ihm aber mit Sicherheit schmeichelten. Pierre war religiös; wiedergeborener Christ, mit dem für diese Leute typischen Fanatismus. Außerdem war er das größte Arschloch, das Jérôme je getroffen hatte.

In den achtzehn Monaten seit Jérômes Auszug hatte Claire das Thema Scheidung mehr als einmal angesprochen, was vermutlich auf Pierres Drängen hin geschehen war. Jérôme hatte keine Ahnung, ob die beiden schon miteinander geschlafen hatten – angesichts Pierres religiöser Ausrichtung bezweifelte er das jedoch. Einer Scheidung würde Jérôme auf keinen Fall zustimmen. Er wusste, dass Claire immer noch etwas für ihn empfand – nicht ganz so viel wie er für sie, aber es war ein Funke, von dem er glaubte, damit ihre Ehe retten zu können. Aber er hatte nicht mehr viel Zeit. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sein Wunsch, seine Frau zurückzubekommen, vor Gericht nichts mehr zählte, und dann würde sie Pierre heiraten können.

Jérôme kam trotzdem zu den Treffen der Selbsthilfegruppe. Es half ihm. Warum, wusste er nicht so genau, aber es half. Vielleicht, weil er sich immer vorstellte, wie er Pierre mit seiner Faust zum Schweigen brachte; vielleicht lag es auch nur daran, dass Pierre, wenn er mit Jérôme zusammen in einem Raum war, nicht bei Claire sein konnte. Bei Jérômes Frau.

»… in ein paar Minuten könnt ihr dann alle etwas dazu sagen«, leierte Pierre herunter.

Jérôme spürte, wie sich seine Finger jetzt doch zur Faust ballten. Er musste sich konzentrieren, um ruhig zu bleiben.

»Aber zuerst«, fuhr Pierre fort, »hat uns Sandrine, glaube ich, etwas zu sagen.«

Sandrine lächelte – eine Gefühlsregung, die Jérôme in dieser Gruppe nicht sehr oft erlebte, wenn man von Pierres scheinheiligem Grinsen absah. Schließlich waren alle anderen auf die gleiche Art und Weise dagegen immun geworden wie Jérôme. »Ja«, sagte sie. »Yan und ich wollten euch allen sagen, dass wir ein Baby bekommen.«

Einige aus der Gruppe lächelten. Jérôme gab sich Mühe, aber nichts geschah.

Sandrine redete weiter, zögernd, als würde sie sich für etwas entschuldigen wollen. »Es ist uns nicht leichtgefallen, aber wir wollten es euch trotzdem sagen … und uns bei euch allen bedanken. Vor allem bei Pierre. Diese Treffen haben uns nach dem Unfall wirklich sehr geholfen. Wir haben es euch zu verdanken, dass wir weitermachen konnten. Und jetzt haben wir das Baby. Das Leben hat gesiegt. Es ist so ein wunderbares Geschenk.«

»Das ist dein Geschenk an uns, Sandrine«, faselte Pierre. »Deins auch, Yan.«

Die Gruppe begann zu klatschen. Jérôme behielt die Hände unten.

»Ihr erinnert euch doch sicher an Charlotte, die Assistentin des Bürgermeisters?«, fragte Pierre. Er deutete auf die Frau, die links neben ihm saß.

Sie lächelte und nickte, die Gruppe tat dasselbe.

Jérôme natürlich nicht. Er wusste, dass Charlotte gekommen war, um wieder über das Denkmal zu reden, und an das letzte Mal konnte er sich nur allzu gut erinnern. Er nahm sich vor, seinen Zynismus zu zügeln, aber manchmal machten es einem die Leute wirklich schwer.

Kurz nachdem Charlotte zu reden begonnen hatte, flackerten die Deckenlampen und gingen aus. Es wurde dunkel. Die Gruppe stöhnte und lachte nervös, dann wurden Handys aus der Tasche gezogen, um für Licht zu sorgen.

Jérôme stand auf und trat an ein Fenster. »Sieht so aus, als wäre der Strom in der ganzen Stadt ausgefallen.«

»Er ist bestimmt gleich wieder da«, meinte Pierre von seinem Platz aus.

Jérôme spürte, wie sich ein verbittertes Grinsen auf sein Gesicht stahl. Pierre hatte fast so geklungen, als würde er ihn tadeln wollen. Pessimismus war diesem Mann völlig fremd.

Im bleichen Licht der Handys wurde Small Talk betrieben. Jérôme blieb am Fenster stehen, um sich nicht daran beteiligen zu müssen. Nach ein paar Minuten gingen die Lichter in der Stadt wieder an. Als die Röhrenlampen über ihm wieder zum Leben erwachten, kehrte er zu seinem Stuhl zurück.

»Sehr schön«, freute sich Pierre. Er sah Charlotte an. »Dann können wir ja weitermachen.«

Charlotte stand auf und hielt einen Ordner mit Zeichnungen des geplanten Denkmals hoch. »Wie ich gerade gesagt habe … das Denkmal ist rund, wie ein Kreis. Es kommt am Montag aus der Gießerei und wird Ende des Monats aufgestellt, rechtzeitig zur Gedenkfeier. In der Wand sind achtunddreißig Löcher, eines für jeden Schüler.« Sie verteilte Kopien einer Zeichnung, damit sich die Leute den Entwurf genauer ansehen konnten.

Na großartig, dachte Jérôme. Noch ein leerer Platz für Camille. Und er würde sich das verdammte Ding jeden Tag ansehen müssen.

»Hat jemand eine Frage?«, wollte Pierre wissen.

Jérôme hob die Hand.

»Jérôme?«

»War das Ding teuer?«

Sandrine und Yan, die neben ihm saßen und gerade die Zeichnung betrachteten, hoben alarmiert den Kopf.

»Es ist nämlich potthässlich.«

Die Gruppe schwieg betreten.

»Findet ihr, dass es gut aussieht? Gefällt es euch?« Er wusste, dass er es schon wieder tat – er war ehrlich, obwohl es besser gewesen wäre, einfach den Mund zu halten. »Also schön«, meinte er dann. »Wenn es allen gefällt, sage ich nichts mehr dagegen.«

Pierre schüttelte schockiert den Kopf. »Du hast doch schon klargemacht, was du davon hältst, als wir zum ersten Mal darüber diskutiert haben. Wir haben dir zugehört, dann haben wir abgestimmt. Können wir jetzt weitermachen?«

»Nein, können wir nicht«, erwiderte Jérôme. »Damals habe ich gesagt, dass es sinnlos ist. Jetzt sage ich, dass es hässlich ist. Das ist nicht das Gleiche.«

»Also gut.« Pierre seufzte, während er den Blick abwandte.

»Jérôme«, warf Sandrine ein, »ich glaube, wir haben alle genug von deinem Sarkasmus. Wenn du diese Treffen lächerlich findest, dann komm eben nicht mehr.«

»Sarkasmus? Das ist kein …« Jérôme brach ab, weil er spürte, wie ihm die Tränen kamen – diese Genugtuung wollte er Pierre nicht gönnen. Er holte tief Luft. »Ich komme hierher, weil es mir guttut. Ob ihr es nun glaubt oder nicht, es tut mir richtig gut, so wie euch allen. Ohne diese Treffen bliebe mir nichts als Verzweiflung. Vielleicht wird mir das Leben auch eines Tages schöne Geschenke machen.«

In Sandrines Blick lag eine Mischung aus Mitleid und Feindseligkeit.

Jérôme starrte auf den Boden und schwieg, während über die Vorbereitungen für die Gedenkfeier gesprochen wurde. Irgendwo in seiner Nähe vibrierte ein Handy, dann sah er Pierres peinlich berührten Blick, als dieser die Hand in die Tasche steckte und den Anruf abwies. Einige Sekunden später klingelte Jérômes Handy. Laut Display war es Claire. Er stand auf und ging zur Tür. Während er ins Freie trat, nahm er den Anruf seiner Frau entgegen.

»Jérôme? Du musst sofort herkommen.«

»Ist etwas passiert? Geht es um Léna?«

»Nein«, erwiderte sie. »Es geht um Camille.«

»Was ist mit ihr?«

»Komm her. Bitte.« Die Verzweiflung in ihrer Stimme machte ihm Angst. Sie klang völlig verwirrt.

»Ich bin gleich da.«

4

Claire war im Schrein gewesen, als in der Stadt der Strom ausfiel.

Schrein. So hatte es Jérôme genannt, wenn er wieder einmal die Geduld verloren hatte. Camilles Zimmer, das noch fast genauso aussah wie an dem Tag, als sie gestorben war.

Léna und Camille hatten sich ein Zimmer geteilt, bis sie zehn Jahre alt waren. Dann hatte die Pubertät eingesetzt und das damit verbundene Bedürfnis nach Privatsphäre hatte dazu geführt, dass sie sich wegen jeder Kleinigkeit gezankt hatten. In dem Moment, als jede ihr eigenes Zimmer bezogen hatte, war mit der Streiterei Schluss gewesen.

Claire hatte es faszinierend gefunden, dass die Mädchen ihre Zimmer völlig anders einrichteten; die Unterschiede zwischen sich zu betonen, erlaubte ihnen, so unzertrennlich wie eh und je zu bleiben.

Claire war gerade dabei gewesen, Camilles Zimmer aufzuräumen, als sie von dem Unfall gehört hatte. Schon als sie mit Aufräumen angefangen hatte, war ihr klar gewesen, wie Camille darauf reagieren würde, und sie hatte in Gedanken schon die empörte Stimme ihrer Tochter gehört: Warum hast du in meinen Sachen gewühlt?

Dann war Jérôme ins Zimmer gestürzt, fassungslos, unfähig zu sprechen, während Claire immer unruhiger geworden war. Schließlich hatte er es geschafft, ein einziges Wort hervorzustoßen: »Camille.«

Da hatte sie es gewusst. In dieser Sekunde war die Angst, die im Herzen jeder Mutter schlummerte, zur grauenhaften Realität geworden.

Fünfzehn Jahre lang hatte sie mit dieser Angst gelebt, fünfzehn Jahre, in denen ihr ständig bewusst gewesen war, was Mutterliebe wirklich bedeutete: ein Bedürfnis, seine Kinder zu beschützen, das so übermächtig war, dass es einen fast lähmte. Jedes Mal, wenn eins der beiden Mädchen krank war oder ein paar Minuten später als vereinbart nach Hause kam, hatte sie das Schlimmste angenommen. Jede Nachrichtenmeldung über einen Unglücksfall mit Kindern hatte bei Claire ein schlechtes Gewissen und ein Gefühl der Erleichterung ausgelöst, weil es jemand anderem passiert war. Doch jetzt war es ihr passiert. Camille war tot.

Mutter zu sein, war nicht einfach. Aber ein Kind zu verlieren, war undenkbar.

An die Zeit unmittelbar danach konnte Claire sich nur noch undeutlich erinnern. Es war, als würde sie in dunklem Wasser ertrinken – gedämpfte Geräusche, die zu ihr durchdrangen, Jérôme, der verzweifelt versuchte, sie in die Arme zu nehmen. Sie hatte ihn weggestoßen und auf den blitzsauberen Fußboden im Zimmer ihrer Tochter gestarrt, während sie das Gefühl hatte, bei einer frevelhaften Tat erwischt worden zu sein. Dass Camille vielleicht noch da wäre, wenn sie in ihrem Zimmer nichts angefasst hätte.

Seitdem war nichts mehr in Camilles Zimmer berührt worden. Es war zu einem Schrein geworden, mit brennenden Kerzen und Fotos auf der Kommode. Claire gewöhnte es sich an, sich auf das Bett zu setzen und auf die Kerzen zu starren, deren Flammen sich in dem Glasrahmen mit dem Gesicht ihrer toten Tochter spiegelten. Sie redete sich ein, dass der scharfe Schmerz in ihr eines Tages nachlassen würde. Am Anfang war sie nur in das Zimmer gegangen, wenn sie allein im Haus gewesen war. Sie hatte es ihrem Mann und Léna ersparen wollen. Sie hatte ihnen das Ausmaß ihrer Trauer ersparen wollen.

Die beiden hatten es trotzdem gewusst. Jérômes anfangs noch zurückhaltende Bemerkungen waren zunehmend besorgter geworden und dann wütend, vor allem, als sie sich immer mehr zu Pierre hingezogen fühlte und zu dem, was Pierre ihr sagte: Gott beantwortet Gebete, Gott kann heilen.

»Ich will sie zurückhaben«, hatte sie zu Pierre gesagt. »Kann Gott das für mich tun?«

Pierre hatte ihr eine typisch ausweichende Antwort gegeben: »Durch Gott wirst du Camille wiederfinden. Sie wird zu dir zurückkommen.«

Aber das reichte ihr nicht. Sie wollte, dass Camille wieder nach Hause kam, sie wollte ihr Leben zurückhaben. Sie wollte aufwachen und feststellen, dass die letzten vier Jahre ein Irrtum gewesen waren, ein schrecklicher Traum, und jeden Tag betete sie im Schrein dafür, dass Gott alles wieder in Ordnung brachte.

Als der Strom ausfiel, brauchte Claire einen Moment, um zu begreifen, dass es nicht nur eine kaputte Glühbirne in der Lampe in Camilles Zimmer war – der einzigen Lichtquelle, die sie eingeschaltet hatte. Als sie im Schein der Kerzen zum Fenster ging, sah sie, dass die Straßenlaternen draußen ebenfalls dunkel waren.

Claire wartete darauf, dass der Strom wiederkam. Sie dachte an Léna, die mit ihren Freunden unterwegs war; vermutlich im Lake Pub, falls sie ehrlich zu ihr gewesen war. Und wann war sie wieder da? »Wenn ich wieder da bin«, war alles, was Claire aus ihrer Tochter herausbekommen hatte, bevor sie gegangen war. Aber das war immer noch besser, als wenn Léna sich aus ihrem Zimmer schlich und an dem Rankgitter auf der Vorderseite des Hauses herunterkletterte, ohne zu sagen, was sie vorhatte.

Claire sah auf die Uhr. Léna würde sicher noch eine Weile wegbleiben, es sei denn, sie hatte sich wieder einmal mit Frédéric gestritten.

Sie ging in Lénas Zimmer, in dem es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das Zimmer einer Neunzehnjährigen, die für Claire selbst dann ein Mädchen sein würde, wenn Léna, so Gott wollte, in ihren Dreißigern war; selbst dann noch, wenn Léna selbst Kinder hatte und entdeckte, dass man für dieses Geschenk Gottes einen furchtbaren Preis zahlen musste.

Sie bückte sich und hob ein paar Kleidungsstücke auf, um sie in die Waschmaschine zu stecken, was ein kleines Zugeständnis ans Aufräumen war – gerade so viel Fußboden freizumachen, dass man sich in dem Zimmer bewegen konnte. Aber nicht so viel, dass es Léna auffallen würde. Nie. Nie wieder.

Claire hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. »Léna?« Es musste ein Problem mit Frédéric gegeben haben, dachte Claire und machte sich auf eine lange Nacht gefasst, in der sie ihre Tochter trösten musste. Als Mutter fühlte man sich am wenigsten gebraucht, wenn das Kind glücklich war, und am meisten, wenn seine Welt in Trümmern lag.

Sie ging nach unten und blieb stehen. Die Kühlschranktür war offen, ein Mädchen stützte sich mit der Hand darauf ab. Claire konnte sie nicht genau erkennen, da sie den Inhalt des Kühlschranks durchsuchte. Plastikschüsseln mit Essensresten wurden herausgenommen und auf die Theke gestellt, rote, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare blitzten auf.

»Léna?«, fragte Claire.

Die Tür des Kühlschranks fiel ins Schloss. Ein junges Mädchen stand davor. Lange rote Haare und ein Gesicht, das Claire besser kannte als ihr eigenes.

Sie starrte das Mädchen an. Das war ein Traum. Das musste ein Traum sein.

Das Mädchen, das die Plastikschüsseln öffnete und sich etwas zu essen herausnahm, als wäre das alles völlig normal, war Camille.

Das Mädchen entdeckte sie. »Ich weiß, dass es schon spät ist. Du hast dir bestimmt Sorgen gemacht. Aber es ist nicht meine Schuld. Mir ist etwas ganz Merkwürdiges passiert.«

Claire stand in atemloser Stille da und wagte nicht, etwas zu sagen. Wenn sie etwas sagte, würde es vorbei sein, dann würde sie diesen Moment zerstören und alles um sie herum würde zusammenbrechen. Dann würde ihr klar werden, dass es eine Halluzination war.

»Sieh mich nicht so an«, sagte Camille, während sie sich ein Sandwich machte. »Es klingt verrückt, aber ich bin irgendwo in den Bergen aufgewacht, oberhalb des Staudamms. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um nach Hause zu kommen. Ehrlich. Das habe ich mir nicht ausgedacht.« Sie klappte das Sandwich zu und begann zu essen. »Ich habe einen Riesenhunger.«

Claire schaffte es, einen Schritt nach vorn zu machen. Sie sagte immer noch nichts. Sie musste alles ganz langsam tun, damit sie nicht durchdrehte.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Claire automatisch. »Mir geht es gut.« Zu der schrecklichen Angst in ihrem Herzen gesellte sich noch etwas anderes: ein Gefühl der Hoffnung, das genauso wehtat. Sie wollte die Hand ausstrecken und das, was vor ihr stand, berühren. Egal was es war. Sie wollte es packen und nie wieder loslassen.

»Ist Léna zu Hause?«

»Nein«, antwortete Claire. Der Schock, Camille vor sich zu sehen, war zu viel für sie; jedes Wort kostete sie unendlich viel Mühe. »Sie … sie ist bei einer Freundin.«

»Dann geht es ihr also besser?«, fragte Camille.

Claire hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Besser?«

»Sie war doch krank, oder?«

»Ja«, meinte Claire. Als wäre es derselbe Tag, dachte sie. »War sie. Aber jetzt geht es ihr besser.«

Camille griff über die Plastikschüsseln nach einem Glas, das Claire im Jahr zuvor gekauft hatte, und sah es sich an. »Mann, ist das hässlich«, sagte Camille. Dann stellte sie das Glas hin und ging zur Treppe. »Ich räum später auf.«

Claire blieb, wo sie war, während Camille nach oben verschwand. In der Stille konnte sie ihren rasenden Herzschlag hören, der ihr in den Ohren dröhnte. Sie war ganz bestimmt allein im Haus. Nichts davon ist passiert, dachte sie. Nichts davon ist real. Egal wie sehr ich es mir auch wünsche.

Und dann hörte sie, wie oben im Bad Wasser rauschte. Sie rannte die Treppe hoch und dann den Flur hinunter. Ihre Hand bewegte sich auf die Klinke der Badtür zu.

Als die Tür von innen aufgerissen wurde, zuckte Claire zusammen. Vor ihr stand Camille, in ein Handtuch gewickelt, während hinter ihr das Wasser in die Wanne lief. »Kannst du mir bitte meinen Bademantel holen?«, sagte sie.

Claire nickte. Die Tür schloss sich wieder.

Claire, die kaum atmen konnte, drehte sich um und rannte in Camilles Zimmer. Sie blies die Kerzen aus und versteckte alles, was nicht hierhergehörte, im obersten Regal eines Schranks. In der Kommode lagen die Sachen, die sich am Tag des Unfalls im Zimmer befunden hatten. Claire stellte alles auf seinen Platz zurück.

Alles musste zurückgestellt werden. Sie dachte an das Glas, das Camille nicht gefallen hatte, und ging in Gedanken alle Veränderungen durch, die in den letzten vier Jahren in diesem Haus vorgenommen worden waren. Alles musste wieder so sein, wie es vorher gewesen war.

Sie griff nach Camilles Morgenmantel und holte tief Luft. Dann klopfte sie an die Badezimmertür, öffnete sie und hielt ihn Camille entgegen.

»Danke«, sagte das Mädchen, als es ihr den Morgenmantel abnahm und die Tür wieder schloss.

Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen ging Claire die Treppe hinunter, so als würde sie über Glasscherben laufen. Sie blieb stehen, nahm ihr Handy und wählte die Nummer des Mannes, der wissen würde, was zu tun war. Es klingelte mehrmals, dann wurde sie auf die Mailbox umgeleitet.

»Hallo, hier ist Pierre. Hinterlassen Sie mir bitte eine Nachricht.«

»Pierre, ich bin’s. Könntest du bitte herkommen?« Sie legte auf. Dann überlegte sie kurz und rief Jérôme an.

5

Es regnete in Strömen, als Jérôme nach Hause kam. Für ihn war es immer noch sein Zuhause. Das Haus, in dem er und Claire die Mädchen großgezogen hatten, in dem sie so viel Glück und Leid erlebt hatten – nicht die kahle Wohnung in der Stadt, wo er jetzt übernachtete.

Claire öffnete die Tür. Sie wirkte benommen und hatte gerötete Augen. Jérôme rechnete mit allem. Sie sah genauso verwirrt aus, wie sie am Telefon geklungen hatte.

»Komm rein«, sagte sie. Die Worte klangen, als würden sie vor ihr fliehen.

Im ersten Jahr nach Camilles Tod hatte er zugesehen, wie Claire mit jedem Tag einem Zusammenbruch näher gekommen war, während er Trost im Alkohol gesucht hatte. Er hatte sämtliche Anzeichen ignoriert und es einfach nicht wahrhaben wollen, bis Léna eingegriffen und ihn zur Vernunft gebracht hatte. Da erst war ihm der Blick in Claires Augen bewusst geworden.

Jetzt war dieser Blick wieder da. Empfindsam, verletzlich, kurz vor einem Zusammenbruch. Großer Gott, dachte er, während er fast körperlichen Schmerz empfand, als er Claire so sah. Er liebte diese Frau und sie litt.

»Warum sollte ich kommen?« Er hatte fast Angst, es zu erfahren.

»Du kommst besser rein«, meinte sie.

Jérôme zögerte.

Claire senkte die Stimme: »Camille ist hier.«

»Claire …«, stieß er verzweifelt aus.

Genauso war es an ihren schlimmsten Tagen gewesen. Claire hatte Camille in der Stadt gesehen oder im Fernsehen, wenn Aufnahmen einer Menschenmenge gezeigt wurden. Und an den ganz besonders schlimmen Tagen hatte sie Léna mit dem Namen ihrer toten Schwester angesprochen und darauf beharrt, dass Léna sie anschwindelte, wenn sie protestierte. Es hatte nie lange gedauert. Irgendwann war Claire müde und verwirrt schlafen gegangen, und wenn sie aufwachte, war sie wieder bei sich gewesen und hatte zu schluchzen begonnen.

Nach vier Jahren hatte sich Lénas Gesicht so weit verändert, dass aus dem genauen Abbild eine starke Ähnlichkeit geworden war, und Claires Verwirrung hatte sich gelegt. Auch für Jérôme war es eine Erleichterung, nicht mehr jeden Tag Camilles Gesicht in dem ihrer lebenden Schwester zu sehen, denn er hatte mehr als einmal denselben Fehler begangen und war für einen Moment felsenfest davon überzeugt gewesen, dass der andere Zwilling vor ihm stand.

Oft hatte er sich gefragt, ob Léna das Gleiche erlebt, ob sie beim Blick in den Spiegel manchmal ihre Zwillingsschwester gesehen hatte.

Claire holte tief Luft und dann überschlugen sich ihre Worte. »Sie ist im Bad. Willst du sie sehen?« Sie nickte an seiner Stelle: Natürlich willst du sie sehen.

Ohne ein Wort zu sagen, betrat er das Haus und folgte ihr die Treppe hinauf nach oben, wobei er so leise ging wie möglich.

Aus dem Bad drangen Geräusche. Léna natürlich. Er hoffte, dass sie nicht mitbekommen hatte, in welchem Zustand sich Claire befand. Dann würde er es schaffen, mit der Situation fertigzuwerden. Und Léna irgendwie das Trauma ersparen können.

Claire zog ihn zur Tür. »Hörst du das?«, fragte sie, während sie ihn ansah wie ein verwirrtes Kind.

Er holte tief Luft. »Léna?«, rief er. Sie würde antworten und dann würde er Claire nach unten führen, sich zu ihr setzen und mit ihr reden …

»Nein, ich bin’s«, antwortete Camilles Stimme.

Jérôme drehte sich um und starrte Claire an. Sie erwiderte seinen Blick mit einem verkrampften Lächeln. Jérôme öffnete die Tür.

Sie lag in der Badewanne.

Jérôme erstarrte.

»Raus!«, rief Camille.

Jérôme schloss die Tür. Der Ausdruck, den er auf dem Gesicht seiner Frau bemerkt hatte – eine Mischung aus Angst und Hoffnung –, ergab plötzlich einen Sinn, denn Jérôme war sich sicher, dass er jetzt genauso aussah.

Schnurstracks ging er auf die Terrasse, wo er seine zitternden Hände nicht schnell genug dazu bringen konnte, eine Zigarette anzuzünden.

»Sie kann sich nicht an den Unfall erinnern«, erklärte Claire. »Sie weiß nur noch, dass sie heute Morgen auf einem Schulausflug war.«

»Nein«, meinte Jérôme. »Das ist unmöglich.« Er schüttelte den Kopf, was sich anfühlte, als würde er den Anblick seiner Tochter aus sich herausschleudern wollen. Wir haben sie begraben, wollte er sagen. Sie liegt auf dem Friedhof der Stadt, in einem tiefen, kalten Grab.

»Ich weiß, dass es unmöglich ist«, sagte Claire. »Aber sie ist hier.«

»Dafür muss es eine Erklärung geben.« Jérôme sog gierig an seiner Zigarette.

»Und was für eine? Dass ich verrückt werde? Aber dann bist du auch verrückt.«

Jérôme antwortete nicht. Er wusste, dass Claire die Möglichkeit eines Zusammenbruchs durch den Kopf gegangen war, als sie ihm die Tür aufgemacht hatte. Vor lauter Erleichterung darüber, dass er das Gleiche gesehen hatte wie sie, wurde ihr fast schwindlig.

»Du hast sie gesehen?«, fragte sie. »Oder nicht?«

Er stand mit dem Rücken zum Haus, während Claire etwas anstarrte, das sich hinter ihm befand.

Er war nicht in der Lage, sich umdrehen. Eine psychische Störung war die einzige Erklärung, die ihm einfiel. Dann wurde die Terrassentür hinter ihm aufgeschoben.

»Sieh sie dir an«, flüsterte Claire.

»Stimmt was nicht?«, fragte Camille. »Was macht ihr denn hier draußen?«

Jérôme drehte sich um.

Seine Tochter stand vor ihm. Im Bademantel. Mit nassen Haaren. Völlig normal. Völlig lebendig.

Ihr Blick wanderte zu seiner Hand. »Dad, seit wann rauchst du denn?«

Jérôme ließ die Zigarette sinken. Er konnte einfach nicht aufhören, seine Tochter anzustarren.

Camille redete weiter, als hätte sie das sonderbare Verhalten ihrer Eltern gar nicht bemerkt. »Hat Mama es dir erzählt? Komisch, nicht wahr? Vielleicht hatte ich ja einen Filmriss oder so was Ähnliches. Sollte ich nicht besser zu einem Arzt gehen?«

Jérôme fragte sich, was dabei wohl herauskommen würde. »Geht es dir denn jetzt gut?«

»Ja … ich bin nur ein bisschen durcheinander. Wo ist Léna?«

»Das hab ich dir doch schon gesagt«, meinte Claire. »Bei einer Freundin.«

»Bei welcher Freundin?«

»Das habe ich vergessen.«

Camille zuckte mit den Schultern und ging ins Haus, in Richtung des Telefons. Claire und Jérôme folgten ihr und wechselten beunruhigte Blicke.

»Wen rufst du an?«, fragte Claire.

»Frédéric«, antwortete Camille und wählte.

Claire geriet in Panik. »Es ist schon spät. Du wirst ihn aufwecken.«

In der Erwartung, dass Frédéric jede Sekunde ans Telefon ging, lauschten Claire und Jérôme dem Klingeln am anderen Ende der Leitung.

Schließlich legte Camille auf. »Da geht niemand ran«, murmelte sie. »Ich bin jedenfalls hundemüde, ich muss ins Bett. Vielleicht ist es morgen ja etwas weniger merkwürdig.«

Claire und Jérôme wünschten ihr eine gute Nacht und sahen ihr nach, als sie die Treppe hochging, Schritt für Schritt. Erst als sie hörten, wie sich die Tür zu ihrem Zimmer schloss, wurde beiden bewusst, dass sie die Luft angehalten hatten. Sie sahen sich beunruhigt an.

Vielleicht ist es morgen etwas weniger merkwürdig.

Jérôme glaubte nicht, dass die Chancen dafür sehr gut standen.

6

Julie Meyer saß auf ihrem Sofa und wühlte sich durch den Papierkram, den ihre Arbeit mit sich brachte. Drei Meter von ihr entfernt wurden Leute in Stücke gerissen.

Jemand schrie. Sie sah kurz zum Fernseher, wusste aber gar nicht mehr, welcher Film es war oder wie lange er schon lief. Die Gesichter auf dem Bildschirm waren schmerzverzerrt, als Untote Zähne in Fleisch schlugen. Julie starrte auf den Horror vor sich und fühlte nichts.

Sie widmete sich wieder ihren Berichten. Es war ein langer Tag gewesen, der arbeitsreichste der Woche. Sie hatte sieben Patienten besucht, zwei von ihnen mit beginnender Demenz. Bei einem der Patienten war die Tochter gekommen, weil sie glaubte, dass es Missstände bei der Pflege gab. Julie hatte etwas Ähnliches vermutet; sie war nicht die übliche Krankenpflegerin des Patienten und fragte sich, ob ihr Chef irgendwie Wind vom Verdacht der Tochter bekommen und sie geschickt hatte, um Ärger zu vermeiden. Julie hatte ihre Arbeit gemacht; die Tochter war zufrieden gewesen.

»Es tut mir leid, dass ich Zweifel gehabt habe«, hatte die Tochter gesagt, als Julie gegangen war.

»Ich bin hier normalerweise nicht zuständig«, hatte Julie erwidert. »Hören Sie nicht auf, Zweifel zu haben.«

Manchmal deprimierte es sie, dass Leute versuchten, ungestraft mit etwas davonzukommen, wenn niemand hinsah – vor allem, wenn es dabei um Menschen ging, die sich nicht wehren konnten.

Als Julie endlich mit ihren Berichten fertig war, legte sie den Ordner aus der Hand. Sie fragte sich, ob sie etwas essen sollte, obwohl sie so müde war. Sie war nicht hungrig, hatte aber den ganzen Tag über nicht viel zu sich genommen. Sie blieb sitzen und sah zu, wie die Leute im Fernsehen abgeschlachtet wurden, gelangweilt, aber unfähig, sich zu rühren. Es schien keine Rolle zu spielen, ob sie etwas aß oder nicht. Es war ihr egal, ob sie den Film sah oder nicht. Vielleicht sollte sie ins Bett gehen. Oder einfach dort einschlafen, wo sie gerade saß, und dann nachts aufwachen und sich fragen, warum sie überhaupt noch lebte.

Das war doch kein Leben. Jeder musste arbeiten, es gab immer Schwierigkeiten, die man überwinden musste, um zu überleben – dauernd die gleichen Dinge, immer wieder, wie der Atem oder der Puls. Das war Essen und Schlafen für sie geworden: etwas, das erledigt werden musste, und ein Ende war nicht in Sicht. Aber alle anderen hatten die Momente zwischen der Arbeit: die Momente, die zählten, die Momente, für die sich das alles lohnte.

Das war es, was Leben ausmachte, dachte Julie. Die Momente dazwischen. Und sie hatte keine. Sie war wie gelähmt von der Trägheit des Ganzen. Manchmal fragte sie sich, ob sie vor sieben Jahren in der Unterführung gestorben war, denn das war kein Leben.

Das Telefon klingelte. Sie schaltete den Fernseher aus.

»Hallo? Monsieur Costa, beruhigen Sie sich …« Sie mochte Michel Costa. Er war alt, aber immer noch bei Verstand, Lehrer an der Schule im Ort, bevor man ihn dann irgendwann doch in Pension geschickt hatte. Er schluckte sämtliche Herzmedikamente, die je erfunden worden waren, aber sein Gehirn funktionierte immer noch einwandfrei. »Ich höre Ihnen zu.«

Schmerzen in der Brust, Herzrasen. Nichts Ungewöhnliches bei ihm. Sie befragte ihn so lange, bis sie sicher sein konnte, dass es nichts Ernsteres war, und versprach, so schnell wie möglich vorbeizukommen.

»Es ist dringend«, sagte er.

»Ich habe auch nur zwei Beine, Monsieur Costa. Ich beeile mich. Und Sie sollten sich jetzt hinlegen. Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben, okay?«

»Ich warte auf Sie, Julie.«

»Ich bin bald da. Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt schon wieder in Ordnung.«

Eine Pause entstand. »Julie? Ich wollte Ihnen noch –« Er brach ab.

»Ja?« Sie wartete. Es dauerte fünf oder sechs Sekunden, bis sie eine Antwort bekam.

»Wir sehen uns dann.« Monsieur Costa legte auf. Er war irgendwie abgelenkt gewesen, was nichts Gutes verhieß.

Julie starrte noch einen Moment das Telefon an und fragte sich, ob Michel Costas Gehirn nicht doch langsam in der Dunkelheit versank.

Sie verließ ihre Wohnung und ging die Treppe hinunter. Vor dem Eingang des Apartmentgebäudes sah sie einen Mann, der wütend auf dem elektronischen Zahlenschloss herumtippte. Groß, jung, mit widerspenstigen dunklen Haaren. Sie wusste nicht, wer er war, aber andererseits achtete sie auch nicht besonders auf die anderen Bewohner. Als sie die Tür öffnete, sah er sie erleichtert an.

»Guten Abend«, sagte sie, als sie an ihm vorbeiging.

»Ist der Code geändert worden?«, wollte er wissen.

»Nein.«

Der junge Mann machte den Mund auf und wollte noch etwas sagen, aber Julie blieb nicht stehen. »Gute Nacht!«, rief er ihr nach. Sie lief weiter.

Julie hatte Glück, denn der Bus, der quer durch die Stadt fuhr, tauchte in dem Moment am Ende der Straße auf, als sie die Haltestelle erreichte. Anschließend musste sie sich noch zehn Minuten lang ein paar steile Straßen zu Michel Costas Haus hochschleppen.

Als er zur Tür kam, hatte sie den Eindruck, als wollte er sie nicht hereinlassen.

»Julie, ich … ähm … ich habe noch einmal bei Ihnen angerufen, um Ihnen zu sagen, dass es mir gut geht, aber Sie waren vermutlich schon weg. Sie hätten nicht herkommen brauchen, es geht mir schon viel besser. Viel besser.«

Sie lächelte ihn kurz an, machte sich aber gleichzeitig Sorgen um seinen Geisteszustand. Der Mann hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Seine Frau war schon vor Jahrzehnten gestorben und Kinder gab es nicht. Schmerzen in der Brust und Verwirrung – das könnte etwas Ernsteres sein als die üblichen stechenden Schmerzen. »Jetzt bin ich jedenfalls hier. Ich sehe Sie mir kurz an, ja?«

Er blieb in der Tür stehen.

Julie hob die Augenbrauen und lächelte wieder. »Kann ich reinkommen?«

Monsieur Costa blinzelte. »Ja, natürlich, Julie. Natürlich.«

Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wo sie ihn aufforderte, sich zu setzen, während sie ihn genau beobachtete. Sein Blick huschte immer wieder zum Flur, er wirkte aufgeregt, fast verängstigt.

Julie untersuchte ihn. Alles war einigermaßen normal, obwohl seine Herzfrequenz etwas erhöht war – aber keine Anzeichen für einen Schlaganfall oder etwas Schlimmeres. Sie führte seine erhöhte Herzfrequenz auf Angstzustände zurück und gab ihm etwas zur Beruhigung, doch nach der Spritze konnte sie nicht mehr viel tun.

»Monsieur Costa, Sie kommen mir so beunruhigt vor. Geht es Ihnen gut?«

Er sah sie an. Für einen Moment dachte sie, dass er ihr etwas sagen, dass er ihr etwas anvertrauen wollte, aber dann wandte er den Kopf ab. »Mir geht es gut«, murmelte er.

Julie stand auf und packte zusammen. Als sie gerade gehen wollte, hörte sie ein Geräusch, als würde jemand mit Tellern klappern. »Ist jemand im Haus?«, fragte sie, während sie sich der Tür näherte.

Michel Costa stand auf und stellte sich ihr so schnell in den Weg, dass er völlig außer Atem geriet. »Ich bin allein. Das ist nur …« Wieder dieser Blick, als ob er ihr etwas sagen wollte. »Da ist niemand.«

War da jemand? Sie beugte sich zu ihm und flüsterte: »Wenn ich die Polizei rufen soll, nicken Sie einfach.«