Der Autor
Geboren 1920 in Bethlehem. Studium der Anglistik in Cambridge. Dozent für englische Literatur an der Universität in Jerusalem. Nach der Vertreibung aus Palästina 1948 ging er ins Exil in den Irak, wo er bis zu seinem Tod Ende 1994 lebte. Sein literarisches Werk umfasst sechs Romane, eine Erzählungssammlung und drei Gedichtbände; ausserdem war er als Übersetzer englischsprachiger Literatur ins Arabische und als Literaturkritiker tätig.
Titel der arabischen Originalausgabe:
al-Bi’r al-ûlâ
Copyright © 1987 by Yasser Jabra Jabra
E-Book-Ausgabe 2015
Copyright © der deutschen Übersetzung
1997 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
(Selbstportrait von Dschabra Ibrahim Dschabra)
www.lenos.ch
ISBN 978 3 85787 941 8
Der erste Brunnen
Eigentlich wollte ich eine vollständige Autobiographie schreiben. Immerhin habe ich selber die Schriftsteller meiner Generation dauernd dazu aufgefordert, ihre Lebenserinnerungen zu Papier zu bringen. Sie sollten den Wandel, die Entwicklung, den Kampf festhalten, die Dinge, die ihr Leben, das Leben jedes einzelnen von uns, ja unser ganzes Zeitalter geprägt haben. Doch ich musste feststellen, dass ich dazu nicht in der Lage war, ohne auf eine ungeheure Menge Aufzeichnungen aus all den Jahren, vor allem Briefe, zurückzugreifen. Und das sind Tausende, auf arabisch und englisch, aus aller Herren Länder. Unmöglich, sie alle durchzusehen! Ausserdem habe ich nur einen Teil aufgehoben. Ich musste einsehen, dass ich ohne all diese Briefe auf nichts weiter als auf meine lückenhaften Erinnerungen, auf ungeordnete Bruchstücke angewiesen wäre.
Also beschloss ich, lediglich die ersten Jahre meines Lebens aufzuschreiben, beginnend mit den ersten Kindheitserinnerungen bis hin zum Studium in England. Als ich anschliessend nach Jerusalem zurückkehrte, den Hitzkopf voller widersprüchlicher Ideen, war ich gerade vierundzwanzig Jahre alt. Doch dann hatte ich das Gefühl, dass allein meine Studienjahre in Exeter, Cambridge und kurzzeitig auch in Oxford einen ganzen Band füllen würden, wenn ich ehrlich und genau sein wollte. Deshalb sagte ich mir: Ich schreibe lieber erst einmal alles bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr auf. Das ist das Alter – auf zwei Wochen genau –, in dem ich Jerusalem verliess, um in England zu studieren. Das Ende eines Lebensabschnitts und der Beginn eines neuen.
Wie dem auch sei, jene ersten Jahre meines Lebens waren so reich an Erlebnissen und persönlichen Erfahrungen, dass sie durchaus eine zusammenhängende Darstellung verdienen. Darüber zu schreiben könnte spannend werden, aber auch schwierig, und vielleicht würde ja die Schilderung der Kindheit den Einstieg in den folgenden Lebensabschnitt erleichtern. Als ich jedoch die allerersten Eindrücke meiner Kindheit aufschrieb, fand ich, dass ich mich sehr beschränken und vieles weglassen müsste, um zu einem Ende zu kommen. Noch einmal musste ich feststellen, dass die Etappe, die ich mir zu schildern vorgenommen hatte, viel zu lang war. Die Kindheit ist eine Sache, das Erwachsenwerden eine andere. Obwohl das eine im Grunde nur die Fortsetzung des anderen darstellt – unter einem weiteren Blickwinkel eben –, ist es doch selbst so reich und vielfältig mit seinen Wonnen und Schmerzen, Liebesgeschichten und Freundschaften, dass dem nur mit einem zweiten Buch Genüge getan werden kann. Daher habe ich mich entschlossen, es bei den ersten zwölf Jahren meines Lebens bewenden zu lassen, genauer gesagt bei sieben oder acht davon, bis zum Jahre 1932, als ich mit meinen Eltern von Bethlehem nach Jerusalem zog – ein Ereignis, das für alles Weitere entscheidend war.
Als ich mich mit den Ereignissen meiner Kindheit zu beschäftigen begann, merkte ich, dass ich nach mehr als vierzig Jahren Schriftstellerei eine Menge davon bereits in Artikeln, Kurzgeschichten und besonders in meinen Romanen verarbeitet hatte. Sollte ich einiges davon als erläuternde oder erzählende Passagen im neuen Rahmen einer Autobiographie verwenden? Nein, das würde ich nicht tun. Das, was ich über meine Kindheit in Erzählungen und Romanen geschrieben hatte, sollte so bleiben, wie es war. Die Leser mochten es interpretieren, wie es ihnen gefiel. Ich musste nehmen, was ich noch nirgendwo festgehalten hatte. Und das war nicht wenig.
Ich erinnere mich an einen Tag im Jahre 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In einem Café in Jerusalem lernte ich eine charmante, intelligente Frau kennen. Heidi Lloyd hiess sie. Sie erzählte mir, dass sie Bildhauerin sei und in Bagdad studiere. Ihr Mann sei ein bekannter Archäologe. Zu jener Zeit war ich gerade Präsident des Künstlerclubs und Dozent für englische Literatur an der Raschîd-Schule. Ich veröffentlichte auch Lyrik auf englisch. Es stellte sich heraus, dass sie einiges von mir gelesen hatte. Materiell ging es mir damals nicht gerade gut, und so war es mir jedesmal unangenehm, wenn ich darauf angesprochen wurde.
Als unser Kaffee kam, forderte sie mich plötzlich auf: »Erzählen Sie mir aus Ihrem Leben! Man sagt, Sie hätten schon immer ein aufregendes Leben gehabt.«
Ich musste lachen: »Ein aufregendes Leben? Ich bin nicht gerade ein Held. Falls Sie das noch nicht wussten.«
»Nein, nein«, sagte sie, »das meine ich nicht. Sondern wie Sie sich so fühlen: körperlich, seelisch, geistig. Ihr Gefühlsleben eben.«
Erlebnisse aus meiner Kindheit, meiner Jugend und meiner Zeit in England schossen mir durch den Kopf. »Wenn Sie das meinen, schön, aber nicht jetzt. Denn das ist eine lange Geschichte, eine sehr lange Geschichte.«
»Dann darf ich hoffen, eines Tages ihre Autobiographie zu lesen?«
»Ich fürchte, das kann noch lange dauern. Aber jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Bildhauerei. Erzählen Sie mir von Bagdad!«
Wenn ich damals jünger gewesen wäre, hätte ich wohl irgendwie gespürt, dass dies alles eine viel längere Geschichte werden würde. Und was soll ich nun sagen, wo sich die Sache noch ganze vierzig Jahre hingezogen hat. Jene Künstlerin musste wirklich lange warten. Ich habe sie übrigens nie wieder gesehen, auch nicht, als ich drei Jahre später nach Bagdad ging. Kann man sagen, dass sie die erste war, die mich darauf gebracht hat, in irgendeiner Form über mein Leben zu berichten?
Ich möchte allerdings keine Chronik jener Zeit niederschreiben. Es gibt klügere und fähigere Leute, um jene Ereignisse der zwanziger und beginnenden dreissiger Jahre in Palästina zu dokumentieren. Auch will ich keine Familienchronik anlegen. Das ist eine andere Sache. Und ich glaube auch nicht, dass ich dazu in der Lage wäre. Ebenso wenig möchte ich eine soziologische Studie über einen Ort in Palästina schreiben, der damals noch ganz klein war, nicht mehr als fünftausend Einwohner und eine Handvoll Grundschulen besass, die meisten davon unter kirchlicher Obhut. Mittlerweile hat sich jener kleine Ort zu einer wirtschaftlich und politisch bedeutenden Stadt entwickelt. Immerhin hat er heute fast achtzigtausend Einwohner, viele Schulen und sogar eine Universität mit Dutzenden von Absolventen jedes Jahr.
Was ich hier aufschreibe, ist rein persönlich. Meine Kindheit. Es geht lediglich um mich selbst, wie ich mein Ich beobachten, erfühlen und begreifen lernte. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ratlosigkeit restlos verschwand. Um mich nicht in einer weitverzweigten, wenn auch interessanten Familienchronik zu verlieren, habe ich es vorgezogen, Schritt für Schritt jenes Dasein zu schildern, das ich zunehmend kennen und verstehen lernte. Mit all seiner Unschuld, an der ich mich festklammerte, bis ich sie dann doch verlor. Dieses Leben war freilich nicht losgelöst von seiner Umgebung, sondern ein Teil jener Häuser und Bäume, Hügel und Täler, ein Teil der Sonnenstrahlen und Regentropfen, der Stimmen und der Gesichter, die immer da waren, die seine Wertvorstellungen bestimmten und allesamt Schönes und Hässliches, Glück und Trauer verhiessen.
Absichtlich oder auch unabsichtlich machte ich aus meinem Ich und meinem Umfeld manchmal zwei miteinander austauschbare Dinge, das eine zum Spiegel des anderen, ja sogar zu einer symbolischen Inkarnation. Und weil alles irgendwann einmal dem Untergang geweiht ist, versuche ich nun, es mit einem Netz aus Wörtern einzufangen und festzuhalten. Damit es auf keinen Fall verlorengeht!
Manchmal standen mein Ich und meine Umwelt auch auf völlig entgegengesetzten Seiten. Das Ich wollte sich um alles in der Welt nicht in seiner Umgebung wiedererkennen oder gar seine aggressive Haltung aufgeben. Das ging so lange, bis es gewillt war, sich zu beherrschen und zu verändern. Vielleicht ist das die Geschichte des Erwachsenwerdens oder zumindest ein Teil davon, eben die Zunahme von Wissen und Willenskraft, analytischem Verstand und Phantasie. Ja, es ist die Geschichte von der verlorengegangenen Unschuld und dem Versuch, sie zurückzugewinnen.
Da fällt es einem plötzlich ein, dass die Kindheit – wie weit sie auch zurückliegen mag – mit all den grossen Veränderungen in ihrem Umfeld vielleicht nie richtig eingeordnet wird, wenn man sie von der Folgezeit losgelöst betrachtet. Die Kindheit ist im Grunde keine Geschichte an sich. Sie besteht vielmehr aus vielen verschiedenen Einzelgeschichten, die man – selbst wenn sie aufeinander folgen – oftmals nur durch literarische Techniken miteinander verknüpfen kann. Sie drängt sich einem stets irgendwie auf, besucht einen des Nachts in den Träumen in immer anderem Gewand und erscheint auf einmal in Tagträumen, und dies nicht als blosse Erinnerung.
Die Geschichten der Kindheit sind also eine Mischung aus Erinnerungen und Träumen, ein Verschmelzen von Wahrheit und Dichtung, ein Zusammenspiel von Rationalem und Irrationalem. Ein buntes Allerlei, das irgendwo ganz tief in unserer Seele sitzt und das nie richtig interpretiert wird, wie sehr sich unser Geist auch anstrengen mag, es zu entwirren. Die meisten Autoren von Autobiographien, ganz gleich aus welcher Zeit und welcher Kultur sie stammen, neigen wohl eben wegen dieser Schwierigkeiten dazu, die Kindheit unberücksichtigt zu lassen. Wenn sie dennoch ihr Augenmerk auf sie richten, dann blicken sie darauf aus einer gewissen Distanz, die sie ihrem Alter und ihrer geistigen Entwicklung verdanken. Ereignisse aus der Vergangenheit dienen ihnen lediglich dazu, die Gegenwart zu rechtfertigen. Indem sie frühe Erfahrungen für ihre späteren Handlungen verantwortlich machen, entziehen sie ihren Kritikern den Boden. Sie haben nie viel über ihre Kindheit zu berichten und widmen ihr selten mehr als ein oder zwei Kapitel. Sie können es kaum abwarten, über die in ihren Augen viel wichtigere Etappe zu schreiben, die Phase des Erwachsenwerdens, besonders über die ersten sexuellen Regungen mit all ihren Wonnen und Qualen. Danach geht es um die späteren Etappen der Jugend, darum, was man für Taten vollbracht und was für geistige Höhenflüge gehabt, was man geschafft oder auch nicht geschafft hat.
Das mag alles richtig sein. Und doch möchte ich es anders machen, vielleicht eingedenk William Wordsworths Ausspruch: »Das Kind ist der Vater des Menschen.« Aus dem starken Wunsch heraus, den Reiz jenes Lebensabschnitts an sich zu würdigen. Vielleicht auch, weil dieser dem Ursprung des Daseins so nahe ist, zumal er – um noch einmal Wordsworth zu zitieren – im Himmel, bei Gott, zu suchen ist. Ich habe versucht, zurückzugehen und jene Zeit der Kindheit wiederaufleben zu lassen, ohne mich dabei in Analysen zu ergehen oder ins Philosophieren zu kommen. Ich bin so ausführlich wie möglich geworden. Trotzdem war ich auch gezwungen, auszuwählen und manches wegzulassen, immer das ewige Problem des Schriftstellers vor Augen, wie man mit einer begrenzten Zahl von Worten den Fluss der Ereignisse einfangen kann. Ich musste einfach bestimmte Dinge aussparen, auch wenn sie sich bei mir fest eingeprägt haben und zärtliche Gefühle entfachen: einen Reiz, der mit der Zeit wächst, eine Poesie, die aus Schmerzen schöpft, eine Wehmut, die genährt wird von der kindlichen Begeisterung für jeden Augenblick des Lebens – jenes Lebens, das heute vielleicht zu einem grossen Teil hart, grausam und alles andere als erstrebenswert erscheint.
Die späteren Lebensabschnitte mögen zwangsläufig viel reicher und vielseitiger sein und darauf warten, gleichfalls in Worte gekleidet zu werden. Die Kindheit indes besitzt eine magische Anziehungskraft, die ewig rätselhaft bleiben wird. Ihr verlockender Zauber fesselt unsere staunenden Blicke immer wieder aufs neue und belebt die Seele, wenn sie im grauen Alltag zu ersticken droht.
Jedesmal, wenn wir umziehen wollten, galt unsere erste Frage dem Brunnen. Gab es einen Brunnen im Hof? War er tief? Neu? Das Wasser gut? Oder war er seit Jahren nicht mehr ausgeschlämmt worden?
Die Brunnen waren – abhängig vom jeweiligen Haus – ganz unterschiedlich, ebenso die Einfassungen – eine Art Haus- und Brunnenchronik. Im Laufe der Zeit hinterlassen die Seile, mit deren Hilfe die Eimer heraufgezogen werden, ihre Spuren an der Innenseite eines Brunnenrands. Zuerst polieren sie das Innere, dann graben sie immer mehr und immer tiefere Furchen ein. Nur wenige Brunnen hatten einen eisernen Bügel mit einer quietschenden Rolle für das Seil in der Mitte. Die gab es lediglich in den grossen, einigermassen komfortablen Häusern, wo das Regenwasser von den Dächern über verdeckte Leitungen in die Brunnen floss. Sie waren oft sogar mit einer Pumpe ausgestattet, so dass man das Wasser nicht mit dem Eimer heraufholen musste.
Die Häuser, die uns beherbergten, waren immer sehr einfach. Regenwasser floss über eine Dachrinne auf den Hof und von dort in ein höchstens einen Meter tiefes Sammelbecken. Bevor das Wasser über eine etwas erhöhte Rinne in den Brunnen weitergeleitet wurde, konnte sich in der Grube der Schmutz absetzen, der mit dem Regenwasser hineingespült worden war. Dadurch wurde das Wasser etwas sauberer. Doch das konnte einige Tage dauern und verhinderte auch nicht, dass trotzdem Schmutz in den Brunnen gelangte. Deshalb musste der Brunnen alle paar Jahre gereinigt werden. Solche Brunnen waren in den Städten und Dörfern der palästinensischen Bergregionen jahrhundertelang lebensnotwendig. Alles hing von den winterlichen Niederschlägen ab. Die Regengüsse versorgten Weizen, Gerste und Hirse auf den Feldern mit Wasser. Sie waren wichtig für die Oliven, Aprikosen, Mandeln und Weinstöcke in den Tälern und auf den Hügeln. Sie füllten die Brunnen mit Wasser für die übrigen Zeiten des Jahres. Nur die Orangenhaine in den Küstenebenen wurden auf andere Art und Weise bewässert. Glück hatten die Dörfer mit einer eigenen Quelle. Dort gab es immer eiskaltes, kristallklares Wasser.
Bei uns stand in einer Ecke des Hauses ein Tonkrug mit Wasser zum Trinken oder Kochen. An heissen Tagen aber holten wir uns mit dem Eimer köstliches kaltes Wasser direkt aus dem Brunnen. Und im Winter kam uns dieses Wasser weniger eisig vor als das aus dem Krug. Auch unsere Gemüsebeete gossen wir mit Brunnenwasser. Wenn es aufgebraucht war, mussten wir zu unseren Nachbarn »betteln« gehen oder welches beim Wasserträger kaufen. Ohne Wasserträger wäre Bethlehem zu jener Zeit nicht vorstellbar gewesen; man traf sie vor allem in der Gegend um Ain al-Kanât, jener Quelle, die schon seit alter Zeit mit Wasser aus den Bergen versorgt wurde. Eine grosse Erleichterung für die vielen, die zu Hause keinen eigenen Brunnen besassen.
Der Wasserträger schleppte das kostbare Nass in einem grossen schwarzen Lederbalg auf dem Rücken. Während des Ersten Weltkriegs kamen allerdings zunehmend Benzinkanister auf. Zunächst wurden sie von der osmanischen Armee benutzt, dann brachten die Ölgesellschaften sie mit. Der Wasserträger kam schliesslich auch mit vier Kanistern, die er einem Esel auf den Rücken gebunden hatte. Er selbst war mit einer schwarzen Lederschürze bekleidet, um sich vor der ständigen Nässe zu schützen. Oftmals mussten wir auch selber zur Quelle gehen und in dem Gedränge und Geschrei von Frauen und Kindern unsere Tonkrüge und Blechgefässe füllen. Die trugen wir dann freudig nach Hause, gleichgültig, wie weit es war.
Der Brunnen! Wie wichtig er doch war! Einfach lebensnotwendig. Die Zeiten, in denen wir keinen Brunnen im Hof hatten, waren wirklich hart für uns. Und der Brunnen des Lebens ist vergleichbar mit jenem elementaren Brunnen, ohne den man nicht existieren kann. In ihm sammeln sich die Erfahrungen wie Regenwasser als stille Reserve für durstige Tage. Unser Leben ist nichts weiter als eine Reihe von Brunnen. Zu Beginn jedes Lebensabschnittes graben wir einen neuen. Wir leiten in ihn Wasser, das vom Himmel herabregnet und Erfahrung genannt wird. Und jedesmal, wenn uns der Durst quält und die Trockenheit unsere Erde bersten lässt, kehren wir zu diesem Brunnen zurück.
Der erste Brunnen ist der Brunnen der Kindheit. Es ist der Brunnen, in dem sich die frühesten Erfahrungen gesammelt haben, das, was man sah und hörte, das erste Glück und das erste Leid, Sehnsüchte und Ängste, die über ein Kind hereinbrechen. Dann weitet sich das Bewusstsein, wächst der Verstand, und wenn das Kind jeden Tag an dem Brunnen vorbeigeht, lernt es zu erdulden oder sich zu freuen. Wann immer es aus diesem Brunnen schöpft, begreift es das Leben besser, begreift es das, was es sieht und hört, Glück und Leid, Sehnsüchte und Ängste. Wenn man nach Jahren dann wieder Wasser schöpfen will, weiss man nicht, ob das, was man da heraufzieht, herrlich süss oder schrecklich bitter ist. Vielleicht hat sich viel Schlamm angesammelt und das Wasser trübe gemacht. Warum auch nicht? Man lebt trotzdem. Ohne solche Brunnen wäre das Leben arm. Und jedesmal, wenn man zurückkehrt, findet man eine Quelle, die einfach nur Menschlichkeit spendet.
Chan nannten meine Eltern unsere Behausung, und für unsere Besucher waren wir schlicht und einfach die »Chan-Bewohner«. Ganz ohne Zweifel war das Haus einmal eine Karawanserei, also ein Chan, gewesen. Unsere Wohnung bestand aus einem riesigen Raum zu ebener Erde in diesem alten Gebäude an der Hauptstrasse gleich hinter der Grossen Moschee. In der Nähe gab es alle möglichen Läden und Werkstätten, angefangen bei Krämern über Schuster bis hin zu Sattlern. Unsere Wohnung hatte kein einziges Fenster, nur ein grosses Eisentor wie bei einem Lagerhaus. Es liess sich kaum bewegen, so schwer war es. Neben dem Tor befand sich ein kleines Klosett, das sicher erst nachträglich hinzugekommen war. Der Bau stammte aus der Zeit der Osmanenherrschaft – und die war lang gewesen.
Zwischen unserem Tor und der Strasse gab es noch eine etwas kleinere hölzerne Pforte, den Eingang zum Chan, auch er später hinzugefügt, um eine Abtrennung von der Strasse zu schaffen. Sobald man über die hohe Schwelle gestiegen war, blieben nur noch einige Schritte bis zu unserem Tor. Links, noch im Freien, führte eine Steintreppe geradewegs zu einer grün gestrichenen Tür im oberen Stockwerk. Wenn ich nach oben stieg, fand ich die Tür fast immer offen. Dort wohnte ein stets schwarzgekleideter Mann mit einem kurzen Vollbart, den ich niemals anders antraf als an seinem Tisch, wo er kleine Apparaturen auseinandernahm und wieder zusammensetzte. Das ist Jûssuf der Mönch, hiess es, ein Fachmann, wenn es um Uhren und Apparate geht. Neben seinem Zimmer führte die Treppe noch ein Stockwerk höher: zum Dachboden.
Dieser Boden, ein langgestreckter Raum, war Sonntagmorgen immer voller Männer und Frauen. Einige Knaben in langen weissen Hemden trugen Psalmen vor, während ein alter Mann in ihrer Mitte mit einem langen weissen Bart und einem blauen Brokatmantel von Zeit zu Zeit seine Stimme zu einem liturgischen Gesang erhob. Überall leuchteten Kerzen. Vater erklärte mir, das sei die Kirche, das Haus Gottes. Der alte Mann sei der Priester, Vater Hanna, dem wir immer, wenn wir ihm begegneten, die Hand zu küssen hätten. Der Weihrauchduft hielt sich noch die ganze Woche im obersten Stockwerk, jeder Windzug trug ihn zu uns herunter in den Chan und erfüllte die Luft mit Wohlgeruch.
Der Chan war lang, feucht und dunkel, ausser wenn ein Strahl der Morgensonne durch das geöffnete Tor fiel. In einer Ecke hatte Mutter einen Petroleumkocher der Marke Primus, der je nachdem, wie hoch die Flamme war, eigenartige Geräusche von sich gab. Es klang, als ob er ein Lied sänge. Mutter stimmte manchmal ein. Wenn er nicht so wollte wie sie, regulierte sie ihn geschickt mit einer speziellen Nadel.
Vater machte sich auf den Weg zur Arbeit, wenn ich noch schlief. Nach dem Aufstehen tranken mein Bruder und ich erst einmal den Tee, den Grossmutter schon gekocht hatte, assen ein Stück Brot mit Oliven und gingen hinaus auf die Strasse. Die kalten Pflastersteine waren nichts für unsere nackten Füsse. Nach und nach gesellten sich Gleichaltrige zu uns, und gemeinsam liefen wir von der Moschee zum Klostertorplatz1 hinunter, wo Pferdekutschen und manchmal auch ein paar Autos warteten. Langsam füllte der Platz sich mit Leuten, die in die Kutschen und Autos stiegen oder in den Restaurants und Cafés sassen. Die Sonne verströmte ihr Licht reichlich über den Platz, ganz anders als im Chan. Sie beschien auch die Täler ringsumher und die Berge in der Ferne und vertrieb die Kälte, die uns beim Verlassen des Hauses empfangen hatte.
Eines Morgens – mein Bruder war schon in der Schule – ging ich mal nicht aus dem Haus, sondern wollte lieber mit Mutter und Grossmutter das Kochen meines Lieblingsgerichts Haitalîja, Milchreis, überwachen. Die Milchhändlerin hatte an unsere Tür geklopft und Mutter ein paar Liter verkauft, die gleich in einen grossen Topf gegossen wurden. Ein aussergewöhnliches Ereignis, denn Mutter sagte immer, dass sie nur zu besonderen Anlässen Milch kaufen könne. Ich stieg zunächst einmal die Treppe hinauf, um Jûssuf dem Mönch guten Morgen zu sagen und dann von der Galerie vor der Dachbodenkirche die Jungen zu rufen, die in der Gasse spielten. Als ich wieder hinunterging, um zu sehen, wie weit die Haitalîja war, da hatte Mutter das heiss ersehnte Festmahl schon fertig.
Sie schüttete den Reis in eine flache Metallschüssel und stellte diese in eine Ecke auf den Boden. »Lassen wir ihn noch zwei Stunden abkühlen«, sagte sie. »Heute mittag bekommst du eine Kostprobe. Wir heben ihn aber für heute abend auf, wenn Vater von der Arbeit kommt. Er isst Haitalîja ja auch so gern.« Sie legte mir ans Herz, nicht so oft raus und rein zu gehen, sondern »vernünftig« zu sein, solange sie mit Grossmutter auf dem Markt war, Gemüse kaufen. »Wenn du rausgehst, mach die Tür gut hinter dir zu«, sagte sie. »Und lass niemanden herein!«
Kaum war ich allein, betrachtete ich sehnsüchtig das köstliche weisse Gericht. Ich streckte meinen Finger danach aus und kostete. Einfach lecker! Aber noch heiss. Mutter wollte es kalt. Na gut, ich konnte ja in der Zwischenzeit ein bisschen hinausgehen. Vorher naschte ich noch einmal. Auf der Strasse vor der Tür des Ladens gegenüber traf ich einen meiner Freunde: »Weisst du schon, meine Mutter hat uns heute Haitalîja gekocht.« Als wir hinter die Moschee liefen, trafen wir noch mehr Jungen. »Seine Mutter hat heute Haitalîja gekocht«, erzählte ihnen mein Freund.
Immer mehr Kinder des Viertels kamen zum Spielen. »Meine Mutter hat Haitalîja gekocht!« rief ich.
»Du Lügner«, bemerkte einer.
»Selber ein Lügner!« gab ich zurück. »Komm doch her und sieh nach!« Und zu den anderen gewandt, sagte ich: »Los, kommt mit zu uns. Bei uns gibt es Haitalîja.«
»Und deine Mutter?«
»Die ist mit Grossmutter einkaufen.«
Wir rannten Richtung Chan. Die Eingangstür stand wie immer offen. Ich bat meine Freunde hereinzukommen. Gemeinsam – wir waren sieben oder acht – stiessen wir das grosse Eisentor zu unserer Wohnung auf und traten ein.
Trotz des Halbdunkels leuchtete uns auf dem Boden die Schüssel mit dem weissen Milchreis entgegen. Ich stellte sie in die Nähe der Tür, wo es etwas heller war. »Setzt euch!« forderte ich die Jungen auf. Sie nahmen in einem Kreis auf dem Boden Platz, in ihrer Mitte die Schüssel. »Wartet!« rief ich. »Nicht mit den Fingern! Wir haben Löffel.« Neben dem Ofen stand ein Gefäss mit grossen und kleinen Löffeln aus Holz und Aluminium. Ich verteilte sie reihum. Für mich blieb keiner übrig. Als die Jungen zu essen begannen, nahm ich mir schnell eine Schöpfkelle und kämpfte mich zwischen ihnen durch. Gemeinsam liessen wir es uns schmecken.
Mitten in diesem herrlichen Augenblick, als wir schon fast alles geschafft hatten, kam Mutter zur Tür herein, hinter ihr Grossmutter. Sie schrien so laut, dass das Haus wackelte. Die Jungen warfen ihre Löffel weg und machten sich in Windeseile durch die offene Tür aus dem Staub. Bevor Mutter die Hand gegen mich erheben konnte, war auch ich ins Freie gerannt. Meine Freunde waren unterdessen in alle Winde zerstoben. Ich lief weiter, bis ich völlig ausser Atem und mutterseelenallein das Tor der Geburtskirche erreichte. Da begriff ich, dass wir meinem Vater alles weggegessen hatten. Wenn er heute abend müde von der Arbeit kam, war nichts mehr da für ihn. Und ich war schuld. Ich hatte Angst, nach Hause zu gehen.
Zum Spielen fand ich allerdings auch niemanden. Gleich neben dem Eingang der Geburtskirche auf einer Seite des Platzes schöpfte ein Mann mit einem Ledereimer aus einem grossen Brunnen Wasser und goss es in ein rechteckiges Steinbecken. Drei Kamele steckten ihre Köpfe so weit hinein, dass ihre riesigen Lippen fast den Boden berührten. Während sie gierig das Wasser schlürften, kamen ihre scheusslichen gelben Zähne zum Vorschein. Ich blieb stehen und sah sie mir an: die Rundungen ihrer langen Hälse, ihre gewaltigen Bäuche, ihre enorm langen Beine und ihre platten Hufe. In gehörigem Abstand strich ich um sie herum. Der Mann kam kaum nach mit Schöpfen, so gross war der Durst der Tiere. Ich schlenderte weiter und bog in eine Nebenstrasse ein. Dort blieb ich vor den Souvenirläden stehen und bewunderte Rosenkränze, Bilder, Perlmuttkreuze und kleine Kamelkarawanen aus Olivenholz.
Nach einer Weile schwand meine Angst, oder ich hatte sie vergessen. Jedenfalls bekam ich auf einmal grossen Hunger und machte mich auf den Heimweg. Doch als ich vor der Tür stand, war die Angst vor meiner Mutter wieder da. Ich riskierte einen Blick ins Innere und rief. »Mama! Oma!« Mein Bruder kam heraus. Er war schon aus der Schule zurück. »Komm!« ermunterte er mich lachend. »Herein mit dir! Den anderen gibst du Löffel zum Essen und selber nimmst du die Schöpfkelle. Nicht schlecht! So ein Spass! Los, komm rein!« Er zog mich ins Haus. Mutter schaute mich vorwurfsvoll an. Plötzlich verwandelte sich der zornige Blick in eine Art Lächeln. »Du kleiner Teufel«, sagte sie. »Glaubst du, wir können es uns leisten, unser Essen unter die Leute zu verteilen? Du denkst wohl, du bist ein Krösus? Werde erst mal selber satt, bevor du an die anderen denkst!«
Sie sah meinen Bruder an und sagte: »Nimm die Kanne, Jûssuf, und die zwei Piaster hier und lauf zur Milchhändlerin. Wenn sie noch welche da hat, dann kauf acht Liter. Aber komm schnell wieder. Ich koche Vater noch mal Haitalîja. Und dein Bruder wird nichts davon bekommen. Bei Gott! Nimm ihn mit! Ich will ihn nicht sehen.«
Am Abend machte meine Mutter ihre Drohung doch nicht wahr. »Na, setz dich zu Vater und deinem Bruder«, sagte sie in einem etwas unnatürlichen Ton. »Willst du die Schöpfkelle oder reicht dir ein Löffel?«
Am nächsten Morgen ging Vater mit meinem Bruder und mir ganz früh in die Kirche. Ich wurde in eine der beiden Reihen der Chorknaben gesteckt. Und obwohl ich überhaupt nicht wusste, was sie da auf altsyrisch vortrugen, versuchte ich mitzusingen, sobald sie ihre Stimmen erhoben. Dabei beobachtete ich den Jungen mit dem Weihrauchgefäss neben Vater Hanna. Dieser nahm mit einem kleinen Löffel ein wenig Weihrauch aus dem Kupferfässchen in der anderen Hand des Jungen, legte es auf die glühenden Kohlen des Weihrauchgefässes und schlug darüber ein Kreuz. Dann durchschritt der Junge das Heiligtum und den Gebetsraum und schwenkte rhythmisch das Weihrauchgefäss, das eine Duftwolke verströmte.
Ich hätte auch gern so ein Weihrauchgefäss gehabt und damit die Menschen und das Haus eingeräuchert und die Treppe und alle Leute und Wohnungen in der Gasse. Von Vater wusste ich, dass durch den Duft des Weihrauchs die Engel losfliegen und der Segen Gottes auf jeden kommt, der den köstlichen Duft verströmt. Wie sehr sehnte ich mich danach, jene Engel einmal zu sehen.
Dieser Wunsch bohrte in mir so lange, bis ich mir schliesslich einbildete, die Engel zu erblicken, eben so, wie man auch Gespenster wahrnehmen kann. Sie sahen halb wie Vögel, halb wie Frauen aus, und ich spielte mit ihnen und lud sie ein, mit mir Milchreis zu essen. Wir konnten uns den Bauch vollschlagen, denn für Mutter waren sie ja unsichtbar. Vielleicht sah sie auch mich nicht, wenn ich mit ihnen zusammen war.
Geschichten über Teufel gab es gleichfalls oft zu hören. Schwarz waren sie, hatten spitze Hörner, und aus ihren Mündern kamen Flammen. Sie konnten mit ihren langen Schwänzen krachend die Luft spalten. Den Weihrauchduft und die schönen Gesänge mochten sie nicht. Ich nahm an, dass sie Kinder genausowenig mochten. Und auch keinen Milchreis, Gott sei Dank. Ich hatte gar keine Lust, sie zu sehen. Und wenn sich mir doch einer zeigen sollte, würde ich schnell unser eisernes Tor schliessen. Sollte er doch mit seinem Schwanz dranpochen, bis er schwarz wurde, noch schwärzer, als er schon war!
Mein Bruder ging in die deutsche Schule in Medbessa. Eines Tages sagte Mutter zu ihm: »Nimm deinen Bruder mit, damit ich in Ruhe meine Arbeit machen kann!« Doch der Schuldirektor schüttelte den Kopf, nachdem er mich mit einem kurzen Blick gestreift hatte. »Dein Bruder, wie alt ist er?« fragte er Jûssuf.
»Fünf.«
»Nimm ihn wieder mit nach Hause! Er soll in einem Jahr wiederkommen.«
Mutter war wütend, als mich mein Bruder zurückbrachte. Sofort lief sie mit mir in die griechisch-orthodoxe Schule, die noch näher bei unserem Haus war als die deutsche Schule. Mutter redete mit dem Lehrer. »Herzlich willkommen«, meinte er schliesslich. »Lassen Sie ihn ruhig hier oder bringen Sie ihn morgen früh, vor acht Uhr!«
Doch am nächsten Tag hatten wir alle Hände voll zu tun, weil wir umziehen wollten. In ein Haus, zu dem viele Stufen emporführten. Wir gaben ihm einen für mich gänzlich neuen Namen: Chischâschi, Viehzeugburg.
In der Schule beobachtete ich die Jungen beim Schreiben. Einer nahm einen Bleistift, öffnete sein Heft und schrieb etwas auf das linierte weisse Papier. Alle reckten die Köpfe und schauten über die Schulter des Lehrers zur Tafel. Sie bestand aus ein paar zu einem Quadrat zusammengenagelten Brettern mit breiten Spalten dazwischen und stand auf drei Füssen. Früher wohl schwarz angestrichen, war sie inzwischen fast weiss von der vielen Kreide, auch wenn sie immer abgewischt wurde. Der Lehrer schrieb ein paar Buchstaben an, und die Jungen schrieben mit. Zuvor befeuchteten sie den Stift mit der Zungenspitze. Zum Korrigieren hatten sie einen kleinen Radiergummi, auf dem ein Elefant abgebildet war. Brach mal ein Stift ab, nahmen sie einen Spitzer. Danach leckten sie wieder die Mine an, blickten zur Tafel und schrieben weiter.
Es war mein erster Schultag oder einer der ersten in der griechisch-orthodoxen Schule gleich hinter der Geburtskirche. Ich sass auf einer langen Bank zwischen vier oder fünf anderen Kindern in meinem Alter. »Herr Lehrer«, fragte ich, »darf ich auch schreiben?«
»Hast du ein Heft und einen Stift dabei?«
»Nein.«
»Wie willst du dann schreiben?«
»In eins der Hefte von den Jungen da.«
Alle fingen an zu lachen. Sogar der Lehrer musste mitlachen. »Nein, mein Sohn«, sagte er. »Bring morgen ein Heft und einen Stift mit. Dann kannst du auch schreiben.«
Als der Lehrer etwas später die Glocke läutete, durften wir auf den Hof hinaus zum Spielen. Dort war eine grosse Pinie, die den kleinen Platz mit ihren herabhängenden Ästen in zwei Hälften teilte. Ich sprang auf einen der Äste und kletterte immer höher. Ein paar Jungen schlossen sich mir an. Gerade hatten wir mit dem Spiel begonnen, da hörten wir auch schon wieder den Lehrer mit seiner Glocke und mussten zurück in die Klasse. Wir waren mindestens fünfzig Jungen unterschiedlichen Alters. Im Vergleich zu mir war die Mehrheit ziemlich gross, zehn, zwölf Jahre alt, manch einer vielleicht schon vierzehn. Und ich nicht älter als fünf. Ich ging immer barfuss zur Schule, doch das taten die meisten. Nur einige grössere Jungen trugen riesige Schuhe. Ihre Väter hatten sie von den osmanischen Soldaten »geerbt«.
Mittags durften wir nach Hause. Ich rannte am liebsten. In unserem kleinen Gemüsegarten traf ich Grossmutter, die sich an der Hausmauer im Schatten des Mandelbaumes zu schaffen machte.
»Wieso bist du schon da?« fragte sie.
»Es ist doch Mittag.«
»Nein, mein Lieber. Der Schatten ist noch nicht auf diesem Stein hier angelangt.« Sie zeigte auf einen Stein, der aus der Mauer ragte. »Glaubst du, ich weiss nicht, wann Mittag ist?«
»Was weiss ich! Der Lehrer hat uns gehen lassen. Um eins sollen wir wieder da sein, hat er gesagt.«
Da rief Grossmutter: »Mariam! Bring das Essen! Dein Sohn ist da.«
Mit Grossmutter verband mich eine besondere Beziehung. Sozusagen hinter dem Rücken meiner Mutter. Grossmutter wusste, dass diese nervös war, und beschützte mich stets, wenn ich etwas angestellt und dafür von Mutter eine Tracht Prügel zu erwarten hatte.
Ich ging zu ihr und streichelte sie. Ihr Kleid war so lang, dass es fast die Erde berührte. »Was ist los?« fragte sie. »Willst du mir was beichten?«
Ich blickte in ihre honigfarbenen Augen und sagte: »Grossmutter, ich möchte mir ein Heft und einen Stift kaufen.«
»Ein Heft und einen Stift? Wozu denn?«
»Damit ich schreiben kann.«
»Erzähl das deiner Mutter. Du kannst sie um alles bitten. Oder warte, bis dein Vater heute abend da ist.«
Als ich das Haus betrat, schaute Mutter gerade in den Kochtopf und rührte darin herum. »Willkommen, mein kleiner Schuljunge«, begrüsste sie mich.
»Mama«, begann ich. »Der Lehrer sagt, ich soll ein Heft und einen Stift mit in die Schule bringen.«
»Wirklich? Und woher soll ich ein Heft und einen Stift nehmen?«
»Ein Heft und ein Stift kosten einen halben Piaster. Haben die Kinder gesagt.«
»Und woher soll ich einen halben Piaster nehmen? Komm, setz dich hin und iss. Ohne Heft und Stift. Einen halben Piaster, sagt er. Bevor du isst, gibst du den Schafen noch ein bisschen Gras!«
Ich nahm etwas von dem Gras, das wir immer in einem grossen Sack von den Feldern mitbrachten, damit wir nicht jeden Tag mit den Tieren auf die Weide mussten. Damit ging ich zu den zwei weissen Schafen, die in einem Verschlag festgebunden waren. Sie lagen wiederkäuend auf dem staubigen Boden. Als sie mich bemerkten, erhoben sie sich. Ich gab ihnen das Gras, und sie stürzten sich gierig darauf, während ich ihnen sanft auf den Rücken klopfte.
Mutter schüttete unser Essen in eine grosse Schüssel auf dem Boden, und wir setzten uns. »Na, jetzt ist Mittag«, meinte sie. Genau in diesem Augenblick verkündete das Glockengeläut aller Klöster in der Stadt, dass es Mittag war. Ein fröhliches Durcheinander der verschiedensten Glocken.
Nach dem Essen lief ich wieder in die Schule. Wir spielten noch so lange, bis der Lehrer läutete, und gingen dann in die Klasse. Diesmal schrieb keiner. Nur der Lehrer malte einzelne Buchstaben an die Tafel und verlangte von uns, ihre Namen im Chor zu wiederholen: A – A. B – B. A, B – A, B.
Am Nachmittag sang ich zusammen mit zwei Kameraden auf dem Nachhauseweg immer wieder: »A und B, bibibi, Brot und Zucchini.« Als wir am Laden von Hanna Tabasch vorbeikamen, wo es eine Menge Hefte und Stifte und Radiergummis gab, trat ich ein und sagte: »Onkel, gib mir einen Stift und ein Heft.«
»Hast du überhaupt Geld?«
»Nein.«
»Lauf und hol einen halben Piaster. Dann bekommst du den schönsten Stift und das beste Heft.«
Zu Hause fand ich Grossmutter wieder im Garten. Sie flickte gerade Wäsche. Als ich sie bittend anschaute, begriff sie sofort, steckte ihre Hand in die Tasche ihres Kleides, zog ein Taschentuch hervor und knotete es auf. Zum Vorschein kamen vier oder fünf Geldstücke. Sie nahm einen halben Piaster, eine Münze mit einem Loch in der Mitte, und gab ihn mir, »Hier, nimm! Aber sag nichts deiner Mutter. Und nun lauf! Aber schnell.«
Ich rannte zurück zum Laden von Tabasch, streckte das kostbare Geldstück hin und bekam ein Heft und einen Stift. Den Stift liess ich mir noch anspitzen. »Wenn du keinen Spitzer hast, ist das nicht so schlimm«, meinte der Mann. »Du kannst auch ein Messer nehmen.«
Glücklich lief ich mit meiner neuen Errungenschaft nach Hause. Mutter war nicht da, und Grossmutter besorgte den Haushalt. Neben unserer Tür stand eine lange Steinbank. Ich streckte mich auf ihr aus und schlug das Heft auf. Dann nahm ich den neuen Bleistift und befeuchtete die Spitze mit der Zunge. Doch was sollte ich schreiben? Ich versuchte mich an die Buchstaben zu erinnern, die der Lehrer heute morgen und nach dem Mittagessen an die Tafel geschrieben hatte. Das arabische A war einfach. Der Lehrer hatte gesagt, dass es wie ein Stab aussieht. Und das B? Ein schlafender Stab mit gebogenen Enden und einem Punkt darunter. Ich schrieb eine ganze Zeile voll, dann noch eine und noch eine. Doch leider stiegen meine Zeilen trotz aller Anstrengung immer leicht an. Ich drehte das Heft ein bisschen und schrieb wieder. Diesmal fielen die Zeilen zum Ende hin ab. Ich füllte die ganze Seite, dann noch eine und noch eine, bis der Stift stumpf war und ich aufhören musste.
Mein Heft war eine echte Attraktion an jenem Abend. »Bravo!« rief Vater, und Jûssuf forderte mich auf, sorgfältig zu schreiben. »Geh ordentlich mit deinem Heft um! Und verlier nicht deinen Stift! Hast du gehört?« Grossmutter blinzelte mir verschwörerisch zu.
Am nächsten Morgen bewaffnete ich mich mit Heft und Stift und ging zur Schule. »Ich habe ein Heft und einen Stift dabei«, berichtete ich meinem Lehrer.
»Gut«, erwiderte er. »Setz dich hin und fang an zu schreiben!«
Nachdem er mir den Stift gespitzt und ich mir einen Radiergummi geborgt hatte, begann ich zu schreiben. Die Kinder neben mir besassen keine Hefte und konnten nicht mitschreiben. Sie lachten nur, zappelten und scharrten fortwährend mit ihren nackten Füssen oder stiessen sich unter der Bank an. Einer trat mir gegen das Schienbein, so dass mein Stift ausrutschte und einen grossen Strich über das Papier auf meinen Knien machte.
Am Abend fragte mich Mutter: »Hat der Lehrer dein Heft gesehen?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich durfte auch schreiben.«
»Wie schön!«
Als ich ihr zeigen wollte, was ich geschrieben hatte, sagte sie: »Wie soll ich das denn lesen, wo ich doch gar nicht lesen kann?«
Nachmittags schrieben wir nie etwas. Der Lehrer war dann müde und setzte sich an seinen Tisch. Einer der Grossen musste aufstehen. »Iljâs, du passt heute auf die Klasse auf!« ordnete der Lehrer an. »Du schreibst mir jeden an die Tafel, der schwatzt oder lacht oder auch nur atmet! Die Jungen der ersten und zweiten Klasse schlagen ihr Lesebuch auf, Seite fünf, und lesen. Aber ohne einen Laut! Und ihr da hinten, legt eure Unterarme auf die Bank. Ja, so. Und nun euren Kopf drauf und schlaft! Ohne euch zu rühren! Verstanden?« Gleich darauf schloss er die Augen. Sein Kopf fiel auf die Brust, und er schlummerte friedlich vor sich hin.
Wir vergruben den Kopf zwischen den Armen, wie es der Lehrer verlangt hatte. Doch wer von uns Bürschchen konnte schon schlafen? Wir verharrten so eine Stunde lang, den Kopf auf die Bank gelegt, flüsterten dabei und kicherten vor uns hin. Jedesmal, wenn wir den Kopf hoben, standen ein paar weitere Namen an der Tafel. Hinter einen der Namen hatte Iljâs ein Zeichen gemacht. Plötzlich liess der Lehrer seinen obligaten lauten Schnarcher vernehmen und schreckte auf. Ein furchteinflössender Blick wanderte über die Gesichter der Kinder. Schliesslich drehte sich der Lehrer zur Tafel um, studierte die Namen und rief den ersten auf: »Garios! Her mit dir!«
Garios erhob sich und ging ängstlich auf den Lehrer zu: »Ich schwöre, Herr Lehrer, ich habe nicht gesprochen und auch nicht gelacht.«
»Hand auf«, befahl der Lehrer und nahm sein langes Lineal.
»Ich schwöre, Herr Lehrer …«
»Hand auf. Und keinen Mucks.«