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Heribert Weishaupt

Blutrot
ist die Heide

Ein Troisdorf-Krimi

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Heribert Weishaupt

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

Impressum

ISBN 978-3-939829-78-2

published by

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Inhalt

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Prolog

Vor 7.362 Tagen

Montag, 18:14 Uhr

Montag, 19:35 Uhr

Montag, 20:30 Uhr

Felix

Dienstag, 8:15 Uhr

Dienstag, 21:50 Uhr

Vor 7362 Tagen

Mittwoch, 7:45 Uhr

Mittwoch, 14:30 Uhr

Vor 7.146 Tagen

Was war damals geschehen?

Mittwoch 15:45 Uhr

Donnerstag, 7:00 Uhr

Donnerstag, 17:30 Uhr

Donnerstag, 19:00 Uhr

Freitag, 8:45 Uhr

Felix

Freitag, 17:15 Uhr

Felix

Freitag, 19:15 Uhr

Felix

Sonntag, 11:00 Uhr

Sonntag 12:45 Uhr

Sonntag, 14:40 Uhr

Sonntag, 16:15 Uhr

Sonntag, 20:30 Uhr

Montag, 5:15 Uhr

Montag, 8:00 Uhr

Montag, 10:00 Uhr

Montag, 14:00 Uhr

Montag, 16:00 Uhr

Vier Wochen später

Anmerkung und Dank

Rache trägt keine Frucht!
Sich selbst ist sie die
fürchterliche Nahrung.
Ihr Genuss ist Mord
,

und ihre Sättigung das Grausen.

(Johann Christoph Friedrich von Schiller
Quelle: „Wilhelm Tell“, 1804)

Prolog

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Es war ein großer, rechteckiger Raum. Der Raum war höher, als Zimmer in einer üblichen Wohnung hoch sind. Vielleicht drei Meter hoch. Die Wände waren glatt verputzt und weiß gestrichen. An vielen Stellen blätterte die Farbe ab. Die Scheiben der beiden Fenster rechts und links des Raumes waren zersplittert und der Betonfußboden vor den Fenstern war übersät mit Glasscherben. Die Sprossen, die jedes Fenster in vier gleiche Teile teilten, hingen zerbrochen im Rahmen. In eines der Fenster schien die heiße Sommersonne hinein und wärmte den Raum ein wenig auf. Eine verrostete Eisentür hing schief in den Scharnieren. Bei jedem Windstoß bewegte sich die Türe ein wenig und gab ein ächzendes, quietschendes Geräusch von sich.

War das sein Ende? Falls ja, hatte er es sich wesentlich anders vorgestellt. Seine Lage war misslich – wenn nicht sogar hoffnungslos. Bestimmt hatte er sich seinen Tod nicht mit sechsunddreißig Jahren vorgestellt. Das war zu früh – viel zu früh, obschon der Tod selten zur rechten Zeit kommt.

Was würden seine Frau und seine beiden Kinder jetzt machen? Sicher, sie würden nach ihm suchen, wenn er in den nächsten Stunden nicht nach Hause kommen würde. Und danach sah es wahrlich aus. Aber wo sollten sie nach ihm suchen? Er selbst kannte seinen Aufenthalt nicht. Er wusste nicht, wo er sich befand. Wenn er es wüsste, es würde ihm nichts nützen.

Er hatte keine Chance, jemanden zu rufen oder sich bemerkbar zu machen. Seine Lippen hielt ein Stück Klebeband fest zusammen. Mit der Zunge konnte er lediglich seine Lippen von innen befeuchten – solange denn noch Speichel in seinem Mund vorhanden war. Ein leises Brummen, das er im Mund- und Rachenraum erzeugte, war das einzige Geräusch, das er von sich geben konnte. Höchstwahrscheinlich drangen diese Laute nicht einmal nach draußen.

Ja, draußen, wo war das? Wenn er aus dem Fenster schaute, sah er einige rosa, fast purpurn blühende Heidekrautbüsche und in einiger Entfernung dahinter Sträucher und Bäume. Über alles wölbte sich der azurblaue Himmel. Die einzigen Laute, die von draußen zu ihm drangen, waren das Zwitschern der Vögel. Hin und wieder meinte er, den Lärm eines tief fliegenden Flugzeuges wahrzunehmen.

Hätten er und seine Familie doch bloß nicht ihren Urlaub verschoben, dann wäre er jetzt mit Frau und Kindern am Strand auf Mallorca und nicht in diesem Verließ. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er an seine Familie dachte, die er wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde. Er war mutlos.

Resigniert schloss er seine Augen und sein Kinn sank auf den Rand der ungefähr einen Meter hohen, viereckigen Regentonne. Sie hatte ihre beste Zeit längst hinter sich. An den Außenwänden klebten viele Mörtelreste und unzählige Farbspritzer rundeten das unansehnliche Bild ab.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er gerade noch, wie eine dicke Ratte an der Wand entlang lief und durch die Türöffnung verschwand. Das einzig Beruhigende war, dass Ratten ihm in der Tonne nichts anhaben konnten.

Seine Fußgelenke waren mit Kabelbindern zusammengebunden. Ebenso waren seine Handgelenke auf dem Rücken gefesselt und zusätzlich mit den Fußfesseln verbunden. Er war verschnürt wie ein Paket.

Die Stellen der Haut, wo die Kabelbinder scheuerten, schmerzten. In den Knien quälte ihn ein stechender Schmerz vom Knien in der Tonne. Womöglich hatte er doch einen Meniskusschaden, was er schon seit Monaten vermutete und sich in dieser Stellung schmerzhaft bemerkbar machte.

Die Größe der Tonne ließ es lediglich zu, die Knie nach außen zu bewegen, wenn er dabei sein Gewicht auf die Zehen verlagerte und sich etwas hoch stemmte. Das schaffte ihm für kurze Zeit ein wenig Erleichterung.

In der Anfangszeit, als er sich in der Tonne befand, hatte er mehrmals versucht, sich zu befreien. Indem er seinen Oberkörper soweit es ging nach hinten bog und sich dann mit seiner ganzen Kraft mit Schwung nach vorne warf, wollte er die Tonne kippen. Bei jedem Versuch schnitten die Fesseln in seine Haut. Vergeblich.

Schließlich war da noch das Wasser, das ihm bis zur Brust reichte. Vermutlich fast fünfhundert Liter verliehen der Tonne einen sicheren Stand.

Seine Lage war hoffnungslos.

Vor 7.362 Tagen

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Der Troisdorfer Bahnhof lag in den letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne. In wenigen Minuten würden auch diese hinter den Häusern verschwunden sein und die Dämmerung würde sich langsam über den Bahnhof legen. Es war heute ein warmer Sommertag und die wartenden Reisenden waren luftig gekleidet. Mehrere Eltern von Schülern der beiden Abschlussklassen der Städtischen Realschule Am Heimbach standen auf dem Bahnsteig zusammen und erwarteten die Rückkehr ihrer Kinder. Aufgeregt diskutierten sie, wie wohl die Abschlussfahrt ihrer Sprösslinge verlaufen sein mochte. Jüngere Geschwisterkinder standen bei ihren Eltern und sehnten gelangweilt die Ankunft des Zuges herbei.

„Da kommen sie!“, rief eine Mutter aufgeregt und zeigte in Richtung Köln.

In der Ferne, am Horizonte, war mit einem Male eine dicke, grau-schwarze Rauchwolke in den ansonsten blauen Himmel aufgestiegen. Wie auf ein heimliches Kommando richteten sich die Blicke der wartenden Eltern gleichzeitig dieser Wolke zu, die sich langsam aber stetig dem Bahnhof näherte. Der Dampfzug würde in Kürze im Bahnsteig einlaufen.

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Nach langen Überlegungen und Diskussionen hatten sich die Schulleitung, die Eltern und die Kinder trotz hoher Kosten dazu entschlossen, am letzten Schultag für die Abschlussklassen eine Fahrt mit einem nostalgischen Dampfzug nach Aachen zu organisieren. Letztendlich war für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen, dass der Förderverein der Schule seine Unterstützung für Kinder aus finanzschwachen Familien angeboten hatte.

Als ein Programmpunkt für den Tag war ein geführter Stadtrundgang vorgesehen. Ebenfalls war der Besuch des Dreiländerecks eingeplant. Dort treffen auf dem mit 323 m höchstgelegenen Punkt der Niederlande, Belgien, Deutschland und die Niederlande zusammen.

Höhepunkt des Tages sollte allerdings auf der Rückfahrt die feierliche Überreichung der Abschlusszeugnisse sein.

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Um zehn Uhr bestiegen zwei Lehrerinnen und zwei Lehrer sowie vier Elternvertreter zusammen mit sechsundfünfzig Schülerinnen und Schülern den nostalgischen Dampflokzug in Richtung Aachen.

Das Zischen und Pfeifen der Kessel und das Ambiente längst vergangener Zeiten, ließ die Schüler staunen und rief bei den Erwachsenen Kindererinnerungen wach und zauberte ein Funkeln in ihre Augen. In den liebevoll renovierten und gepflegten Personenwagen aus den 20er bis 50er Jahren spürte man förmlich die „gute alte Zeit“. Zur Stärkung unterwegs bot sich der Barwagen mit seinen heißen und kalten Getränken und kleinen Snacks an.

„Mensch Dennis, was hast du alles in deinem Rucksack?“, fragte Sonja, nachdem sie kurz seinen Rucksack angehoben hatte.

„Hast du Futteralien für die ganze Woche eingepackt?“

„Du hast doch keine Ahnung. Der Mensch lebt doch nicht nur vom Essen. Man muss auch trinken – der Tag ist noch lang.“

Dabei lachte er Sonja an und zwinkerte mit einem Auge.

„Du hast doch nicht etwa Alkohol dabei? Du weißt, das ist verboten!“, entrüstete sich Sonja ein wenig gespielt.

„Halt den Mund. Kein Wort mehr.“

Damit drehte sich Dennis um und drängte sich schnellen Schrittes durch den Wagen der ersten Klasse mit den aufwendig gepolsterten Sitzen. Diese Plätze waren für die Belegschaft einer Firma aus Leverkusen reserviert, die in Köln zusteigen würde.

Für die Abschlussschüler sowie deren Begleitung waren die Holzsitze der zweiten Klasse reserviert. Nach anfänglicher Skepsis waren schließlich doch alle überrascht, wie bequem man in der „Holzklasse“ sitzen konnte.

Plötzlich ertönten mehrere schrille Pfiffe der Lokomotive. Die Schüler auf den Fensterplätzen sprangen hoch und rissen die Fenster auf, um die Ursache der Pfiffe zu ergründen. Eine dicke Rauchwolke breitete sich von der Lok über den gesamten Bahnsteig aus.

„Herr Ballig, schafft die alte Lok das denn auch mit den Wagen und vielen Menschen bis Aachen?“, fragte Louis lachend seinen Lehrer, der einige Reihen vor ihm saß. Er musste die Frage lauthals wiederholen, um das Getöse der Lokomotive zu übertönen.

„Natürlich. Die Dampflok 41360, auch genannt „Lady of Bismarck“, ist zwar eine der lautesten Vertreter ihrer Art, aber mit ihren 2000 PS wird sie das sicherlich schaffen. Ihr werdet sehen, wie fetzig die alte Lady noch fährt. Ungefähr neunzig Stundenkilometer sind immerhin möglich!“, schrie Herr Ballig durch den Wagen, damit auch alle anderen seine Information mitbekamen.

In Köln legte der Zug seinen ersten Stopp ein und nahm die Belegschaft einer Leverkusener Pharmafirma auf. In Düren folgte ein weiterer, notwendiger Halt. Der Wasservorrat musste aufgefüllt werden, denn die Dampflok brauchte noch einen ordentlichen Schluck Wasser, um den Rest des Weges zu schaffen. Dies dauerte fast 45 Minuten, in denen sich die Fahrgäste die Lok auch einmal aus der Nähe betrachten konnten.

Fast die gesamte Belegschaft des Leverkusener Unternehmens verließ ihre Plätze und vertrat sich draußen die Beine. Dabei besichtigten sie ausgiebig die Lok und die Wagen. Einige Männer, vermutlich Modelleisenbahnbauer, standen zusammen und fachsimpelten. Das Lehrpersonal um Lehrer Ballig gesellte sich zu der Gruppe. Herr Ballig schien sein Wissen über die Dampflok und die nostalgischen Wagen enorm aufgefrischt zu haben, denn er fachsimpelte fleißig mit.

Die Schüler hingegen blieben zum überwiegenden Teil auf ihren Holzbänken in den Wagen sitzen.

„Komm mit“, forderte Dennis seinen Sitznachbarn Sven auf.

Dennis nahm seinen Rucksack und beide machten sich auf den Weg Richtung Toilette, über die jeder Wagen verfügte.

Während Dennis als Erster in der Toilette verschwand, blieb Sven vor der Toilettentür stehen und hielt seine Mitschüler, besonders jedoch die beiden Elternvertreter am Ende des Wagens im Auge. In der Toilette öffnete Dennis schnell seinen Rucksack, zog eine Flasche farblosen Schnaps hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Den Rucksack mit der Flasche ließ er in der Toilette stehen, als er wieder in den Vorraum trat. Jetzt war es an Sven, ebenfalls in der Toilette zu verschwinden und einen kräftigen Schluck zu sich zu nehmen, während Dennis Wache schob.

Gut gelaunt und ohne dass jemand etwas bemerkt hatte, setzten sie sich wieder auf ihren Platz.

„Müsst ihr beide nicht auch mal zur Toilette?“, fragte Sven seine beiden Freunde Louis und Benjamin, die ihm gegenüber saßen.

„Nehmt aber Dennis‘ Rucksack mit“, wies er die beiden noch an.

Anscheinend wussten die Beiden, was es mit dem Rucksack auf sich hatte, denn sie stellten keinerlei Fragen. Wortlos nahmen sie den Rucksack und verschwanden in Richtung Toilette.

„Mensch Benny, die Flasche ist ja bereits halb leer“, meinte Louis, als er als Letzter die Toilette verließ.

„Macht doch nichts. Er hat doch noch eine Flasche dabei, wie du sicher gesehen hast“, erwiderte Benny gut gelaunt.

Als Sie wieder ihren Platz einnahmen, warf ihnen Sonja, die in der Sitzgruppe nebenan saß, einen tadelnden Blick zu. Sie ahnte, weshalb die Vier die Toilette aufgesucht hatten.

„Hier ist es viel zu still“, rief Louis und zog einen kleinen Ghettoblaster aus seinem Rucksack.

Unverzüglich legte er eine Kassette ein und sofort dröhnte Dr. Albans „Sing Halleluja“ durch den nostalgischen Eisenbahnwagen.

Alle Schüler sangen lauthals mit. Sie bemerkten nicht einmal, dass alle Reisenden wieder eingestiegen waren und sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte. Ihr Gesang und Gegröle übertönte bei Weitem die Lautstärke der dampfenden Lokomotive.

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Im Aachener Hauptbahnhof angekommen, sprangen die Schüler aus dem Zug und verteilten sich auf dem engen Bahnsteig. Ihre Lehrer hatten Mühe, die Gruppe zusammenzuhalten.

Nach einem kurzen Fußmarsch erwarteten am Elisenbrunnen zwei Stadtführer die Troisdorfer Schüler. Gemeinsam besichtigten sie das Bauwerk, das aus einer offenen Wandelhalle mit einem Säulenvorbau und jeweils einem Pavillon links und rechts bestand. Aus zwei Trinkbrunnen floss das 52°C warme Wasser der Kaiserquelle.

Dennis lief als erster zum Brunnen, um das köstliche Nass zu probieren. Da er beim Vortrag des Stadtführers nicht aufmerksam zugehört hatte, war er entsetzt über den Geruch nach faulen Eiern, der ihm entgegenschlug.

Um nicht sein Gesicht vor den Mitschülern zu verlieren, probierte er einen Schluck des schwefelhaltigen Wassers. Angewidert spuckte er es in hohem Bogen aus. Die Lacher seiner Mitschüler waren ihm dabei sicher. Sein Blick fiel auf Sonja, die lautstark mit offenem Mund über ihn lachte – ihn auslachte, wie es für ihn aussah. Sein Gesicht wurde puterrot und er verdrückte sich verärgert an das Ende der Gruppe.

Für den nun folgenden Stadtrundgang trennten sich die beiden Klassen.

Die Mädchen waren begeistert von der Altstadt, den vielen originellen Brunnen und den Informationen, die sie während des Rundgangs erhielten. Die Jungs hingegen langweilten sich oder taten zumindest so, als ob sie sich langweilten und fühlten sich dabei cool.

Auch das Dreiländereck konnte die Einstellung der Mädchen und Jungs zu den Sehenswürdigkeiten nicht ändern. Lediglich der Besuch des Dreiländerlabyrinths sorgte kurzfristig auch bei den Jungs für bessere Stimmung.

Nach dem offiziellen Programm hatten die Schüler beider Klassen noch genügend Zeit, auf eigene Faust die Stadt zu erkunden. Dabei blühten die Jungs sichtbar auf. Jetzt war kein Stadtführer oder Lehrkörper mehr dabei, der das Wort führte und alles wusste. Konnten sie doch jetzt ihre Coolness zur Schau stellen und versuchen, ihre weiblichen Klassenkameradinnen zu beeindrucken.

Obschon Sonja den Alkoholkonsum von Dennis, Sven, Louis und Benjamin nicht guthieß, war sie von deren Selbstsicherheit, Mut und Ungehorsam gegenüber den Anweisungen der Erwachsenen beeindruckt. Sonja und die vier Jungen hatten sich von den übrigen Klassenkameraden abgesetzt und zogen allein albernd durch die Stadt. Dennis schien seine Pleite vom stinkenden Brunnen und Sonjas Kränkung, als sie ihn auslachte, überwunden zu haben, denn er lachte und alberte wieder mit ihr, als wäre nichts gewesen.

Da sie die mitgenommene Verpflegung bereits während des Stopps in Düren verzehrt hatten, nahmen sie sich kurz Zeit, ihren Hunger mit herkömmlichem Fast Food zu stillen.

Sie waren ausgelassen, machten sich über eigenwillig aussehende Passanten und über manch skurrile Sehenswürdigkeit in der Aachener Altstadt lustig.

Alle vier jungen Männer zeigten unbekümmert Sympathie für Sonja. Sie war aber auch eine kleine Hübsche. Für den heutigen Tag hatte sie sich modisch gestylt, ganz im Trend des Jahres. Das bedeutete, dass sie, anders als bisher gewohnt, das kürzeste und engste Teil zuoberst trug. Ein blütenweißes Overshirt trug sie lässig über die Leggins-Hose, die ihre tadellose Figur gut hervorhob. Darüber hatte sie ein kurzes Westchen angezogen. Mit den zum Pferdeschwanz zusammengebundenen, blonden Haaren, war sie ein echter Hingucker. Wenn sie dann noch mit ihren lustig blickenden, blauen Augen und den vier Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken einen Schüler ansah, hatten sie schon so manchen Schüler verzaubert.

In unbeobachteten Momenten riskierte ein jeder ihrer Begleiter einen intensiven Blick auf sie.

Irgendwie war heute alles anders als im Klassenzimmer und während des Schulstresses. Auch Sonja fand die Vier mehr und mehr sympathisch. Insbesondere Benjamin hatte es ihr angetan. Im Gegensatz zu Dennis, der ein „Macher“ war, war Benjamin ruhig und still. Er war der typische Mitläufer, der das tat, was alle taten. Immer bedacht, nicht aufzufallen und nicht anzuecken. Sonja fand seine Art sympathisch und war auch der Meinung, dass er nicht so wie die anderen dem Alkohol zusprach, was ihm Pluspunkte bei ihr einbrachte. Die längeren Blicke, die er, nach seiner Meinung sicherlich unbemerkt, auf sie richtete, ließ ein Kribbeln in ihrer Magengegend entstehen.

Kurz vor zwanzig Uhr fanden sich alle Schüler in der Bahnhofshalle ein und gingen gemeinsam zum Bahnsteig. Der nostalgische Zug stand bereits abfahrbereit mit rauchender Lok im Gleis.

Vorher hatte Dennis die leere Schnapsflasche heimlich in einem Mülleimer entsorgt. Von Benjamin hatte Sonja erfahren, dass er im Bahnhof noch alkoholischen Nachschub für die Rückfahrt besorgt hatte. Mit dem Öffnen der Flaschen wollten sie bis nach der Zeugnisübergabe warten. Bis zu diesem hoch offiziellen Teil des Programms würden sie zu sehr unter Beobachtung stehen – und ein unkalkulierbares Risiko eingehen, das wollten sie nicht.

Beim Einsteigen in den Wagen der „Holzklasse“ nahm Benjamin wie selbstverständlich Sonjas Hand und zog sie in den Wagen. Drinnen gab er ihre Hand dann nicht mehr frei und schaute sie vielsagend lächelnd an. Sonja ließ es freudig geschehen und ihr Herz jubelte. Würde der Tag vielleicht so enden, wie sie es in den letzten Stunden in ihrem Innersten erhofft hatte?

Sonja und die übrigen Schüler der Klasse 10A betraten als Erste gemeinsam den Barwagen. Nach einer Ansprache ihres Klassenlehrers und einer Elternvertreterin wurde ihnen feierlich das Abschusszeugnis überreicht.

Natürlich ahnte jeder, welche Note er in den Fächern erhalten würde, trotzdem war Dennis enttäuscht. Wenn er bisher gehofft hatte, aus Gnade ein „ausreichend“ in Mathematik zu erhalten, holte ihn die Wirklichkeit auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein deprimierendes, klares „mangelhaft“ stand im Zeugnis. Hätte er nicht zufrieden stellende Noten in einigen Ausgleichsfächern, wäre der Abschluss der „mittleren Reife“ nicht möglich gewesen. Obschon er den Abschluss erreicht hatte, hatte er Angst, das Zeugnis seinen Eltern und besonders seinem jähzornigen Vater vorzulegen.

Vor zwei Jahren, als er die Klasse wiederholen musste, begann zu Hause ein Fiasko. Alle Privilegien wurden ihm gestrichen – und das während der gesamten Sommerferienzeit. Der Druck, den sein Vater danach auf ihn ausübte, war so groß, dass er die Schule hinschmeißen wollte. Und jetzt ahnte er wieder Schreckliches, wenn er nach Hause kam und das Zeugnis vorlegte.

Die Zeremonie der Zeugnisübergabe war kurz vor Düren beendet. Einen Stopp zum Auffüllen der Wassertanks der Lok gab es dieses Mal nicht.

Nach der Zeugnisübergabe begaben sich die Schüler zurück auf ihre ursprünglichen Plätze in der „Holzklasse“. Die Lehrer und Eltern blieben im Barwagen. Sie ahnten, dass die Schüler jetzt feiern wollten und es jetzt laut werden würde. Sie wollten dabei kein Spielverderber sein.

Louis schaltete erneut seinen Ghettoblaster an und augenblicklich verbreitete sich eine ausgelassene Stimmung im Wagen. Viele Schüler standen auf den Holzbänken und sangen die Hits des Jahres lautstark mit. Culture Beat mit „Mr. Vain“ wechselte mit Helge Schneiders „Katze Klo“ und „I‘d do Anything for Love“ von Meat Loaf.

Sonja zwänge sich auf der Zwei-Personen-Bank zwischen Michael und Benjamin, wobei sie fast vollständig auf den Beinen von Benjamin saß.

Gegenüber von ihr hatte Dennis die zweite Flasche klaren Schnaps aus seinem Rucksack genommen und reichte sie in die Runde, nachdem er selbst den ersten großen Schluck genommen hatte. Mit Sicherheit wollte er möglichst schnell seine Zeugnisnote in Mathe und das bevorstehende Donnerwetter zu Hause im Alkohol ertränken.

In Köln legte die Dampflok einen kurzen Halt ein, damit die Angestellten des Leverkusener Unternehmens aussteigen konnten. Dann verließ der Zug mit mehreren lauten Pfiffen und fürchterlichem Qualmausstoß den Bahnhof in Richtung Troisdorf. Dennis packte die geleerte Flasche in seinen Rucksack. Die zweite Flasche, die er im Aachener Bahnhof gekauft hatte, wollte er für den Heimweg aufheben.

Auch Sonja hatte dem Drängen von Dennis nachgegeben und widerwillig vom Alkohol probiert. Die Gesichter der vier Jungen hatten inzwischen eine rote Farbe angenommen, die nicht nur in der Hitze im Waggon seine Ursache hatte.

Kurz vor Troisdorf gingen die Lehrer durch die Waggons und machten ihre Schüler darauf aufmerksam, dass sie in Kürze Troisdorf erreichen würden. Außerdem verlangten sie, dass die Musik ausgeschaltet wurde und alle ihre Plätze ordentlich einnahmen.

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Die Lokomotive fuhr langsam, quietschend in den Bahnsteig ein. Nachdem die Lok stand, quoll dicker Rauch zwischen den Rädern heraus, der dann genauso wie der Qualm aus dem Schornstein langsam erstarb.

Auf dem Bahnsteig war es bereits dämmerig. Der rote Ball der Sonne würde in Kürze hinter dem Horizont untergegangen sein.

Ausgelassen sprangen die Schüler die Stufen der Waggons hinunter. Die Eltern, die auf dem Bahnsteig warteten, empfingen freudig, aufgeregt ihre Kinder. Sie waren neugierig, wie ihnen der Tag gefallen hatte. Natürlich waren sie auch gespannt, ob das Zeugnis ihren Erwartungen entsprach.

Verhältnismäßig nur wenige Eltern holten ihre Tochter oder ihren Sohn ab. Der überwiegende Teil der fast erwachsenen Schüler fand es uncool, wenn die Eltern sie in ihrem Alter noch abholen würden. Auch Sonja und ihre vier Freunde hatten darauf bestanden, nicht abgeholt zu werden. Alle Fünf wohnten in Troisdorf-Mitte und konnten zu Fuß nach Hause gehen.

Der Klassensprecher und Primus verabschiedete sich per Handschlag bei den Lehrerinnen und Lehrern. Damit war er Vorbild für seine Klassenkameradinnen und Kameraden, die bereitwillig seinem Beispiel folgten.

Dennis, der seinem Mathematiklehrer lieber einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hätte, nahm sich zusammen und verabschiedete sich halbwegs höflich aber kühl. Dabei achtete er darauf, dass er dem Lehrer nicht zu nahe kam, denn er sollte nicht seine Alkoholfahne bemerken.

„Was machen wir mit dem angebrochenen Abend?“, rief er seinen Freunden Louis, Benjamin und Sven zu.

Sonja, die dabeistand, antwortete anstelle der drei Freunde: „Nichts mehr. Ich gehe nach Hause. Mir reicht es für heute.“

Gerne hätte Sonja noch etwas mit Benjamin alleine unternommen, aber es war bereits spät und die Jungen waren angetrunken. Es würde nichts dabei herauskommen, sagte sie sich.

„Wir bringen dich natürlich nach Hause“, bestimmte Dennis und die anderen Drei stimmten lautstark zu. Sonja hatte keine andere Wahl, als ebenfalls zuzustimmen. Sie hatte die Hoffnung, dass es sich ergeben würde, mit Benjamin alleine zu sprechen. Vielleicht könnte sie ein Treffen mit ihm allein vereinbaren. Wenn sie nur daran dachte, hatte sie erneut dieses Kribbeln im Bauch.

Montag, 18:14 Uhr

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Es war der vorletzte Ferientag der Sommerferien. Den gesamten Tag über war es düster und regnerisch. Vor einer halben Stunde schloss der Himmel seine Schleusen und die Sonne blinzelte jetzt zwischen den Wolken hervor. Es wurde langsam klarer. Es war Spätsommer. Bald würde der Herbst mit seiner Melancholie beginnen.

Unterhalb des Fliegenbergs erstreckte sich ein schmaler Streifen der Wahner Heide, der von zwei Seiten von Waldgebieten begrenzt wurde. Sandflächen wurden von sanften Hügeln unterbrochen, auf denen violett die Blühten der Besenheide leuchteten.

Das Heidekraut war nass und durch die intensiven Sonnenstrahlen wirkte die Farbe jetzt dunkel und kräftig – fast blutrot. Der leichte Duft der Blüten, der an trockenen Tagen die Bienen in Scharen anlockte, war wegen der noch vorhandenen Nässe nicht zu riechen.

In der Ferne erhob sich der 118 m hohe Michaelsberg mit der Silhouette des Klostergebäudes und der Kirche. Seit über 900 Jahren lebten in der Abtei Michaelsberg Mönche des Benediktinerordens. Nach dem Weggang der Benediktiner im Jahre 2011 sollte auf dem Berg ein neues, geistiges Zentrum entstehen.

Von der Altenrather Straße bog der Fahrer eines Astra Kombi rechts ab und fuhr auf den Wanderparkplatz, wo er den Wagen abstellte. Der Parkplatz war nach dem Regen erwartungsgemäß leer. Sofort öffneten sich die Türen der hinteren Sitze und ein Junge und ein Mädchen sprangen aus dem Wagen. Der Junge war vielleicht vierzehn Jahre alt, das Mädchen ein bis zwei Jahre jünger. Nachdem der Junge die Heckklappe geöffnet hatte, sprang ein kräftiger, schwarzer Rottweiler heraus, überquerte den Forstweg und stob ungestüm in die sandige Heidelandschaft.

Bei den ersten Heidekräutern hielt er inne und schaute sich nach den beiden Kindern um, die laufend auf ihn zukamen. Vater und Mutter der Kinder folgten langsam, nachdem sie die Heckklappe geschlossen und den Wagen verriegelt hatten. Sie lächelten. Es war immer wieder schön für sie anzusehen, wie sich der Hund und ihren Kindern verstanden.

„Steffi und Micha, lauft nicht zu weit voraus und wartet oben am Waldrand“, rief die Mutter ihnen hinterher.

Die Kinder liefen den grasbewachsenen Weg entlang, der gemächlich bis zum Waldrand anstieg. Der Hund vorweg. Von Zeit zu Zeit blieb er immer wieder stehen, schaute sich um und wartete, bis die Kinder zu ihm aufgeschlossen hatten, um dann wieder vorzulaufen.

Kurz vor dem Waldrand löste sich der Weg in eine Sandlandschaft auf. Erst am Waldrand konnte man die Fortführung des Weges wieder erkennen.

Der Hund wälzte sich ausgelassen im losen Sand, dessen Oberfläche durch die Sonnenstrahlen bereits getrocknet war. Wahrscheinlich vor Freude, dass er sich endlich nach dem langen Regentag austoben durfte.

„Bracka, nicht so toll. Schau mal wie du bereits aussiehst!“, rief Michael dem Hund zu, der auch schuldbewusst abrupt stehen blieb und Michael mit traurigen Augen ansah, weil sein Spiel unterbrochen wurde.

Michael hob einen Stock vom Boden auf, hielt ihn hoch und warf ihn dann in hohem Bogen weg.

Bracka war glücklich, dass das Spiel weiterging und schoss in voller Geschwindigkeit auf den Landepunkt des Stockes zu.

Unglücklicher Weise landete der Stock inmitten einer Gruppe Heidekräuter. Bracka hielt aus vollem Lauf an, denn in dieses kratzige Gewächs wollte er nicht hineinspringen.

Den Kopf nach unten schlich er schnuppernd um das violett blühende Kraut, bis er plötzlich stehen blieb. Schnell kratze er den lockeren Sandboden auf und grub eine Vertiefung. Dabei winselte er vor sich hin und schließlich bellte er in Richtung seiner beiden Herrchen.

„Was ist los, Bracka? Komm her. Lass alles liegen, was da liegt!“, rief Michael, der ahnte, das Bracka irgendetwas gefunden hatte.

Bracke blieb jedoch an der Fundstelle stehen und bellte weiter.

Michael und Stefanie eilten jetzt dorthin. Womöglich hatte ihr Hund den Eingang zu einem Kaninchenbau gefunden, wie es hin und wieder vorkam. Vielleicht hatte er aber auch ein verendetes Tier gefunden, wovon er sich möglichst fernhalten sollte.

„Komm her, Bracka!“, rief Michael erneut, als sie fast ihren Hund erreicht hatten.

Erkennen konnten die Kinder nicht, weshalb Bracka so bellte und mit den Vorderbeinen im Sand scharrte.

Michael befestigte sofort die Leine am Halsband und zog Bracka zu sich, während Stefanie sich genauer umsah.

„Ihh, Michael komm schnell. Hier liegt eine Hand!“, rief sie angewidert und wich ein Stück zurück.

„Ach, Steffi, ich glaube du spinnst!“, rief er zurück.

Trotzdem näherte sich Michael vorsichtig der Stelle, auf die seine Schwester zeigte. Den Hund hielt er dabei kurz an der Leine.

Tatsächlich ragte aus dem Sand eine menschliche Hand!

„Lass uns von hier verschwinden. Wir müssen sofort Mama und Papa Bescheid sagen!“, schrie Michael, wobei sich seine Augen vor Aufregung weiteten.

Dabei lief er bereits in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Energisch zog er seinen Hund hinter sich her. Auch Stefanie war froh, dass sie dem Fundort den Rücken zukehren konnte und folgte den beiden.

Es dauerte nur wenige Minuten bis die Eltern und Michael an der Fundstelle standen. Stefanie hatten sie mit dem Hund zurück zum Wagen geschickt. Dort mussten sie auf ihre Rückkehr warten. Der Vater hatte entschieden, dass sie noch zu jung dafür war, den Fund mit ihnen zusammen genauer zu begutachten.

Michael und seine Mutter blieben einige Meter entfernt vom Fundort stehen, während der Vater sich hinkniete und den Sand um die Hand herum entfernte. Immer mehr legte er vom Unterarm frei. Dann erhob er sich und stellte mit wichtiger Miene fest:

„Hier liegt ein Toter!“

Mit weit aufgerissenen Augen starrten ihn seine Frau und sein Sohn an. Insgeheim hatten sie es erwartet, aber die unverblümte, nüchterne Mitteilung des Familienvaters schockierte sie trotzdem.

Ein Toter im Sand inmitten der Wahner Heide! Wie ist das möglich? Hier ist doch alles so friedlich, dachte Michaels Mutter.

Worte kamen ihr aber nicht über die Lippen.

Recht hatte sie. Nachdem die belgische Armee Anfang 2004 die beiden genutzten Kasernen in der Heide verlassen hatte, kehrte grundsätzlich Friede in diese strapazierte Landschaft ein. Keine Manöver, keine Panzerbewegungen mehr – es wurde ruhig in der Heide.

Und jetzt das hier!

Michael hatte sich eng an seine Mutter geschmiegt, die wiederum ihren Sohn beschützend mit den Händen an sich drückte. Beide wollten so schnell wie möglich von diesem schrecklichen Ort weg.

Der Vater zog sein Handy aus der Tasche.

„Wie ist noch die Nummer der Polizei. 110 oder 112?“, fragte der Vater, der seine Aufregung nicht verbergen konnte.

„110 natürlich“, informierte ihn sein Sohn kleinlaut.

Der Vater stellte die Verbindung her und berichtete dem Polizeibeamten der Notrufzentrale, was sie gefunden hatten und wo sie sich aufhielten.

„Wir werden am Auto auf Sie warten“, beendete er schließlich das Gespräch und forderte damit gleichzeitig seine Familie auf, den Rückweg anzutreten.

Montag, 19:35 Uhr

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Kriminalkommissar Ronni Kern drückte den Klingelknopf zur Wohnung von Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein. Auch nach dem zweiten Versuch öffnete sich nicht die Haustüre.

Seltsam, Frank müsste doch da sein, dachte er.

Er klingelte bei der Vermieterin. Er wusste, dass diese die Parterrewohnung bewohnte. Den Rest des Hauses hatte sie vermietet.

Die Vermieterin öffnete die Tür. Sie war eine ältere Frau, deren Mann vor mehr als zehn Jahren verstorben war. Seitdem lebte sie allein. Sie kannte Ronni und freute sich, ihn zu sehen.

„Herr Eisenstein ist so gegen 18 Uhr in seine Wohnung hoch gegangen. Ich habe nicht gesehen, dass er danach nochmal das Haus verlassen hat“, sagte sie.

Ronni bedankte sich und ging hoch zu Franks Wohnung im zweiten Stock.

Seitdem Frank sich im vergangenen Jahr von seiner Freundin Ilka getrennt hatte und er auch die Möglichkeit einer Beziehung zur Gerichtsmedizinerin Susanne Ohlrogge abgebrochen hatte, wohnte er hier. Ronni hatte ihm diese Wohnung in Bonn empfohlen, in der er selbst übergangsweise in der Zeit vom Beginn seiner Versetzung nach Bonn bis zum Bezug seiner jetzigen Wohnung in Bonn-Beuel gelebt hatte. Die Wohnung bestand aus Wohn- und Schlafzimmer und einer kleinen Küche. Dazu Bad und Toilette. Sie war vollständig möbliert, was Frank zum damaligen Zeitpunkt sehr entgegen kam. Das Haus war eine imposante, weiß gestrichene und vollständig renovierte Jugendstil-Villa aus dem Jahre 1904 mit Unter- und Erdgeschoss, sowie zwei Obergeschossen.

Ronni klopfte an die Wohnungstür. Nichts rührte sich. Er klopfte nochmals – jetzt allerdings lauter und drängender. Nichts. Sein Chef schien doch nicht in seiner Wohnung zu sein.

Ronni hatte gesehen, dass sein Wagen am Straßenrand direkt vor dem Haus stand. Sollte Frank zu Fuß in die Stadt gegangen sein? Vielleicht um in einer der gemütlichen Gaststädten im Bonner Zentrum ein Bier zu trinken, oder etwas zu Abend zu essen? Er hatte keine Ahnung.

Sein Verhältnis zu seinem Chef war seit einigen Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten, gestört. Frank hatte sich verändert, war nicht mehr so offen und mitteilsam wie früher. Nach Dienstende ging er fast immer allein zu seiner Wohnung. Ein gemeinsames Bier mit seinem Freund und Kollegen lehnte er ab. Manchmal wirkte er sogar depressiv, schien keine Freude mehr an seiner Arbeit zu haben. Von seinen Freunden und Kollegen entfernte er sich immer mehr.

In der ersten Zeit, nachdem Frank die Wohnung bezogen hatte, verbrachten sie oft die Freizeit zusammen mit Ronnis Freundin Isabelle. Womöglich fühlte er sich als „fünftes Rad am Wagen“, obschon er nie etwas in dieser Richtung äußerte und Ronni auch nie diesen Eindruck hatte.

Als Ronni sich in Richtung Treppe umdrehen wollte, drückte er aus einer Art Reflex den alten Messinggriff der Türe herunter. Die Tür war unverschlossen und sprang sofort auf.

Er drückte die Tür etwas mehr zur Seite, um einen Schritt in den kleinen Flur zu setzen. Es roch muffig und er war sich sicher, den Geruch von Alkohol zu riechen. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Er ging vorsichtig darauf zu. Irgendetwas war hier seltsam. Routinemäßig suchte seine rechte Hand nach seiner Dienstwaffe unter seiner Jacke. Mit der linken Hand drückte er sanft gegen die Wohnzimmertür, die sich mit einem leichten Quietschen öffnete.

Was er dann sah, ließ ihm den Atem stocken. Seine rechte Hand löste sich von seiner Dienstwaffe und er stürmte in das Zimmer hinein.

„Frank, was ist los mit dir?“, rief er außer sich und lief mit ein paar großen Schritten auf ihn zu.

Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein lag mit dem Rücken auf dem Sofa, das direkt vor dem großen Fenster stand. Sein rechter Arm baumelte von seiner Schulter herunter, und seine Fingerspitzen berührten den hellen Langflor-Teppich.

Eisenstein schlief tief und fest, eingehüllt in eine Alkoholfahne.

Um ihn herum herrschte eine totale Unordnung, die Ronni noch mehr verwunderte, als der Alkoholdunst, der von seinem Chef ausging. Mehrere leere Bierflaschen standen auf dem Tisch und auf dem Fußboden. Eine halbleere Flasche Wodka stand auf dem Boden neben seinem herunterhängenden Arm. Es war schon ein Wunder, dass er sie nicht mit der Hand umgestoßen hatte. Außerdem verunstalteten eine aufgerissene Papiertragetasche, sowie zwei, mit trockener Currysoße beschmierte, leere Pappschachteln den Glastisch.

Insgesamt bot sich ihm ein Bild, das er von Frank so nicht kannte.