Kathrin Schrocke
Liebesleid im
Pferdeparadies
Die Locken-Frau
Gebrauchsanweisung für deinen Stimmungsring: Der Ring verrät immer, was du fühlst. Du musst nur auf die Farbe des Steins achten!
„Ist das die Locken-Frau?“, fragt mein Bruder Fabi und stellt sich auf die Zehenspitzen. Wir beide hängen am Fenster hinter der Gardine wie zwei tollpatschige Detektive und treten uns gegenseitig auf den Füßen herum.
„Klaro“, flüstere ich und ducke mich, als mein Vater von der Straße nach oben schaut.
„Sieht eigentlich ganz nett aus“, murmelt Fabi und schlurft in seinen Garfield-Hausschuhen zur Couch zurück. Er schaltet den Fernseher an und bleibt bei einer grellen Zeichentrickserie kleben.
„Nett?“, sage ich empört, gehe zum Fernseher und schalte ihn wieder aus. „Nett? Die sieht aus wie ein Pudel nach einem missglückten Friseurbesuch!“
Fabi grinst. „Du bist nur neidisch, weil du selbst keine Locken hast. Ich finde, das sieht schön wuschelig aus.“
Verlegen fahre ich mir mit den Fingern durch meine hellblonden Haare. Die sind glatt wie Spaghetti und schmiegen sich an mein blasses Gesicht wie ein weicher Rahmen. Wuschelig. Pah! Von Frauen hat Fabian mit seinen acht Jahren einfach nicht die leiseste Ahnung.
„Die Locken sind erst der Anfang!“, entfährt es mir wütend und ich schalte die Glotze wieder an. Tom und Jerry jagen sich durch eine Küche, und eine große Bratpfanne rückt gefährlich ins Zentrum des Bildes. Ich wende meinen Blick ab. „Bald übernachtet die Locken-Frau hier und diese langen Haare kleben überall. Im Waschbecken, in der Dusche. Jede Menge dunkelbraune Locken, überall in der Wohnung.“
Fabi starrt mich verunsichert an. „Und dann?“, fragt er und kann sich gar nicht mehr auf seinen Zeichentrickfilm konzentrieren, in dem Tom gerade eine große rote Beule auf dem Kopf wächst.
„Wenn die Frau erst überall ihre lockigen Haare hinterlassen hat, folgt Schritt zwei. Sie wird Papa völlig für sich haben wollen.“
Fabi sieht auf einmal besorgt aus. „Geiselnahme?“, fragt er, weil er dieses Wort vor Kurzem aufgeschnappt hat.
„Quatsch!“ Mit meinem kleinen Bruder kann man einfach keine vernünftigen Krisengespräche führen. „Doch nicht als Geisel. Als Liebessklave! Er wird alles für sie tun. Ihr Geschenke kaufen, mit ihr ausgehen. Wie immer eben. Und wir zwei schauen mal wieder gewaltig in die Röhre.“
Na ja. Wahrscheinlich übertreibe ich ein wenig. Unsere Eltern sind seit drei Jahren geschieden. Seither hat Papa erst ein einziges Mal ganz kurz eine Freundin gehabt. Sie hieß Rita und war eine Arbeitskollegin aus der Musikschule. Rita hatte eine Katzenallergie, eine Hundeallergie und eine Kinderallergie. Einen Monat nachdem sie Fabi und mich kennengelernt hat, hat sie ganz schnell das Weite gesucht. Danach war Papa total geknickt und hat wochenlang nicht mehr richtig gelacht. Einmal habe ich ihn sogar heulend im Schlafzimmer ertappt. Mann, war das vielleicht peinlich!
Und jetzt also die Locken-Frau.
Der Schlüssel im Schloss wird herumgedreht und erschrocken quetschen Fabian und ich uns auf dem Sofa aneinander. Wir starren so gebannt auf die Mattscheibe, dass es aussieht, als wären wir schockgefroren. Jerry zieht Tom endlich die Bratpfanne über den Schädel und Tom sieht für einen Moment nur noch Sternchen.
Papas Kopf erscheint im Türrahmen.
„Hallo, Partner!“, sagt er in meine Richtung und zwinkert mir zu, als würden wir ein großes Geheimnis teilen.
„Ich heiße Anika“, murmle ich und schaue nicht mal zu ihm rüber. Sein verschwörerisches „Partner“ kann er sich ausnahmsweise mal sparen.
„Hallo, Fabi“, sagt Papa zu meinem kleinen Bruder. Fabi steht treudoof auf und geht doch tatsächlich zu dem Verräter hinüber.
„Ich wollte euch beide fragen, ob es euch stört, wenn Jana zum Abendessen bleibt. Sie hat auch eine große Schüssel Pudding mitgebracht.“
Jana ist die Locken-Frau. Einen Namen, der so kurz ist, kann man ohne Probleme auch gleich wieder vergessen. Das mache ich auch prompt. Ihr Name, ihre Locken und der verliebte Blick meines Vaters sind augenblicklich aus meinem Gedächtnis gelöscht.
Nur Fabi kapiert mal wieder überhaupt nicht, was Sache ist. „Pudding!“, sagt er, und schon hat Papas Neue auch ihn um den Finger gewickelt. Na ja, was soll man schon von kleinen Brüdern erwarten?
„Habe keinen Hunger“, erwidere ich hingegen gelangweilt und schalte auf eine Reportage um. Es geht um die Herstellung von Gummistiefeln. Aber alles ist besser, als mit diesem wandelnden Lockenstab gemeinsam am Küchentisch zu sitzen.
„Pudding!“, wiederholt Fabi noch einmal, als hätte das Wort sein Kleinhirn verdampft.
Einen ganz kurzen Blick wage ich in den Flur, wo die Neue steht und unbeholfen ihre Puddingschüssel umklammert. Ziemlich groß ist die. Zu groß für meinen Geschmack. Kantiges Gesicht. Langweilig! Kieselbraune Augen, die mich plötzlich eingehend mustern. Was stiert die so dämlich? Haare, die aussehen, als wäre ein Silvesterkracher darin explodiert. Gut, das alles ist etwas übertrieben. Eigentlich ist sie ja ganz hübsch. Aber ich will mich mit dieser Frau überhaupt nicht anfreunden. Bestimmt lässt sie meinen Papa bald fallen wie eine heiße Kartoffel. Bestimmt findet sie ihn nur toll, weil er Sänger ist und es ganz schick ist, überall mit ihm angeben zu können. Bestimmt …
„Es gibt Pizza“, unterbricht Papa meine trüben Gedanken. „Los, Partner, schalte die Glotze aus. Wir haben Besuch und du willst bestimmt nicht unhöflich sein.“
Ein bester Freund
Wenn sich dein Ring gelb verfärbt, drückt das große Sorge und Stress aus. Achtung, jetzt sind Nerven aus Stahl gefragt!
Unten am Hauseingang wartet Tim auf mich. Sein Schulrucksack hängt lustlos über der einen Schulter, an der anderen baumelt sein schmuddeliger Sportbeutel.
„Dicke Luft bei euch oben?“, fragt er und lächelt mich aufmunternd an. Tim ist mein allerbester Freund. Seit dem Kindergarten wohnen wir im gleichen Haus. Er weiß immer sofort, wenn was mit mir nicht in Ordnung ist. Jetzt nimmt Tim meine Hand und betrachtet den Stimmungsring. Je nachdem, wie es mir geht, wechselt der Stein des Rings die Farbe. Heute glänzt er schleimig gelb: das Zeichen für Stress und megaschlechte Laune.
„Papas Neue war gestern zum Abendessen da“, erkläre ich und kicke vor Ärger eine leere Getränkedose über die Straße. „Weißt du, wie die heißt? Ja-na! Ja-na! Fällt dir was auf?“
Tim schüttelt den Kopf.
Ich bleibe stehen. „Wenn man die Buchstaben vertauscht, kommt Naja raus! Na ja. So ist die auch. So na ja. Vegetarierin. Wegen der mussten wir alle Salamischeiben von der Pizza pflücken! Bestimmt verlässt sie ihn bald und dann gibt es wieder riesiges Geheule.“
Tim grinst. „Übertreib mal nicht!“, meint er. „Vielleicht liebt sie ihn ja wirklich. Wäre doch schön!“
Der muss gerade was sagen. Als seine Mama einen neuen Freund hatte, hat Tim sich sofort Bücher über Selbstverteidigung und Abwehrtechniken besorgt. Er hat tatsächlich geglaubt, dass er in den Büchern irgendetwas zur Vertreibung von neuen Mütter-Liebhabern finden könnte. Hat er aber natürlich nicht. Heute sind sein Stiefvater und er allerbeste Freunde. Aber damals?!
„Was macht die Frau denn so?“, fragt Tim und weicht einem Fahrrad aus, das zu schnell um die Ecke biegt. „Die Neue. Hat sie einen Beruf?“
Ich zucke mit den Schultern. „Mir egal. Wahrscheinlich ist sie staatlich geprüfte Ehebrecherin.“ Die Locken-Frau ist mir wirklich schnurzegal. Meinetwegen kann sie mit Spongebob Schwammkopf in einer Wohngemeinschaft leben und als Tiefseetaucherin arbeiten. Hauptsache, sie verkrümelt sich bald wieder aus unserem Leben. Gestern habe ich jedenfalls kein einziges Wort mit ihr gewechselt.
Tim bleibt vor der großen Werbetafel neben dem Bahnhof stehen, wo in fünf Minuten unser Schulbus hält. Seit zwei Wochen klebt dort ein überdimensionales Werbeplakat: ein weißes Pferd und darauf sitzt eine zierliche Frau in einem gelb gepunkteten Kleid und trinkt Apfelsaft aus der Flasche.
Von Apfelsaft kriege ich Schluckauf. Aber Pferde liebe ich über alles. Früher, als Mama und Papa noch zusammen waren, hatte ich richtigen Reitunterricht. Aber seit der Scheidung ist das vorbei. Der Unterricht ist zu teuer und Papa hat nicht die Zeit, mich ständig mit dem Auto zum Reiterhof zu bringen.
Tim scheint meine Gedanken zu lesen.
„Wenn ich erwachsen bin und Geld habe, kaufe ich dir ein Pferd“, sagt er und knufft mich in die Seite.
„Wenn ich erwachsen bin und Geld habe, kaufe ich dir ein Meerschweinchen“, antworte ich ganz gönnerhaft.
Wir gucken uns an und brechen in schallendes Gelächter aus.
„Wie großzügig!“, sagt Tim und schultert seinen Rucksack, weil der Bus gerade um die Ecke biegt. Noch einen letzten Blick erhaschen wir auf die Reiterin mit ihrem strahlenden Schimmel.
Mit der müsste man tauschen können!
Auf einem Pferderücken über weite Wiesen und Felder galoppieren. Der Wind pfeift einem durchs Haar, und am Horizont …
Aber schon schließt sich die Bustür hinter uns, und ein weiterer öder Schultag bricht an.
* * *
„Ich bin ja so was von erledigt!“ Verzweifelt versenke ich meinen Löffel im Eisbecher und schaufle Vanilleeis in mich hinein. Tim schlürft an seinem Eiskakao. „Hast du das echt vergessen?“, fragt er und schaut mich mitleidig an.
Ja, ich habe es vergessen. Vollkommen. Ganz und gar. Die letzten zwei Wochen vor den Ferien bekommen die siebten Klassen frei, um ein Schülerpraktikum zu machen. Praktikum, so ein lächerliches Wort. In Wahrheit ist es nichts anderes als Kinderarbeit. Ist Kinderarbeit in Deutschland nicht gesetzlich verboten?!
Tim kann es immer noch nicht fassen. „Aber die Eltern wurden doch auf dem Elternabend informiert. Hat dein Papa dich nicht daran erinnert?“
Das letzte bisschen Vanilleeis schmilzt am Grund des Bechers. „Mein Papa war nicht beim Elternabend. Da hatte er einen Auftritt.“
Normalerweise gibt mein Papa in der Musikschule Gesangsunterricht. Aber manchmal hat er abends auch Konzerte. Konzerte, auf denen er dann von wildfremden Frauen angehimmelt wird, die es unglaublich cool finden, einen richtigen Sänger kennenzulernen. Und die ihn doch nur unglücklich machen.
Tim seufzt. „Schöner Mist. Am Montag sollen wir doch schon anfangen mit dem Praktikum! Meinst du, du kannst bei deinem Papa arbeiten?“
Geräuschvoll atme ich ein. „Bei dem? Nie! Was sollte ich da machen? Seine geheiligte Stimmgabel hinter ihm hertragen?“
Tim schaut nachdenklich zu der Kellnerin hinüber. „Und hier? Du könntest in der Eisdiele arbeiten. Bestimmt können die eine kostenlose Bedienung gebrauchen.“
Tim winkt die junge Italienerin heran.
„Si?“ Die Kellnerin sieht uns erwartungsvoll an.
Tim deutet auf mich. „Wir müssen ein zweiwöchiges Praktikum machen …“, druckst er herum. „Und meine Freundin hat noch keinen Platz. Denken Sie, sie könnte hier …“
Tim hat noch nicht mal ausgesprochen, da schüttelt die Kellnerin bereits den Kopf. „Wir haben schon einen Praktikanten“, sagt sie. „Hugo. Bestimmt kennt ihr ihn!“
Klar kennen wir Hugo. Hugo ist einen Meter hoch und einen Meter breit, bildlich gesprochen. Logisch, dass der ausgerechnet in einer Eisdiele arbeiten möchte. Als Resteverwerter! Toll, Hugo ist fein raus.
„Was für einen Praktikumsplatz hast du eigentlich?“, frage ich Tim. Tim grinst. „Mein Onkel hat einen Pizzaservice in München. Da darf ich mithelfen. Und zwei Wochen bei denen auf der Gästecouch pennen.“
Tim, zwei Wochen in München. Und ich allein, hier. Ohne einen Praktikumsplatz. Ich tue mir gleich selbst leid.
Plötzlich hellt sich Tims Miene auf. „He, Kopf hoch! Wir beide klappern jetzt einfach jeden Laden in der Stadt ab. Die Bäckereien, die Cafés, die Kaufhäuser. Irgendwo muss es doch einen Job für ein nettes 13-jähriges Mädchen geben!“
Ich bin da nicht so sicher. In letzter Zeit läuft bei mir alles schief. Die furchtbare Locken-Frau. Meine schlechten Noten. Und jetzt muss ich mir auch noch innerhalb von zwei Tagen eine Praktikumsstelle suchen.
„Zahlen!“, rufe ich der Kellnerin zu und versuche, nicht allzu frustriert zu klingen.
* * *
Als Tim und ich drei Stunden später die Wohnungstür aufschließen, ist unsere Laune vollends im Keller. Mein Stimmungsring hat seine Farbe von Ekelgelb zu Orange gewechselt und wird langsam tiefrot. Wenn er irgendwann zu Staub zerfällt, würde mich das nicht im Geringsten wundern.
„Was ist los, Partner?“ Papa kommt aus der Küche und sieht mich und Tim erstaunt an.
Tim seufzt. „Anika hat vergessen, dass wir ab Montag ein Schülerpraktikum machen müssen. Und alle Stellen in der Stadt sind schon besetzt.“
Eine Falte entsteht auf Papas Stirn. „Ein Praktikum? Aber wieso hast du denn nichts davon erzählt?“
Ich zucke mit den Schultern. „Hab’s vergessen.“
Jetzt kommt auch noch Fabi aus seinem Zimmer geschossen. Und offenbar hat er mal wieder jedes Wort mitbekommen.
„Bist du jetzt arbeitslos?“, fragt er und sieht mich mitleidig an.
„So ungefähr“, antworte ich leise.
Eine Weile sagt niemand etwas. Tim hat die Hände in den Hosentaschen versenkt, Fabi wippt in seinen Garfield-Hausschuhen auf und ab. Papa hat nachdenklich die Arme verschränkt und ich starre ins Leere.
Dann erwacht Papa endlich wieder zum Leben. „Ich hab’s!“, sagt er, schnappt sich das Telefon und verschwindet im Schlafzimmer. Eine Zeit lang hört man nur Gemurmel und schließlich Papas Lachen, als ob er sich schrecklich über etwas freut.
Mit erhitzten Wangen kommt er wieder aus seinem Zimmer heraus.
„Tolle Neuigkeiten, Partner!“, sagt er. „Hol den Koffer vom Dachboden, ich habe einen phänomenalen Job für dich organisiert.“
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.
„Und wo?“ Auch Tim starrt Papa ungläubig an.
„In einer Tierarztpraxis.“
Seit wann kennt Papa denn Tierärzte? Will er mich auf den Arm nehmen?
„Los, los!“ Papa klatscht in die Hände. „Mach eine Liste, was du für eine zweiwöchige Reise brauchst, damit wir dir morgen alles besorgen können. Am Sonntagabend bringe ich dich dann hin.“
„Und wo soll das bitte schön sein?“, frage ich verwirrt.
„Gibt es da auch Elefanten?“, will Fabi wissen und guckt mich neidisch an.
„Elefanten gibt es da bestimmt nicht“, antwortet Papa auf Fabis Frage. „Und die Praxis ist auf dem Land. Ungefähr eine Autostunde von hier entfernt. Jana freut sich schon, wenn sie ab Montag eine helfende Hand hat. Zurzeit platzt ihre Praxis aus allen Nähten.“
„Ja-na?“, wiederhole ich fassungslos und Tim kann ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Jana ist doch Tierärztin“, sagt Papa, als wüssten wir längst Bescheid. „Du kriegst ein eigenes Gästezimmer. Bestimmt versteht ihr euch prima.“
Ausgerechnet Jana. Noch eben habe ich mich richtig über diese tolle Überraschung gefreut. Aber jetzt …
„Das wusste ich ja gar nicht“, murmle ich.
„Es hat dich ja auch nicht interessiert, Partner“, sagt Papa vorwurfsvoll.
In der Küche zischt etwas und eilig stürzt Papa zurück an den Herd. Auch Fabi verliert langsam das Interesse und schlendert in sein Zimmer, wo er zwischen seinen Legosteinen verschwindet.
„Vielleicht ist sie ja ganz nett“, versucht Tim mich zu trösten. „Eine Tierarztpraxis! Das klingt doch spannend!“
Nachdenklich gucke ich Tim an. Seine Haare sind ganz schön lang inzwischen, sie gehen ihm fast bis über die Ohren. Er will sie wachsen lassen und irgendwann aussehen wie die Rockstars auf MTV. Den passenden Schmachtblick hat er auf jeden Fall schon. Tim ist wirklich hübsch. Komisch, dass mir das ausgerechnet jetzt auffällt.
Tim lächelt. „Schau mal, dein Stimmungsring wird langsam wieder grün. Ist doch ein gutes Zeichen.“
Das stimmt. „Schreibst du mir mal?“, frage ich, ehe Tim sich ins Treppenhaus verdrücken kann.
Verwundert dreht er sich noch mal zu mir um. „Klar, wenn du willst.“ Er lächelt. „Aber nur, wenn du mir auch schreibst. Wie es dir so geht mit den Tieren und der Locken-Frau.“
Dann verschwindet er nach unten und ich gehe hoch auf den Dachboden, um meinen Koffer zu holen.
Willkommen auf Hof Katzenglück
Wenn sich der Ring orange verfärbt, bist du sichtlich nervös. Nur Mut, so schlimm wird es nicht werden!
Als Papa meinen Koffer im Auto verstaut, bildet sich ein dicker Knoten in meinem Hals. Ich bin noch nie ohne Papa und Fabi verreist. Außer mit der Schule ins Zeltlager. Aber da musste ich auch nicht arbeiten und bei einer Frau wohnen, die es auf meinen Vater abgesehen hat.
Oben im ersten Stock unseres Mietshauses wird ein Fenster geöffnet. Tim! Gleich wird mir noch trauriger zumute.
„Viel Glück!“, ruft Tim und winkt zu mir herunter. „Es wird bestimmt nicht so schlimm und in zwei Wochen sehen wir uns wieder!“
Ich gucke hoch zu meinem besten Kumpel. Und auf einmal wird mir bewusst, dass das die längsten und einsamsten zwei Wochen meines Lebens werden könnten.
* * *
„Gleich sind wir da“, sagt Papa, nachdem wir durch die hundertste verschlafene Ortschaft getuckert sind. Fabi ist längst auf dem Rücksitz eingenickt und ich sitze vorn auf dem Beifahrersitz und kaue vor Anspannung an den Nägeln.
„Wird ein Kinderspiel für dich, Partner!“, ermuntert mich Papa, der merkt, wie schweigsam ich seit unserer Abfahrt bin. „Bestimmt bringt dir Jana interessante Sachen bei. Außerdem wartet noch eine kleine Überraschung auf dich.“
Von Überraschungen habe ich zurzeit eigentlich genug. Papa fängt fröhlich an zu pfeifen und ich beschließe schweren Herzens, dieser Jana doch eine Chance zu geben. Immerhin hat sie mir ganz schön aus der Patsche geholfen. Und vielleicht ist sie ja doch netter als gedacht.
Papa nimmt eine scharfe Linkskurve und es geht einen Hang hoch, hinein in ein weiteres verlassenes Dorf.
„Das ist die Ortschaft“, sagt Papa laut und hinten schlägt Fabi verschlafen die Augen auf. Gerade fahren wir an einem leer stehenden Forsthaus vorbei und am Straßenrand steht ein dunkelgrüner Traktor, der offenbar auf bessere Zeiten wartet.
„Ui!“, sagt Fabi, als hätten wir soeben die Milchstraße überquert. „Gibt’s hier auch ein Kino?“
Papa lacht. „Nein. Keine Elefanten, kein Kino. Nicht mal eine Eisdiele. Gerade mal 500 Einwohner, eine Bushaltestelle und eine Tierarztpraxis. Aber Anika wird das schon meistern. Sie ist ja auch zum Arbeiten hier und nicht, um Urlaub zu machen.“
Der Knoten in meinem Hals wird immer dicker. Hier soll ich bleiben? Keine Menschenseele ist auf der Dorfstraße unterwegs und irgendwo muht eine einsame Kuh.
„Da wären wir“, sagt Papa und fährt auf den Vorplatz eines alten Bauernhofes. Der Knoten beginnt sich zu lösen. Nett sieht es hier aus. Links steht eine Bank vor einem Wohnhaus mit hübschen Gardinen und Blumen an den Fenstern. Rechts sind ein paar Scheunen. Im Erdgeschoss ist wohl die Praxis untergebracht. Über dem Eingang zum Haus rankt eine blühende Kletterpflanze. Daneben ist ein Keramikschild angebracht: „Hof Katzenglück. Tierarztpraxis Jana Schreiber“.
Als Papa den Motor abstellt, wird die Tür aufgeschoben. Jana erscheint. Sie trägt eine gestreifte Schürze und ihre lockigen Haare hat sie mit einem roten Gummi zu einem Zopf zusammengebunden. Offenbar kommt sie gerade aus der Küche, denn ein würziger Geruch nach gebratenen Möhren und Kartoffeln erfüllt plötzlich die Luft.
„Hallo!“, sagt sie erfreut und wischt ihre Hände an der Schürze ab.
„Hallo!“, antworte ich schüchtern. Ich lasse mir von Papa den Koffer aus dem Auto heben und schleife ihn in Janas Richtung. Als ich sie fast erreicht habe, bleibe ich wie angewurzelt stehen.
„Ist sie das?“, höre ich eine dunkle Stimme und ein Mädchen, etwa in meinem Alter, tritt hinter Janas Rücken hervor. Sie hat die gleichen wilden Locken wie Jana, die gleichen kieselbraunen Augen, den gleichen musternden Blick. Sie steckt in schwarzen kurzen Jeans und das weiße Shirt hat sie nachlässig über ihrem Bauchnabel verknotet. Auf dem T-Shirt steht in grauen Buchstaben „Happy“. Allerdings scheint sie alles andere als glücklich zu sein, mich zu sehen.
„Ja, das ist sie“, sagt Jana und gibt meinem Papa einen Kuss auf die Wange. Das Mädchen starrt immer noch reglos zu mir herüber.
„Ich bin Anika“, sage ich kleinlaut und zeige auf Fabi. „Und das ist mein Bruder Fabian.“
Jana lächelt. „Herzlich willkommen bei uns auf Hof Katzenglück, Anika. Das ist Corinna, meine Tochter.“
Das Mädchen rührt sich immer noch nicht von der Stelle. Sie ist braun gebrannt, das linke Knie ist aufgeschürft. Auf einmal muss ich an Ronja Räubertochter denken, von der hat mir Mama früher immer vorgelesen. Genau so habe ich mir das Räubermädchen immer vorgestellt! Hatte Ronja eigentlich jemals eine Freundin?
„Corinna zeigt dir jetzt erst mal dein Zimmer“, sagt Jana und stupst ihre Tochter an. „Los, hilf ihr den Koffer nach oben zu schleppen.“
Endlich löst sich Corinna aus ihrer Erstarrung. Sie greift nach meinem Koffer und schiebt ihn in den dunklen Hausflur hinein. Zögernd folge ich ihr.
„Du hast das Zimmer zur Weide raus“, sagt Corinna mit ihrer klangvollen Stimme. Sie zerrt meinen Koffer ohne viel Vorsicht die Stufen nach oben. „Das ist das schönere Gästezimmer. Mama hat extra noch ein paar Möbel reingestellt, damit du dich wohlfühlst.“
Na, das klingt doch ganz gut. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, wie ich eben noch befürchtet habe.
Als wir die Treppe zur Hälfte hochgestiegen sind, piept es aus Corinnas Hosentasche. Genervt greift sie nach ihrem Handy, starrt auf das Display und stopft das Telefon ohne abzunehmen wieder in ihre Hosentasche zurück. Auf einmal wirkt sie irgendwie traurig.
Schweigend zerrt sie den schweren Koffer bis nach oben.
Als sie die Zimmertür aufstößt, bleibe ich überrascht stehen. Wie schön das ist! Ein richtiges Himmelbett steht links in der Ecke. Ein gemusterter Webteppich auf dem Boden. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Und darauf eine Vase mit frischen Wiesenblumen. Ein alter Oma-Schrank. Sogar ein Radio steht auf der Kommode.
„Toll!“, sage ich und gucke Corinna begeistert an.
Corinna wirft mir aus ihren braunen Augen einen finsteren Blick zu.
„Eines will ich gleich mal klären“, sagt sie leise und lässt meinen Koffer unsanft auf den Boden plumpsen. „Nach den zwei Wochen dampfst du wieder ab und nimmst deinen langweiligen Papa am besten gleich mit. Den kann ich nämlich absolut nicht leiden.“
Ich schlucke und Corinna rauscht davon, ohne sich noch mal umzudrehen.
Unten im Hof höre ich Papa und Jana lachen und auf einmal brennen Tränen in meinen Augen.
Das ist aber auch alles zu viel: weg von zu Hause, in einem Dorf, das absolut von der Außenwelt abgeschnitten ist. Zusammen mit dieser Jana, die meinen Papa nur liebt, damit sie vor ihren Freunden mit ihm angeben kann. Und dann auch noch ihre schreckliche Tochter Corinna, die wie eine Ronja Räubertochter mit Kampfausbildung wirkt. Tim sitzt längst im Zug nach München und mein Stimmungsring zeigt schon wieder höchste Alarmstufe an.
Draußen schiebt sich eine Wolke vor die Sonne und auf einmal wird es im Zimmer finster. Die Gemütlichkeit ist dahin und alles wirkt schrecklich einsam und verlassen. Sogar das Himmelbett verliert an Glanz: Es sieht aus, als hätte jemand ein altes Bett auf dem Dachboden gefunden und einfach einen Vorhang aus Gardinenstoff darübergehängt.
Verlegen wische ich mir über das Gesicht. Jetzt bloß nicht heulen. Papa darf auf keinen Fall mitkriegen, was hier läuft. Dass wir alle gänzlich unerwünscht sind. Dass diese doofe Corinna Papa am liebsten auf den Mond schießen würde.
Die Wolke zieht weiter und die Sonnenstrahlen kehren versöhnlich in das Zimmer zurück.
Irgendwie werden die zwei Wochen schon vorübergehen.
Ich gehe zum Fenster und blicke hinaus auf die Weide hinter dem Hof. Meine Laune hellt sich augenblicklich auf.
Da unten steht ein weißes Pferd und knabbert genüsslich an einem Grasbüschel. Als hätte es geahnt, dass ich hinunterschaue, hebt es neugierig den Kopf und guckt genau in meine Richtung.
„Willkommen auf Hof Katzenglück!“, scheint sein Blick zu sagen.
Das ist das netteste Willkommen des Tages.
Jede Menge Arbeit
Schimmert dein Stimmungsring in einem mittelgrünen Farbton, bist du ehrlich überrascht. Ob positiv oder negativ, das wird die Zukunft zeigen!
Als ich die Augen aufschlage, weiß ich erst überhaupt nicht, wo ich bin. Wieso ist es denn plötzlich so ruhig hier? Kein Autolärm, keine Rufe von der Straße. Dafür setzt irgendwo ein Hahn an und kräht sich die Seele aus der Brust.
Hof Katzenglück, kommt es mir in den Sinn. Klar, Papa hat mich gestern hier abgeliefert und ist zwei Stunden später mit Fabi wieder zurück in die Stadt gefahren.
Und ich bin hier, auf einem alten Bauernhof. Allein mit Jana und ihrer schrecklichen Tochter Corinna …
„Na endlich!“, sagt Corinna in dem Moment und erschrocken fahre ich hoch. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Teppich und beobachtet mich wie eine lauernde Katze.
Wütend starre ich sie an. „Machst du das immer so? Dich einschleichen und schlafende Leute begaffen?“
Corinna zuckt mit den Schultern. „Nur wenn es sich zufällig ergibt. Ich wollte Frieden schließen.“
Das ist ja das Allerneueste. Gestern Abend ist Corinna nicht mal zum Essen erschienen, sondern gleich in ihrem Zimmer verschwunden.
„Ich war unfair“, gibt sie zu und steht endlich vom Teppich auf. „Du kannst ja nichts dafür, dass meine Mutter deinem Vater verfallen ist.“
Ich lache auf. „Wohl eher umgekehrt“, sage ich bitter. „Deine Mutter hat meinen Papa doch voll um den Finger gewickelt. Dabei braucht er überhaupt keine Freundin. Wir drei kommen auch ganz gut ohne Frau zurecht.“
Corinnas Gesicht hellt sich auf. „Na prima!“, sagt sie und zupft an ihren Locken, sodass sie noch wilder abstehen, als sie es sowieso schon tun. „Dann wäre das ja geklärt. Weißt du, meine Eltern sind zwar geschieden, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder zusammenkommen.“
Nachdenklich gucke ich Corinna an. Als meine Eltern sich getrennt haben, habe ich genau das Gleiche gedacht. Inzwischen bin ich drüber weg. Mama ist wieder verheiratet und denkt bestimmt nicht im Traum daran, zu Papa zurückzukehren. Ständig gab es Streit. Und einmal hat Mama sich stundenlang im Bad eingesperrt. Das war schrecklich! Seit der Trennung verstehen sie sich besser.
Corinna geht zum Fenster und reißt es auf.
„Wenn ich von der Schule heimkomme, schmieden wir einen Plan!“, sagt sie verschwörerisch und lehnt sich nach draußen.
„Guten Morgen, Amor!“, ruft sie zur Weide hinunter und dreht sich wieder zu mir um.
„Welchen Plan denn?“, frage ich verwirrt.
Corinna spannt die Schultern an. „Na, wie wir die beiden wieder auseinanderbringen können. Du bist doch zwei Wochen hier, das wird wohl genügen, um ihnen einen Strich durch ihre komische Liebesrechnung zu machen.“
Sie guckt auf ihre Armbanduhr. „Mist, ich muss los. Mama lässt dir ausrichten, Frühstück steht in der Küche. Wenn du gegessen hast, sollst du gleich runter in die Praxis kommen. Heute ist Impftag.“
Ich schlage die Bettdecke zur Seite und Corinna verzieht sich endlich aus meinem Zimmer.
Amor? Verunsichert gehe ich zum Fenster und schaue nach draußen. Der herrliche Schimmel steht schon wieder da und guckt zu mir hoch, als hätte er die ganze Zeit auf mich gewartet. Seine Stirn ist auffällig breit, die Haltung so stolz, als könnte nichts und niemand ihn erschüttern.
„Amor heißt du also“, murmle ich leise vor mich hin und habe es auf einmal schrecklich eilig, nach unten zu kommen.
* * *
Fasziniert beobachte ich Jana dabei, wie sie die Spritze ansetzt.
„Ganz ruhig, Amelie“, sagt sie zu der faltigen Boxerhündin und nickt dem dazugehörigen Frauchen zuversichtlich zu. Das Frauchen sieht ihrem Hund verdächtig ähnlich: knautschiges Gesicht, knubbelige Nase. Dieselben tief liegenden Augen, derselbe mürrische Mund. Allerdings guckt sie viel ängstlicher als ihr Vierbeiner und erleichtert atmet sie auf, als Jana die spitze Nadel wieder beiseitelegt.
„Kennst du jedes Tier, das zu dir in die Praxis kommt, mit Namen?“, frage ich und beobachte die Boxerhündin, die nach der Behandlung erst mal ausgiebig gähnt. „Fast alle“, sagt Jana und zieht die Gummihandschuhe aus. „Gerade die Hunde aus der näheren Umgebung gehören ja zu meinen Stammkunden. Die Impfungen müssen jährlich aufgefrischt werden. Amelie kommt bestimmt schon seit sechs Jahren zu mir.“
Die Hündin erhebt sich schwerfällig, als wäre nichts geschehen, und ihr Frauchen tätschelt ihr lobend den Kopf.
„Das ist übrigens meine Assistentin Anika“, stellt Jana mich endlich vor. „Anika, begleitest du Frau Anz und Amelie nach draußen? Im Schrank neben dem Eingang gibt es Hundekuchen für unsere geduldige Patientin.“
Ich mache die Tür auf und Frau Anz und ihre Boxerhündin folgen mir im Gleichschritt. Als ich den Hundekuchen aus dem Schrank hole, springt Amelie kläffend an mir hoch und wirft mich fast um.
„Viel Erfolg noch beim Praktikum!“, sagt Frau Anz zum Abschied und macht sich mit ihrem faltigen Liebling davon die Dorfstraße hinunter.
Ich gehe zu Jana zurück in ihren großen Praxisraum. „Noch mehr Impfungen heute?“, frage ich.
„Ja.“ Jana guckt auf die Uhr. „Heute Vormittag haben sich noch vier Hundebesitzer angemeldet. Da kannst du mir nicht sonderlich behilflich sein. Wenn du willst, kannst du dich in der Zwischenzeit ein wenig um Amor kümmern.“
Amor? Mein Herz macht einen Satz. Meint sie tatsächlich den Schimmel auf der Weide?
Jana sieht mich lächelnd an. „Dachte ich mir doch, dass du ein Herz für Pferde hast“, sagt sie, als könnte sie meine Gedanken lesen. „Amor habe ich zur Eröffnung der Praxis bekommen. Damals war er ein niedliches Fohlen. Eine richtige kleine Schneeflocke. Und jetzt …“
Sie schiebt mich zum Fenster, aus dem man direkt auf die Weide blickt. Inzwischen stehen noch zwei weitere Pferde auf der Koppel und grasen.
„Gehören die alle dir?“, frage ich erstaunt. Jana schüttelt den Kopf. „Nein, das sind die Pferde meiner Eltern. Ihnen gehört der Bauernhof direkt nebenan. Da ist auch Amor untergestellt. Zusammen mit den anderen beiden Pferden, Diabolo und Dusty. Weißt du, Pferde sind Herdentiere. Wenn Amor hier allein im Stall stehen würde, wäre er schrecklich einsam.“
Ich nicke. Klar, weiß ich doch alles. Was Pferde betrifft, bin ich Expertin.
„Geh doch mal rüber zu meiner Mutter und stell dich vor, sie zeigt dir bestimmt alles, was du wissen musst. Vielleicht kannst du dich in den nächsten zwei Wochen ein bisschen um die Pferde kümmern. Natürlich nur, wenn in der Praxis nicht allzu viel zu tun ist.“ Sie zwinkert mir zu.
Begeistert sehe ich Jana an. Diesen Arbeitsauftrag werde ich nur allzu gern erledigen!
* * *
In dem Augenblick, als ich über den Hof hinüber zum angrenzenden Bauernhof renne, biegt eine ältere Frau um die Ecke. Eine wilde graue Lockenmähne, kieselbraune Augen. Das kann nur Janas Mutter sein!
Sie stellt den Eimer, den sie eben in Richtung Hühnerstall tragen wollte, ab und reicht mir die Hand.
„Du bist bestimmt die Besucherin“, sagt sie und schenkt mir ein fröhliches Lächeln.
„Die Praktikantin“, verbessere ich. „Eigentlich bin ich zum Arbeiten hier.“
„Verstehe.“ Janas Mutter nickt. „Jana hat schon erzählt, dass du mir wahrscheinlich ein wenig mit den Pferden helfen wirst. Das ist gut! Weißt du, mein Mann und ich sind nicht mehr die Jüngsten und für die drei Tiere braucht man ganz schön viel Energie. Unsere Enkeltochter Corinna hilft uns zwar kräftig, aber die Arbeit nimmt kein Ende.“
Aus dem Hühnerstall kommt ein älterer Mann mit Halbglatze herübergeschlendert. Auch er sieht nett aus. Liebevoll legt er seiner Frau den Arm um die Schulter.
„Aha“, sagt er und mustert mich neugierig. „Du bist also die Tochter des Musiklehrers.“
Plötzlich kommt mir ein komischer Verdacht. Was, wenn Janas Eltern ebenfalls finden, dass mein Papa das Weite suchen sollte? Vielleicht wollen sie auch, dass Corinnas Vater zurückkehrt und meiner endlich wieder von der Bildfläche verschwindet.
Aber immer noch sieht mich Janas Mutter ganz freundlich an. „Deinen Papa haben wir schon ins Herz geschlossen“, sagt sie und ihr Mann nickt.
„Gehört der ganze Bauernhof Ihnen?“, frage ich, um das Thema zu wechseln.
„Ja!“ Janas Vater klingt mächtig stolz. „Früher hat er meinen Eltern gehört und davor meinen Großeltern. Seit vierzig Jahren ist er nun im Besitz von mir und meiner Frau!“
Vierzig Jahre! Verblüfft gucke ich die beiden an. Ich wusste gar nicht, dass es Ehen gibt, die so lange halten.
„Guck nicht so erschrocken!“ Janas Mama lacht. „Heutzutage ist das ja alles anders. Leider.“ Sie hakt sich bei mir unter. „Die Zeiten ändern sich eben. Übrigens arbeiten wir nicht mehr richtig als Bauern. Wir haben einige Äcker verkauft und bauen nur noch für uns selbst an. Man könnte also fast sagen, dass wir so etwas wie Aussteiger sind.“
Aussteiger in dem Alter! Janas Mutter fängt an, mir zu gefallen.
„Jetzt wollen wir dich aber nicht länger aufhalten“, sagt sie und deutet hinters Haus. „Du willst doch bestimmt endlich Amor kennenlernen!“
Ein Pferdesommer
Total cool drauf bist du mit einem rosaroten Stimmungsring. Die Welt ist wieder in Ordnung und du könntest vor Freude Bäume umarmen!
Janas Mutter bleibt am Gatter der Weide stehen und nickt zu Amor hinüber. „Wir müssen aufpassen!“, mahnt sie mich. „Amor ist normalerweise ziemlich misstrauisch. Es dauert immer eine kleine Ewigkeit, bis er mit Fremden Freundschaft schließt.“
Amor kommt zu uns herübergetrabt. Er schnaubt freundlich, reckt seinen Kopf über das Gatter und stupst mich vorsichtig mit der Nase an.
„Das gibt’s ja nicht!“ Janas Mutter ist wirklich überrascht. „Er scheint dich echt zu mögen.“
Logisch, ich mag Amor schließlich auch. Seit ich ihn gestern vom Fenster aus zum ersten Mal gesehen habe, ist es um mich geschehen. Ich habe es immer im Gefühl, ob ein Pferd mich mag oder nicht. Schon damals in der Reitschule konnte ich auf einen Blick erkennen, mit welchen Pferden ich gut auskommen würde. Ganz sanft streichle ich Amor über den Hals.
Janas Mutter zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. „Da bin ich wirklich baff. Dein Papa hat uns schon verraten, dass du eine geübte Reiterin bist. Hast du Lust, Amor ein bisschen auszureiten?“
Vor Aufregung fangen meine Hände an zu kribbeln. Was soll das denn für eine Frage sein? Hat Fabi Lust auf eine riesige Schüssel Schokopudding? Hat Papa Lust auf ein Publikum, das ihn jubelnd beklatscht? Reiten ist für mich das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Sogar mit 40 Grad Fieber und gebrochenem Bein hätte ich Lust, mich auf einen Pferderücken zu setzen!
„Klar!“, stottere ich überrumpelt. „Darf ich das denn?“
Janas Mama zuckt mit den Schultern. „Wenn dein Papa sagt, dass du eine gute Reiterin bist, glauben wir ihm das. Und dass Amor dich sofort ins Herz geschlossen hat, ist nicht zu übersehen. Es gibt einen ganz ungefährlichen Weg dort hinten durch einen kleinen Wald. Wenn du mich zurück zu den Ställen begleitest, gebe ich dir Sattel und Zaumzeug.“
* * *
Als ich kurze Zeit später hoch oben auf Amors Rücken throne, sieht die Welt gleich viel besser aus. Was für ein Glück, dass Papa die grandiose Idee hatte, mich hierherzuschicken! Vorsichtig klopfe ich Amor den Hals, und gemütlich trottet er den Waldweg entlang. Janas Mutter hat mir genaue Anweisungen gegeben, welche Route ich nehmen soll. Amor wird schneller. Hier kennt er sich aus. Hier ist sein Revier. Und Amor will mir alles zeigen!
Nach einer Weile lasse ich ihn in einen flotten Trab fallen. Wahnsinn! Endlich sitze ich wieder auf einem Pferderücken. Nach so langer Zeit! Fast genauso wie die Frau auf dem Poster am Bahnhof, wo Tim und ich immer auf den Bus warten.
Tim … Als ich an ihn denke, wird mir komischerweise ganz flau im Magen. Wenn der mich jetzt sehen könnte!