Zum Buch:

Ein stürmisches Unwetter zwingt Hallie O’Rourke und ihre beiden Töchter, im Last Chance Café in Primrose Creek Zuflucht zu suchen. Dort begegnen sie dem attraktiven Chance Qualtrough, der sich als ihr Retter in der Not erweist. Der charismatische Gentleman-Rancher weckt in Hallie eine Sehnsucht, die sie lange verleugnet hat: sich zu verlieben, Wurzeln zu schlagen, endlich dazuzugehören. Der erste Kuss verrät ihr, dass auch Chance diese Anziehung spürt. Doch schnell holt ihre tragische Vergangenheit Hallie ein. Jetzt muss sie sich entscheiden, ob sie den Mut besitzt, um ihr Glück zu kämpfen.

Zum Autor:

Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.

Lieferbare Titel:

„Brides of Bliss County“-Serie

Bliss County – Der Hochzeitspakt

Bliss County – (K)ein Mann zum Heiraten

Bliss County – Der Traum in Weiß

„Big Sky“-Serie

Big Sky Country- Das weite Land

Big Sky Mountain – Berg der Sehnsucht

Big Sky River – Am reißenden Fluss

Big Sky Summer – Zeit der Entscheidung

Big Sky Wedding – Hochzeitsglocken in Montana

Big Sky Secret – Antwort des Herzens

Linda Lael Miller

Letzte Chance für das Glück

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Christian Trautmann

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Last Chance Café

Copyright © 2002 by Linda Lael Miller

erschienen bei: Atria Books, New York

Published by arrangement with

the original publisher, Atria Books,

a division of Simon & Schuster Inc., New York

Leseprobe

Titel: Damals und für immer erscheint bei: MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Aus dem Amerikanischen von Thomas Hase

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München / duha127 / rez-art / vasakna

ISBN eBook 978-3-95649-537-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Scottsdale, Arizona

Joel Royer legte seine Hand auf Hallies Unterarm und räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sie konnte sich nicht vom Anblick der Leiche losreißen, von den sterblichen Überresten, der wächsernen Gestalt, die einmal ihr Stiefvater gewesen war. Lieber Lou, guter Cop, anständiger Bürger, einstmals Ritter in schimmernder Rüstung. Er war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, seit sie sechs war, und sein Tod hatte sie aus der Bahn geworfen.

„Es ist vorbei“, murmelte Joel mit unverhohlener Erleichterung. „Gehen wir.“ Jetzt lag seine Hand sanft auf ihrem Rücken, berührte sie kaum und war doch bereit, ihr einen dieser geschickten, kaum wahrnehmbaren kleinen Schubser zu geben, die sie jedes Mal aufs Neue ärgerten. An diesem Ort, unter diesen Umständen, nur mühsam um Beherrschung ringend, hätte sie sich am liebsten umgedreht und ihn wüst beschimpft.

„Wir treffen uns draußen“, sagte sie stattdessen. Ihre Stimme klang ruhig, beinahe ausdruckslos, was eigenartig war angesichts der Wut und des Kummers, die in ihr brodelten, einem seelischen Feuersturm gleich, der nicht so schnell nachzulassen schien.

Ihr Widerstand passte Joel nicht, aber das galt für vieles an ihr. Sie war ihm abwechselnd zu schlau oder zu dumm. Zu ehrgeizig oder zu faul. Zu stark oder zu schwach.

Er zögerte, als lege er sich eines seiner brillanten Argumente zurecht. Dann seufzte er und gesellte sich zu den anderen Trauergästen vor dem Eingang und auf dem Gehsteig vor dem Bestattungsunternehmen. In der Late Shift Tavern würde es einen Leichenschmaus geben, ein feierliches Gedenken an Lous Leben und Karriere, mit lauter Polizisten – aktiv oder verrentet – und deren Frauen. Dafür würde am Grab keine Trauerzeremonie stattfinden. Lou hatte klare Instruktionen hinterlassen. Er wollte eingeäschert werden und vertraute darauf, dass Hallie seine Asche „irgendwo“ nach ihrem Ermessen verstreute. Sie musste über diese typische Anweisung Lous lächeln – einerseits sehr klar, andererseits mit Spielraum für Interpretation. Noch immer benommen von der Plötzlichkeit seines gewaltsamen Todes, hatte sie sich bisher keine Gedanken über den Ort gemacht, an den sie seine Asche bringen würde.

Sie berührte seine rechte Hand. Die Kälte ging ihr durch und durch, und der erste Impuls war, sich wieder zurückzuziehen, doch sie blieb standhaft. Sie schaute zurück, um sicherzugehen, dass der Raum leer war. Dann drehte sie sich wieder zu Lou um und drückte seine eisigen Finger einmal leicht. Tränen brannten ihr in den Augen, und sie schniefte, während die Bilder der Vergangenheit wie ein ruckelnder alter 8-Millimeter-Film vor ihrem geistigen Auge vorbeizogen: Lou, der bei seinem ersten Weihnachten in der Familie den Weihnachtsmann zu spielen versuchte, als Hallie in der ersten Klasse war. Damit säte er allerdings nur Zweifel, was schlittenfahrende Heilige, Elfen und fliegende Rentiere anging. Oder Lou, der stolz Hallies Tanzaufführungen filmte, ihre Auftritte im Drillteam und als Cheerleader sowie die verschiedenen Abschlussfeiern auf der Cactus Ridge High, dem Scottsdale Community College, der Kochschule. Lou, der tapfer am Bett ihrer Mutter wachte, während Cheryl einen langsamen und unfairen Krebstod starb. Er war für alle eine Stütze gewesen, obwohl Hallie bereits damals gespürt hatte, wie sehr der schwere Verlust ihm zusetzte. Aber Hallie zuliebe hatte er durchgehalten, was so typisch für ihn war. Sein simples Credo lautete: Zeig dich, zieh es durch und sitz nicht mit dem Hintern auf der Bank, wenn du im Spiel mitmischen kannst.

„Du warst der Beste“, flüsterte sie und hoffte, sein Geist wäre irgendwo in der Nähe, um es zu hören, und hätte seinen Frieden gefunden. In den letzten Monaten war er nicht mehr er selbst gewesen, sondern gestresst und gereizt. „Du hast Mom geliebt. Und mich hast du nicht nur akzeptiert oder toleriert, sondern ich war dein Kind. Du hast mich aufrichtig geliebt. Dafür danke ich dir, Lou. Danke, dass du aufgetaucht bist, als wir dich brauchten, und dass du mit uns alle Höhe und Tiefen durchgestanden hast.“

Hinter ihr, aus Richtung der Tür erklang erneut ein Räuspern. Sie musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass Joel zurückgekehrt war, um sie stumm zu drängen, als wären sie noch verheiratet und nicht schon seit drei Jahren geschieden. Und wieder unterdrückte sie ihre Gereiztheit, obwohl er ihren Geduldsfaden schon lange überspannt hatte. Doch sie musste mehr denn je abwägen, wo ein Kampf sich lohnte, und ihr fehlte einfach die Kraft für eine Auseinandersetzung mit Joel.

Noch einmal beugte sie sich zu Lou hinunter. „Ich weiß, du würdest mir raten, alles hinter mir zu lassen und zu verschwinden“, meinte sie leise. „Damit hättest du wohl recht. Trotzdem wird es dich nicht allzu sehr überraschen, dass ich das nicht kann, weil ich sonst nie mehr Frieden finden werde. Also werde ich denjenigen aufspüren, der dich erschossen hat, und dann wird er für seine Tat bezahlen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

„Hallie?“, fragte Joel schroff. Wahrscheinlich war er nähergekommen und befand sich schon in Hörweite.

Hallie biss sich auf die Unterlippe und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder aufmachte, glaubte sie, die Andeutung eines Lächelns auf Lous Gesicht zu sehen. Das war natürlich nur Einbildung. „Leb wohl“, verabschiedete sie sich sanft. Schließlich richtete sie sich auf, straffte die Schultern und drehte sich um. Sie schritt zwischen den Bänken und Klappstühlen für die zahlreichen Trauergäste hindurch auf den Mann zu, den sie gar nicht erst hätte heiraten dürfen.

„Du kommst doch zum Leichenschmaus, oder?“, wollte Joel wissen. Er war groß, seine glatten braunen Haare waren modisch geschnitten, und er wirkte eher wie ein hochbezahlter Anwalt als wie ein sich abmühender stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Die Zwillinge Kiera und Kiley, mittlerweile sieben, hatten seine unverwechselbaren blauen Augen geerbt. Kiley besaß auch seine Beharrlichkeit und seine Neigung, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen.

Hallie fühlte sich äußerst verletzlich, und sie war so müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Doch die Leute, die sich in der Late Shift Tavern versammelten, waren Lous Kollegen und Freunde, von denen manche ihn seit der Zeit auf der Polizeiakademie kannten. Ihnen war sie es schuldig, und Lou natürlich auch, sich dort zu zeigen, obwohl ihr absolut nicht danach war, ein Glas zu erheben. Es sei denn, das Glas enthielt Weißwein, beim Kerzenschein getrunken, während sie daheim bis zum Hals im heißen Schaumwasser in ihrer altmodischen Badewanne lag.

Es musste natürlich einen formellen Abschied geben. Lou hatte das Beste aus seiner Zeit auf diesem Planeten gemacht, dabei war sie viel zu kurz gewesen. Er war erst achtundfünfzig Jahre alt gewesen und bei bester Gesundheit. Vor ihm hätten vermutlich noch viele Jahre gelegen, doch er war auf grausame Weise gestorben, an dem Ort, an dem er am sichersten hätte sein sollen. Er bekam fünf Schüsse in die Brust, als er einen Einbrecher in seinem Wohnzimmer überraschte. Zumindest war das die offizielle Version; so ganz nachvollziehen konnte sie die allerdings nicht.

„Ja“, sagte Hallie ein wenig verspätet. „Ich schaue kurz vorbei.“

„Geht es den Mädchen gut?“ Joel gab sich Mühe, das musste sie ihm lassen. Er zahlte Unterhalt und erfüllte seine Vaterpflichten, auch wenn sie ihn gelegentlich daran erinnern musste, denn im Grunde wusste sie, dass er an ihren gemeinsamen Kindern nicht sonderlich interessiert war. In gewisser Hinsicht war er selbst noch ein Kind, das nicht bereit war – oder unfähig –, das Nest zu teilen.

„Sie sind bei Mrs. Draper von gegenüber“, antwortete Hallie abwesend nickend. Tief in ihrem Bewusstsein breitete sich langsam eine seltsame Taubheit wie Nebel in ihr aus. Sie sollte jedes Vergessen willkommen heißen und froh sein über jede Unterbrechung des Kummers und der rasenden Wut. Doch sie riss sich zusammen, um alles mitzukriegen. Wenn sie Lou gegenüber ihr Versprechen halten wollte – und bei Gott, das würde sie –, konnte sie es sich nicht erlauben, den Biss zu verlieren.

„Du wirkst ein bisschen wacklig auf den Beinen.“

Geh weg, Joel, hätte sie am liebsten gesagt, und: Lass mich in Ruhe. Aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. „Mir geht es gut“, log sie. In Wahrheit hatte sie in den letzten fünf Tagen seit Lous Ermordung kaum etwas gegessen und auch nicht allzu viel geschlafen. Ihre Magenschleimhaut brannte ständig und verdaute sich wahrscheinlich schon selbst. Außerdem war eine Migräne im Anmarsch. Immer wieder hatte sie alte Aufnahmen von ihrem Anrufbeantworter abgespielt, auf der Suche nach Lous Stimme und einem möglichen Hinweis darin, dass er irgendwie in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Sie hatte nichts gefunden, und trotzdem …

Nein, natürlich ging es ihr alles andere als gut.

Die Polizei suchte nach einem Einbrecher, einem kleinen Ganoven mit Drogenproblem, dessen Waffe locker saß. Hallie wurde allerdings den unerklärlichen Verdacht nicht los, dass Lou aus ganz anderen, viel komplizierteren Gründen ermordet worden war. Die Frage lautete nur: aus welchen?

Draußen, wo die Oktobersonne allmählich verschwand und eine weitere lange Nacht sich ankündigte, wollte Joel schon wieder Hallies Rücken berühren. Sie wich ihm aus und reichte Lous Captain die Hand, der auf dem Bürgersteig neben der Limousine wartete.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Lenny“, sagte sie.

Echte Tränen füllten Lenny Bennedettos Augen. Seine Frau Rose hatte sich bei ihm untergehakt und tröstete ihn stumm, indem sie sich an ihn lehnte. „Lou war ein anständiger Kerl“, meinte er, und aus dem Mund von jemandem, der für seine Untertreibungen berüchtigt war, kam das einem grenzenlosen Lob gleich. „Es ist eine Schande, dass das passieren musste.“

Hallie nickte nur und küsste zuerst Lenny auf die Wange, anschließend Rose.

„Wir sehen uns doch beim Leichenschmaus?“, fragte Rose. Lou hatte sie gemocht, und sie kümmerte sich um die Frauen anderer Polizisten.

„Ich schaue kurz vorbei“, erklärte Hallie und unterdrückte ein Seufzen. Sie würde es für Lou tun. Ein Glas Wein trinken, seine Freunde begrüßen und dann so bald wie möglich wieder verschwinden.

„Ich werde dafür sorgen, dass sie da ist“, warf Joel ein.

Erneut ärgerte Hallie sich – und wieder einmal riss sie sich zusammen. Sie hielt den Mund und ließ sich nichts anmerken. Lass diesen Tag vorübergehen, lautete ihr Mantra. Ich will nur noch nach Hause.

Joel half ihr beim Einsteigen in die Limo und setzte sich neben sie auf die Rückbank, einen Tick zu nah, wie sie fand.

Hallie rutschte ein Stück von ihm weg. „Wie geht es Barbara?“, erkundigte sie sich. Sie mochte Joels jüngste Verlobte – er hatte seit der Scheidung einige gehabt –, kannte sie allerdings nicht gut. Barbara war Nageldesignerin in Sue’s Nailhouse und auf liebenswerte Weise stolz auf ihre Arbeit. Das Beste an ihr war aber, dass sie nett zu Kiera und Kiley war.

Joel ergriff ihre Hand, und ihr fehlte die Kraft, sie wegzuziehen. „Vergiss sie“, sagte er. „Ich habe mir überlegt, ob wir es vielleicht nicht doch noch einmal miteinander versuchen sollten. Du und ich, meine ich. Schließlich haben wir die Kinder …“

Verblüfft starrte Hallie ihren Ex an. Sie hatten sich während ihrer Ehe ständig gestritten, woran die Scheidung letztlich nicht viel geändert hatte. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich einen Namen als Köchin zu machen und ihr eigenes kleines Restaurant zu eröffnen, Princess and the Pea, das sie nach und nach zu einem florierenden Unternehmen ausgebaut hatte. Sie hatte ihre Ziele hartnäckig verfolgt, sich und die Kinder versorgt, stapelweise alte Rechnungen bezahlt und trotzdem noch Geld zur Seite gelegt. Nein, sie hatte nicht die Absicht, den missglückten Teil ihrer Vergangenheit noch einmal zu wiederholen. „Das kann nicht dein Ernst sein“, sagte sie daher.

„Ich weiß, ich habe einige Fehler gemacht“, räumte er ein. Wie großzügig von ihm.

Ihre Geduld war jetzt endgültig am Ende. „Ja, klar“, erwiderte sie. „Du hast mit deiner Sekretärin geschlafen, noch bevor unsere Flitterwochen vorbei waren. Dann war da noch die kleine Schuhverkäuferin bei Nordstrom, gefolgt von der Rechtsanwaltsgehilfin, die gern ihre Slips in deiner Aktentasche ließ …“

„Hallie“, stieß er tadelnd hervor. Himmel, dieser Kerl hatte vielleicht Nerven, auch nur anzunehmen, es könnte eine Chance auf einen Neubeginn geben. Ganz zu schweigen von der Dreistigkeit, ihr so etwas ins Gesicht zu sagen.

Ihr fiel auf, dass er noch immer ihre Hand hielt, deshalb zog sie sie zurück. Sie war auf sich selbst genauso wütend wie auf ihn. „Lass das“, meinte sie. „Sag lieber kein Wort mehr. Unsere Ehe ist vorbei. Wahrscheinlich war sie das schon, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Belassen wir es dabei, denn wenn diese Unterhaltung nicht sofort endet, werde ich etwas sagen, das ich später bereue. Und das will ich nicht.“

„Natürlich nicht.“ Er lächelte liebevoll und war sich seiner Unwiderstehlichkeit absolut sicher.

„Lous wegen“, stellte sie klar.

Er schaute ihr lange tief und gekränkt in die Augen. „Lous wegen“, wiederholte er.

Hallie schüttelte nur den Kopf.

Nach fünfzehn Minuten hielt die Limousine vor der Late Shift Tavern, wo Lou Dart gespielt und sich mit alten Kumpeln Geschichten erzählt hatte. Nach dem Tod von Hallies Mutter war dieser Laden zu einem zweiten Zuhause für ihn geworden, ein idealer Zufluchtsort, an dem es stets Licht, Musik und Bier gab.

Der Pub war voll, und die Leute schienen aus allen Richtungen herbeizuströmen. Sie küssten Hallie auf die Wange, tätschelten ihr den Rücken und erklärten ihr, was für ein großartiger Kerl Lou gewesen sei. Sie war so gerührt, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Entschlossen lächelte sie, hörte jedem Einzelnen aufmerksam zu und versuchte, nicht zu weinen. Gut zwei Stunden hielt sie die Stellung und mied Joel nach Möglichkeit, während sie den vielen Anekdoten über Lous Heldentaten als Polizist bei der Sitte lauschte. Sie legte sie alle ab in ihrem Herzen wie in einem Sammelalbum.

Es gab nur einen Gast in der Late Shift Tavern, den sie nicht kannte, einen älteren Mann mit einem langen Gesicht und dicken Tränensäcken. Vermutlich war er einst gut aussehend gewesen, vielleicht sogar athletisch, seiner hochgewachsenen Gestalt nach zu urteilen, doch die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, Augenblick für Augenblick, Jahr für Jahr. Sie hätte ihn für einen zufälligen Gast gehalten, wie er da still am Ende des Tresens vor einer Tasse Kaffee saß und mit niemandem sprach. Nur erwiderte er ihren Blick jedes Mal, sobald sie in seine Richtung schaute. Er bemühte sich nicht einmal, das zu verbergen.

Neugierig geworden, ging sie zu ihm und setzte sich auf den freien Barhocker neben ihm.

Er musterte ihr gepflegtes dunkles Kostüm, zu dem sie eine Perlenkette trug. Schwermütig lächelnd hob er die Tasse, als wollte er ihr zuprosten. „Hallo, Hallie“, sagte er.

Sie neigte den Kopf und betrachtete ihn eingehend. Vielleicht gehörte er zu Lous Bowlingtruppe, und sie war ihm mal bei einem der ausgelassenen Grillfeste ihres Stiefvaters im Garten begegnet. „Kennen wir uns?“

„Wir haben uns ein- oder zweimal gesehen“, erwiderte er. „Es ist nicht wichtig.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich heiße Charlie Long. Lou und ich waren Freunde und Geschäftspartner, gewissermaßen.“

In Hallie rührte sich etwas. Ihr Instinkt meldete sich, als sie ihm die Hand schüttelte. „Ich habe Sie bei der Trauerfeier nicht entdeckt“, erklärte sie.

„Ich meide nach Möglichkeit Beerdigungen.“ Charlie nahm eine Zigarettenschachtel aus der Innentasche seines nach Tabak riechenden Jacketts, schüttelte eine heraus und bot sie halbherzig Hallie an. Wie er wohl längst geahnt hatte, lehnte sie ab. Er steckte sie sich selbst zwischen die Lippen und zündete sie an. Dann inhalierte er tief und stieß den Rauch über der weiten Fläche der Theke aus.

„Nun, danke, dass Sie zum Leichenschmaus gekommen sind“, meinte Hallie. Das kurze Schweigen, das folgte, eine kleine Insel inmitten des Chaos, war nicht haltbar. „Lou hätte sich gefreut.“

Charlie lachte rau, und Hallie hätte es als verächtlich gedeutet, wenn sie nicht die traurige Amüsiertheit in seinen Basset-Augen bemerkt hätte. „Lou und ich, wir hatten vor der Tat alles gesagt, was gesagt werden musste. Ich bin aus zwei Gründen hier, Mrs. Royer – erstens wollte ich mit Ihnen reden. Und zweitens glaube ich, dass keine Tarnung die beste Tarnung ist.“

Sie korrigierte ihn nicht, obwohl sie den Namen ihres Exmannes seit der Scheidung nicht mehr benutzte. Für sich selbst war sie jetzt Hallie Waitlin, Lou und Cheryls Tochter.

Ein kleiner Schauder überlief ihre Wirbelsäule. Hier kamen sie vermutlich, die Nachrichten, mit denen sie gerechnet und vor denen sie sich gefürchtet hatte, seit sie von Lous Tod erfahren hatte. Sie wappnete sich und wartete.

„Diese Typen“, meinte Charlie und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Er meinte offenbar nicht nur Lous Freunde, sondern das Police Department ganz allgemein, „werden Ihnen erzählen, der Täter sei ein kleiner Ganove gewesen, der beim Einbruch überrascht wurde und daraufhin in Panik reagierte.“ Er machte eine Pause, in der er ihr Gesicht betrachtete und offenbar die Entscheidung traf, ihr zu vertrauen. „Das ist Bullshit, schlicht und einfach.“ Er holte einen sehr kleinen Umschlag aus derselben Tasche, in der er zuvor die Zigarettenpackung wieder verstaut hatte, und legte ihn auf den Tresen. Er nickte, als sie die Hand danach ausstreckte und ihn in ihrer Handtasche verschwinden ließ.

„Lou Waitlin wäre mit jedem Einbrecher fertig geworden. Nein, hier handelt es sich um einen professionellen Mord. Firmenangelegenheit.“

Hallie riss erstaunt den Mund auf, und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie wollte protestieren, diese Theorie sei verrückt, so etwas gebe es nur im Film oder in einem Kriminalroman. Doch sie wusste, dass er recht hatte. Seine Worte deckten sich zu sehr mit ihrem eigenen, zugegeben noch sehr vagen, Verdacht.

Charlie schaute sich unauffällig um und entdeckte zur gleichen Zeit wie Hallie Joel, der sich einen Weg durch die Menge bahnte.

„Ich verschwinde lieber von hier“, sagte er.

Hallie nickte. Am liebsten hätte sie den Umschlag sofort geöffnet, aber sie rührte sich nicht. Stattdessen beobachtete sie, wie Charlie Long einen Fünfdollarschein auf die Theke legte und sich anschließend durch die vielen Cops hindurch einen Weg zur Tür bahnte.

Inzwischen war Joel bei Hallie angelangt. „Wer war das?“

„Keine Ahnung“, erwiderte sie stirnrunzelnd.

„Bist du bereit, nach Hause zu fahren?“

„Ja“, antwortete sie. Wenigstens in diesem Punkt war sie sich sicher.

Er schaute durch das Fenster hinaus auf die Straße und kniff die Augen ein wenig zusammen. „Die Limousine ist fort.“

„Ich nehme mir ein Taxi“, erklärte sie und eilte davon, ehe er ihr anbieten konnte, sie zu begleiten. Alles, woran sie in diesem Moment denken konnte, war der Umschlag, den Charlie ihr überreicht hatte. Was immer sich darin befinden mochte, würde vermutlich ihr Leben für alle Zeit verändern. Eine vernünftige Person hätte das Kuvert in den nächsten Mülleimer geworfen und vergessen. Hallie war aber nicht vernünftig, zumindest nicht, was den Mord an Lou Waitlin betraf.

Draußen hatte der Wind aufgefrischt. Von Charlie keine Spur mehr. Vielleicht, dachte Hallie düster, habe ich ihn mir bloß eingebildet, genau wie diese beunruhigende Unterhaltung. Wie durch ein Wunder fuhr gerade ein Taxi vorbei; sie hob die Hand, wohl wissend, dass Joel auf sie zulief. Der Wagen bremste scharf am Bordstein.

Sie sprang hinein, nannte ihre Adresse und warf erleichtert einen Blick durch die Heckscheibe. Joel stand auf dem Gehsteig, die Hände in den Taschen seines modischen Mantels, und blickte dem wegfahrenden Wagen hinterher.

Innerhalb von zwanzig Minuten war sie zu Hause. Sie gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und lief zur Tür, wo sie einen Moment brauchte, bis sie den Schlüssel im Schloss hatte. Drinnen schaltete sie das Flurlicht ein und blieb neben dem Telefontischchen stehen. Der Anrufbeantworter blinkte. Sie überlegte einen Moment, ob sie das Kuvert öffnen sollte, wollte es eigentlich nicht und drückte dann zunächst den Abspielknopf des Anrufbeantworters. Vielleicht hatte Mrs. Draper wegen Kiley und Kiera angerufen.

Die Stimme, die sie hörte, war ihr völlig unbekannt, kalt und irgendwie andeutungsvoll. „Ich habe Sie im Pub gesehen, Hallie“, sagte der Mann. „Was befand sich in dem Umschlag?“

Hallie legte eine Hand auf ihr Herz. Ihr Atem ging schneller, ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Die Nachricht endete mit einem Klicken, als der Anrufer auflegte. Noch ehe sie auf das Display schaute, wusste sie, dass sie sich das sparen konnte. Unbekannte Nummer stand dort.

Sie drehte sich um, verriegelte die Haustür und ging durch das Esszimmer in die große Küche. Durch das Fenster über der Spüle konnte sie den Hof sehen, in dem noch üppig die Sommerrosen blühten, und dahinter die Lichter in Nora Drapers Reihenhaus. Sie griff nach dem Hörer des Telefons, das an der Wand neben dem Herd hing, und drückte die Kurzwahltaste.

Ihre Nachbarin meldete sich sofort, und ihre fröhliche Stimme beruhigte Hallie. Sie löste die Klammer aus ihren schulterlangen Haaren und strich sich mit den Fingern der rechten Hand hindurch. Gleich würde sie auch die Perlenkette, das Kostüm und die Strumpfhose ausziehen.

„Ich bin es, Hallie“, sagte sie. „Ich bin zurück. Ist mit Kiera und Kiley alles in Ordnung?“

„Du meine Güte, ja“, antwortete Nora. „Denen geht’s gut. Wir machen eine Pyjamaparty.“

Hallie schluckte, um ihre Emotionen ein wenig unter Kontrolle zu bekommen. „Macht es dir wirklich nichts aus, die beiden über Nacht bei dir zu behalten?“

„Ob es mir etwas ausmacht? Ich genieße jeden Moment.“ Es folgte eine kleine Pause. „Alles in Ordnung mit dir, meine Liebe? Brauchst du etwas? Die Vorstellung, dass du da drüben ganz allein bist und mit dem schweren Verlust fertigzuwerden versuchst, gefällt mir nicht. Du könntest hier schlafen, ich stelle dir ein Gästebett auf.“

Hallie lächelte und blinzelte gegen die Tränen an. „Ich muss mich einfach ausruhen“, erklärte sie. Sie würde sich den Inhalt des Umschlags anschauen, das Glas Wein trinken, das sie sich versprochen hatte, ein ausgiebiges Bad nehmen und dann ins Bett gehen, um hoffentlich im Schlaf für eine Weile alles zu vergessen. Morgen war immer noch Zeit, sich über diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter Gedanken zu machen. „Ich hole die Mädchen morgen früh ab.“

„Du bist erschöpft“, meinte Nora. „Schlaf dich aus.“

„Tue ich“, erwiderte Hallie und vermisste ihre schon vor langer Zeit gestorbene Mutter und Lou schmerzlich. Sie hatte ihre Töchter und ein paar Freunde – genau genommen handelte es sich eher um Bekannte, da ihre langen Arbeitstage ihr kaum Gelegenheiten gaben, Freundschaften zu pflegen. Außerdem war sie es gewohnt, unabhängig zu sein. Doch so zutiefst einsam oder verletzlich wie momentan hatte sie sich noch nie gefühlt.

Sie legte auf, überprüfte noch einmal, dass alle Türen verschlossen waren, und setzte sich an den Esszimmertisch. Dort öffnete sie ihre Handtasche und nahm das kleine Kuvert heraus. Ihre Finger zitterten leicht, während sie es aufmachte und umdrehte, um den Inhalt auszukippen.

Heraus fiel ein Messingschlüssel, an dem ein Zettel befestigt war, den Lou mit Virgin Mary beschriftet hatte. Hallie musste grinsen, da sie den Code sofort verstand.

Sie drückte den Schlüssel eine ganze Weile an ihr Herz; danach ging sie damit in ihr Schlafzimmer und packte ihn auf ihren Nachtschrank. Anschließend betrat sie das angrenzende Badezimmer, zündete Kerzen an und ließ Wasser in die Wanne laufen. Sie kehrte in die Küche zurück, da sie sich ein Glas Chardonnay holen wollte. Nach einem ausgiebigen, erholsamen Bad zog sie ein Baumwollnachthemd an und kroch ins Bett, wo sie zu ihrem Erstaunen schlief, bis die Zwillinge sie am nächsten Morgen weckten, indem sie auf die Matratze sprangen und in ihrem üblichen Überschwang herumtobten.

Hallie stöhnte, dann lachte sie und stand auf. Angesichts dieses unschuldigen, ganz gewöhnlichen Beginns dieses Tages hätte sie sich sein Ende nicht im Traum ausmalen können.

„Wir fahren zu Grampa“, erklärte sie, nachdem sie angezogen war und alle drei Müsli und Obst zum Frühstück gehabt hatten.

Zwei ernste graue Augenpaare sahen sie an.

„Grampa ist tot“, meinte Kiley, als bestünde dadurch kein Grund mehr, sein Haus zu betreten.

„Sag das nicht“, protestierte Kiera.

„Stimmt aber.“

„Genug“, meinte Hallie und schenkte sich einen zweiten Becher Kaffee ein. Sie zögerte. Lous Haus ohne Lou. Das würde wie ein Körper ohne Herz sein. Die Mädchen vermissten ihn schrecklich; er war ihr Ersatzvater gewesen, da Joel sich nicht richtig für sie interessierte. „Wenn ihr lieber bei Mrs. Draper bleiben wollt, kann ich das sicher arrangieren.“

„Ich will mit dir fahren“, erklärte Kiera.

„Ich auch“, beschloss Kiley.

Hallie ging in ihr Zimmer, nahm den Schlüssel und steckte ihn in die Tasche ihrer Jeans. Danach holte sie, mit dem Becher in der Hand, ihren Autoschlüssel, schloss die Tür auf und verfrachtete die Kinder auf den Rücksitz ihres dunkelblauen BMW. Nachdem die Sicherheitsgurte eingerastet waren und der Motor gestartet war, machten sie sich auf den Weg durch die Stadt.

Lous Terrassenhaus lag in einem der anständigen Bezirke von Phoenix in einer von Bäumen gesäumten Straße. Während viele Häuser in der „Valley of the Sun“ genannten Metropolregion Stuckfassaden und Schindeldächer hatten, war Lous aus schlichtem Backstein gebaut und hatte grüne Fensterläden. Davor gab es Blumenbeete und einen kleinen Garten, der ein bisschen verwildert aussah.

Einen Moment lang blieb Hallie in der Auffahrt bei laufendem Motor im Wagen sitzen, ehe sie die Zündung ausstellte, den Schlüssel einsteckte und ausstieg. Virgin Mary, dachte sie, sich an die auf den Schlüsselzettel gekritzelten Worte erinnernd. Sie ging zur Hütte im Garten hinter dem Haus. An der Tür befand sich ein Vorhängeschloss, doch Hallie kannte die Zahlenkombination und öffnete es daher mit Leichtigkeit. Kiera und Kiley beschäftigten sich anderweitig, da sie kein Interesse am Gartenschuppen ihres Großvaters hatten, in dem er seinen Rasenmäher, ein Sortiment an Werkzeugen, Kartons mit Weihnachtsschmuck und andere Sachen aufbewahrt hatte. Sie überließen ihre Mutter ihrer geheimnisvollen Suche und rannten zur Schaukel, die Lou vor Jahren für Hallie aufgestellt hatte.

Hallie suchte über eine halbe Stunde im staubigen Inneren der Hütte, bis sie die beinahe lebensgroße Krippenszene aus Plastik fand, die jedes Jahr zu Weihnachten im Vorgarten gestanden hatte – immer vom Freitag nach Thanksgiving bis zum zweiten Januar. Jedes einzelne Teil war in Zeitungspapier eingewickelt. Als Erstes wickelte sie Joseph aus, dann einen Hirten und einen der Weisen, bis sie endlich Maria erwischte.

Sie stellte die Figur auf dem Fußboden auf den Kopf und fand eine kleine Geldkassette aus Metall im Sockel. Aufgeregt zog sie die Kassette heraus, wickelte Maria wieder ein und legte sie zu den anderen Dekorationsgegenständen zurück. Nachdem sie sich die Hände an ihrer Jeans abgewischt hatte, zog sie den Schlüssel mit dem Zettel aus der Tasche und schloss die Kassette auf.

Auf den ersten Blick schien der Inhalt ganz harmlos zu sein – Dokumente, Ausdrucke von Netzdateien, ein paar unscharfe Polaroids, deren Motive nicht gleich erkennbar waren. Hallie machte die Kassette wieder zu und hielt sie schützend an sich gedrückt, als sie aus der Hütte hinaus ins Sonnenlicht trat.

Kiera und Kiley spielten auf der Reifenschaukel, lachten und verstanden sich ausnahmsweise. Hallie schaute sich um, und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Sie ging auf die relativ geschützte Terrasse, auf der Lou im Lauf der Jahre wahrscheinlich eine Million Hotdogs und Hamburger gegrillt hatte. Mit weichen Knien setzte sie sich an den Gartentisch und öffnete die Kassette erneut.

Bei den Computerausdrucken handelte es sich um Landkarten von Orten in der Einöde, hauptsächlich Campingplätze und Parks. Einige waren in Lous Handschrift mit kleinen krummen X markiert. Auf den Fotos waren Männer in verschiedenen Bars zu sehen und an anderen dunklen Orten, wo sie Dinge tauschten oder sich mit ernster Miene unterhielten. Hallie erkannte einige von ihnen und bekam prompt eine Gänsehaut.

Sie entfaltete ein Dokument, strich es auf dem Tisch glatt und überflog die erste Seite. Es war ein Protokoll, vermutlich eines Telefongesprächs, in dem es um irgendeine Lieferung aus Mexiko ging. Erneut spürte Hallie ein flaues Gefühl im Magen. Sie wollte nichts über diese Dinge wissen, keine Namen, von denen ihr viele nur allzu vertraut waren.

Unwillkürlich schaute sie über die Schulter und sah erschrocken Joel neben der Schaukel stehen, die Hände in den Taschen seiner Chino vergraben. Er unterhielt sich mit den Mädchen, die voller Bewunderung zu ihm aufschauten. Hallie verspürte den Impuls, über den Rasen zu rennen und die Kinder an sich zu drücken, um sie vor ihm in Sicherheit zu bringen. Stattdessen saß sie wie erstarrt da, wo Lou so viele Mahlzeiten im Sommer serviert hatte, und beobachtete ihren Ex. Ihre Blicke trafen sich, und er kam auf sie zu, die Hände nach wie vor in den Taschen.

Er war noch ein paar Schritte entfernt, als sie ihre Stimme wiederfand. „Was machst du hier?“, erkundigte sie sich. Dumme Frage. Sein Gesicht war auf einigen der Fotos gewesen, sein Name tauchte in dem Gesprächsprotokoll auf. Um Himmels willen, Lou, schoss es ihr durch den Kopf, wenn du diese Dinge wusstest, warum hast du mich dann nicht gewarnt?

Natürlich kannte sie die Antwort. Lou hatte eine umfangreiche Ermittlung durchgeführt und nicht damit gerechnet, dass er sterben würde, ehe dieser Fall abgeschlossen war. Unter keinen Umständen hätte er die Untersuchungen gefährdet, indem er eine Zivilperson einweihte, selbst wenn es sich bei dieser Person um seine Stieftochter handelte, deren Kinder noch dazu von einem der Verdächtigen stammten.

„Ich wollte mal gucken, wie es dir heute Morgen geht“, erklärte Joel und versuchte sichtlich, keinen Blick auf die offene Kassette und die Papiere zu werfen. Es glückte ihm nicht. „Was hast du denn da?“

Zu ihrem eigenen Erstaunen kam ihr die Lüge ganz leicht über die Lippen. Sie brachte sogar ein geradezu herzliches Lächeln zustande. „Aktien, Wertpapiere, ein paar Gutachterfotos“, erklärte sie. „Anscheinend hat Lou mir nicht nur das Haus und seinen Pensionsfonds hinterlassen.“

„Lass doch mal sehen“, bat Joel, als hätte er jedes Recht dazu.

Hallie schob alles zusammen, legte es zurück in die Kassette und zog sie an sich. „Ist alles leicht verständlich. Damit komme ich schon allein zurecht.“

Er sah skeptisch aus. Sie stand auf und behielt die Kassette in den Händen. Lächelte.

„Warum kommst du mit Barbara nicht mal im Restaurant vorbei?“, schlug sie vor und merkte, dass sie zu beflissen klang, zu schnell redete. „Ich habe ein neues Gericht, das du vielleicht mal probieren möchtest. Geht natürlich aufs Haus.“

Joel hob eine Braue, ohne die Kassette aus den Augen zu lassen. „Okay.“ Er klang nicht sehr überzeugt, zwang sich jedoch ebenfalls zu einem Lächeln. „Ich könnte die Kinder heute nehmen, dann hast du mal frei.“

Hallie lief es kalt über den Rücken. „Wir haben schon etwas vor“, erwiderte sie rasch. „Schau doch Samstagabend im Restaurant vorbei.“

Er nickte.

„Mädchen!“, rief Hallie. „Kommt, wir müssen los.“

„Gib mir die Kassette“, forderte Joel sie mit ruhiger Stimme auf.

„Ein andermal“, entgegnete Hallie fröhlich. Bis zu ihrem BMW in der Auffahrt vor dem Haus würde sie es nicht schaffen, doch Lous alter Pick-up stand hinter dem Schuppen, mit der Front zum Zaun, der das Grundstück zur Gasse hin begrenzte. Wahrscheinlich steckte der Schlüssel. Lou hatte stets gemeint, niemand, der noch ganz bei Verstand sei, würde diesen alten, wertlosen Pick-up stehlen – auch wenn man die Hoffnung nie aufgeben sollte.

Mit ausholenden Schritten und bis zum Hals hämmerndem Herzen ging sie auf die Mädchen und den Pick-up zu. Im Nu hatte sie ihre überraschten Töchter auf die vordere Sitzbank des alten Gefährts verfrachtet, die Kassette hineingeworfen und war hinters Lenkrad geklettert. Joel war einige Meter hinter ihr, aber er war größer und offenbar bereit zur Verfolgung. Hallie hatte sich ganz leicht unter den Wäscheleinen geduckt, doch Joel verfing sich darin, was ihr kostbare Sekunden verschaffte, um den stotternden Motor zu starten und die Türknöpfe hinunterzudrücken.

„Mommy“, rief Kiera. „Was tust du denn …?“

Hallie trat die Kupplung, legte den Gang ein und fuhr direkt in den Lattenzaun. Der Wagen walzte ihn nieder und bog rumpelnd in die Gasse ein.

„Daddy rennt hinter uns her!“, verkündete Kiley, die durch das ovale Heckfenster zurückschaute. „Mommy, halt an!“

Hallie schaltete ein weiteres Mal und raste auf das Ende der Gasse zu, wobei sie mit jedem Holpern schneller wurde. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte Joel, der wütend und fluchend in der Gasse stand. Es würde nicht lange dauern, bis er sich fing und die Verfolgung aufnahm. Doch Hallie war in dieser Gegend aufgewachsen und kannte jede kleine Nebenstraße, jede Abkürzung, jede Sackgasse. Bis er bei seinem Wagen war, würde sie mit den Mädchen und den Beweisen, die Lou gesammelt hatte, längst über alle Berge sein.

Kiley versuchte es erneut. „Mommy?“

Hallie nahm eine Kurve praktisch auf zwei Rädern und mit quietschenden Reifen. „Anschnallen, Mädels“, forderte sie ihre Töchter auf. „Wir machen einen kleinen Ausflug.“

Sobald sie Phoenix weit genug hinter sich gelassen hatten, würde sie als Erstes die Kassette verstecken.

2. KAPITEL

Die winzige Messingglocke über der Tür klingelte auf die gleiche nervig-fröhliche Weise wie immer, als sein ruhiges, beschauliches Leben in jener Nacht eine Hundertachtziggradwendung machte. Chance Qualtrough hätte normalerweise wohl nicht einmal eine halbe Oberkörperdrehung auf seinem Barhocker vollführt, um hinzusehen, wäre da nicht dieses komische warme Gefühl in den innersten Regionen seines Herzens aufgestiegen, das sich dort festzusetzen schien.

Er schaute über die Schulter, und da war sie, von Schnee bedeckt, mager und verängstigt, mit einem kleinen Kind an jeder Hand. Er musterte die Kinder, zwei Mädchen, ihren kleinen pinkfarbenen Jacken, den flauschigen Fäustlingen und Pudelmützen nach zu urteilen. Sie konnten nicht älter als sechs oder sieben sein. Trotz seines instinktiven Widerstrebens sah Chance dann die Frau an.

Ihre Augen waren braun, und unter ihrer schneebedeckten Baseballmütze lugten blonde Strähnen hervor – die Farbe von Spülwasser, die immer echt ist. Sie war eine Fremde in Primrose Creek, da war Chance sich ziemlich sicher, und doch überkam ihn das seltsame Gefühl, als seien sie sich vor langer Zeit schon einmal begegnet und dann unfreiwillig auseinandergegangen.

Er dachte noch über diese merkwürdige Erkenntnis nach, als Madge Beardsley zu den Neuankömmlingen eilte. Ihr gehörte das Last Chance Café zusammen mit ihrem Bruder, einem ehemaligen Rodeo-Clown und Exsträfling namens Bear. Der kam in diesem Moment neugierig aus der Küche und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. „Nun seht euch bloß mal an“, rief Madge aufgeregt wie eine alte Henne. „Halb erfroren seid ihr!“ Sie saß in einem Zeitloch fest, etwa um 1955. Sie trug die gefärbten roten Haare aufgetürmt und festgesprüht, ihr Lippenstift war vampirrot. Ihr pinkfarbenes Kleid schien direkt aus einer frühen Episode von I Love Lucy zu stammen, ebenso die übergroßen Glitzerohrringe und die Sattelschuhe.

Die Blondine bibberte sichtlich und ließ endlich die Hände der kleinen Mädchen los. Sie nickte Bear zu und sagte: „Mein … Pick-up ist liegen geblieben, draußen auf dem Highway …“

„Gütiger Himmel“, rief Madge und scheuchte ihre neuen Schützlinge zur einzigen noch freien Sitznische. An diesem Abend waren viele Leute im Last Chance gestrandet, hauptsächlich Einheimische, obwohl es auch einige Durchreisende gab. Entsprechend lebhaft ging es zu. „Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass Sie bei diesem Wetter da draußen ganz allein unterwegs waren …“

Die Frau lächelte zaghaft, und Chance merkte zu seinem Ärger, dass er sie noch immer ansah. Sie musste das gespürt haben, denn auf einmal schaute sie kurz in seine Richtung, und ihr Lächeln erstarb. Sichtlich nervös begann sie, erst sich und dann die Kinder von den Jacken zu befreien. Madge legte die Mäntel und Mützen über den altmodischen Soda-Kühler, da sämtliche Haken an der Wand sich schon vor Jacken bogen. Dann schenkte sie drei große Becher heißen Kakao mit extra Sahne obendrauf ein.

„Wie heißen Sie, Schätzchen?“, fragte Madge die Fremde und verteilte die Becher. Beide Kinder starrten verblüfft auf den süßen Schaum, doch im Gegensatz zu dem düsteren Ausdruck in den Augen ihrer Mutter wirkten sie schon wieder guter Dinge. Eines der Mädchen fuhr mit dem Finger durch die Sahne und leckte ihn ab.

„Hallie“, antwortete die Frau zögernd. „Hallie … O’Rourke. Das sind meine Töchter Kiley und Kiera.“

Madge strahlte die Kinder an. „Zwillinge“, bemerkte sie entzückt. „Wie alt seid ihr?“

„Sieben“, sagte das Mädchen, das die Sahne probiert hatte. „Ich bin Kiley, und das da ist Kiera. Ich wurde zuerst geboren, deshalb bin ich größer, auch wenn man es nicht sieht.“ Sie machte eine Pause, als müsste sie darüber nachdenken, ob sie ein Geheimnis preisgeben sollte oder nicht. Dann erklärte sie: „Wir sind begabt, weißt du.“

Dafür erntete sie von Kiera einen nachsichtigen Blick, aber keinen Kommentar.

Nach wie vor von den Neulingen angezogen, deren Probleme ihn nichts angingen, fragte Chance sich, wo denn wohl Mister O’Rourke war und was diesen Mann geritten hatte, seine Familie bei diesem Wetter durch die Landschaft marschieren zu lassen. Er widmete sich wieder seinem Kaffee und versuchte vergeblich, Hallie O’Rourke aus seinen Gedanken zu verbannen, wie einen Zeitungsartikel, nachdem er ihn gelesen hatte. Er blieb sich der Gegenwart dieser Frau deutlich bewusst, und das machte ihm Angst. Nachdem er sich ein wenig gefangen hatte, kam ihm ein vager Verdacht: Vielleicht hatte er etwas in ihren Augen gesehen, vielleicht lag es daran, dass er selbst auf der Hut sein musste. Jedenfalls kam ihm in den Sinn, dass sie vor irgendwem oder irgendetwas auf der Flucht sein musste.

Er gab sich Mühe, die neuen Gäste nicht zu belauschen, und die Geräuschkulisse im Lokal war ja auch vielfältig genug – aus der Jukebox kam Musik und im hinteren Teil spielte die Ladies Aid Society ohne Pardon Canasta. Dennoch war es, als säße er direkt an Hallies Tisch, so klar konnte er jedes Wort verstehen.

Eines der Kinder sagte gerade: „Hallie? Kann ich einen Cheeseburger haben?“

Chance schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. Wohin war es mit dieser Welt gekommen? Familien, die im Schneesturm einen Ausflug unternahmen. Kleine Kinder, die ihre Mütter mit dem Vornamen anredeten, als wäre sie bloß eine Spielkameradin, kein Elternteil. Madge gab Hallie die in Vinyl eingeschweißte Karte und ging den Tresen entlang, um die Becher nachzufüllen und Bananenkuchen abzuschneiden für ein paar Trucker, die an den Flipperautomaten standen.

„Für dich immer noch Mom“, erwiderte Hallie ruhig. „Du kannst dir einen Cheeseburger mit Kiera teilen. Einen ganzen schaffst du sowieso nicht.“

„Ich will aber meinen eigenen Cheeseburger. Ganz für mich allein.“

Hallie probierte es mit einer anderen Taktik. „Wir müssen ein bisschen auf unser Geld achten, Schätzchen. Das weißt du doch.“

„Ich finde, wir sollten nach Hause fahren. Da haben wir genug Geld.“

Hallie konnte nicht viel älter als dreißig sein, aber ihr Seufzen klang, als hätte sie seit dem Frühstück schon ein Jahrhundert durchlebt. „Wir können nicht zurück“, erklärte sie geduldig, klang dabei aber so, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Wir werden einen neuen Ort finden, wo wir wohnen können. Einen wundervollen Ort, das verspreche ich euch.“

„Ich muss Pipi“, meldete sich das andere Mädchen zu Wort. Obwohl er sie nicht kannte, spürte Chance, dass die Kleine es gewohnt war, als Friedensstifterin in der Familie zu fungieren. Er fand, dass Kinder heutzutage viel zu schnell erwachsen werden mussten.

„Dann lass uns mal gehen“, meinte Hallie, und alle drei machten sich auf den Weg durch den Flur zu den Toiletten.

Als sie zurückkamen, stellte Madge gerade drei Teller auf ihren Tisch. Cheeseburger mit Fritten, große Portionen. Chance beobachtete Hallie in dem altersschlierigen Spiegel hinter der Kasse.

„Das habe ich nicht bestellt“, sagte sie mit einem leicht verzweifelten Unterton.

Madge sah in Chances Richtung und ließ ihn damit vermutlich auffliegen. Er hatte angeboten, für das Essen zu zahlen, nur sollte es niemand wissen. „Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Schätzchen“, beruhigte Madge die junge Mutter. „Es ist alles bezahlt.“

Die Mädchen machten sich bereits auf eine Weise über das Essen her, dass Chance sich fragte, wann sie zuletzt eine anständige Mahlzeit bekommen hatten. Hallie stand jedoch nur steif vor dem Tisch, das Kinn trotzig gereckt. Aufgebracht flüsterte sie gut hörbar: „Ich war nicht auf der Suche nach Almosen!“

Madge fand ihre Fassung rasch wieder und deutete auf die vielen Gäste. „Haben Sie schon mal gekellnert, Mädchen? Ich könnte gerade heute Abend ein wenig Hilfe gebrauchen. Ich renne mir hier schon seit sechs Stunden die Hacken ab, und der Schnee draußen scheint nicht nachzulassen.“ Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, rüttelte der Wind an der Eingangstür und ließ den Ventilator hinter dem großen Herd im hinteren Teil des Lokals klappern. Der Sturm hatte am frühen Nachmittag begonnen, zunächst noch ganz harmlos und für Mitte Oktober im Hochland Nevadas nicht ungewöhnlich, ehe er sich dann zu apokalyptischen Dimensionen gesteigert hatte. „Sie würden mir einen Gefallen tun“, meinte Madge.

Chance segnete Madge und ihr freundliches Herz und trank noch einen Schluck Kaffee. Sie hätte Hallie erklären können, dass er es war, der das Essen bezahlt hatte, aber stattdessen respektierte sie den Stolz dieser Frau. Da Hallie nichts sagte, fügte Madge hinzu: „Essen Sie etwas und hören Sie auf, sich Gedanken zu machen. Sie können das abarbeiten, indem Sie Kaffee ausschenken und mir später beim Aufräumen helfen.“

Hallie seufzte wieder, nickte und ließ sich auf die Bank sinken, um endlich auch etwas zu essen. Madge ging hinter den Tresen, nahm die Kaffeekanne und zwinkerte Chance zu, als sie ihm nachschenkte. Er warf ihr einen halb grimmigen Blick zu, weil sie ihn beinah verraten hätte. Aber da sie wusste, dass er nicht wirklich böse war, lachte sie und schüttelte den Kopf. Es gab Leute, die konnte er mühelos einschüchtern. Madge gehörte nicht dazu.

Im Lauf der nächsten Stunde verschlechterte sich das Wetter weiter, trotzdem sank die Gästezahl allmählich. Sheriff Jase Stratton, genau wie Chance ein Abkömmling der McQuarrys und somit ein entfernter Verwandter, der ehemals sein bester Freund gewesen war, tauchte in seinem Wagen mit Allradantrieb auf. Ohne einen Gruß an Chance fing er an, die Mitglieder der Ladies Aid Society nach Hause zu bringen, jeweils vier auf einmal. Die Trucker brachen ebenfalls auf, denn ihre Lastwagen waren für jedes Wetter gerüstet, und der junge Ben Pratt, ein angehender Unternehmer, startete ein kleines Taxiunternehmen mit seinem Schneemobil, indem er jedem Passagier zwei Dollar pro Fahrt abknöpfte.

Chance, der selbst einen großen Pick-up fuhr, blieb an seinem Platz auf dem üblichen Barhocker im Last Chance Café, trank seine bestimmt achtzehnte Tasse Kaffee des Tages und beobachtete, wie Hallie O’Rourke sich als fleißige Mitarbeiterin erwies. Die Kinder, die sich die Mägen mit Pommes frites und Cheeseburgern vollgeschlagen hatten, schliefen auf den Bänken. Madge hatte sie mit einem alten Pullover und einer Decke aus dem Abstellraum zugedeckt.

Als Hallie mit der Kaffeekanne in der Hand auf der anderen Seite des Tresens vor Chance stehen blieb, erschrak er ein wenig. Sie versuchte zu lächeln. „Zu viel von diesem Zeug ist giftig“, sagte sie.

Er gab seiner Tasse einen kleinen Schubs in ihre Richtung, um anzudeuten, dass er noch mehr von dem Gift wollte. Er würde bald nach Hause fahren und versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Aber es bestand kein Grund zur Eile, da dort niemand auf ihn wartete, bis auf die Hunde und die Pferde, die sich bis dahin gut gegenseitig Gesellschaft leisteten. „Danke“, sagte er, als sie nachgab und ihm einschenkte. Es handelte sich nur noch um Brühe vom Kannenboden, stark genug, um damit einen Traktor anzutreiben.

Sie stellte die Kanne zurück auf die Warmhalteplatte und fing an, den Tresen mit einem Lappen abzuwischen. Chance bildete sich nicht ein, dass sie seinetwegen länger blieb. Das Lokal war warm und hell, und ihre Kinder schliefen. Sie konnte nirgendwohin, außer zurück in den Sturm.

Er dachte an Jessie Shaws Blockhaus, das auf der anderen Flussseite, gegenüber von seinem eigenen Haus, leer stand. Ihm kam eine Idee. Auf den ersten Blick wirkte das vielleicht etwas plötzlich, doch er nahm an, dass sie sich schon die ganze Zeit über in seinem Unterbewusstsein geformt hatte. „Sie brauchen für einige Tage eine Unterkunft?“, erkundigte er sich.

Sie erstarrte regelrecht und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er war froh, dass sie die Kaffeekanne