image

Margaret Cuonzo ist Lehrbeauftragte für Philosophie und Koordinatorin der Geisteswissenschaften an der Long Island University, Brooklyn.

Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter.

ZUM BUCH

»Wie schön, dass wir auf ein Paradox gestoßen sind!«, rief der Atomphysiker Niels Bohr einmal in einer Sitzung aus, »jetzt besteht einige Hoffnung, dass wir weiterkommen«. Die Philosophen sind sich alles andere als einig darüber, wie man ein Paradox richtig definiert, allerdings weist jede maßgebliche Definition auf ein wichtiges Merkmal von Paradoxien hin. Nach einer verbreiteten Definition besteht eine Paradoxie aus einer Reihe von wechselseitig widersprüchlichen Behauptungen, von denen jede einzelne wahr ist. Wie es dazu kommen kann, dass uns unsere Begriffe und logischen Systeme vielfach in die Irre führen können, wenn sie auf eine bestimmte Art und Weise angewendet werden, zeigt Margaret Cuonzo in diesem Basiswissenband Paradoxien. Dabei veranschaulicht sie anhand unterschiedlicher aktueller und historischer Beispiele, wie Wissenschaftler und Philosophen versuchen mit Paradoxien umzugehen, und welche Lösungsstrategien sie dabei anwenden.

Was war zuerst da, Henne oder Ei?! Könnte Achilles eine Schildkröte tatsächlich niemals einholen? Solch »scheinbar unauflösbare Widersprüche«, sogenannte »Paradoxien«, sind ein integraler Bestandteil der Wissenschaft und Philosophie, ebenso wie unseres Alltags. Genaugenommen sind sie sogar eine zentrale Voraussetzung für viele Formen des Erkenntnisfortschritts in der Geschichte der Menschheit. Paradoxien zwingen uns dazu, die Prämissen unserer Überlegungen zu hinterfragen und gegebenenfalls einer strengen Prüfung zu unterziehen. Dennoch oder gerade deshalb fürchten sich die meisten Menschen vor diesen scheinbar unabschließbaren, rekursiven Gedankengängen. Dass das nicht sein muss, zeigt Margaret Cuonzo anhand einiger Strategien, Paradoxien anzugreifen, und einer neuen Möglichkeit, den Schwierigkeitsgrad einer Paradoxie zu bestimmen. Darüber hinaus macht sie deutlich, wie wichtig Paradoxien und ihre Lösungen für die Wissenschaft sind, und dass das Nachdenken über Paradoxien auch Spaß machen kann.

Margaret Cuonzo

Paradoxien

Margaret Cuonzo

Paradoxien

Aus dem Englischen von
Andreas Simon dos Santos

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

© by Berlin University Press in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015 Der Text basiert auf der Ausgabe Berlin University Press, Wiesbaden 2015 Originaltitel: Paradox (MIT Essential Knowledge Series) by Margaret Cuonzo

ISBN: 978-3-8438-0522-3

www.verlagshaus-roemerweg.de

Für meine Lieblingsparadoxielöser,
meine Neffen,
Anthony und Andrew

INHALT

Vorwort

Einleitung: Steckt in Paradoxien der Wurm?

1Ein neuer Weg, über Paradoxien und ihre Lösung nachzudenken

1.1Einleitung: Die intuitive Grundlage der Paradoxie

1.2Auftritt der subjektiven Wahrscheinlichkeit: Der Grad unserer Überzeugungen

1.3Die Verwendung subjektiver Wahrscheinlichkeit zur Analyse von Paradoxien

1.4Subjektive Wahrscheinlichkeit und Paradoxielösungen

1.5Schlussfolgerungen

2Wie man Paradoxien löst

2.1Einleitung: Paradoxien schulen unsere Intuition

2.2Lösungstyp 1: Der Präventivschlag – der Paradoxie zuvorkommen

2.3Lösungstyp 2: Der Blindgänger – Nachweis einer fehlerhaften Prämisse

2.4Lösungstyp 3: Auf dem Holzweg – die Gültigkeit des Gedankengangs bestreiten

2.5Lösungstyp 4: Picobello – alles an der Paradoxie ist rundum in Ordnung

2.6Lösungstyp 5: Die Umgehung – kreative Vorstellungsalternativen

2.7Lösungstyp 6: Die bittere Pille schlucken – Paradoxien akzeptieren

2.8Welcher Lösungstyp passt wo und wann?

2.9Schluss

3Das verlorene Paradox? Über Erfolg (und Misserfolg) der Paradoxie-Lösungen

3.1Einleitung: Aus der Geschichte lernen

3.2Von doxa zu paradoxa: Zum Ursprung der Paradoxie in der westlichen Philosophie

3.3Alternative Lösungskonzepte von A(ristoteles) bis Z(enon) und darüber hinaus

3.4Neue Wissenschaften, neue Paradoxien

3.5Die Quintessenz über die Theorie wissenschaftlichen Fortschritts für die Lösung von Paradoxien

Konklusion

Glossar

Bibliografie

Weiterführende Lektüre

Anmerkungen

Register

VORWORT

Als ich mich vor 15 Jahren auf die lange Reise zu diesem Buch begab, hatte ich eine Abhandlung über berühmte Paradoxien wie den Lügner im Sinn (der paradoxerweise behauptet: »Was ich jetzt sage, ist falsch«). Ich hatte meine Doktorarbeit über die Haufenparadoxie geschrieben, bei der es um die Frage geht, welche genaue Anzahl von Sandkörnern wohl notwendig ist, um von einem Haufen zu sprechen. Ich plante, diese Arbeit auszuweiten, und stellte mir vor, das Buch in Hauptkategorien zu unterteilen – semantische, epistemische, logische Paradoxien und so weiter –, um dann jeweils mit meiner Lieblingslösung aufzuwarten. Auf dem Weg dorthin stolperte ich jedoch über allerlei Hindernisse, geriet auf Umwege und machte unverhoffte Entdeckungen. Mir wurde klar, dass ich das Wesen der Paradoxie noch tiefer ergründen musste. Zufällig wurde unter Wissenschaftsphilosophen gerade eine neue Betrachtungsweise von persönlichen Überzeugungen diskutiert, die um den Begriff der »subjektiven Wahrscheinlichkeit« kreiste, und dieser Ansatz erschien mir als nützlicher Weg dahin. Nebenbei stellte sich heraus, dass die überkommene Ansicht zum Ursprung der Paradoxien – dass sie größtenteils auf Zenon von Elea zurückgingen und ihre ersten Lösungen auf Aristoteles – so gar nicht stimmte; in Wirklichkeit handelt es sich um eine viel ältere Tradition. Vor allem aber entdeckte ich, dass man viel originellere und interessantere Ergebnisse erzielt, wenn man sich mit den möglichen Lösungsstrategien von Paradoxien beschäftigt, statt auf dem ausgetretenen Pfad zu bleiben, sich auf die Paradoxien selbst zu konzentrieren. So habe ich denn einen anderen Kurs eingeschlagen und lade Sie herzlich dazu ein, mit mir das Wesen der Paradoxien und vor allem der für sie vorgeschlagenen Lösungen zu erkunden und neu zu durchdenken. Ich hoffe, zeigen zu können, dass – obwohl die Standardversuche zur Lösung der großen Rätsel der Philosophie und anderer Gebiete häufig falsche Fährten sind, die in Sackgassen führen, und eine sehr minimalistische Herangehensweise an Paradoxien der sicherste Weg ist, den man einschlagen kann – dieser Ansatz des Abstandhaltens beileibe nicht im Nirgendwo endet. Aus Paradoxien und ihren zulässigen und unzulässigen Lösungen lässt sich viel lernen, ganz gleich, ob wir einige der tieferen Paradoxien überhaupt für lösbar halten.

Der erste Anstoß zu diesem Vorhaben verdankt sich einigen Passagen aus zwei Arbeiten meines ehemaligen akademischen Betreuers Stephen Schiffer.1 Er fragte sich, wie glücklich man eigentlich die üblichen Lösungsvorschläge für Paradoxien nennen konnte und führte eine diesbezügliche Unterscheidung zwischen »heiteren« und »mürrischen« Lösungen ein. Stephen und seine Arbeit hatten maßgeblichen Einfluss auf dieses Buch und mein philosophisches Denken. Während der Beschäftigung mit diesem Projekt wurde mir das Privileg zuteil, an einem Sommerseminar von Deborah Mayo über Irrtum und statistische Beweisführung am Virginia Tech teilzunehmen, finanziert von der Stiftung National Endowment for the Humanities. Hier machte ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriff und der Verwendung subjektiver »Grade« persönlicher Überzeugung. Deborah führte mir zwar die Grenzen des Bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriffs vor Augen, vor allem, was die Bestätigung oder Falsifikation wissenschaftlicher Hypothesen betrifft. Ich fand aber das Bayessche Modell sehr nützlich für das Verständnis von Paradoxien und warum einige von ihnen paradoxer sind als andere. Weitere Einflüsse auf diese Arbeit verdanken sich Kommentaren zu Vorträgen, die Eingang in die einzelnen Kapitel gefunden haben, besonders solche vor der Long Island Philosophical Society (LIPS), deren Vorsitz ich zusammen mit meinem Freund James Friel führte. Die hilfreichen Einwände von Anton Alterman und Glenn Statile sind dem Buch sehr zugutekommen. Mein Kollege und Freund Joseph Filonowicz lehrte mich durch seine Schriften, seinen Lehrstil und seine ganze Art, abgegriffenen philosophischen Jargon zu vermeiden und in meinem Denken und meinem Unterricht zu experimentieren. Wenn dieses Buch der allgemeinen Leserschaft Freude bereitet, so liegt es an seinem Beharren darauf, dass philosophische Strenge und Zugänglichkeit sich nicht wechselseitig ausschließen müssen. Danken möchte ich auch meinen wunderbaren Kollegen Kristana Arp, Chris Araujo, Michael Pelias, Amy Robinson, Maksim Vak, Sophia Wong und den anderen Mitgliedern des Fachbereichs Philosophie an der Long Island University/Brooklyn, dem ich sechs Jahre lang als Dekanin vorstand und gegenwärtig als stellvertretende Dekanin verbunden bin. Auch die Mitglieder meiner geliebten Schreibgruppe, darunter die Autoren Gerry Albarelli, Helen Duberstein, Joan Durant, Eva Kollisch, Edith Konecky und Eva White, ermutigten mich, ebenso viel Aufmerksamkeit auf eine gute, klare Darstellung zu verwenden wie auf interessante Argumente. Mit dem Schriftsteller und Zeithistoriker Gerry Albarelli ging ich immer wieder in dessen Haus in Cambridge, Massachusetts, »in Klausur«, wo wir unsere Arbeiten wechselseitig kritisch kommentierten. Anregungen von jemand wie ihm zu empfangen, der ein wahres Genie darin ist, selbst noch aus den abstraktesten Ausführungen die Geschichte herauszuhören und die »Tatsachen« zu hinterfragen, die sie untermauern sollen, war ein großartiges Geschenk, für das ich zutiefst dankbar bin. Auch meine liebe Freundin Dana Lerner spendet mir seit nunmehr 20 Jahren immer wieder unermüdlich Mut. Dem höchst beflissenen Philip Laughlin von MIT Press, der Potenzial in der Arbeit erkannte und sich für sie einsetzte, gebührt für seine Unterstützung ebenfalls großer Dank. Drei anonyme Gutachter lieferten sehr nötige Ratschläge, für die ich ihnen verbunden bin. Schließlich gibt mir meine Familie wie eh und je großen Mut und unterstützt mich in all meinen Bemühungen. Die liebevolle Erinnerung an meine Mutter Rosemarie Cuonzo und die ständige Nörgelei … äh, ich meine natürlich Anfeuerung meines Vaters Antonio Cuonzo hielten mich in manch schwieriger Zeit bei der Stange. Meine Neffen Anthony und Andrew mit ihrer Liebe zu Paradoxien und Rätseln waren mir ein Quell steter Freude und Motivation. Ich hoffe, dass Sie, liebe Leser, so viel Vergnügen und Bereicherung aus dieser Reise durch die Welt der Paradoxien und ihre Lösungen ziehen werden wie ich selbst.

image

EINLEITUNG: STECKT IN
PARADOXIEN DER WURM?

In einer englischen Science-Fiction-Krimiserie mit dem passenden Titel Paradox behauptet ein Astrophysiker, Bilder einer künftigen Explosion zu besitzen, die vielen Menschen das Leben kosten wird. Nachdem sie sich diese Zukunftsbilder angesehen hat, muss die arme, gestresste Polizistin Rebecca Flint alles daran setzen, zu verhindern, dass diese Vision wahr wird. Aber wenn Flint Erfolg hat, wären diese »Zukunftsbilder« dann nicht falsch? Wenn sich das schlimme Unglück, das sie vorhersagen, nie ereignen würde, und sei es dank Flints Eingreifen, in welchem Sinn könnte man diese Bilder dann noch als verlässlich betrachten? Das rätselhafte Wesen der Zeit hat viele philosophische Paradoxien aufgeworfen. Neben solchen Problemen wie Flints, wo es darum geht, die Zukunft auf Grundlage unseres Vorauswissens über sie zu ändern, gibt es auch solche, die mit der Vergangenheit zu tun haben, wie das Großvaterparadoxon, das die Frage aufwirft, ob eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit denkbar wäre, um den eigenen Großvater umzubringen, bevor dieser die Großmutter kennenlernt. Wenn das wirklich ginge, wäre es zugleich unmöglich, weil man dann ja niemals existiert hätte: Ein eigenes Elternteil wäre nie geboren worden, also wäre man auch selbst nie zur Welt gekommen, und folglich könnte man nicht in der Zeit zurückreisen, um den eigenen Großvater um die Ecke zu bringen, bevor dieser mit der Großmutter anbandeln kann.

Sehr großzügig definiert kann eine Paradoxie alles sein, von einem kniffligen Problem über eine der Intuition widerstrebende Meinung oder Schlussfolgerung bis hin zu einem visuellen Zaubertrick. Bei einer Internetsuche des Begriffs »Paradox« finden sich unter den Treffern zum Beispiel die verschachtelten, berückend schönen Grafiken des niederländischen Künstlers M. C. Escher; das Bild eines Glasaschenbechers, auf dessen Boden das Symbol »Rauchen verboten« aufgedruckt ist; die dem englischen Naturforscher Robert Boyle zugeschriebene Zeichnung eines sich selbst leerenden Glases, das sich mittels einer Röhre in seinem Boden unablässig selbst auffüllt (Abbildung 1); und ein Wikipedia-Artikel, der zahllose Paradoxien auflistet, darunter das oben erwähnte Großvaterparadoxon. Die bei Wikipedia angeführten Paradoxien stammen aus so unterschiedlichen Gebieten wie Statistik, Astronomie, Wirtschaft, Biologie und Logik. Was also, macht sie alle zu Paradoxien?

Sehr großzügig definiert kann eine Paradoxie alles sein, von einem kniffligen Problem über eine der Intuition widerstrebende Meinung oder Schlussfolgerung bis hin zu einem visuellen Zaubertrick.

image

Abbildung 1: Boyles sich selbst füllendes Glas (Grafik aus Wikimedia, s. a. Donald M. Simanek, »Perpetuum Futiliy. A short history of the search for perpetual motion«, unter: http://www.lhup.edu/~dsimanek/museum/people/people.htm)

Die Philosophen sind sich alles andere als einig darüber, wie man ein Paradox richtig definiert, allerdings weist jede maßgebliche Definition auf ein wichtiges Merkmal von Paradoxien hin. Nach einer verbreiteten Definition besteht eine Paradoxie aus einer Reihe von wechselseitig widersprüchlichen Behauptungen, von denen jede einzelne wahr ist.2 Nehmen wir Flints heikle Aufgabe, ein Ereignis in der Zukunft zu verhindern. Es lassen sich eine Reihe von Sätzen formulieren – nennen wir sie Aussagen –, die ihre Situation beschreiben. Nehmen wir, erstens, an, dass die Bilder der künftigen Explosion verlässliche Vorhersagen eines künftigen Geschehens darstellen. Wenn dies, zweitens, der Fall ist, wird offenbar nichts, was Flint unternimmt, den Gang der Ereignisse ändern können, da wir ja angenommen haben, dass sie zutreffen. Doch scheint Flint, drittens, die Freiheit zu besitzen, so zu handeln, dass sie die künftige Explosion verhindern kann. Wenn es Flint also, viertens, wirklich gelingt, die Explosion zu vereiteln, waren die Bilder von der künftigen Explosion nicht wahr. Man beachte, dass die vierte Aussage der ersten widerspricht, die wir als gegeben angenommen hatten. Wenn die Bilder verlässlich sind, lässt sich an der Explosion nichts ändern. Aber weil Flint eine außerordentliche Handlungsfreiheit besitzt, kann sie etwas unternehmen, was die Explosion verhindern würde. Wenn das jedoch der Fall ist, haben die Bilder die Zukunft nicht verlässlich vorausgesagt. Jede Aussage sieht für sich genommen akzeptabel aus, aber zusammengenommen ergeben sie einen Widerspruch:

Kästchen 1

Flints Paradox

1. Die Bilder über die künftige Explosion sind zuverlässig (Annahme).

2. Nichts, was Flint unternehmen kann, wird die Explosion verhindern (folgt aus 1).

3. Flint besitzt die Freiheit, durch ihr Eingreifen die Explosion zu verhindern.

4. Es könnte sich erweisen, dass die Bilder der künftigen Explosion nicht verlässlich waren (folgt aus 3; widerspricht 1).

Dieses Beispiel veranschaulicht, was für Paradoxien charakteristisch ist: Unter Aussagen, an denen zumindest oberflächlich nichts falsch ist, hat sich irgendeine Art von Widerspruch geschmuggelt. Darum taucht wohl bei unserer Internetsuche des Wortes »Paradox« unter den Treffern ein Bild von einem Aschenbecher mit einem »Rauchen verboten«-Zeichen auf. Für sich genommen handelt es sich bei dem Aschenbecher und dem Symbol um ganz alltägliche Dinge. Verschmelzen sie jedoch zu einem einzigen Gegenstand, entsteht eine Spannung zwischen dem Objekt, das zu dem Zweck hergestellt wurde, dass geraucht wird, und dem Symbol, das es verbietet. Sowohl beim Aschenbecher für Nichtraucher als auch beim Großvaterparadoxon springt der Widerspruch ins Auge, und dies umso mehr, als uns kein einzelnes Glied der widersprüchlichen Kette von Aussagen für sich genommen offenkundig falsch erscheint. Ein Widerspruch unter scheinbar harmlosen Elementen, ist also ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir unter einer Paradoxie verstehen.

Andere Definitionen lenken das Augenmerk auf die Argumentationsweise von Paradoxien. Für den Philosophen John Mackie zum Beispiel ist eine Paradoxie ein Argument mit einem scheinbar schlüssigen Gedankengang und wahren Prämissen, jedoch einem offenkundig falschen Schluss.3 Wieder andere wie Mark Sainsbury meinen, ein Paradoxon sei »eine scheinbar unannehmbare Schlussfolgerung, die durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist«.4 Argumente sind Gedankengänge, bei denen eine Aussage (die Schlussfolgerung) von anderen Aussagen gestützt wird (die Voraussetzungen oder Prämissen). Ist die Argumentation schlüssig, ergeben sich aus wahren Prämissen stets wahre Schlussfolgerungen. In Paradoxien scheint jedoch der Wurm zu stecken, etwas scheint bei ihnen schiefgelaufen zu sein, insofern wahre Prämissen und triftige Gedankengänge bei ihnen im Gegenteil zu offenkundig falschen oder widersprüchlichen Schlüssen führen. Im Fall Flints nahmen wir an, dass die Bilder einer künftigen Explosion wahr sind, kamen dann aber zu dem Schluss, dass, falls ihr die Verhinderung der Explosion gelänge, die Bilder gar nicht wahr gewesen sein konnten. Unsere Folgerung widerspricht also dem, was wir als gegeben angenommen hatten. Oder nehmen wir die Haufenparadoxie, die nach dem griechischen Wort für »Haufen« vielfach auch Sorites-Paradoxie genannt wird. Sie ist ein frühes und berühmtes Paradoxon über Vagheit, weil sie uns vor Augen führt, dass wir dort, wo wir Wörter nicht klar voneinander abgrenzen können – etwa »kahlköpfig« von »nicht kahlköpfig« oder »reich« von »nicht reich« –, zu offenkundig falschen Schlüssen gelangen. Die Haufenparadoxie lässt sich, hier am Beispiel einer mehr oder minder geschwundenen Haarpracht, wie folgt ausdrücken:

Kästchen 2

Haufenparadoxie

1. Eine Person mit 0 Haaren auf dem Kopf ist kahlköpfig.

2. Für jede Zahl n gilt: wenn eine Person mit n Haaren kahlköpfig ist, dann ist auch eine Person mit (n + 1) Haaren kahlköpfig.

3. Folglich ist eine Person mit 1 000 000 Haaren kahlköpfig.

Beim Haufenparadox bilden die Punkte 1 und 2 die Prämissen und Punkt 3 die Schlussfolgerung des Arguments. Die erste Prämisse, die feststellt, dass eine Person mit null Haaren kahlköpfig ist, beschreibt den paradigmatischen Fall der Kahlköpfigkeit. Diese Prämisse ist offensichtlich wahr, denn wenn eine Person kahlköpfig zu nennen ist, so gewiss diejenige mit den wenigsten möglichen Haaren auf dem Kopf (0). Die zweite Prämisse ist, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht nicht so eingängig wirkt, ebenfalls intuitiv sehr einleuchtend. Sie besagt, dass der Unterschied von einem einzelnen Haar nicht ausreicht, um eine Änderung der Einstufung von »kahlköpfig« zu »nicht kahlköpfig« zu rechtfertigen. Mit anderen Worten: Fügt man dem Kopf einer Person ein Haar hinzu, ändert sich nichts daran, ob wir diese Person als kahlköpfig betrachten. Angesichts der Tatsache, dass der Unterschied eines Haars für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar ist, lässt es sich ja auch schwer vorstellen, wie man auf einer derart dürftigen Grundlage eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Kahlköpfigkeit und Nicht-Kahlköpfigkeit treffen sollte. Das Argument der Haufenparadoxie ist also unmittelbar einleuchtend. Ihre erste Prämisse stellt fest, dass eine Person mit einer spezifischen Anzahl von Haaren (0) kahlköpfig ist. Die zweite Prämisse stellt die Behauptung auf, dass bei jeder beliebigen Anzahl von Haaren ein Haar mehr keinen Unterschied machen würde, der groß genug wäre, um eine Änderung der Einstufung von kahlköpfig zu nicht kahlköpfig zu rechtfertigen. Die in der ersten Prämisse angegebene Zahl (0) geht in die Verallgemeinerung in der zweiten Prämisse ein, und zwar iterativ, um zu dem Schluss zu gelangen, dass eine Person mit einer Million Haaren kahlköpfig ist. In dieser Weise formuliert ist die Haufenparadoxie also ein Argument mit intuitiv plausiblen Prämissen, einem anscheinend triftigen Gedankengang und einer offensichtlich falschen oder widersprüchlichen Konklusion. Nach Sainsburys Definition könnte man auch sagen: Es handelt sich um eine unannehmbare Schlussfolgerung (»Eine Person mit 1 000 000 Haaren ist kahlköpfig«), die aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist (»Eine Person mit 0 Haaren ist kahlköpfig« und »Für jede Zahl n gilt: wenn eine Person mit n Haaren kahlköpfig ist, dann ist eine Person mit [n + 1] Haaren auch kahlköpfig«), und das alles mit Hilfe eines scheinbar annehmbaren Gedankengangs. Diese beiden Definitionen heben also ein weiteres wichtiges Merkmal von Paradoxien hervor:5 Auf der Grundlage einleuchtender Prämissen führen sie uns mit Hilfe einer plausiblen Überlegung manchmal zu unerwartet absurden Schlüssen.

Paradoxien stoßen uns auf ein Problem unserer Schlussfolgerungen oder der Aussagen, die wir als Prämissen annehmen, oder der grundlegenden Begriffe, die der jeweiligen Paradoxie zugrunde liegen. Im Fall von Kommissarin Flint besteht das Problem, auf das uns die Paradoxie stößt, darin, ob ein Vorwissen über die Zukunft (in Form von Bildern einer künftigen Explosion) bedeutet, dass die Zukunft bereits determiniert ist. Beim Haufenparadoxon liegt das Problem darin, dass vage Prädikate wie »kahlköpfig«, »stark« oder »reich« offensichtlich für manche Sachverhalte gelten müssen und für andere nicht, es andererseits aber nicht viel Sinn ergibt, genau zu benennen, ab wie wenigen Haaren jemand kahlköpfig ist, ab wie vielen Kilos gestemmten Gewichts jemand als stark zu bezeichnen wäre oder wie viele Cent man genau besitzen muss, um als reich zu gelten. Wir müssen zugeben, dass es einen Unterschied zwischen kahlköpfig und nicht kahlköpfig gibt, dass aber keine spezifische Anzahl von Haaren eine gute Grenze zieht, um diesen Unterschied zu markieren. Und dasselbe gilt für die Frage, ab wie viel gestemmtem Gewicht man stark ist oder wie viele Cents auf der Bank einen Menschen reich machen. Es ist diese Art von Schwierigkeit, die in uns den Wunsch weckt herauszufinden, wo genau der Wurm in einer Paradoxie steckt.

Paradoxien stoßen uns auf ein Problem unserer Schlussfolgerungen oder der Aussagen, die wir als Prämissen annehmen, oder der grundlegenden Begriffe, die der jeweiligen Paradoxie zugrunde liegen.

Paradoxien aufzulösen, sich neue Paradoxien auszudenken und Lösungsvorschläge anderer einer kritischen Prüfung zu unterziehen, all das gehört zum Alltagsgeschäft von Philosophen, Physikern, Ökonomen und anderen Theoretikern. Bei der Vorstellung der Flint-, Großvater- und Haufenparadoxien sind Ihnen vielleicht selbst spontan Lösungen in den Sinn gekommen. Im Fall des Flint-Paradoxons sind Sie womöglich zu der Auffassung gelangt, dass es keine zutreffenden Bilder der Zukunft geben kann, oder vielleicht auch, dass die Zukunft vorherbestimmt sein muss und Flint nichts gegen die Explosion hätte unternehmen können. Oder beides. Und vielleicht ist Ihnen beim Großvaterparadoxon klar geworden, dass Zeitreisen unmöglich sind.

Lösungen zu suchen ist eine natürliche Reaktion auf Paradoxien und wahrscheinlich so alt wie die Philosophie selbst. Sehr früh in der westlichen Philosophietradition machte sich Aristoteles – der häufig als »Vater« der systematischen Logik bezeichnet wird – daran, Paradoxien zu studieren und sich an ihrer Lösung zu versuchen. Für ihn waren Paradoxien das Ergebnis von Fehlschlüssen, und, ein Paradoxon zu lösen bedeutete, den Fehler in einem Gedankengang aufzudecken.6 Dabei nahm er mit Vorliebe die Paradoxien von Zenon von Elea aufs Korn, dessen Überlegungen zu Raum, Zeit und Bewegung zu den frühesten Paradoxien der westlichen Philosophietradition gezählt werden. Bis heute werden immer wieder neue Paradoxien aufgestellt und immer wieder neue Lösungsvorschläge unterbreitet, und das ist, wie sich im letzten Kapitel dieses Buches zeigt, eine ebenso interessante wie wichtige Beschäftigung. Tatsächlich sind aus Bestrebungen zur Lösung von Paradoxien neue Wissenschaften hervorgegangen, die sich mit ihren Ideen wiederum in neue Paradoxien verstrickten.

Es ist ein verbreiteter Irrtum, der, wie ich hoffe, im Folgenden ausgeräumt wird, dass es sich bei Paradoxien um Rätsel handelt, die zwar ganz anregend sein mögen, mit unserem Alltag aber nichts weiter zu tun haben. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Paradoxien tauchen in vielen Bereichen unseres Alltags auf, in Zeitungen, religiösen Texten, in Unterhaltungssendungen und in den praktischen Zwickmühlen, mit denen wir im Leben konfrontiert sind. Dies nur am Rande: Als ich an diesem Buch schrieb, las ich eine Zeitungsmeldung über ein nordenglisches Nest namens Santon Bridge, das sich damit rühmt, alljährlich den »weltgrößten Lügnerwettbewerb« auszurichten – zweifellos ein Ort, an dem es von Paradoxien nur so wimmeln muss.7

Lösungen von Paradoxien haben, wie ebenfalls noch deutlich werden wird, auch Auswirkungen auf andere Aspekte unseres Lebens. Eine unscharfe Logik oder »Fuzzylogik« mit ihrer Verwendung von »Wahrheitsgraden« liefert zum Beispiel die Grundlage für so profane, aber nützliche Dinge wie Programme zur Erkennung von Unterschriften. Ohne eine Methode zur Behandlung von Grenzfällen, zum Beispiel die Unterscheidung der Buchstaben a und u in Handschriften, wären solche Programme undenkbar. Und politische Entscheidungsträger wären wohl ohne die Erkenntnisse der Entscheidungstheorie vielfach aufgeschmissen. Lösungen und ihre Paradoxien sind also wichtige Teile unserer alltäglichen Lebenswelt.

Wie sehr uns die Beschäftigung mit paradoxen Sachverhalten in den Bann schlägt, wurde mir vor Jahren in der British Library bewusst, als mir ein staubiger Band mit einem Vortrag in die Hand fiel, den der britische Psychologe und Psychiater John C. Flugel 1941 vor der Conway Hall Ethical Society in London hielt. »Dies ist die sechste Conway-Memorial-Vorlesung (von bislang 32)«, so begann Flugel seinen Vortrag, »die während des Kriegs stattfindet, und seit einem Jahr … ist der Krieg beträchtlich näher vor unsere Haustür gerückt, so nahe sogar, dass wir uns glücklich schätzen dürfen, wenn Conway Hall noch steht und wir selbst noch die Freiheit genießen, uns hier zusammenzufinden; wissen wir doch, dass jeden Augenblick um uns herum der Kampf mit seinem lauten, zerstörerischen Lärm ausbrechen kann, um unser Leben und das unserer Nächsten und Lieben zu bedrohen und die Werke und Monumente derjenigen, die hier vor uns lebten und die Traditionen begründeten, die wir zu pflegen bestrebt sind.«8 Warum, um alles in der Welt, dachte ich bei der Lektüre dieser Zeilen, waren diese Leute damals in der Londoner Innenstadt zusammengekommen, um eine Vorlesung zu hören, während jederzeit Bomben auf sie niederprasseln konnten? Der Vortrag musste von etwas handeln, was den Zuhörern damals sehr am Herzen lag. »In solchen Zeiten«, fuhr der Vortragsredner fort, »ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, unsere Gedanken längere Zeit von dem gewaltigen Konflikt abzulenken, der um uns herum tobt, und ich werde keinen Versuch unternehmen, es in dieser Vorlesung zu tun.«9

Paradoxien tauchen in vielen Bereichen unseres Alltags auf, in Zeitungen, religiösen Texten, in Unterhaltungssendungen und in den praktischen Zwickmühlen, mit denen wir im Leben konfrontiert sind.

Das Thema, das die Anwesenden und den Redner zusammengeführt hatte, war das paradoxe Wesen des Kriegs – insbesondere, wie etwas so offenkundig Unmoralisches wie der Krieg innerhalb der kriegführenden Parteien so hehre moralische Verhaltensweisen wie Selbstaufopferung und Großherzigkeit gegenüber den Mitmenschen hervorrufen konnte. In seinem Vortrag mit dem Titel »Das moralische Paradoxon von Frieden und Krieg« warf Flugel die Frage auf, warum der Krieg trotz der furchtbaren Zerstörung, die er mit sich brachte, bei bestimmten Menschen anscheinend zu einer höheren Sittlichkeit führte. Das war ein Paradoxon, das den Anwesenden unmittelbar vor Augen stand, und dieses Rätsel muss sie bewegt haben, in so schwerer Zeit die Vorlesung zu besuchen. Wollte man Antworten auf diese Paradoxie suchen, böten sich einige Lösungen an, zum Beispiel, dass der vermeintliche Konflikt zwischen dem Grauen des Kriegs und den guten, ja heroischen Taten, die er inspiriert, vielleicht gar nicht existiert. Das wäre eine »Picobello«-Antwort, wie ich sie weiter unten beschreiben werde Doch was diese Menschen 1941 in der Londoner Conway Hall zusammenbrachte, ist vielleicht noch etwas Tieferes als das konkrete Paradox, über das sie nachdachten: dass nämlich Paradoxien für Menschen ihre große Bedeutung dadurch gewinnen, dass sie Konflikte zwischen einigen unserer innigsten Glaubensüberzeugungen offenlegen. Indem sie Widersprüche zwischen einigen unserer rigidesten Überzeugungen ans Licht bringen, verlangen uns Paradoxien wichtige Antworten ab. Wenn wir ein vernunftgeleitetes Leben führen möchten, müssen wir auf paradoxe Widersprüche zwischen Überzeugungen reagieren, die wir für wahr halten. Das ist, wie ich glaube, der Grund, warum es durchaus verständlich war, dass sich Flugels Zuhörer in einer so bedrohlichen Zeit von Angst und Verpflichtungen freimachten, um seinen Vortrag zu hören. Und es ist der Grund, warum es bei unserer Beschäftigung mit Paradoxien und ihren Lösungen um mehr geht als um bloßes Rätselraten. Wir bemühen uns damit um ein gedankenvolleres, ein stärker von unserer Vernunft geleitetes Leben.

In den folgenden Kapiteln betrachten wir neue Wege, über Paradoxien nachzudenken (Kapitel 1), schauen uns an, wie sie gemacht werden (Kapitel 2) und wie man sie am besten löst (Kapitel 3). Das Glossar von Schlüsselbegriffen liefert stichwortartig einige Begriffserläuterungen. Bleibt mir zu hoffen, dass Ihnen das Folgende einige Einsichten über das Wesen der Paradoxie vermittelt und die Lust bei Ihnen weckt, über die vorgeschlagenen Lösungen nachzugrübeln.

1

image

EIN NEUER WEG, ÜBER PARADOXIEN UND IHRE LÖSUNG NACHZUDENKEN

1.1Einleitung: Die intuitive Grundlage der Paradoxie

Wir haben bereits drei Möglichkeiten angesprochen, Paradoxien zu definieren: 1.) als Reihe widersprüchlicher Aussagen, die jede für sich wahr erscheint;10 2.) als Argument mit scheinbar annehmbaren Prämissen und anscheinend triftiger Argumentation, jedoch mit offenkundig falscher Schlussfolgerung;11 und 3.) als »unannehmbare Schlussfolgerung, die durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist«.12Paradoxparaπαράdoxa, δόξα