Titelbild
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Lesen was ich will!
www.lesen-was-ich-will.de

ISBN 978-3-492-97415-8

Januar 2016

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Die Gnade segnet den, der sie gewährt,

und den, der sie empfängt.«

William Shakespeare

Jillians Stundenplan im zweiten Schuljahr

Montag

Dienstag

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Freitag

08.00 – 09.00

Englisch

Geschichte

Mathematik

Magie

VO-Gesetz

09.00 – 10.00

Englisch

Geschichte

Mathematik

Magie

VO-Gesetz

10.00 – 10.30

10.30 – 11.30

Dämonologie

Wahlfach 2

Grundlagen der
Mairajagd

Artenkunde

Magie

Verteidigung

11.30 – 12.30

Dämonologie

Wahlfach 2

Grundlagen der
Mairajagd

Artenkunde

Magie

Verteidigung

12.30 – 13.30

13.30 – 14.30

Wahlfach 1

Waffenkunde

Verteidigung

Sport

Wahlfach 3

Offensive Magie

14.30 – 15.30

Wahlfach 1

Waffenkunde

Verteidigung

Sport

Wahlfach 3

Offensive Magie

Kapitel 1

Der Wecker klingelte und riss mich unsanft aus dem Schlaf. Stöhnend rieb ich mir die Augen und sah auf die leuchtend roten Zahlen. Zehn Minuten vor Mitternacht. Noch verwirrt von meinem Traum wischte ich die letzten Erinnerungen an ausgestorbene, brüchige Straßen mit einer Handbewegung beiseite, und die Bilder verblassten wie jahrzehntealtes Pergament.

Ich warf die dünne Bettdecke von mir und setzte mich schwerfällig auf. Seufzend streckte ich meine Beine aus. Wir hatten Ferien, und ich hatte eigentlich geplant, wach zu bleiben, aber nachdem ich meiner Tante den ganzen Tag im Garten geholfen hatte, war ich wie ein Stein aufs Bett gefallen und konnte die Augen gerade noch lange genug aufhalten, um meinen Funkwecker einzustellen. Kurz rief ich mir in Erinnerung, warum ich mich so quälte, und ein leichtes Kribbeln machte sich in meiner Bauchgegend bemerkbar.

Ich sprang auf und eilte zum Spiegel an meinem großen, massiven Kleiderschrank, um meine langen braunen Locken mit den Fingern etwas zu glätten. Nachdem ich mir ein frisches T-Shirt übergezogen hatte, blieb ich stehen und lauschte. Im Haus war es bis auf das Ticken der Wanduhr im Wohnzimmer ruhig, und Tante Amalia hatte einen festen Schlaf. Trotzdem öffnete ich mein Fenster so leise wie möglich und stieg das mit Efeu bewachsene Gitter an der Hauswand hinab. Das Holz ächzte bedrohlich unter meinen Füßen, doch es hielt stand. Als ich den letzten Meter hinabsprang, rutschten meine Turnschuhe quietschend über das nasse Gras, und ich konnte mich gerade noch mit den Händen abfangen.

Leise fluchend wischte ich sie an der Jeans ab und nahm meine Umgebung wahr. Gegen Abend hatten sich die dunklen Gewitterwolken verzogen, und der Mondschein erhellte unseren Garten mit seinem bleichen Schein gerade so weit, dass ich mich problemlos zwischen den Sträuchern, Obstbäumen und Blumenbeeten, die meine Tante so liebte, fortbewegen konnte. Er spiegelte sich in den zahlreichen Zierkugeln und dem Glas erloschener Lampen, was den Garten unnatürlich glitzern ließ. Nebel zog sich in sanften Wellen über das Sommergras.

Ich liebte diesen Ort und hatte Tante Amalia mit Freuden dabei geholfen, das lästige Unkraut zu entfernen. Um mich herum zirpten ein paar Grillen, und selbst der Gesang der Frösche am See des Parks von Langfield drang bis an meine Ohren. Alles war friedlich und still. Ich fröstelte, als eine kühle Brise über meine unbedeckten Arme strich.

Schlendernd ging ich zu der zierlichen Bank am Gartenteich, entschied mich aber im letzten Moment dagegen, mich zu setzen. Tante Am bräuchte nur aus dem Schlafzimmerfenster blicken, um mich zu entdecken. Stattdessen wählte ich eine verdeckte Stelle unter den Kirschbäumen, nahe der Mauer, und wartete ungeduldig. Meine Armbanduhr verriet mir, dass es schon eine Minute nach Mitternacht war. Genervt verschränkte ich die Arme und lehnte mich an einen großen Stamm.

Ich atmete tief ein, um die Müdigkeit ein wenig zu vertreiben, und rieb meine Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten. Der Duft nach Regen und dem vergangenen Gewitter hing noch immer in der Luft, und darunter machte sich ein leicht verbrannter Geruch bemerkbar.

Sofort schrillten meine Alarmglocken, und ich erstarrte. Roch es nach Kaminfeuer oder eher nach brennendem verrotteten Laub? Die Luft kühlte schlagartig ab, und die Kälte zog in meine Glieder. Aus Gewohnheit fuhr meine Hand zur Hüfte, doch statt der Waffen, die ich dort für gewöhnlich trug, ertastete ich nur weichen Stoff. Ich hielt die Luft an und zählte bis zehn. Nach ein paar hämmernden Herzschlägen beruhigte ich mich etwas. Es war nicht der Geruch der Mairas, der Halbdämonen, mit denen ich es im letzten Schuljahr mehr als einmal aufgenommen hatte und deren albtraumartiges Antlitz mich wohl noch bis ans Ende meiner Träume verfolgen würde.

»Ich werde schon paranoid«, flüsterte ich mir selbst Mut zu, doch ich trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Waren die Grillen aus unserem Garten verschwunden und in den Nachbargarten geflüchtet? Sie wirkten plötzlich so leise ...

Es war unnatürlich still geworden, und meine Wachsamkeit kehrte zurück. Der Mond verschwand hinter einer Wolke, und ein Schleier aus Dunkelheit legte sich über den Rasen. Die Schmuckbänder, die Tante Am zur Zierde in den Bäumen hängen hatte, machten es mir nicht gerade leicht, mich zu entspannen. Sie bewegten sich sachte im Wind und ließen die unheimlichen Schatten lebendig wirken. Die friedliche Stimmung war schlagartig verschwunden.

Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und verrieten mir, dass ich beobachtet wurde. Ich hörte einen Zweig in der Nähe des Gartentors knacken und kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Mein Blick blieb an einem der Schatten hängen. Stand dort nicht jemand zwischen den Sträuchern? Ein weißes Schimmern erregte meine Aufmerksamkeit. Ich presste mich an die raue Rinde des Baumes, umklammerte den Stamm seitlich und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken.

Eine Hand packte mich von hinten an der Schulter, und ich wirbelte herum. In nur dem Bruchteil einer Sekunde sammelte ich meine Magie in meinem Innersten und ließ sie in meine Hände fließen, bereit, sie abzufeuern.

Ich konnte gerade noch verhindern, dass ich mein Gegenüber verletzte, als ich ihn erkannte. Ein paar knisternde, blaue Funken fielen aus meinen Händen auf den Boden und verloschen, während die Energie schmerzhaft in mein Innerstes zurückfloss.

»Ryan! Verdammt noch mal, ich hätte dich fast gegrillt! Konntest du nicht ...?«

Der Vampir stoppte meine Schimpftirade, indem er seine Lippen zärtlich auf meine drückte. Sofort entspannte sich mein Körper merklich, und ich ließ mich in seine Arme sinken, als das Brennen der in meinen Körper zurückgezogenen Magie nachließ. Er lachte leise unter dem Kuss und strich mir sanft über den Rücken. Wohlige Schauder ergriffen mich und vernebelten meinen Verstand.

»Happy Birthday, Süße«, flüsterte er leise, doch ich zog ihn nur weiter zu mir herab und ließ die Finger durch seine rabenschwarzen Haare gleiten. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Und wie sehr ich ihn brauchte. Sein vertrauter Duft umhüllte mich und ließ die letzten Nervositäten von mir abfallen.

Ich biss zärtlich auf seine Unterlippe, immer darauf bedacht, seine Reaktionen im Auge zu behalten. Ich wusste, dass es ihm nicht gerade leicht fiel, seinem Verlangen nach meinem Blut zu widerstehen, und wollte ihn nicht an seine Grenzen treiben. Viel zu schnell löste er sich von mir und schob mich ein Stück weg, um mich zu betrachten.

»Ich wollte dir keine Angst machen, tut mir leid.«

Ryan konnte sich nicht nur lautlos wie eine Katze bewegen, sondern auch problemlos mit allen Schatten der Umgebung verschmelzen, was mir schon den einen oder anderen Schrecken eingejagt hatte. Mir fiel wieder ein, warum ich so nervös gewesen war, als er auftauchte. Ich schielte hinüber zu der Stelle, an der ich die Silhouette einer Person erspäht hatte. Es war nichts zu sehen, und auch die Musik der Grillen schien wieder an Lautstärke gewonnen zu haben.

»Schon gut. Ich habe nur eben schlecht geträumt und glaube, das sind die Nachwirkungen«, seufzte ich.

Ryan sah mich besorgt aus seinen fast vollkommen schwarz wirkenden Augen an. »Träumst du wieder von den Mairas?«

»Nein, nein, keine Angst. Es war etwas anderes. Nicht so wichtig.«

Um ehrlich zu sein wusste ich nicht, was es zu bedeuten hatte. Ich träumte seit längerem von diesen verlassenen dunklen Straßen, die sich zwischen Ruinen von Gebäuden schlängelten und ins Nirgendwo zu führen schienen. Es war echt gruselig, aber immer noch besser, als zusehen zu müssen, wie die dämonischen Kreaturen meine Freunde in Stücke rissen, ohne dass ich etwas tun konnte. Mairas hatten die besondere Begabung, ihren Opfern Albträume einzuflößen, um sie durch ihre Angst aufzuspüren. Ich hatte lange gebraucht, bis ich den Kampf gegen diese Träume gewonnen hatte.

»Also, erklärst du mir jetzt, warum ich mitten in der Nacht hier im Garten stehe?«, fragte ich amüsiert und strich mit dem Zeigefinger über seine gestählte Brust.

Vor zwei Tagen hatte ich einen Zettel in meinem Zimmer gefunden, der Ryans Handschrift trug und mich hierher lotste. Ich hatte keine Fragen gestellt, als wir am Tag darauf telefoniert hatten. Weder über das Treffen, noch über das mysteriöse Auftauchen der Nachricht.

Er zuckte mit den Schultern und lächelte verschmitzt. »Ich glaube nicht, dass Amalia so begeistert gewesen wäre, wenn ich zu solchen Uhrzeiten an eurer Tür geklingelt hätte.«

»Und warum wolltest du nicht einfach morgen offiziell zu Besuch kommen? Oder nächsten Samstag, zu meiner Geburtstagsfeier?«

Er sah mich gespielt geschockt an. »Und damit riskieren, dass ich nicht der Erste bin, der dir zu deinem achtzehnten Geburtstag gratuliert?! Um Gottes Willen ...« Er griff sich mit den Händen an die Brust und sah verzweifelt nach oben, als könne er den Gedanken kaum ertragen. Ich lachte und gab ihm mit einem Schubs zu verstehen, dass er etwas leiser sein sollte.

»Gib es zu, du wolltest wieder den Romantiker raushängen lassen«, neckte ich ihn, als er mich zu einer kleinen Bank unter einem schön mit Bändern behangenen Baum führte. Als der Mond wieder auftauchte, kehrte auch die Schönheit des Gartens zurück.

»Erwischt«, murmelte er und begann vorsichtig, meinen Hals zu küssen. »Hat es denn funktioniert?«

»Ja, hat es ...«, brachte ich gerade noch so unter dem Gefühl heißer Wellen hervor, die durch meinen Körper liefen. Ich hielt so still wie möglich, es war eine gefährliche Situation, was mich seltsamerweise nur noch mehr erregte. Ryan zog sich etwas zurück, als er das Rauschen meines Blutes bemerkte. Seine Hände wanderten um meinen Nacken, und ich spürte etwas Kühles um meinen Hals liegen.

Als ich herabblickte, sah ich eine schmale Kette im Mondlicht schimmern. Ich betrachtete den Anhänger genauer und stieß einen entzückten Laut aus, als ich eine kleine, silberne Libelle erkannte. Das Zeichen der Libelle stand mit den funkelnden Elfen und der Blütenpracht der Elfenmulde auf dem Schulgelände in Verbindung, wo wir unser erstes Date verbracht hatten.

»Ich dachte, da du ja die Kette deiner Mutter nicht mehr hast ...«, meinte er und wirkte plötzlich verlegen.

»Sie ist wunderschön, Ryan! Danke!«

Eins musste man ihm lassen, er wusste wirklich, wie man das Herz einer Frau erobert. Welches Mädchen träumte schließlich nicht davon, im Mondschein in einem wunderschönen Garten von ihrem Romeo überrascht zu werden? Ich wollte nicht weiter auf seine romantische Ader eingehen, weil ich wusste, dass er nach außen lieber seine düstere und unnahbare Fassade aufrecht erhielt.

Gedankenverloren betrachtete ich den funkelnden Anhänger und ließ ihn zwischen den Fingern auf- und abgleiten. Bis vor ein paar Monaten hatte ich die Kette getragen, die mir meine Mutter vor ihrem Tod vermacht hatte, bis sich herausstellte, dass der Anhänger, der Silax, das wohl gefährlichste Artefakt war, dass es auf Erden gab. Er besaß die Macht, Dämonen aus der Unterwelt in das Reich der Sterblichen eindringen zu lassen. Nachdem unsere Schulleiterin Mrs. Grant durchgedreht war und meine Freunde und ich nur knapp verhindert hatten, dass sie die Welt ins Unglück stürzte, hatte ich den Silax nur zu bereitwillig zerstört.

Noch heute war es mir ein Rätsel, warum meine Hexenmutter ein Kind von einem Dämon bekommen hatte und mich somit wohl oder übel zu einer Halbdämonin gemacht hatte. Im Gegensatz zu den Menschen konnten sich Hexen mit Dämonen fortpflanzen, ohne dass ein grässliches Ungeheuer daraus entstand. Nur meine seit neuestem türkisen Augen unterschieden mich von den grünen Augen der anderen Hexen, und das auch erst, seit ich bei meinem letzten Kampf herausgefunden hatte, wie ich die in meinem Inneren schlummernde Dämonenmagie freisetzen konnte.

Das alles hatten wir erst vor kurzem herausgefunden. Ich wollte gar nicht über die Konsequenzen nachdenken, sollte die Nachricht an die Öffentlichkeit geraten, dass ein Halbdämon unter den Menschen lebte. Ich war als Hexe schon auffällig genug an unserer Schule.

Ryan schien wie immer meine Gedanken lesen zu können und fasste sanft unter mein Kinn, um meinen Kopf in seine Richtung zu drehen.

»Sie werden es schon nicht herausfinden. Egal wie deine Augen aussehen. Und ich finde sie toll, habe ich das schon erwähnt?«

»Nur etwa einhundert Mal«, erwiderte ich grinsend. Ich ließ mich erneut von ihm küssen, bevor ich den Kopf an seine Brust legte und dem Rascheln der Blätter lauschte. Ich fühlte mich vollkommen sicher und wohl in seiner Gegenwart und konnte kaum glauben, dass es einst anders gewesen war. Zwischen uns war eine intensive Verbindung entstanden, die mich schon fast ängstigte.

Ich ließ die Hand vorsichtig über seine sehnigen Arme gleiten. »Was hast du deiner Großmutter erzählt, wohin du gehst?«

Ich hörte sein Lächeln in der Stimme, als er leise antwortete: »Sie ist meine Ausflüge gewohnt.«

Ich erinnerte mich wieder an den Zettel, den ich in meinem Zimmer gefunden hatte, und hob misstrauisch den Kopf. »Ok, raus mit der Sprache. Wie oft warst du in den Ferien hier in Langfield, ohne dass ich es wusste?«

»Ich werde immer in deiner Nähe sein, wenn du mich brauchst«, erwiderte er geheimnisvoll mit einem Augenzwinkern.

Ich schnaubte. »Wir sollten uns dringend über Privatsphäre unterhalten«, murmelte ich und lehnte mich wieder gegen ihn.

Seine Brust bebte durch das grollende Lachen, das er ausstieß. »Ich bin kein Stalker, Jill! Ich habe in den letzten zwei Wochen nur ab und zu nach dir gesehen. Von Weitem. Ich schwöre!« Er hob zum Zeichen seines Schwures die Hand und legte sie auf seine Brust, direkt über das Herz. »Außerdem verbringe ich gerne Zeit mit meiner Großmutter. Sie braucht mich, auch wenn sie es nie zugeben würde.«

Etwas besänftigt schloss ich die Augen und genoss weiter seine Nähe. Auch wenn mir der Gedanke unheimlich erschien, dass Ryan ab und zu in unsere Kleinstadt gekommen war und auf mich aufgepasst hatte, ohne dass ich es bemerkte, fühlte ich mich dennoch geehrt. Ich konnte ein Grinsen nicht verkneifen.

Wir alberten noch eine Weile herum, bis ich vor Müdigkeit kaum noch die Augen aufhalten konnte. »Es ist so unfair. Ich glaube langsam, dass du mich angelogen hast, als du sagtest, ihr Vampire müsstet auch schlafen.«

Er lächelte etwas gequält, als ich ihn an die Eigenheiten seiner Art erinnerte.

»Tun wir auch ... ab und zu ...«

Ich rollte mit den Augen und unterdrückte ein weiteres Gähnen.

»Ich bringe dich zum Haus zurück«, flüsterte Ryan und strich mir über die Haare.

»Ich will aber noch nicht.«

»Keine Widerrede. Du siehst echt fertig aus.« Er stand auf und zog mich auf die Beine. Während er meine Hand hielt, sah ich misstrauisch noch einmal in die dunkle Ecke des Gartens.

»Was ist?«, fragte Ryan, dem keine meiner Reaktionen entging und der die Beschleunigung meines Pulses gespürt haben musste.

»Nichts, ich habe mich nur beobachtet gefühlt, bevor du aufgetaucht bist. Aber ich glaube, es war nur Einbildung.«

Ich konnte spüren, wie sein Körper sich anspannte und er mit blitzenden Augen die Umgebung absuchte. »Ich kann niemanden riechen, aber bei dem ganzen Gewächskram hier ist das ja auch kein Wunder. Hättest du mir das nicht vor einer halben Stunde sagen können, als ich aufgetaucht bin?«

Schuldbewusst grinste ich ihn an. Sollte er doch wissen, dass er mich abgelenkt hatte.

Er schüttelte genervt den Kopf. »Ich kenne niemanden mit so einem schlechten Selbsterhaltungstrieb wie dich.«

»Ryan«, beruhigte ich ihn, »es war nichts weiter. Wahrscheinlich habe ich nur deine Anwesenheit gespürt, du bist schließlich direkt danach aufgetaucht. Außerdem hättest du es sofort bemerkt, wenn jemand da gewesen wäre.«

Er nickte mit undurchdringlicher Miene. Wir hielten unter meinem Fenster an, und ich drehte ihm meinen Körper zu, um meinen Abschiedskuss abzuholen. Er umfasste meine Hüften und beugte sich hinab.

»Das war die schönste Geburtstagsüberraschung, die ich je bekommen habe«, flüsterte ich und ließ sanft meine Lippen über seine Wangen gleiten. Er drehte den Kopf und küsste mich noch einmal mit einer solchen Leidenschaft, dass meine Knie nachzugeben drohten. Sein süßer Duft umnebelte meine Gedanken. Wir würden uns erst in einer Woche zu meiner Geburtstagsfeier wiedersehen, und schon jetzt kam mir die Zeit ohne ihn unerträglich lang vor. Er versteifte sich etwas und zog sich zurück, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

»Ich vermisse dich jede einzelne Sekunde, die du nicht bei mir bist«, seufzte er und stützte meinen Fuß, als ich das Efeugitter hinauf zu meinem Zimmer kletterte.

»Pass auf dich auf«, sagte ich leise, als ich am Fenster angekommen war und hinabblickte. Ryan war verschwunden, doch ich konnte noch sein Lachen in den Schatten wahrnehmen. Lächelnd und mit klopfendem Herzen schlüpfte ich in mein Zimmer und schloss das Fenster.

Kapitel 2

»Schläft sie etwa immer noch?«, hörte ich Alissas Stimme aus dem Flur, als auch schon krachend meine Zimmertür aufflog und sich zwei Personen wie nasse Sandsäcke auf mein Bett plumpsen ließen. Ich warf mir lachend die Decke über den Kopf, um mich vor den freundschaftlichen Knuffen meiner besten Freundin zu schützen. Durch meinen Schutz aus Baumwolle und Daunenfedern hörte ich gedämpft das Lachen von Alissas kleiner Schwester Lara, die sich auf mich warf und versuchte, mich vom Bett zu rollen.

Immer noch kichernd gab ich auf. »Schon gut, ihr zwei, ihr habt gewonnen! Ich stehe ja schon auf!«

Als ich mit verschlafenen Augen unter der Bettdecke hervorschielte, sahen mich die beiden Collins-Schwestern grinsend an. Sofort schlug mir der vertraute blumige Duft entgegen. Alissa war mein Jahrgang, und ihre kleine Schwester sah ihr mit den roten Ringellöckchen, den für Hexen typisch grünen Augen und den Sommersprossen üblicherweise zum Verwechseln ähnlich. Nur hatte sich Ally die Haare gefärbt und sah mit dem dunklen Braun plötzlich viel erwachsener aus.

»Steht dir«, sagte ich anerkennend.

Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn es nur dauerhaft wäre ... der Ansatz ist schon wieder zu sehen.«

»Also, was macht ihr schon hier? Ich dachte, ihr kommt erst um elf.«

Sie warf einen bedeutungsschweren Blick auf meinen Wecker.

»Oh, Mist«, murmelte ich. Ich hatte verpennt. Die kleine Lara lächelte mich zaghaft an und hüpfte ungeduldig auf und ab, als könne sie es kaum erwarten, endlich zu Wort zu kommen.

»Okay, spuck es aus«, lachte ich.

»Ich kenne endlich mein Magie-Spezialgebiet, Jill!«, platzte sie mit stolz geschwellter Brust und piepsiger Stimme heraus.

»Hey, das ist toll! Was ist es denn?«

»Rate doch mal.«

»Kannst du den Wind beeinflussen? Das Feuer? Eis?«

Sie schüttelte gespannt mit dem Kopf, und ich gab mich extra ratlos, obwohl ich mir denken konnte, was es war.

»Ich beherrsche die Telekinese! Wie Alissa! Ist das nicht großartig? Ich kann einfach so Dinge in der Luft schweben lassen! Obwohl ich viel lieber alles gleichzeitig können würde, so wie du.«

Ich wuschelte ihr mit der Hand durch die Haare und freute mich mit ihr. Dass ich alle Magie-Spezialgebiete nur deshalb beherrschte, weil ich von einem Dämon abstammte, behielt ich für mich.

Jetzt, wo Lara ihre Neuigkeiten losgeworden war, sprang sie auf und eilte aus dem Zimmer, um sich im Haus umzuschauen. Alissa verdrehte die Augen. »Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass es wahrscheinlich der Wind war, der die Feder zum Schweben gebracht hat. Vielleicht irre ich mich ja, und sie hat tatsächlich dazu beigetragen.«

Ich nickte verständnisvoll. »Ja, sie wäre ziemlich früh dran. Normalerweise hätte sie noch ein paar Jahre Zeit, bis sich ihre Magie entfaltet. Und jetzt erzähl, was hast du die letzten Wochen getrieben?«

Während ich mir ein schwarzes Sommerkleid anzog, plapperte Alissa ohne Punkt und Komma von ihrer Familie und der Arbeit, die momentan auf der kleinen Farm anfiel. Ich wusste, dass ich sie nicht unterbrechen brauchte. Alissa redete die meiste Zeit wie ein Wasserfall und hatte eine ansteckende quirlige Art, die ich an ihr liebte.

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg nach unten und betraten die Küche. Mir fielen die Augen fast aus dem Kopf, als ich mich umblickte. Unser so schon mit allerlei Kräutern und Schnickschnack vollgestopftes Haus war bis in die kleinste Ecke geschmückt. Zwischen Tanta Amalias Glücksbringern und der selbst hergestellten Dekoration hingen nun farbenfrohe Luftballons. Um die antiken Möbel schlängelten sich einige Girlanden, und generell sah die Küche aus, als wäre eine glitzernde Farbbombe explodiert.

»Für wie alt hält sie dich? Zehn?«, flüsterte mir Alissa zu und sprach damit meine eigenen Gedanken aus.

Ich erblickte Tante Amalia hinter dem Tresen, wo sie Alissas Mutter gerade einen Kaffee reichte.

»Wow, Tante Am! Wann hast du das denn alles gemacht?« Ich fand es zwar kitschig, aber trotzdem toll. Sie hatte sich große Mühe gegeben, und ich wusste es zu schätzen.

»Glaubst du, dein Wecker hat sich auf unerklärliche Weise von alleine ausgestellt?« Amalia Bailey kam lächelnd hinter dem Tresen hervor und hüllte mich in eine Wolke aus Lavendel, als sie mich umarmte. Obwohl ich sie zeitweise als etwas verrückt bezeichnete, konnte ich mir keinen besseren Ersatz für meine verstorbenen Eltern vorstellen, und ich dankte dem Schicksal für diese liebenswerte Frau. Mit ihren kurzen roten Haaren sah sie meiner Mutter Silva zum Verwechseln ähnlich, auch wenn sie schon auf die fünfzig zuging.

Gemeinsam ließen wir uns an dem ausladend gedeckten Frühstückstisch nieder, und ich schaufelte Rührei, Speck und Pfannkuchen auf meinen Teller. Da es schon so spät war, ließen wir das Mittagessen ausfallen und dehnten das Frühstück noch etwas aus.

Gegen Nachmittag erschien eine weitere wichtige Person aus meinem Leben. Derek, mit seinem festen Freund Don im Schlepptau, umarmte mich herzlich. Ich musste etwas darüber schmunzeln, dass die beiden ihre Klamotten aufeinander abgestimmt hatten. Dereks lila Halstuch sah nicht nur gut zu seinen blonden Haaren und dem schwarzen T-Shirt aus, sondern passte farblich auch perfekt zu Dons Pullover.

»Derek, wo ist denn deine Brille?«, fragte ich erstaunt. »Ich dachte, ohne wärst du blind wie ein Maulwurf!«

»Ich hab ein bisschen geübt und kann nun meine Sehstärke beeinflussen«, sagte er stolz, »aber nach ein paar Stunden wird es zu anstrengend.«

Alissa seufzte sehnsuchtsvoll. Derek beherrschte die Biokinese und konnte somit Einfluss auf biologische Systeme nehmen. Ally hätte alles dafür gegeben, ihr Aussehen täglich ändern zu können.

Don zwinkerte mir unter der braunen Rockabillyfrisur zu und drückte mich ebenfalls.

Wir gingen in den Garten, um den Pavillon aufzustellen, während Tante Am und Allys Mum Miranda das Abendessen vorbereiteten. Dummerweise war Lara dafür zuständig, die Aufbauanleitung zu lesen, und es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie kleinlaut zugab, die ersten Schritte überlesen zu haben, und wir uns nicht weiter zu wundern brauchten, warum das Gerüst ständig in sich zusammenfiel. Ich setzte mich zu dem kleinen Mädchen und half ihr.

»Jill, wo ist dein Romeo eigentlich?«, rief Alissa schnaufend unter dem Gewicht der langen Stange, die sie hielt.

»Er kommt heute Abend«, antwortete ich, und erneut machte sich Aufregung in meiner Magengegend breit. Mit jedem Tag schien das Verliebtheitsgefühl zuzunehmen. Erst jetzt konnte ich nachvollziehen, warum so viele von der Wolke Sieben schwärmten. Prüfend sah ich in die entfernten Baumkronen des Parks. In den letzten Tagen hatte ich mir öfter eingebildet, seine Anwesenheit zu spüren. Bei jedem Schatten oder Vogel, den ich aus den Augenwinkeln in den Wipfeln entdeckte, schnellte mein Kopf auf der Suche nach Ryan nach oben.

Als das Gerüst endlich stand, waren wir alle ziemlich geschafft. Alissa und ich entschieden uns dafür, die Plane des Pavillons mit Hilfe der Telekinese über die nackten Stangen zu legen.

Auf ihr Zeichen hin schloss ich die Augen und sah auf Anhieb die Energiequelle vor meinem inneren Auge. Diese Energie, die Prana, wirbelte in leuchtend blauen flüssigen Fäden durch meinen Körper und bildete ein heilloses Durcheinander. Ich konzentrierte mich darauf, die Pranastränge zu einem einzigen Ball zusammenfließen zu lassen. Während vor meinem inneren Auge eine leuchtende Kugel erschien, breitete sich ein warmes Gefühl in meiner Brust aus. Als eine von wenigen Hexen hätte ich diese Energie, die sich fast wie Strom anfühlte, auf direktem Wege nutzen können. Sei es, um ein tödliches Geschoss zu formen oder nur einen kitzelnden Pranablitz aus meiner Hand fließen zu lassen.

Doch was ich jetzt tat, unterschied sich in keinster Weise von Alissas Fähigkeiten. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, die schwere Plane vor uns in der Luft schweben zu lassen. Statt direkt zu meiner Pranaquelle zu greifen, zapfte ich diese nur an und ließ einen kleinen Teil in meine Gedanken fließen, um diese zu verstärken. Ich verglich die Quelle meist mit einer Steckdose, in die ich den Gedankenstecker klemmte. Das alles passierte in dem Bruchteil einer Sekunde, und langsam hob sich die Plastikplane vom Boden ab und schwebte über das Gestell, wo wir sie behutsam absinken ließen.

»Jillian Benett!« Tante Amalias Stimme hallte durch das geöffnete Küchenfenster zu uns herüber. Sie war selten streng, aber was die Nutzung von Magie inmitten eines nichtmagischen Ortes anging, verstand sie keinen Spaß. Ich würde mich auf einen Vortrag vorbereiten müssen, sobald meine Freunde morgen wieder nach Hause gefahren waren.

»Ups«, murmelte ich mit einem schuldbewussten Grinsen und winkte in Richtung Haus zum Zeichen, dass ich sie verstanden hatte. Ich hielt es für übertrieben. Auch wenn wir von nichtsahnenden normalsterblichen Nachbarn umgeben waren, schützten der hohe, efeubewachsene Zaun und die Mauer doch vor so gut wie allen neugierigen Blicken. Wir hängten mit schlechtem Gewissen die bunten Lampen und Girlanden auf, befestigten Fackeln im Boden und stellten die Getränke auf den Tisch. Als endlich die Dekoration des Pavillons befestigt war, ließen wir uns zufrieden ins Gras fallen, um die Sonne zu genießen.

»Es ist traumhaft hier«, murmelte Alissa.

»Wie in einem Märchen«, stimmte Derek zu und strich über eine Reihe von Blumen. Ich schloss die Augen, lächelte zufrieden und träumte von Ryan und unserem leidenschaftlichen Kuss vor einer Woche.

Den Rest des Nachmittags ließen wir es uns gut gehen und spazierten durch Langfield. Es gab in dieser versnobten Kleinstadt nicht viel zu sehen, doch meine Freunde waren ehrlich daran interessiert, wo ich aufgewachsen war, wo meine alte Highschool stand und wie die Bibliothek aussah, in der ich die Hälfte meiner Lebenszeit verbracht hatte. Selbst der überfüllte See im Park, den ich bei Sonnenschein lieber mied, um den Nachbarn aus dem Weg zu gehen, wirkte mit meiner Begleitung bedeutend freundlicher.

Gegen Abend fanden wir uns unter dem Pavillon ein und genossen die Spezialitäten, die Tante Am und Alissas Mum gezaubert hatten. Während meine Tante gerne exotisches Essen ausprobierte, war die füllige Miranda für ihre deftige Hausmannskost berühmt. Es war kaum vorstellbar, dass Ally und Lara beide nur von zarter Statur waren. Ich grub mich durch die Berge an Salaten, allerlei Spießvariationen und Aufläufen. Alissa lachte laut auf, als ich meine Zähne so herzhaft in den Käsekuchen schlug, dass ich mir auf die Zunge biss. Mit tränenden Augen versuchte ich, den Kuchen unter dem metallischen Geschmack des Blutes wenigstens ein bisschen zu genießen. Ich fühlte mich, als stünde ich kurz vor dem Platzen.

Tante Am öffnete gerade eine Flasche Wein, als ich ein Motorrad vor dem Tor halten hörte. Sofort spürte ich die Röte in mein Gesicht steigen und glitt fahrig mit den Händen durch die Haare. Das musste Ryan sein.

Als er um die Ecke kam, stockte mir der Atem. Seine Motorradjacke passte perfekt zu dem Bad-Boy-Aussehen, und der Helm hatte die dunklen Locken noch einmal verwuschelt. Sein muskulöser Körper bewegte sich mit einer Eleganz, von der ich Trampel nur träumen konnte. Er setzte ein schiefes Grinsen auf, als er mich entdeckte, und ich erinnerte mich gerade noch so daran, wie man Luft holte. Dann begrüßte er Tante Amalia und Allisas Mum höflich, bevor er meinen Freunden die Hand reichte und mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.

Ryan setzte sich zu mir und drückte meine Hand unter dem Tisch, bevor er sich Don und Derek zuwandte, die ihn mit Fragen über sein Motorrad löcherten. Schon war ich vergessen. Ich rollte mit den Augen. Männer! Doch als ich ihn von der Seite beobachtete, freute ich mich einmal mehr, dass er von meiner Familie und den Freunden sofort akzeptiert wurde.

Viele der Hexen und Mondkinder hatten Vorurteile, was die Verhaltensweisen der Vampire anging. Zum einen fanden es die meisten gruselig, dass sie neben herkömmlichem Essen auch Blut zu sich nahmen, um den fehlenden Wirkstoff in ihrem eigenen Blut zu ersetzen. Zum anderen lebten Vampire eher zurückgezogen und waren generell eher düstere Persönlichkeiten. Ich wusste, dass Ryan zwar seine Schnelligkeit und Stärke, das gute Gehör und den Geruchssinn mochte, sich aber für seinen Blutdurst verabscheute.

Der Vampir fing meinen Blick auf und wusste sofort, woran ich gedacht hatte. »Ein einziger Vampir allein unter einer Meute Hexen«, flüsterte er. »Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.« Sein neckischer Blick verriet allerdings, dass es ihm nicht einmal im Ansatz etwas ausmachte.

»Was soll ich denn da sagen?«, murmelte ich. »Ich bin der einzige Dämon auf dieser verflixten Erde.«

Er zog mich an sich. »Ja, und du gehörst mir!«, erwiderte er stolz.

Ich schnaubte und griff nach ein paar Salzstangen, um meine Röte im Gesicht zu verbergen.

Wir unterhielten uns ausgelassen, und ich genoss das Zusammensein mit meinen Liebsten. Gegen Mitternacht verabschiedete sich Tanta Amalia, um uns Kinder, wie sie es nannte, noch in Ruhe feiern zu lassen. Miranda nutzte die Gelegenheit, um Lara ins Bett zu bringen und sich ebenfalls zurückzuziehen.

Kaum waren sie um die Ecke gebogen, fuhr Alissa auch schon Ryan an: »Also, wie lange hast du schon nichts getrunken?«

Etwas erschrocken blickte ich zwischen den beiden hin und her. Alissa konnte Ryan gut leiden, und es war nicht ihre Art, jemanden so schroff zu behandeln.

»Was ist los?«, fragte ich verwirrt. Ryan seufzte und murmelte genervt etwas davon, dass dem »Zwerg« auch nichts entging.

»Dein Freund sieht aus, als hätte er schon mindestens eine Woche kein Blut mehr getrunken. Ehrlich, Jill, bist du so blind?«

Jetzt, wo sie es sagte, fielen mir plötzlich die dunklen Schatten unter Ryans Augen auf. Auch der sonst schon so schmale eisblaue Ring um seine Pupille war vollständig verschwunden.

»Ich habe es nicht geschafft, okay? Es stehen nun mal nicht überall Kühlschränke mit Blutkonserven herum. Und schon gar nicht in einer Kleinstadt mit fast ausschließlich Normalsterblichen.«

Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich verstanden hatte, von was er redete. »Was soll das heißen? Warst du die ganze Woche hier? Ich dachte, wir hätten uns über Privatsphäre unterhalten!«, meinte ich zerknirscht.

»Du wirst beobachtet«, stoppte Ryan mein Gezeter, und am Tisch wurde es ruhig. »Und das nicht nur von mir.«

Ich blickte ihn mit offenem Mund an. »Wieso hast du das nicht gleich gesagt?«

Er warf die Hände in die Luft. »Weil ich warten wollte, bis wir unter uns sind. Ich wollte nicht zum Gartentor deiner Tante hereinspazieren mit den Worten ›Hey, vielen Dank für die Einladung. Übrigens hänge ich schon die ganze Woche in eurer Umgebung rum und beschütze euch vor keine Ahnung was.‹ Zumal ich mir nicht einmal sicher bin.«

Er ließ frustriert den Kopf in die Hände sinken, und nun war die Müdigkeit kaum zu übersehen.

»Was meinst du damit, du weißt es nicht?«, fragte Derek ruhig. Unser »Professor« sammelte wie üblich schon alle Fakten, um sie später zu analysieren.

Ryan suchte die passenden Worte. »Ich weiß es wirklich nicht. Als Jill sagte, dass sie sich beobachtet gefühlt hat, habe ich beschlossen, noch eine Nacht in der Nähe zu bleiben. Es ist ein eigenartiges Gefühl. Ich höre, sehe und rieche niemanden, aber ich kann ab und zu spüren, dass da etwas ist. Vielleicht verliere ich aber auch den Verstand ... Also bin ich geblieben und habe die Sache weiter beobachtet.«

Ich runzelte bei seinen Worten die Stirn. Wir mussten uns dringend unterhalten. Ich könnte ohne mit der Wimper zu zucken die halbe Straße in Schutt und Asche legen, und er beschützte mich vor ... dem unsichtbaren Nichts? Es war mir unangenehm zu wissen, dass er die Nächte draußen verbracht hatte, wo er doch zumindest im Gästezimmer hätte schlafen können. Andererseits waren Vampire Geschöpfe der Nacht, und er hatte es wahrscheinlich genossen.

Ally, Don und Derek glaubten Ryan sofort und fingen schon an, wild zu spekulieren.

»Vielleicht ist es ein Geist«, mutmaßte Don nachdenklich.

»Hier ist kein Geist«, sagte Alissa leise, aber bestimmt, »das hätte ich ...«

Sie verstummte. Ich warf ihr einen neugierigen Blick zu, und sie bedeutete mir mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln, dass es der falsche Ort und die falsche Zeit waren, um darüber zu reden. Die anderen hatten nichts bemerkt. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Ryan nicht der Einzige war, der Geheimnisse hatte. Ich wusste allerdings, dass Alissa zu mir kommen würde, wenn sie es für richtig hielt.

»Nun, Leviathan können wir wahrscheinlich ausschließen. Er kann die Unterwelt nicht verlassen, und da Mrs. Grant immer noch in der Klapse sitzt ...«, warf Derek ein.

Ich schluckte. Der Dämonenfürst war nicht gerade gut auf mich zu sprechen, nachdem ich seine Rückkehr in unsere Welt vereitelt hatte. Aber Derek hatte recht, für ihn gab es keinen Weg zu uns. Genauso wenig wie für meinen unbekannten Dämonenvater.

»Könnte es ein Maira sein?«, fragte Don.

»Das hätten wir bemerkt«, sagten Ryan und ich wie aus einem Mund. Ich lächelte ihn schüchtern an. Wir hatten schon gegen einige der Halbdämonen gekämpft und spürten ihre Anwesenheit schon im Schlaf.

Ratlos warf ich die Hände in die Luft. »Können wir bitte damit aufhören, bevor ich noch anfange, unter Verfolgungswahn zu leiden? Wer weiß, vielleicht ist es gar nichts, und wir machen uns umsonst verrückt. Und falls doch, werden wir es früher oder später schon herausfinden, auf welche Art und Weise auch immer.«

Bis auf Ryan murmelten alle ihre Zustimmung. Der Vampir sah mich besorgt an, schwieg aber. Ich wollte nicht weiter über unsichtbare Dinge spekulieren und endlich das normale Leben führen, das mir seit einem Jahr vergönnt war. Konnte denn nicht einmal alles perfekt sein?

Wir wechselten das Thema und ließen uns noch eine Weile über die Schule und einige Mitschüler aus, bevor Don und Derek sich auf den Weg zum nahegelegenen Hotel machten. Alissa teilte sich das Gästezimmer mit ihrer kleinen Schwester und ließ mich und Ryan diskret im Garten zurück, damit wir uns verabschieden konnten.

Er nahm meine Hand, und wir schlenderten über die schmalen Kieswege. Die Luft war schwül, und in der Ferne hörte man das Grollen eines Sommergewitters.

»Wenn du eh schon hier bist ...«, stotterte ich etwas verlegen, »ich meine, du musst ja nicht unbedingt den ganzen Weg heute Nacht noch zurückfahren.«

Er lächelte und zog mich an sich. »So gern ich bleiben würde, Alissa hat recht. Ich muss trinken und auch mal richtig schlafen. Da du ja nun von fünfeinhalb Hexen umgeben bist, schätze ich, dass dir diese Nacht nichts weiter passieren wird.«

»Ryan, du musst nicht auf mich aufpassen. Ich bin nicht wehrlos, weißt du?«

Er strich sanft eine Strähne aus meinem Gesicht. »Ja, ich weiß. Aber du bist manchmal zu gutgläubig. Und außerdem wollen Männer nicht hören, dass ihr Frauen keinen Beschützer braucht«, gab er mit einem gequälten Gesichtsausdruck zu. Ich lachte und boxte ihn leicht in die Seite.

Er führte mich zum Gartentor, nicht nur, weil sein Motorrad dort stand, sondern auch, weil es die dunkelste und ungestörteste Ecke des Gartens war. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das alte Holz, als er sich zu mir hinabbeugte und in seinen vampirischen Duft hüllte. Mein Herz begann zu rasen und ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich zu küssen. Erst strich er ganz zart mit dem Mund über meine Wange, küsste meine Mundwinkel und jagte mir Schauer von Gänsehaut über den Körper. Ein Brennen in meiner Brust ließ mich seine Hände umklammern und gab mir das Gefühl, ihn auf ewig festhalten zu wollen.

Endlich trafen seine Lippen auf meine. Sie bewegten sich langsam, erfüllten mich mit Liebe, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. Sein Kuss wurde leidenschaftlicher und brachte meine Gedanken dazu, sich in die hinterste Ecke meines Kopfes zu verziehen, um Platz für diesen einen Namen zu machen. Ryan. Er wurde fordernder und ich schnappte erregt nach Luft, als das vertraute Kribbeln Besitz von mir ergriff.

Ryan wollte sich zurückziehen, doch ich ließ ihn nicht. Das Gefühl der Verbundenheit war zu schön, als dass ich es jetzt schon aufgeben wollte. Den ganzen Abend hatte ich auf seine Küsse verzichten müssen und ich verabscheute das Gefühl der Leere, das zurückblieb, wenn er sich von mir abwandte, um sich wieder zu sammeln. Ich zog ihn enger zu mir. Unsere Körper berührten sich an jedem möglichen Zentimeter, sein Duft nach Honig umhüllte mich. Nach einem Moment des Zögerns gab er nach und vergrub die Hände in meinen Haaren. Wie immer sackten mir beinahe die Knie weg und ich schlang die Arme um seinen Hals, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Um uns herum war es still. Wir waren eins in der Dunkelheit. Ich öffnete meine Lippen, um das vertraute Spiel mit unseren Zungen zu eröffnen, als er erstarrte.

Schlagartig wurde ich zurück in die Realität katapultiert. Sein ganzer Körper wurde steif und er grub die Hände in meine Oberarme. Ich spürte, wie er die Luft anhielt und begegnete seinem panischen Blick. Doch nicht nur Entsetzen spiegelte sich in seinen dunklen Augen wieder, ich konnte auch Hunger erkennen.

»Du schmeckst nach Blut«, presste er unter äußerster Willenskraft hervor.

Kälte packte mein Herz und ließ es für einen Moment aussetzen, als ich die Konsequenzen meiner Dummheit erkannte. Ich hatte mir beim Essen auf die Zunge gebissen, bevor er kam. Und nun stand ich einem ausgehungerten Vampir gegenüber, der gerade eine Kostprobe von meinem Blut bekommen hatte. Dämlich wie ich war hatte ich nur an mich gedacht und ihm seinen Freiraum genommen. Ich hätte ihn sich zurückziehen lassen sollen, als er es für richtig hielt. Sein Griff wurde stärker und schmerzte an den Stellen, wo seine Finger sich in meine Arme bohrten.

»Ryan, lass los«, flüsterte ich heiser.

Als er mir antwortete, war ein Hauch von Kälte in seiner Stimme zu hören. Der Hunger hatte überhandgenommen.

»Ich kann nicht.«