Für meine Silvia
Vorwort
Dies ist kein normales Buch.
Ein normales Buch liest man, findet es spannend, lustig oder langweilig und legt es dann beiseite.
Dies ist ein gefährliches Buch. Wenn man nicht aufpasst, kann es einem den Verstand rauben!
Ich habe diese Geschichte nicht geschrieben. Ich habe sie gefunden. Im Keller eines Hauses, neben der Leiche eines toten Schriftstellers, lagerten sie: Tausende eng bedruckter Schreibmaschinenseiten, die mich magisch anzogen!
Während ich diese Geschichten las, wurde ich von Albträumen und Visionen heimgesucht, die so echt wirkten, dass ich fast vor Angst gestorben wäre.
Wie unter einem inneren Zwang habe ich sie nach und nach bearbeitet. Eine böse Macht drängt mich, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren, auch wenn ich weiß, dass sie Verderben über die Menschen bringen werden.
In der Hoffnung, ihren dämonischen Einfluss zu brechen oder zumindest zu mildern, habe ich die Geschichten leicht verändert. Die Orte und einige Namen habe ich geschwärzt, damit niemand auf die Idee kommt, nach den ursprünglichen Texten zu suchen.
Lies sie auf eigene Gefahr! Und wenn du nachts schweißgebadet aus dunklen Träumen hochschreckst, dann bedank dich nicht bei mir, sondern beim Verfasser selbst:
dem geheimnisvollen Marc Glick-Pitney.
Du bist gewarnt!
Patrick McGinley,
Herausgeber
1
An dem Tag, als Marc Glick-Pitney nach zog und mein Leben sich für immer verändern sollte, langweilten wir uns zu Tode.
Das war nichts Ungewöhnliches. ist ein verträumter Vorort von , dessen brodelndes gesellschaftliches Zentrum die Kasse des örtlichen Supermarkts bildet, an der der neueste Tratsch ausgetauscht wird. Das Unterhaltungsangebot besteht aus zwei Kinderspielplätzen und einem Bolzplatz. Und die nächstgelegene S-Bahnstation ist genau so weit weg, dass der Weg zu Fuß zu lange dauert, es sich aber nicht lohnt, mit dem Fahrrad zu fahren.
Kurz, ist so aufregend wie ein Kindergeburtstag und so abwechslungsreich wie Raufasertapete.
Wir lungerten auf einem der beiden Spielplätze herum, als die Laster kamen.
Es war schon einige Zeit her, dass wir uns, mit Eimern und Schaufeln bewaffnet, genau hier kennengelernt hatten. Wir waren Freunde, seit wir laufen konnten. Julian war der Älteste, ich hatte kurz nach ihm Geburtstag und Fred hinkte zwei Monate hinterher. Obwohl wir mittlerweile alle unseren fünfzehnten gefeiert hatten, behandelten wir Fred immer noch als den »Kleinen«.
Ich saß auf der Schaukel. Fred klammerte sich an dem Mini-Karussell fest, während Julian ihn im Kreis drehte, bis er hinausgeschleudert wurde.
»Tom, du bist dran!«, rief Fred mir zu, während er sich den Sand aus der Kleidung klopfte. Ich winkte ab. Fred zuckte mit den Schultern und begann, das Karussell anzuschieben, an dem Julian sich nun festhielt.
Ich sah den beiden eine Weile zu. Das rostige Quietschen, das das rotierende Metallgerüst herausschrie, wurde von den umstehenden Häusern zurückgeworfen. Es klang, als würde jemand ein kleines Tier quälen.
Ich ließ meinen Blick über die Fassaden schweifen, bis ich etwas Merkwürdiges über den Dächern der Häuser entdeckte. »Was ist das da?«, fragte ich und deutete zum Himmel.
Julian und Fred sahen nach oben, wobei Julian das Gleichgewicht verlor und in hohem Bogen in den Sand flog. Er stand fluchend auf und hielt sich den Schädel, doch Fred und ich beachteten ihn nicht: Über den Dächern wuchsen drei dicke schwarze Rauchsäulen in den Himmel.
»Brennt es da?«, fragte Julian, der jetzt auch hinaufblickte.
»Der Rauch kommt näher«, bemerkte Fred.
Und tatsächlich. Die drei Rauchsäulen näherten sich dem Spielplatz.
Wir sprangen auf und liefen zur Straße. Zuerst war ein dumpfes Knattern zu hören, dann begann die Erde, leicht zu vibrieren. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm rauschten schließlich drei monströse Laster um die Ecke und fuhren an uns vorbei.
Es waren keine eckigen, modernen Lkw – die Laster waren rund und klobig und wirkten wie große mechanische Käfer, die ein verrückter Wissenschaftler entworfen hatte. Dicke Auspuffrohre aus Chrom schlängelten sich um die Fahrerhäuschen und husteten den schwarzen Rauch in die Luft. Ihre Motoren gaben ein tiefes blubberndes Röhren von sich, das die gesamte Straße erbeben ließ.
»Wo wollen die hin?«, schrie Fred, um den Krach zu übertönen. »Haben die sich verfahren?«
Wir beschlossen, es herauszufinden, und schwangen uns auf unsere Fahrräder. Die Laster waren inzwischen schon weitergefahren, wir konnten sie jedoch ganz leicht anhand ihrer Auspuffgase verfolgen, die wie Rauchzeichen in den Himmel stiegen. Sie fuhren auf den Waldrand zu und wir radelten hinterher.
Als wir in die Straße einbogen, die am Wald entlangführte, sahen wir, dass die Laster vor der alten Villa gehalten hatten. Seit ich denken konnte, hatte der Kasten leer gestanden. Wir stellten unsere Räder ab und sahen zu, wie je zwei Männer aus den Führerhäuschen ausstiegen. Die großen muskelbepackten Typen sahen recht finster aus. Sie beratschlagten sich in einer Sprache, die mir unbekannt war, dann gingen drei von ihnen zu den Rückseiten der Laster. Fast zeitgleich betätigten sie lange Hebel und mit lauten Zischgeräuschen fuhren die Ladeklappen runter. Einer der Fahrer öffnete das Gartentor und schloss die Vordertür der Villa mit einem Schlüssel auf, der an einem dicken Ring baumelte.
Das Haus war windschief und etwas verwahrlost. Niemand wusste genau, wem es gehörte oder warum es noch nicht abgerissen worden war. Mit seinem hohen Erker, seinem buckligen Dachfirst und den rostigen Beschlägen an Türen und Fenstern passte die monströse Villa überhaupt nicht in den kleinen Ort, der hauptsächlich aus modernen Einfamilienhäusern und Neubauwohnungen bestand.
Die Pflanzen im Vorgarten wuchsen im Sommer zu einem wilden Gestrüpp aus Unkraut und Efeu heran und unter dem Dach nisteten Schwalben. Der Zaun, der das Grundstück begrenzte, bestand aus rostigen Eisenstäben, die mit scharfen Zacken gespickt waren.
Die Männer kletterten auf die Ladeflächen und trugen nach und nach allerlei Gegenstände ins Haus, die mit großen Leinentüchern verhüllt waren. Seltsame Umrisse zeichneten sich darunter ab – einige waren als Möbel zu erkennen, doch andere sahen total merkwürdig aus.
»Was ist das für ein Krempel?«, fragte Julian.
»Und wer zieht freiwillig in diese Bruchbude ein?«, ergänzte Fred.
»Das würde ich allerdings auch gerne wissen.«
Die letzte Stimme gehörte Frau Bloch, die sich unbemerkt zu uns gesellt hatte. Frau Bloch war Ende vierzig, Witwe und gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne alles über jeden gewusst hätte. Bei uns genoss sie nicht gerade hohes Ansehen, da sie jeden von uns schon mindestens einmal wegen irgendwas bei unseren Eltern verpfiffen hatte.
»Sie werden es bestimmt herausfinden«, bemerkte ich trocken. Aber da war sie schon verschwunden.
Beschwingt und mit ihrem freundlichsten Lächeln lief sie auf einen der Fahrer zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Bloch mein Name. Darf man fragen, wer hier einzieht?«
Sie erntete nur ein Grunzen und ein Schulterzucken, ließ sich jedoch nicht so schnell abwimmeln. Ungeniert lüpfte sie eines der Leinentücher und sah sich den Gegenstand darunter an.
»Das sind aber interessante Möbel. Ist das Jugendstil? Alles Massivholz, nicht wahr?«
Auf eine Antwort wartete sie auch diesmal vergebens. Und schon bald waren die Laster leer. Die Männer schlossen die Heckklappen und stiegen ohne ein weiteres Wort in die Fahrerhäuschen ein. Knatternd wurden die Motoren angelassen und die Auspuffrohre spuckten wieder Rauch. Dann bogen die seltsamen Ungetüme um die Ecke und waren verschwunden.
Frau Bloch stand am Zaun und starrte neugierig in die großen Fenster der Villa, als versuche sie, einen Blick auf den neuen Besitzer zu erhaschen.
»Die Show ist vorbei«, sagte ich. »Lasst uns gehen.«
2
Niemand, nicht einmal Frau Bloch, konnte genau sagen, wann der neue Besitzer eingezogen war, doch eines Nachts brannte Licht in der Villa.
Fred und ich hatten den ganzen Tag bei Julian verbracht und wir radelten gerade nach Hause, als wir es bemerkten.
»Lass uns mal schauen, ob wir den Besitzer beobachten können«, schlug ich vor.
»Meinst du, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Fred. Der ängstliche Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ach, komm schon – du willst doch auch wissen, wer hier jetzt wohnt! Vielleicht haben sie ja eine hübsche Tochter«, sagte ich.
Wir stellten unsere Räder etwas abseits an einen Zaun und gingen zum Gartentor. Das erleuchtete Fenster lag im ersten Stock. Die Vorhänge waren zugezogen, nur ein Spalt gab den Blick auf das Zimmer dahinter frei. Von unten konnte man allerdings nichts erkennen.
»Ich seh mir das mal näher an«, beschloss ich und kletterte über den Zaun.
»Bist du wahnsinnig?«, zischte Fred. »Was, wenn dich jemand sieht?«
Ich ignorierte ihn – zugegeben, manchmal geht es mit mir durch. Aber ich war schon immer viel abenteuerlustiger als Fred und Julian. Neben dem Haus stand ein Apfelbaum, dessen dicke Äste bis zum Dach hinaufreichten. Ich schwang mich nach oben und kletterte in die Krone. Jetzt befand ich mich auf der Höhe des Fensters. Doch durch den Spalt in der Gardine konnte ich trotzdem nur einen kleinen Teil des Zimmers sehen. Ein Schatten lief dort auf und ab.
Es half nichts – ich musste näher ran.
Vorsichtig robbte ich auf einem der Äste vorwärts und streckte mich, bis ich mit der Stirn fast an die Fensterscheibe knallte. Endlich konnte ich ins Innere spähen. Der Raum hinter den Vorhängen war völlig kahl. Ein einziges Bild hing an der Wand: das gerahmte Gemälde einer Blumenvase.
Ein hagerer blasser Mann ging nervös immer wieder von einer Seite zur anderen und murmelte dabei etwas vor sich hin. Er schien mit sich selbst zu diskutieren oder in Gedanken einen Brief zu schreiben, denn immer wieder schüttelte er den Kopf und gestikulierte wild mit den Händen, als würde er Satzzeichen in die Luft malen.
Ich versuchte zu hören, was er sagte, und schob mich noch ein winziges Stück näher. Dabei umklammerte ich den Ast so fest, dass er unter meinem Gewicht leicht knarrte und gegen die Scheibe stieß.
Der Mann blieb unvermittelt stehen.
Mein Herzschlag setzte aus. Er drehte sich um und trat ans Fenster!
Vor Schreck verlor ich den Halt und rutschte ab. Ich versuchte noch, mich irgendwo festzukrallen, doch ich riss mir nur die Handflächen an der Rinde auf. Hart schlug ich mit dem Rücken auf einer dicken Wurzel auf.
Sofort rappelte ich mich auf und lief so schnell es ging zum Zaun, sprang mit einem gewagten Satz auf die andere Seite und riss mir dabei das T-Shirt an einem der Zacken auf. Fred, der die Szene ängstlich beobachtet hatte, war bereits auf sein Rad gestiegen und losgefahren. Ich schwang mich ebenfalls in den Sattel und trat wie ein Irrer in die Pedale. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich wagte es nicht, zurückzublicken, und zitterte am ganzen Körper.
Erst als ich später im Bett lag und über den Vorfall nachdachte, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Als der Mann mich durch den Vorhang angesehen hatte, war er nicht wütend gewesen. Er hatte vielmehr so ausgesehen, als hätte er Angst – als hätte ich ihn zu Tode erschreckt.
3
Einige Wochen später hatte ich den Vorfall schon beinahe wieder vergessen. Die Sommerferien waren vorbei und wir hatten den ersten Schultag hinter uns gebracht. Fred und ich hatten uns bei Julian getroffen, um Ferienerlebnisse auszutauschen und über die neuen Lehrer zu lästern.
Der Geschmack der Freiheit wich allmählich der Erkenntnis, dass wir die nächsten Monate wieder mit Lernen, Hausaufgaben und Büffeln zubringen würden. Aber wenigstens den Rest des Tages konnten wir noch genießen, bevor der Schulirrsinn anfing.
Also beschlossen wir, noch ein bisschen unbeschwert durch die Straßen von zu ziehen. Wir fuhren von Julians Wohnung aus in Richtung Wald. Die Sonne brannte auf den Asphalt und ließ die Luft über der Fahrbahn flimmern. Die Straßen waren nahezu ausgestorben. Jedoch nicht ganz.
Sofort erkannte ich den hageren Mann, der uns auf dem Bürgersteig entgegenkam. Es war der neue Villenbesitzer. Er sah mich an, als wäre kein Tag vergangen, seit ich in seinem Apfelbaum herumgeklettert war – genauso geschockt und ängstlich. Ich tat so, als würde ich ihn nicht bemerken, und radelte weiter. Aber meine Neugier war geweckt – was war das nur für ein komischer Kauz?
In Freds Kopf schien Ähnliches vorzugehen. »Habt ihr gesehen, wer das war?«, fragte er.
»Wer?«, wollte Julian wissen.
»Der Typ aus der Villa«, sagte ich.
»Wollen wir sie uns nicht noch mal ansehen, jetzt, wo er weg ist?«, schlug Fred vor. »Bin gespannt, ob er sich schon häuslich eingerichtet hat.«
Wir fackelten nicht lange und bogen gleich darauf in die Straße am Waldrand ein. Als wir uns der Villa näherten, fuhr gerade ein gelber Lieferwagen weg.
»Schaut mal, da steht eine Kiste vor der Tür«, sagte Julian, der die Villa zuerst erreicht hatte.
Und tatsächlich: Auf den Stufen vor dem Eingang stand eine Holzkiste aus groben Brettern, die mit dicken Nägeln zusammengehalten wurde.
»Was da wohl drin ist?«, fragte Fred.
»Lasst uns nachsehen«, schlug ich vor.
Die beiden drehten sich entgeistert zu mir um.
»Spinnst du? Was machen wir, wenn er auf einmal zurückkommt?«, sagte Fred.
»Ach was, der kommt schon nicht so schnell. Fred, du hältst nach ihm Ausschau! Julian, gib mir mal dein Taschenmesser!«
Julian und ich sprangen über den Zaun, während Fred sich ängstlich umsah. Wir gingen neben der Kiste in die Hocke. »Der Empfänger heißt Marc Glick-Pitney«, las Julian vor. »Merkwürdiger Name.«
»Passt zu dem Typen. – Die Lieferung kommt aus Arkham, Massachusetts«, entdeckte ich. »Komm, wir schauen rein!«
Ich zog die größte Klinge aus dem Griff des Messers und schob sie in den Spalt zwischen Deckel und Oberkante. Dann hebelte ich vorsichtig den ersten Nagel aus dem Holz.
»Wie sieht’s aus, Fred?«, rief Julian.
Fred zuckte nur mit den Schultern. Was wir da machten, passte ihm offensichtlich nicht, aber wenn jemand kam, würde er uns trotzdem warnen. Da war ich mir sicher.
Ich zog den zweiten und dann den dritten Nagel heraus, sodass wir den Deckel ein kleines Stück anheben konnten. »Wirf doch mal einen Blick rein«, forderte ich Julian auf, während ich den Deckel hochhielt.
Er lugte durch den Spalt. »Da ist irgendwas aus Metall drin.«
»Lass mich auch mal sehen«, bat ich, überließ Julian den Deckel und blickte nun meinerseits durch die Ritze. Tatsächlich, in der Kiste stand etwas Großes, Glänzendes mit vielen Metallstreben. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Insekt.
»Ich glaub, ich weiß, was das ist«, sagte ich.
Im selben Moment rief Fred: »Er kommt!«
Vor Schreck fuhr Julian in die Höhe und riss dabei aus Versehen den Deckel mit nach oben, sodass einer der übrigen Nägel heraussprang und zu Boden fiel. Julian hechtete hinterher.
»Lass doch das Ding!«, rief ich. »Hilf mir lieber.«
Hastig schlossen wir den Deckel wieder und drückten gemeinsam die beiden verbliebenen Nägel in die Kiste, damit er hielt.
»Beeilt euch! Er kommt immer näher.«
Freds Warnung spornte uns an und wir pressten mit doppelter Kraft. Quälend langsam versanken die Nägel im Holz.
»Ich hau ab!«, rief Fred panisch und stieg auf sein Rad. Auch Julian sprang auf und rannte weg.
»Komm schon, Tom!«, rief er. »Das muss reichen.«
Ich drückte meinen Nagel die letzten Millimeter hinunter und lief endlich zum Zaun. Gerade als ich hinübergeklettert war und auf mein Rad stieg, überquerte Glick-Pitney die Straße. Ohne mich umzusehen, fuhr ich los und trat wie wild in die Pedale. Minuten später erreichte ich den Spielplatz, wo Fred und Julian bereits auf mich warteten. Atemlos ließ ich mein Rad fallen.
»Das war knapp!«, sagte Fred.
»Du hattest aber ganz schön die Hosen voll!«, rief ich.
Fred streckte mir den Mittelfinger entgegen.
»Was war denn jetzt in der Kiste?«, fragte Julian. »Ich hab es nicht erkannt.«
»Es war eine Schreibmaschine«, sagte ich.
4
Ungefähr zwei Tage später bemerkte ich zum ersten Mal das Geräusch.
Ich saß zu Hause an meinem Schreibtisch und versuchte, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Mein Blick fiel auf die Uhr. Wenn ich jetzt nicht bald loslegen würde, würde es eine lange Nacht werden!
Zum x-ten Mal starrte ich auf das Aufgabenbuch. Aber auf einmal lichteten sich die Wolken in meinem Verstand und die Zahlen und Diagramme ergaben einen Sinn. Warum hatte ich mir bis jetzt so schwergetan? Nach drei Minuten hatte ich eine halbe Seite geschafft. Ich wollte mich gerade an die nächste Rechnung machen, als etwas meine Konzentration störte.
Zuerst konnte ich nicht genau sagen, warum, aber irgendwie konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich legte den Stift hin und schloss die Augen.
Da war etwas. Eine Art rhythmisches Klacken, das von weit her zu kommen schien. Laut war es nicht, aber in etwa so störend wie ein undichter Wasserhahn, der fortwährend tropft.
Genervt öffnete ich das Fenster. War unser Gartentor locker und knarrte im Wind? Kurzerhand beschloss ich, nach draußen zu gehen, um nachzusehen.
»Tom, wo gehst du hin?«, rief Melanie, meine kleine Schwester, aus dem Bad. Sie stand auf einem Hocker vor dem Waschbecken und putzte sich die Zähne.
»Noch mal eben raus. – Pass auf, du kleckerst!«
Der Zahnpastaschaum hing ihr wie ein Bart vom Kinn. Schnell drehte sie sich wieder um und putzte weiter.
»Aber komm bald wieder!«, rief meine Mutter, die uns gehört hatte, aus der Küche. »Morgen ist Schule.«
»Ja, ja«, sagte ich und verließ das Haus. Draußen musste ich allerdings feststellen, dass unser Gartentor fest verschlossen war. Doch nachdem ich jetzt schon mal hier war, würde mir ein bisschen frische Luft vielleicht dabei helfen, mich besser zu konzentrieren. Und falls dieser Lärm aus der Nachbarschaft kam, konnte ich ihn hoffentlich zum Schweigen bringen. Also holte ich mein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los.
Das Geräusch klang wirklich seltsam. Es war zwar leise, aber gleichzeitig richtig durchdringend. Es tickte und klapperte, als würde irgendwo eine große Maschine vor sich hin rattern.
Ich fuhr eine Straße nach der anderen ab, aber der Ursprung ließ sich nicht orten.
Dann kam mir ein Verdacht.
Ich drehte um und fuhr direkt zur Glick-Pitney-Villa. Und tatsächlich, hier war der Lärm am lautesten. Er schien direkt aus den Grundmauern des Hauses zu dringen. Und jetzt wusste ich auch, was es war: das Klacken einer Schreibmaschine!
Glick-Pitney schien in die Tasten zu hämmern, als sei der Teufel hinter ihm her. Es klang, als würde ein Monsterkäfer über ein Blechdach rasen. Und zwischendrin wurde das Rattern immer wieder vom schrillen Klingeln unterbrochen, wenn die Walze der Schreibmaschine vollständig ausgefahren war. Dann kam ein Schleiflaut und das Klacken ging von Neuem los.
Was sollte ich jetzt machen? An der Tür zu klingeln, um Glick-Pitney zu bitten, leiser zu tippen, war ausgeschlossen nach der Aktion von neulich. Schließlich kannte er mich als den Spinner, der nachts in seinem Apfelbaum hockte und ihm nachspionierte.
Also fuhr ich zurück nach Hause, hockte mich an den Schreibtisch und setzte meine Kopfhörer auf. Doch trotz der Musik nahm ich das Klacken immer noch am Rande meines Bewusstseins wahr.
Es dauerte geschlagene zwei Stunden, bis ich die restlichen Aufgaben erledigt hatte.
5
Das nächtliche Geräusch wurde bald zum Thema im ganzen Ort. Jeder schien es zu hören. Eines Nachmittags belauschte ich, wie sich Frau Bloch an der Supermarktkasse mit einer ihrer Freundinnen unterhielt.
»Du kannst es dir nicht vorstellen«, begann sie. »Dieses Klappern treibt mich noch in den Wahnsinn! Ich habe mir vorgestern ein Herz gefasst und Herrn Pitney zu einem Kaffee eingeladen. Ich hatte gehofft, die Sache regeln zu können. Aber das ist vielleicht ein merkwürdiger Typ!
Ganz blass war er, schwarze Ringe hatte er unter den Augen und kaum Fleisch auf den Rippen. Und dieser Anzug! Zwei Nummern zu groß und ein Schnitt wie aus dem vorigen Jahrhundert. Die ganze Zeit über saß er nur wortlos da.
Ich habe versucht, das Eis zu brechen, und gefragt, was er so schreibt. Er hat was von makaberen Geschichten gefaselt. Dabei hat er immer wieder nervös aus dem Fenster geschaut. Dann sprang er plötzlich auf, verabschiedete sich, stürmte nach draußen und verschwand in seinem Haus. Einfach so!«
Ihre Freundin sah Frau Bloch mit offenem Mund an.