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E-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
ISBN 978-3-7641-9116-0
Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
978-3-7641-7040-0

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags
wiedergegeben werden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Covergestaltung: Vivien Heinz, Henry‘s Lodge
unter der Verwendung von Fotos von © aleshin / Fotolia; © grynold /
Shutterstock und Andrey Kasimov

www.ueberreuter.de

Eins

4YEO! Nur für deine Augen waren sie bestimmt, Jannis!

Wie oft habe ich das in den letzten Wochen gedacht, gesagt und geschrieben. Jedes Mal ein bisschen hoffnungsloser, jedes Mal ein bisschen verzweifelter. Vor vier Wochen ist mein Leben noch in Ordnung gewesen und mehr als das. Ich hatte viele Freunde, viele Pläne und ich hatte vor allem Jannis. Ich war wunschlos glücklich.

Jetzt habe ich alles verloren. Meine Freunde, meine Plä­ ne, Jannis und die Hoffnung, dass dieser Albtraum jemals ein Ende nehmen wird.

»Hure!«

»Schlampe!«

»Einmal Nutte, immer Nutte!«

Es gibt wohl kein Schimpfwort, das sie mir nicht an den Kopf geworfen haben, keine Beleidigung, die nicht auf Whats­ App und Facebook, mit meinem Namen versehen, verschickt wurde. Meine Freunde, Unbekannte, die ganze Welt – alle haben sich über mich lustig gemacht und mich mit Dreck be­ worfen.

»Geile Brüste!«

»Wo kann man dich buchen?«

4YEO! Die Fotos waren für ihn bestimmt und nur für ihn.

Dass die anderen mir das nicht glauben, damit hätte ich leben können, aber Jannis kennt mich besser. Er hätte zu mir halten müssen. Das Einzige, was er mir vorwerfen kann, ist meine Eifersucht auf Jenifer, seine Exfreundin.

Anfangs habe ich mich noch verteidigt. Aber dann kam der Moment, in dem ich eingesehen habe, dass sie alle recht haben. Ich bin eine Schlampe, eine Hure, eine Nutte! Ich alleine habe Schuld, denn am Anfang standen nun mal meine Fotos. Wenn ich sie nicht gemacht hätte, wäre all das nicht passiert.

Aber es ist nun mal passiert. Und egal, wie oft ich es bereue, egal, was ich tue und tun werde, es lässt sich nicht rückgängig machen. Es wird an mir kleben bleiben, mit Sekundenkleber an meiner Stirn befestigt, solange ich lebe. Ich bin 14 und wer­ de wohl noch eine ganze Weile leben müssen. Eine schreckliche Vorstellung … zu schrecklich!

Und jeden, der trotzdem mit mir befreundet bleiben will, ziehe ich mit in den Dreck. »Was willst du mit der Schlampe?«, wurde Tessa, meine ehemals beste Freundin gefragt. »Vielleicht bist du ja selber eine. Hast du auch Fotos gemacht? Zeig mal!«

Anfangs hat Tessa mich noch getröstet: »In einem Jahr haben alle die Fotos vergessen, du wirst sehen.« Aber dann hat sie auf­ gegeben. Ich bin ihr nicht böse, dass sie es mit mir nicht mehr ausgehalten hat. Jetzt ist Samantha ihre beste Freundin.

Soll ich ein Jahr warten, bis meine Fotos nur noch eine ent­ fernte Erinnerung sein werden?

Kann ich das aushalten?

Ich habe es gedacht, am Anfang. Aber so wie Tessa aufgege­ ben hat, weil sie die Freundschaft mit mir nicht mehr ertragen konnte, so gebe ich nun auch auf.

Ich kann nicht ein Jahr warten.

Und Jannis bringt das auch nicht zurück. Mit ihm hätte ich es vielleicht geschafft.

Ich bin für alle eine Belastung geworden. Für Jannis, für meine Eltern, für meine Freunde … Exfreunde, für mein Se­ gelteam … Exteam. Wer mich ansieht, hat sofort die Bilder im Kopf, die Bilder, von denen ich wünschte, ich hätte sie nie gemacht. Zu spät, sie sind da und werden es für alle Zeiten sein, außer …

Manchmal in den letzten Wochen habe ich mir gewünscht, ich könnte aus meinem Körper aussteigen, ihn zurücklassen und in einem neuen Körper von vorne anfangen. Ich hasse meinen Körper. Er ist wie ein Gefängnis und ich sitze in ihm eine lebenslange Strafe ab. Keine Chance auf vorzeitige Ent­ lassung wegen guter Führung. Lebenslang, außer …

Dann wäre es vorbei, dann wäre ich frei, endlich wieder frei …

»Es gibt immer einen Ausweg«, hat mein Vater gesagt. »Man muss ihn nur finden.«

»Und wenn man ihn nicht finden kann?«, habe ich ihn ge­ fragt.

»Dann hast du nicht lange genug gesucht.«

Er hat recht.

Ich habe sehr lange gesucht und ich habe ihn gefunden. Mei­ nen Ausweg.

Wird es hinterher irgendjemanden geben, der versteht, wa­ rum ich diesen und nur diesen Weg wählen musste? Wahr­ scheinlich nicht und es ist dann für mich auch nicht mehr wichtig …

Es ist ein Notausgang, den man nur verstehen kann, wenn man meinen Weg bis hierher kennt.

Es wird einen neuen Skandal geben, die Presse wird sich darauf stürzen und alles noch einmal ausgraben. In den Inter­ views werden alle sehr betroffen tun und sagen, sie haben nicht geahnt, wie schlecht es mir ging. Und dann werden sie mich vergessen, mich und die Bilder von meinem Körper vergessen, einfach so, als hätte es mich nie gegeben.

Wie oft habe ich hier auf dem Dach der Schule mit Jannis ge­ sessen oder in seinen Armen gelegen, nur wir beide und über uns die Sterne. Hier hat alles begonnen und hier wird es heute auch enden …

Zwei

Ich muss vier gewesen sein, als ich Jannis zum ersten Mal begegnet bin. Er war schon acht, ging in die zweite Klasse und musste mit mir spielen, weil seine Eltern es befohlen hatten, damit sie sich in Ruhe mit meinen unterhalten konnten. Sie waren Studienfreunde, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten und sich nun auf einmal im gleichen Segelklub wiederfanden.

Ich habe mich sofort in Jannis verliebt, was aber nur so lange anhielt, wie seine Eltern ihn im Auge hatten. Dann zeigte er mir ganz offen, was er davon hielt, mit einem Kindergartenkind zu spielen: Er setzte sich mit seiner Spielkonsole auf den Rasen, meterweit von mir entfernt, und beachtete mich nicht mehr.

Da fand ich ihn einfach nur noch megadoof. Und das änderte sich auch nicht in den nächsten Jahren, obwohl meine Eltern beschlossen hatten, die wiedergefundenen Freunde regelmäßig zu sehen. Grillabende, Geburtstagsfeiern, Segelurlaube an der Nordsee, wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Das verstärkte sich noch, als auch Jannis’ Eltern beschlossen, aus der Stadt in unser Dorf zu ziehen. Meine Eltern hatten bereits kurz vor meiner Geburt der Großstadt den Rücken zugedreht, weil sie glaubten, ein Dorf, wo noch jeder jeden kennt, sei für ihre Tochter der bessere Ort für eine glückliche, unbeschwerte Kindheit.

Als meine Mutter wieder anfing, in der Stadt zu arbeiten, verbrachte ich die Nachmittage nach der Schule bei Jannis zu Hause. Seine Eltern hatten ein altes Bauernhaus gekauft und umgebaut. Seine Mutter verwirklichte sich hier einen Kindheitstraum und hatte sich in einem der Schuppen eine Töpferei eingerichtet, wo sie inzwischen sehr erfolgreich Geschirr, Vasen und merkwürdige Skulpturen herstellte und online verkaufte.

Jannis wurde für mich immer mehr wie ein älterer Bruder, der mich zwar beschützte, wenn ich Probleme mit anderen Kindern hatte, der aber ansonsten nicht von mir belästigt werden wollte. Zumindest, solange wir auf dem Festland waren, wo jeden Moment seine Freunde vorbeikommen und sich über Jannis und seine »Babyfreundin« lustig machen konnten.

Unser Dorf liegt an einem großen See. Das war auch ein Grund für meine Eltern hierherzuziehen, denn sie sind begeisterte Segler und verbringen jede freie Minute auf dem Wasser. Ich war schon als Baby mit an Bord dabei. Segeln ist auch meine große Leidenschaft. In meinem Zimmer stehen jede Menge Pokale, die ich bei Regatten gewonnen habe. Viel wichtiger aber ist das Gefühl der Freiheit, das ich jedes Mal spüre, wenn ich auf meinem Boot über das Wasser gleite.

Auch Jannis und seine Eltern verbringen ihre Freizeit im Segelverein. Wenn wir gemeinsam auf dem See segelten, war Jannis ganz anders zu mir. Er war es, der mir den Unterschied zwischen Halse und Wende beibrachte und mit mir für die Segelprüfungen übte. Die Begeisterung fürs Segeln war ein festes Band zwischen uns. Und das blieb auch so, als er anfing, Basketball zu spielen, während ich eine Regatta nach der anderen fuhr und meistens auch gewann.

Als ich aufs Gymnasium kam, war Jannis bereits in der neunten Klasse und kam nun oft gar nicht mehr mit zu den Familientreffen. Seine Freunde waren ihm wichtiger, was man ja verstehen kann und was ich heute auch so mache – oder besser gesagt: gemacht habe, als ich noch Freunde hatte.

Jannis war Mannschaftskapitän im Basketballteam unserer Schule geworden und der Schwarm aller Mädchen der Klassen 6 bis 13. Er hätte sie alle haben können, entschied sich dann aber irgendwann in der zwölften Klasse für Jenifer aus seinem Jahrgang: blonde lange Haare, lange schlanke Beine und Schulsprecherin.

Auch Jenifers Eltern haben vor vielen Jahren ein Bauernhaus gekauft, fast gegenüber von Jannis’ Elternhaus. Sie haben es komplett umgebaut, sodass man kaum noch erkennt, dass es früher mal einem Bauern gehörte. Hinter dem Haus gibt es einen riesigen beheizten Swimmingpool. Dort finden jedes Jahr im Sommer die berühmten Poolpartys statt, auf die nun wirklich jeder gerne gehen will. Wer eine Einladung bekommt, wird von allen beneidet.

Ich erfuhr so manche Geschichte über Jannis und Jenifer durch die Gespräche seiner und meiner Eltern. Sie seien ein Traumpaar, passten so gut zueinander, fand Jannis’ Vater. Sie sei ein wenig kalt und sehr verwöhnt und egoistisch, meinte Jannis’ Mutter. »Ich hoffe, sie tut ihm nicht irgendwann sehr weh, wenn sie ihn für einen anderen stehen lässt.«

Keiner von uns ahnte, dass es Jannis sein würde, der die Beziehung beendete.

»Gibt es überhaupt ein Mädchen, das du als Freundin für Jannis gut finden würdest?«, hatte mein Vater Jannis’ Mutter geneckt.

»Sicher gibt es sie: Lilly. Die wäre perfekt.« Sie zwinkerte mir zu. Alle lachten, ich sah verlegen auf das Hühnerbein auf meinem Teller und war froh, dass sie nicht ahnten, dass aus meinen Schwestergefühlen für Jannis längst ein bisschen mehr geworden war.

Ich weiß nicht, ob man den genauen Zeitpunkt überhaupt mitbekommt, wenn man sich in jemanden verliebt. Auf einmal war es da, dieses Gefühl, dass ich jede Sekunde bei ihm sein wollte, dass der Tag keinen Sinn hatte, wenn ich ihn nicht gesehen, seine Stimme nicht gehört hatte.

Die gemeinsame Geschichte von Jannis und mir, denke ich, begann vor ziemlich genau fünf Monaten an einem nassen Märznachmittag. Ich war eine der letzten, die nach der Theater-AG in der Sporthalle zu den Fahrradständern ging. Der Hausmeister war nicht zu sehen, und so fuhr ich, statt wie vorgeschrieben zu schieben, mit ziemlichem Tempo über den leeren Schulhof zum Tor. Der Schnee war abgetaut, aber eben nicht an allen Stellen und so rutschte ich mit dem Vorderreifen weg, blieb mit dem einen Fuß im Vorderrad hängen und schlug dann mit dem Kopf auf den Boden.

Ziemlich benommen lag ich da, die anderen waren längst davongefahren. Als ich versuchte aufzustehen, knickte ich um. Ein stechender Schmerz zog durch meinen ganzen Körper. Ich ließ mich wieder auf den Boden fallen und suchte in meiner Jacke nach meinem Handy.

Stimmen kamen näher: Jannis mit zwei Freunden und Jenifer, fröhlich miteinander plaudernd. Als er mich bemerkte, rannte er sofort zu mir. »Was ist passiert? Bist du verletzt?«, fragte er erschrocken.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht so schlimm. Es geht schon wieder.« Ich setzte mich auf und lächelte ihn beruhigend an.

»Komm, wir fahren dich nach Hause. Jen hat ihr Auto da. Oder, Jen, wir fahren sie doch?«

Ich sah in Jenifers Gesicht, dass sie alles andere lieber tun würde. Sie hatte von ihren Eltern zum 18. Geburtstag eine Mercedes A-Klasse bekommen, mit der sie und Jannis jeden Morgen zur Schule kamen, und nachmittags, so wie heute, holte sie ihn vom Basketballtraining ab.

Ich wollte nicht, dass Jannis Probleme mit seiner Freundin bekam und so sagte ich: »Ich bleibe noch einen Moment hier sitzen, dann ist alles wieder gut.«

Jannis half mir hoch. Ich biss die Zähne zusammen und humpelte zu einer Bank.

»Kommst du alleine zurecht? Sicher?« Er wusste ganz offensichtlich nicht, was er tun sollte.

Ich nickte. »Klar! Mach dir keine Sorgen.« Das linke Bein tat furchtbar weh, ich konnte kaum auftreten, aber das behielt ich für mich.

Jannis zögerte immer noch. Er kannte mich gut genug und ahnte wohl, dass ich nicht die ganze Wahrheit sagte. Neben ihm stand Jenifer und warf mir wütende Blicke zu, als würde ich ihn mit Absicht hier festhalten. Sie wedelte ungeduldig mit ihrem Autoschlüssel in der Luft herum.

»Da hörst du es«, sagte sie. »Sie kommt alleine zurecht. Worauf warten wir noch? Los, komm schon! Mir ist kalt! Und außerdem haben wir noch ’ne Menge vor heute.« Sie packte seinen Arm und zog ihn weg.

Als Jannis sich noch einmal umdrehte, winkte ich ihm so fröhlich es ging zu. Ich wartete, bis sie davongefahren waren, und rief dann meinen Vater an. »Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt. Ich kann nicht auftreten und mir ist furchtbar schwindelig. Kannst du mich abholen?«

Er kam natürlich sofort angefahren, war sehr besorgt, aber auch ziemlich sauer, nachdem ich ihm erzählt hatte, wie der Unfall passiert war.

»Du weißt, dass ihr auf dem Schulhof schieben sollt! Und das hat seinen Grund, wie man ja jetzt sieht.«

Ich liebe meinen Vater, aber seine ständigen Vorträge über das, was man tun darf und was man nicht tun darf, nerven auch mich inzwischen unheimlich. Mein Vater ist Lehrer an unserer Schule, sogar stellvertretender Direktor, und achtet immer ganz genau darauf, dass alle Vorschriften exakt eingehalten werden. Der arme Hausmeister würde am nächsten Tag auch eine Strafpredigt bekommen, weil er nicht richtig gestreut hatte. Er tat mir jetzt schon leid.

Von Jannis erzählte ich meinem Vater lieber nichts. Er würde es ihm übel nehmen, dass er mich alleine gelassen hatte. Dabei konnte Jannis nichts dafür. Ich hatte ihn schließlich angelogen, als ich sagte, es sei alles okay.

Im Krankenhaus wurde mein Fußgelenk geröntgt; der Knochen war angeknackst und ich bekam einen Gips. Außerdem hatte ich eine Gehirnerschütterung und sollte eine Woche zu Hause liegen.

Drei

Abends lag ich auf dem Sofa und wusste nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Eigentlich war ich mit Merle und den anderen aus der Mannschaft am Bootshaus verabredet. Frühlingsputz der Boote. Ich hasste diese jährliche Putzaktion, zu der alle Vereinsmitglieder verpflichtet waren. Segeln ja, Putzen nein. Jedes Jahr versuchte ich vergeblich, mich davor zu drücken. Aber selbst das hätte ich lieber gemacht, als hier gelangweilt herumzuliegen. Und das an einem Freitagabend! Tessa, meine beste Freundin, war ins Kino gegangen. Und im Fernsehen lief auch nichts, was mich interessierte.

Dann rief Jannis an.

»Wie, du warst dabei?«, hörte ich meinen Vater sagen. »Du hast gewusst, dass sie nicht mehr laufen konnte, und fährst davon? Das glaub ich jetzt aber nicht.«

Tja, das hatte ich nun von meinem Schweigen. Armer Jannis. Jetzt bekam er nicht nur den Zorn meines Vaters zu spüren, sondern würde sich auch noch vor seinen eigenen Eltern rechtfertigen müssen.

»Ja, ihr geht es den Umständen entsprechend. Gipsbein und Gehirnerschütterung … Nein, ich glaube nicht, dass sie dich sprechen will.«

»Paps!!« Aber er hatte schon aufgelegt und kam ziemlich erbost in mein Zimmer. »Warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich kann es immer noch nicht glauben. Was ist bloß in ihn gefahren, dich da einfach so liegen zu lassen?«

»Ich habe ihn weggeschickt«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Er kann nichts dafür! Es war wegen Jenifer. Jannis wollte mich nach Hause bringen, aber Jen war dagegen. Ich wollte ihm keine Probleme machen.«

»Na, diese Jenifer scheint wirklich sehr egoistisch zu sein.« Mein Vater konnte sich immer noch nicht beruhigen. »Und Jannis ist ein richtiges Weichei. Lässt sich von einem Mädchen herumkommandieren!«

Einen Tag später klingelte es. Meine Eltern waren noch bei der Arbeit, also humpelte ich zur Tür. Jannis stand dort, etwas verlegen, und mit einer megagroßen Sonnenblume in der Hand. Bei jedem anderen hätte ich vermutet, seine Eltern hätten ihn geschickt, aber nicht bei Jannis. Jannis hatte noch nie ein Problem damit gehabt, einen Fehler einzugestehen.

»Es tut mir so leid, Lilly. Ich wusste nicht, dass es dir so schlecht geht.« Er zeigte auf mein Gipsbein. »Du hast gesagt, es ist okay.«

»Es ist nicht deine Schuld. Ich dachte, Jen wäre sonst sauer auf dich. Und das wollte ich nicht.«

Er grinste etwas beschämt. »Das war sie so oder so. Sie hasst es, zu warten.«

»Ist sie jetzt draußen im Auto?«

Jannis schüttelte den Kopf. »Ich bin mit dem Fahrrad hier. Und muss auch gleich weiter. Wir lernen für die Matheklausur.«

Was »wir« bedeutete, konnte ich mir denken. Er war sicher auf dem Weg zu Jenifer, um mit ihr zu üben. Denn für Mathe musste Jannis sicherlich nicht zusätzlich lernen. Aber es war auch egal. Ich freute mich, dass er überhaupt gekommen war.

»Wie lange musst du den Gips tragen?«

»Vier Wochen mindestens, sagt der Arzt.«

»Und wie kommst du zur Schule? Wenn ich fahren könnte, würde ich dich abholen mit Dads Auto. Wenn du willst, frag ich Jen …«

Na, das war das Letzte, was ich wollte. Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass Jannis lachen musste. »Du hast recht, das würde ihr gar nicht gefallen.«

»Die nächsten Tage muss ich zu Hause bleiben wegen der Gehirnerschütterung. Dann wird meine Mutter mich morgens bringen und Tessas Mutter holt mich mittags ab. Du siehst, es ist alles bestens geregelt.«

»Ich muss los. Aber wenn ich was für dich tun kann, dann melde dich.«

Ich nickte. Es war lieb von ihm. Eben großer Bruder, aber ich hatte nicht vor, davon Gebrauch zu machen.

Zu meinem Erstaunen erschien er am Wochenende mit seinen Eltern zum Geburtstag meines Vaters, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Meine Eltern waren genauso erstaunt.

»Um eure Fragen gleich vorweg zu beantworten: Ich bin freiwillig hier«, sagte er mit einem Grinsen. »Aber ich gebe zu, wenn Lilly keinen gebrochenen Fuß hätte, wäre ich nicht gekommen.«

Das stieß bei mir nicht auf große Begeisterung. Ich freute mich zwar, dass er da war, weil ich mich schon auf einen langweiligen Abend eingestellt hatte.

Trotzdem hätte ich mir gewünscht, er wäre nicht nur wegen seines schlechten Gewissens hier. Er hatte eine DVD mitgebracht, und während die Erwachsenen draußen auf der Terrasse saßen, verbrachten wir einen vergnüglichen Abend vor dem Fernseher.

»Was ist mit Jenifer?«, konnte ich mir aber doch nicht verkneifen. »Weiß sie, dass du hier bist?«

Er schüttelte den Kopf. »Solange sich alles um sie dreht, ist es gut, sonst dreht sie durch. Ich brauchte mal ’ne Pause«, sagte er und grinste mich an.

Als ich ihn fragend anschaute, ergänzte er: »Kevin hat mich neulich mit der Sonnenblume bei dir gesehen und hat es natürlich prompt weitererzählt. Jen hat mir eine Szene gemacht, ich würde sie betrügen und so weiter. Wie Frauen halt so sind.«

»Hallooo!!!??? Hab ich dir jemals eine Szene gemacht?«

»Na ja, du nicht. Du bist ja auch …«

Ich hielt den Atem an.

»Du bist eben du!«

Gut, da hatte ich mehr erwartet.

Aber Jannis redete schon weiter. »Ich hab ihr dann erklärt, dass ich dich schon seit zehn Jahren kenne, du praktisch zur Familie gehörst und ich mich schlecht fühle, weil ich dich im Stich gelassen habe, nur aus Angst, sie würde mir eine Szene machen.« Er verstummte.

»Und dann hat sie dir erst recht eine Szene gemacht. Armer Jannis!« Ich wusste, wie sehr er Streit hasste.

Er grinste. »Thema Jenifer beendet. Sie zickt zurzeit einfach nur.«

»Vielleicht machen die Abiklausuren sie nervös.«

»Schön, dass du sie in Schutz nimmst, aber das war auch vorher schon so. Es ist wohl eher ein Charakterfehler. Und entweder man mag es oder … eben nicht.«