Monique Honegger, Daniel Ammann, Thomas Hermann (Hrsg.)
Schreiben und Reflektieren
Denkspuren zwischen Lernweg und Leerlauf
Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, Band 5
Eine Publikation des ZHE – Zentrum für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, Pädagogische Hochschule Zürich
ISBN Print: 978-3-0355-0346-3
ISBN E-Book: 978-3-0355-0347-0
Gestaltung und Satz: tiff.any GmbH, Berlin
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung
Einleitung und Übersicht
Reflexion und Lernen gehen miteinander einher
Monique Honegger, Daniel Ammann und Thomas Hermann
Dimensionen schriftlicher Reflexion
Lust und Zwang
Playgrounds, Formen und Fragen
Reflexion im Spannungsfeld von öffentlichem und privatem Schreiben
Reflexion und Reflektieren an der Hochschule
Reflektierendes Schreiben zwischen Lust und Zwang
Bilanz der Dimensionen des schriftlichen Reflektierens
Literatur
Corinne Wyss und Daniel Ammann
Rundum reflektieren
Von der praktischen Erfahrung zum planvollen Handeln
Absichtsvolles Üben
Lernprozesse anregen – Selbstkenntnis fördern
Damit Reflexion gelingt
Mündliche und schriftliche Reflexion
Literatur
Thomas Hermann und Yves Furer
Dokumentieren – Lernen – Bewältigen
Funktionen und sprachliche Realisationen schriftlicher Reflexion
Was Leitfäden über das schriftliche Reflektieren sagen
Dokumentarische Funktion: Beobachten und protokollieren
Epistemische Funktion: Lernen und übers Lernen nachdenken
Bewältigende Funktion: Verhaltens- oder Einstellungsveränderung
Fazit
Literatur
Monique Honegger und Mirjam Beglinger
Muss schreibend reflektiert werden?
Psychosoziale Berufsausbildungen, blinder Fleck und Scheiterkultur
Schreiben und Erkenntnis
Phase der Irritation und blinder Fleck
Tabufeld Scheitern – direkt zum blinden Fleck
Gestaltung geschriebener und nicht geschriebener Reflexionssettings
Formen geschriebener und nicht geschriebener Reflexion
Konsequenzen für reflexives Lernen und Schreiben
Literatur
Swantje Lahm
Schreiben, als spreche man selbst
Lernen durch reflektierendes Schreiben in Lehrveranstaltungen
Lernen durch Reflexion, Motivation und reflektierendes Schreiben
Reflektierendes Schreiben in Lehrveranstaltungen
Empfehlungen zur Integration von reflektierenden Schreibaktivitäten in Lehrveranstaltungen
Literatur
Tobias Zimmermann und Alex Rickert
Austausch in Onlineforen
Wie Kategorien die Lernwirksamkeit von Diskussionen steigern
Weshalb ist gegenseitige Bezugnahme wichtig? Das Konzept der Transaktivität
Kategorienraster zur Bestimmung der Transaktivität von Onlinefeedback
Das Kategorienraster
Zur schreibdidaktischen Wirkung des Rasters
Fazit und Entwicklungsperspektiven
Literatur
Franziska Nyffenegger
Vom Gestalten der Gedanken
Reflexives Schreiben in der Designausbildung
Literatur
Martin Keller
Reflektieren gut gemacht
Von Empirie zu Denkangeboten
Was den Reflexionsprofi ausmacht
Von der alltäglichen zur professionellen Reflexion
Dozierende als Reflexionsprofis
Reflexionsqualität lässt sich messen
Erstes Denkangebot
Tiefe der Reflexion
Ein zweites Denkangebot
Qualität der Reflexion
Reflexionskompetenz von Erwachsenen
Reflexionskompetenz von Lehrpersonen
Reflexionsqualität einschätzen als Lehrende
Durch fremde Sprachen zur eigenen Sprache
Du sollst dir ein Bildnis machen
Elf Tipps und Leitlinien zum Reflektieren
Literatur
Patrick Studer und Diego Jannuzzo
Reflexive Praktiken in technischen Studiengängen
Das Lernjournal
Reflexion und reflexives Lernen
Ausrichtung und Tiefe der Reflexion
Das Lernjournal im Kommunikationsunterricht
Definition eines Entwicklungszieles
Kommunikative Anlässe für subjektive Reflexivität
Schlussfolgerung
Literatur
Autorinnen und Autoren
Vorwort zur Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung
Dozierende an Hochschulen lehren, prüfen, beraten, forschen, leiten zur Reflexion an und organisieren Wissens- und Technologietransfer durch Weiterbildung und Dienstleistungen. Sie betreiben Projektmanagement und engagieren sich in der Qualitätsentwicklung ihrer Hochschule.
Herausfordernde Themen der letzten Jahre im Hochschulkontext sind die Umsetzung von Konzepten der Kompetenzorientierung und die Gestaltung von Lehr-/Lerneinheiten im Rahmen des Selbststudiums. Mit der damit verbundenen Rollenvielfalt von Dozierenden steigen die Ansprüche an das adäquate Handeln von Lehrenden.
Seit 2009 unterstützt das an der Pädagogischen Hochschule Zürich angesiedelte Zentrum für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung (ZHE) Hochschulen aus allen Feldern und ihre Dozierenden bei den oben beschriebenen Herausforderungen durch Weiterbildung und Beratung.
Aktuelle Themenschwerpunkte des ZHE sind Studierendenorientierung, Rollenvielfalt Dozierender, kompetenzorientierte Lehre, erwachsenenbildnerisches Handeln in der Lehre an Hochschulen, Beratungskonzepte (wie Mentoring und Tutoring) sowie Handlungsfelder von Leitenden zwischen Management und Didaktik. Und nicht zuletzt eben: Schreiben und Reflektieren.
Diese Thematik verbindet sozusagen alle genannten Kernthemen: Studierende eignen sich handelnd resp. schreibend Kompetenzen an und werden dabei begleitet. Die vorliegenden Texte leuchten dabei mehrperspektivisch Sinn, Unsinn, Möglichkeiten und Grenzen dieses Zuganges aus.
Herausgebende des vorliegenden fünften Bandes sind Monique Honegger (Teammitglied Hochschuldidaktik im ZHE und Leiterin des Schreibzentrums der PH Zürich), Daniel Ammann und Thomas Hermann (Dozenten für Medienbildung und Mitarbeiter des Schreibzentrums der PH Zürich).
Wir wollen mit dieser Reihe Diskussionen, Auseinandersetzungen um aktuelle und praxisrelevante hochschuldidaktische Fragen anregen und Dozierenden an Fachhochschulen sowie Ausbildungs- und Weiterbildungsverantwortlichen anderer Institutionen der Erwachsenenbildung Reflexions- und Handlungsinstrumente zur Verfügung stellen.
Geplant sind folgende Bände
▸Lateral führen an Hochschulen (Frühling 2016)
▸Innovative Gestaltung von Weiterbildungen (Herbst 2016)
Die bisher publizierten Bände finden Sie hier:
www.hep-verlag.ch/reihe/forum-hochschuldidaktik-und-erw-bildung Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
Geri Thomann, Prof. Dr.
Leiter ZHE – Zentrum für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung geri.thomann@phzh.ch
http://hochschuldidaktik.phzh.ch/
Einleitung und Übersicht
Reflexion und Lernen gehen miteinander einher
Reflexion und Lernen gehen miteinander einher. Dabei wird auch geschrieben.
In Lehr- und Studiengängen sowie in Weiterbildungsangeboten zahlreicher Berufsfelder wird reflexives Schreiben verlangt. Schreibendes Reflektieren, das Aufzeigen der persönlichen Lernleistungen und das Einholen von Feedbacks verankern das Lernen oder bewirken es oder haben mit dem Lernen zentral zu tun.
Damit reflexive Lernroutinen in Studium und Berufsbildung mehr als Alibi- oder Schreibübungen sind, braucht es klare schriftliche Lernaufgaben zur Reflexion und professionelle Begleitung. Der vorliegende Band führt in die Theorie und Praxis des Reflektierens ein und erlaubt sich hierzu auch einige kritische Fragen. Es kommen Dozierende unterschiedlicher Fächer, Reflexionsexpertinnen und Schreibexperten zu Wort. Ziel ist es, konkrete Anregungen für die Tätigkeit im Hochschulbetrieb, in der Lehre und in Weiterbildungen für Erwachsene zu geben.
Mit dem ersten Beitrag, »Dimensionen schriftlicher Reflexion«, steigen die drei Herausgebenden gleich ins Thema ein; in einer kurzen Einführung loten sie das Spannungsfeld von Lust und Zwang beim reflektierenden Schreiben aus. Corinne Wyss und Daniel Ammann thematisieren im zweiten Beitrag, inwiefern Reflexion in der Lehrerbildung eine Rolle spielt, und entwerfen ein Modell für die Praxis. Auf der Basis bestehender Leitfäden diskutieren Thomas Hermann und Yves Furer die Funktionen schriftlichen Reflektierens. Monique Honegger und Mirjam Beglinger fokussieren in der Folge die Frage, ob es – mit Blick auf die etablierte und bisweilen als wenig sinnstiftend erlebte Tradition des schriftlichen Reflektierens in psychosozialen Berufsrichtungen – sinnvoll ist, Schreiben und Reflektieren miteinander zu verbinden.
Einen praktischen Einblick in eine schreiberfahrene Unterrichtspraxis liefert Schreibexpertin Swantje Lahm mit ihrem Beitrag über Lernen durch reflektierendes Schreiben in Lehrveranstaltungen. Tobias Zimmermann und Alex Rickert beleuchten den Austausch in Onlineforen und die Bedeutung von Kategorien zur Steigerung der Lernwirksamkeit.
Den Bereich der Künste tangierend, beschreibt Franziska Nyffenegger das Erleben von reflexivem Schreiben in der Designausbildung. Martin Keller verrät in seinen Denkangeboten elf praktische Tipps zum effizienten Reflektieren. Abschließend zeigen Patrick Studer und Diego Jannuzzo reflexive Praktiken in technischen Studiengängen.
Monique Honegger, Daniel Ammann und Thomas Hermann
Monique Honegger, Daniel Ammann und Thomas Hermann
Dimensionen schriftlicher Reflexion
Lust und Zwang
Schreiben macht nicht immer Spaß. Ebenso wenig Reflektieren. Dennoch kommt es bisweilen vor, dass Schreibende aus dem Erleben des Zwangs in eine lustvolle Schreibe finden und umgekehrt. Ebenso erleben Reflektierende es als lustvoll, über ihr Tun und ihr Lernen und Denken zu reflektieren, und plötzlich erleben sie die Reflexion nur noch als Zwang.
In der einführenden Diskussion über die Dimensionen von schriftlicher Reflexion gelangten wir beim Erörtern der diversen Themenbereiche und Konzepte wiederkehrend an die Dichotomie von Lust und Zwang, die beim schriftlichen Reflektieren erlebt wird. In der Folge gehen wir der Frage nach, welche Rolle Lust und Zwang beim schriftlichen Reflektieren spielen.
In einem ersten Schritt klären wir die Rahmenbedingungen der Reflexionspraxis in Hochschulen und Erwachsenenbildung, in einem zweiten Schritt steht das spezifische Wechselspiel von Lust und Zwang beim schriftlichen Reflektieren im Zentrum.
Playgrounds, Formen und Fragen
Lernen geht – auch im Studium und in der Weiterbildung – nicht ohne Reflexion. Damit Lernende Erwartungen mit Geschehenem vergleichen können und um ihnen bewusste Lernschritte zu ermöglichen, werden sie angehalten, etwa vor einem Praktikum oder einem Versuch, ihre Erwartungen zu formulieren und diese dann nach der Praxis mit dem Erlebten, den effektiven Ereignissen und Ergebnissen zu vergleichen.
Häufig geschieht dies in Form eines Lernjournals (vgl. z.B. Bräuer 2003; Berning et al. 2008; Bräuer & Schindler 2011; vgl. auch den Beitrag von Studer & Jannuzzo in diesem Band). Eine weitere verbreitete Form, Reflektieren in schriftlicher Form darzustellen, ist das Portfolio. Das Portfolio (auch als digitales E-Portfolio) versammelt diverse Lernerlebnisse oder fachliche Teilberichte, verbindet diese mit theoretischen Konzepten und Modellen und hält die Schreibenden dazu an, ihr persönliches Lernen zu dokumentieren und zu kommentieren (vgl. Miskovic 2006; Saxalber & Esterl 2010; Bräuer 2003; 2014).
Reflexion findet zudem häufig mündlich, in Diskussionen, auch online statt. Lernende werden aufgefordert, ihr Erleben in Gruppen- oder Partnerdiskussionen miteinander auszutauschen. Dabei spielen Irritationen und Überraschungen eine zentrale Rolle (vgl. den Beitrag von Honegger & Beglinger in diesem Band).
Beschränken wir unsere Analyse auf Reflektieren und Schreiben, lassen sich folgende Formen des Zusammenspiels von Schreiben und Reflektieren festhalten:
A.Reflektieren im Dialog mit anderen (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag zu Onlineforen von Zimmermann & Rickert in diesem Band).
B.Textsammlungen von Lernschritten oder Erlebnissen (vgl. hierzu beispielsweise Keller 2014; oder auch den Beitrag von Hermann & Furer in diesem Band).
C.Berichte über das innere Lernerleben (vgl. Bräuer 2003, 12 f.).
Reflexion im Spannungsfeld von öffentlichem und privatem Schreiben
Seit der pragmatischen Wende in den 1980er-Jahren gehört die explizit als solche bezeichnete Reflexion zu den klassischen Schreibanlässen im Studium. Damit haben sich Portfolios und Lernjournale zu einer Textsorte entwickelt, die spezifisch und gleichzeitig halbmystifiziert funktioniert. So verlangen Leitfäden zu Lernjournalen die Verschriftlichung von inneren Prozessen, die im Gegensatz zu stofflichen Zusammenfassungen nicht wirklich einforderbar ist und stark an privates Schreiben erinnert (vgl. Bräuer 2003, 25). Anleitungen zum schriftlichen Reflektieren geben bisweilen eine rigide Struktur vor, in der die Lernenden ihre Lernwege dokumentieren, die vermeintlich oder tatsächlich stattgefunden haben (vgl. Beck, Guldimann & Zutavern 2000, und auch den Leitfaden zum Lernjournal der PH Zürich 2015).
Die »Fingerübung« des Reflektierens ist aber nicht nur sinnlos. Schließlich gehört es zum späteren professionellen Alltag, das Erwartete und das Geschehene mit Fokus auf Optimierbares zu reflektieren und Schlüsse für die weitere Tätigkeit zu ziehen. Wir üben mit Kindern bereits in der Primarschule oder in der Grundschule das Reflektieren. Denn es gilt als Paradigma, dass es zum Lernen gehört, übers Lernen nachzudenken. Nach einer Übungsstunde im Mathematikunterricht sollen die Kinder notieren, was sie Neues gelernt haben, wo sie persönlich Fortschritte erleben oder wo sie noch anstehen oder einen »Knopf« haben. Ein elfjähriger Grundschüler äußert sich dazu folgendermaßen: »Ich kann ja nicht schreiben, was mir nicht gefallen hat oder was ich nicht ganz verstehe, sonst kriege ich eine schlechte Note.« (Vgl. dazu den Beitrag zum Festhalten an Reflexion als Schreibanlass und Lernritual in der Tertiärbildung von Honegger & Beglinger in diesem Band.)
Reflexion und Reflektieren an der Hochschule
Reflexion beim Lernen bedeutet, dass sich Lernende bewusst werden und bewusst machen, was und wie sie lernen, dass sie etwas dazugelernt haben und was sie noch lernen werden. Wir können nicht etwas wissen, ohne es zu wissen oder zu kennen. Ebenso wenig können wir wissen, dass wir nichts oder (noch) zu wenig wissen, wenn wir es nicht wissen.
Dennoch bleibt im formellen Lernkontext die Regel bestehen, dass wir Studierenden das Reflektieren zu beschreiben haben. So erklärt ein Leitfaden Studierenden den zu leistenden Reflexionsprozess folgendermaßen: »Reflexion über das eigene Lernen und Denken: Reflexive Lernprozesssteuerung. In einem nächsten Schritt thematisieren und reflektieren Sie auf einer Meta-Ebene Ihren persönlichen Lern- und Entwicklungsprozess. Sie beobachten und reflektieren, wie Sie Ihr Lernen im Studium und in Ihrem Umfeld organisieren und vollziehen« (Leitfaden zum Lernjournal 2015, 3).
In diesem Sinne, im Leitfaden oben als »reflexive Lernprozesssteuerung« bezeichnet, ist Reflexion ein stark innerer Vorgang. Wie er dargestellt und gegenüber anderen kommuniziert wird, ist offen. Diesen Vorgang praktizieren alle – und alle Lernenden praktizieren ihn unterschiedlich.
Blicken wir auf die Lernziele an Hochschulen, gibt es zwei Reflexionsinhalte:
▸Reflexion (und Einschätzung) der eigenen Kompetenz als zukünftige oder sich weiterbildende Fachperson, um festzustellen, wo und wie das Lernen weitergehen soll.
▸Reflexion als Reflexionstraining, um später weiterhin erfolgreich reflektieren zu können.
Als Reflexionskanäle lassen sich kommunikationsspezifisch die folgenden unterscheiden:
▸Monolog; gedankliches oder verbalisiertes Selbstgespräch ohne Darstellung (z.B. unter der Dusche oder vor dem Einschlafen gedankliche Abläufe für sich selber artikulieren, »thinking aloud«),
▸Gespräch; vor Ort, online, in Gruppen mit Studierenden oder Nichtstudierenden (Dialog mit einem Gegenüber),
▸Schreiben; privat, nur für die reflektierende Person einsehbar oder (halb-)öffentlich (Tagebuch, »dialogic notebook«, Projektjournal, Lern- und Prozessportfolio, Reflexionsblog, geschlossenes und moderiertes Diskussionsforum im Netz (vgl. die Beiträge von Wyss & Ammann sowie Zimmermann & Rickert in diesem Band),
▸Nichtsprachlicher Ausdruck; bildnerisch oder musikalisch, kann möglicherweise in einem zweiten Schritt wieder versprachlicht werden (vgl. die Beiträge von Nyffenegger und Keller in diesem Band).
Gemeinsam ist reflexiven schriftlichen Lernaufgaben, dass Leitfragen und sogenannte Prompts die Lernenden anleiten und Vorgaben in Bezug auf die Art der Reflexion machen. Sie fordern in erster Linie dazu auf, Diffuses zu konkretisieren und schriftlich oder mündlich zu formulieren,
▸welche Erwartungen vor dem eigenen Handeln bestanden,
▸inwiefern diese Erwartungen erfüllt wurden oder nicht,
▸ob es andere irritierende Aspekte im persönlichen Erleben gab
▸und in Bezug auf das weitere persönliche Lernen und berufliche Handeln zu bilanzieren und zu planen.
Helfen diese mit Schreiben verbundenen Reflexionsanlagen beim Lernen? Die Schreibdidaktik versucht wiederkehrend, den kritischen Punkt, den Zusammenhang von Lernen und Schreiben zu erfassen (vgl. den Beitrag von Honegger & Beglinger in diesem Band; aber auch Klotz 1996, 85 ff.)
Wo genau setzt nun – wenn wir das Schreiben im Auge behalten – die Reflexion ein, und wie muss sie beschaffen sein, damit sie am Schluss bei der cognitio clara distincta adaequata, dem anzustrebenden kognitiven Bewusstseinszustand, wie ihn Klotz nach Leibniz umschreibt, anlangt? Und wie geht die cognitio schreibenderweise mit Schreibhemmungen, Zeigeblockaden oder Affekten und Emotionen einher?
Nach wie vor bestehen, trotz des für die Schreibdidaktik zentralen Modells von Hayes zum Schreibprozess (Hayes [1996] 2014, 57 ff.), Unklarheiten. Erstens: Welche Interferenzen bestehen zwischen Denken und eigenem Handeln beim schriftlichen Reflektieren? Zweitens: Wie beeinflusst affektives Erleben rund um das, was Hayes ([1996] 2014, 57 f.) Motivation nennt, schriftliches Reflektieren? Nachstehend fokussieren wir auf einen affektiven Aspekt, der bislang eher im Hintergrund geblieben ist, auf das Dilemma von Lust und Zwang, das reflektierendes Schreiben begleitet.
Reflektierendes Schreiben zwischen Lust und Zwang
Dass gerade Schreiben so häufig fürs verordnete Reflektieren gewählt wird, ist nicht immer lustvoll für Studierende, und dies beeinflusst die Wirksamkeit von reflektierendem Schreiben maßgebend.
Die Lust – wenn Reflexion lustvoll erlebt wird
Lernprozesse geschehen weitgehend unbewusst. Dies zeigt sich auch bei Schreibprozessen im Studium. Es gibt beispielsweise in jedem Schreibprozess für die Schreibenden einen kritischen Punkt (der kann auch mehrfach vorkommen), an dem sie nicht mehr weiterschreiben können. So sitzt beispielsweise eine Studentin vor ihrer Arbeit, und es scheint ihr sonnenklar zu sein, dass sie nur Banalitäten von sich gibt. Dies frustriert sie, denn sie hat sich in den vorangegangenen Tagen und vielleicht auch Monaten intensiv Fachwissen erworben und sich mit einer Fachfrage auseinandergesetzt. Nach dieser tiefen Auseinandersetzung erlebt sie jedoch an diesem kritischen Punkt keine Bereicherung und auch kein Sättigungsgefühl, sondern eine Leere. Was ihr vor einigen Monaten noch als neu erschienen ist und sie langsam immer besser verstanden hat, mutet nun, geschrieben auf dem Blatt, so banal und eben nicht mehr neu an, dass sie die Bilanz zieht, nichts gelernt zu haben. Selbstverständlich ist dies nicht so. Subjektiv erlebt dies die Studentin jedoch so, weil sie das neu Gelernte nicht mehr wahrnehmen kann. Sie hat keine Distanz mehr zu ihrem Lernprozess und ist mitten im »Wald«. Sie sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Und dass sie mal nicht im »Wald« war, hat sie ebenso vergessen. Es gibt keine Erinnerung mehr an ihren Wissensstand von vorher.
An dieser Leerstelle hilft Reflexion, vorab auch geschriebene. In ihrem Lernjournal liest die frustrierte Studentin nun nach, wie sie vor einigen Monaten über Sachverhalte und Bezüge gestaunt, wie sie nach Antworten auf Fragen gesucht hat, die sie nun im Schlaf zu beantworten vermag. Das persönliche Wachstum zu konstatieren, kann Lust bereiten.
Ebenso hilft Reflektieren, den Lernprozess selber zu steuern. Es hilft, wenn bereits beim Start der Lernstoff, der normierte Lernprozess mit persönlichen (häufig nicht sachlastig, sondern emotional ausgelösten) Fragen und Zweifeln verbunden und zum Ausdruck gebracht wird. Reflexion macht das unpersönliche Stoffvakuum zu etwas Eigenem, färbt die Inhalte eines anonymen Lernsystems (die mitunter in ihrer Sinnhaftigkeit schwer ergründbar sind) subjektiv ein. Durch diese Subjektivierung erlebt die Lernende sich selber, und zwar positiv, dies wird als Lustgewinn erlebt.
Weiter hilft reflektierende Dokumentation eines durchweg inneren Prozesses, den komplexen, nicht ganz fassbaren inneren Prozess sichtbar zu machen. Das Blackbox-Phänomen von Lernen verliert dadurch von seiner Dunkelheit. Es zeigen sich Schrittchen, Fragmentchen, Zwischenprodukte und Lernstufen, und das motiviert, macht Lust. Persönlichen Fortschritt zu erleben, kann Lust bereiten.
Demnach lässt sich das Lust-Erleben beim Reflektieren in zwei Dimensionen beschreiben:
▸Lust-Dimension 1: Reflexion macht Stofferfassung zu etwas Eigenem
Lernen – das Eintreten in neue geistige Felder – wird durch Reflexion zum Eigenen. Reflektieren verbindet den Lernprozess in einem unpersönlichen Studiengang durch persönliche Dokumentation mit eigenen Fragen und Eingrenzungen. Dadurch erlebt das lernende Individuum den Wissenszuwachs als etwas Eigenes. Das ist zentral. Denn Lernen geschieht nur, wenn wir persönlich involviert sind. Persönliches Involviertsein kann (muss aber nicht) Lust bereiten.
▸Lust-Dimension 2: Reflexion ermöglicht die Sicht auf Teilschritte
Reflexion segmentiert komplexe Lernprozesse und zeigt Teilschritte, Teilerfolge. Reflektieren gibt im Vakuum des Lernprozesses, in dem das Gelernte nicht immer wahrgenommen wird, eine Orientierung. Reflektieren macht – ähnlich wie ein Messverfahren bei einem Suchtentzug oder einer Verhaltenstherapie – einzelne Lernschritte und -fortschritte wahrnehmbar und sensibilisiert das lernende Individuum somit auf den Lernzuwachs. Der Blick auf die Veränderung, das Wachstum, das Persönliche ist ein befriedigender. Darum Lust.
Reflexion und Zwang
Im formellen Lernkontext erlebt ein Lernender Reflexion mitunter als Zwang. Dies ist ein zentraler Unterschied zu reflektierenden Tätigkeiten im informellen Lernen. Gerade wenn die geschriebene Reflexion später abgegeben werden muss und von einer Dozierenden bewertet wird, kann die Aufgabe, schriftlich reflektieren zu müssen, als Zwang wirken (vgl. auch den Beitrag von Honegger & Beglinger in diesem Band). Weil die bewertende Person Einblick in die Teilschritte hat, fühlt sich der Schreibende unter dem Druck, beweisen zu müssen, dass er seinen Lernprozess hinter sich und erfolgreich überstanden hat. An die Stelle der kritisch fragenden, subjektiv involvierten Erkenntnis tritt ein erzwungenes Bekenntnis, keine Probleme mehr zu haben, alle Lernhürden genommen zu haben. Wird Reflexion verordnet, verwandelt sich das personalisierende und lustvoll wirkende Element von Reflexion und wird als Unlust, als Zwang erlebt.
Indem Studiengänge eine große Quantität geschriebener Reflexionen verlangen, bewirken sie in Studierenden bisweilen paradoxerweise das, was sie durch die Reflexion eigentlich verhindern wollten. Lernende erleben aufgrund der Vielzahl von schriftlichen Leistungsnachweisen, des Leistungsdrucks und des Produktionsdrucks Reflexionen nicht als hilfreiches persönliches Abbilden von inneren Prozessen oder innerem Suchen. Weil Reflexion Teil der Lernaufgabe ist, in der die Dozierenden die innere Involviertheit der Studierenden überprüfen, erfahren die Lernenden Reflexionen eher als erzwungene »Testimonials«, in denen sie – um den Leistungsnachweis, die ECTS-Punkte zu erhalten – bekunden müssen, persönlich involviert zu sein.
Der Zwang zur Reflexion führt somit zu einer »Anti-Reflexion«. Anstatt wahrer Erkenntnisse werden Bekenntnisse geschrieben, die wenig mit inneren Prozessen zu tun haben.
Die Dozierenden ihrerseits gewöhnen sich daran, Bekenntnisse und nicht vielleicht auch kritische, subjektive Irrwege, Zweifel, wir nennen sie jetzt mal Erkenntnisse, zu lesen. Durch diese Verfremdung entsteht im Studienkontext eine spezifische Textform von Reflexionen. Solche Texte sind randvoll mit Hinweisen dazu, dass »wirklich viel gelernt wurde und es unglaublich spannend und interessant war und alles, was folgen wird, mit großer Freude und Lernlust erwartet wird«.
Ambivalenz zwischen Lust und Zwang
Die Ambivalenz zwischen Lust und Zwang, die mit jeder Reflexion verbunden ist, lässt sich nicht auflösen. Drei didaktische Paradigmen für erfolgreiches Reflektieren beim Schreiben könnten so lauten:
▸Dozierende wissen, dass Reflexion schnell als Zwang erlebt wird. Schreibenmüssen kann das Erleben von Zwang verstärken. Das muss nicht negativ sein.
▸Dozierende veranlassen lustvoll erlebte Reflexion, indem sie diese freiwillig empfehlen. Schreibendürfen kann lustvoll erlebt werden.
▸Reflexion und Schreiben dosiert und gezielt einsetzen (vgl. den Beitrag von Keller in diesem Band).
Tradition zwischen Bekenntnis und Erkenntnis
Das Bekenntnis müssen wir ablegen, und die Erkenntnis dürfen wir verkünden. Reflektieren übers Lernen besteht darin, auf eigene Lücken oder fehlende Kompetenzen hinzuweisen (Bekenntnis). Erkenntnisse sind dann Teil des Lernens, wenn wir auf gefüllte Lücken oder neu erworbene Einsichten oder Kompetenzen hinweisen. Das Schreiben kennt sowohl die rhetorische Tradition des Bekenntnisses als auch diejenige der Erkenntnis. Beide Zugänge können erfolgreich sein, aber sie können auch zementieren und sowohl Lehrenden als auch Lernenden als rhetorische Hülsen dienen.
▸Dozierende wissen um den Unterschied zwischen Bekenntnis und Erkenntnis und arbeiten mit beiden Anlagen.
▸Studierende üben sich in beiden Formen. Bekenntnisse verfassen sie eher für bewertende Dozierende, Erkenntnisse für Peers (vgl. den Beitrag von Zimmermann & Rickert in diesem Band).
Bilanz der Dimensionen des schriftlichen Reflektierens
Abschließend seien die Dimensionen des schriftlichen Reflektierens nochmals in der Übersicht aufgezählt:
▸Reflektiert wird im Studium, um zu lernen und um bewusstes Reflektieren für ein Weiterlernen nach dem Studium zu etablieren.
▸Schreiben und Reflektieren intensiviert das Erleben von Lust und Zwang beim Lernen, weil Schreiben in formellen Kontexten die innere Affektwahrnehmung verstärkt (vgl. Honegger 2015).
▸Reflektieren geht auch ohne Schreiben oder anders (vgl. die Beiträge von Keller sowie Honegger & Beglinger und Nyffenegger in diesem Band).
▸Schriftliche Lernaufgaben, die in einem Zuviel des Schreibens im Studium zum Reflektieren anleiten, können auf vier Aspekte hin überprüft werden:
(1)Ist ein Publikum für die Reflexion, sind Leser/-innen nötig, um zu lernen?
(2)Wenn ja, sollen es Peers oder Dozierende sein?
(3)Ist eine Beurteilung/Bewertung der Reflexion nötig, um zu lernen?
(4)Ist erzwungenes Schreiben fürs effektive Reflektieren nötig, um zu lernen?
Literatur
Beck, Erwin, Titus Guldimann und Michael Zutavern. 2000. »Eigenständiges Lernen fördern: Metakognition im Unterricht.« In Beiträge zur gymnasialen Bildung: Wissensvermittlung und Methodenkompetenz, hrsg. v. Hessischen Landesinstitut für Pädagogik, 51–93. Wiesbaden: Hessisches Landesinstitut für Pädagogik.
Berning, Johannes, Berthold Seibt, Kordula Schulze und Annika Witte. 2008. Journalschreiben – Wege zum schreibenden Denken. Berlin: LIT.
Bräuer, Gerd. 2003. Schreiben als reflexive Praxis: Tagebuch, Arbeitsjournal, Portfolio. 2., unveränd. Aufl. Freiburg im Breisgau: Fillibach.
Bräuer, Gerd. 2014. Das Portfolio als Reflexionsmedium für Lehrende und Studierende. UTB 4141. Opladen: Budrich.
Bräuer, Gerd und Kirsten Schindler, Hrsg. 2011. Schreibarrangements für Schule, Hochschule, Beruf. Freiburg im Breisgau: Fillibach.
Dreyfürst, Stefanie und Nadja Sennewald, Hrsg. 2014. Schreiben: Grundlagentexte zu Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen: Budrich.