ARD & Co.

Wie Medien manipulieren

Band 1

Selbrund Verlag

Inhaltsverzeichnis

Eckart Spoo: Wording

Anmerkungen zum Sprachgebrauch

Wolfgang Bittner: Feindbild Putin

Wladimir Putin und der Ukraine-Konflikt im Spiegel der Medien

Karin Leukefeld: „When it bleeds, it leads“

Wie die Medien Kriege anheizen anstatt aufzuklären

Ulrich Tilgner: Medienreflexe statt Information

Falsche Eindrücke aus Irak, Iran und Afghanistan

Andreas von Westphalen: Die Halbwertzeit der Wahrheit

Über die Darstellung des Kaukasus-Krieges in den Medien

Kurt Gritsch: Lässt es sich anders nicht verkaufen?

Einseitigkeiten, Stereotype und Voreingenommenheit in der deutschsprachigen Berichterstattung über den Kosovo-Konflikt 1998/99

Susann Witt-Stahl: Nie wieder Israel-Kritik!

Über die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfes in deutschen Medien

Walter van Rossum: Medien und Medienkritik

Wie der NDR gleich zweimal versuchte, mit der Medienkritik ins Gespräch zu kommen

Interview mit Volker Bräutigam: Rückschau und Kritik

Erfahrungen beim NDR und Beobachtungen heute

Interview mit Gaby Weber: Recherchejournalismus vor dem Aus?

Über die zunehmende Schwierigkeit des investigativen Journalismus

Jörg Becker und Jens Wernicke: Mit den Frauen in den Krieg

Kriegsmarketing mit feministischen Spins

Claus Biegert: DU: Das tödliche Kürzel

Wie das Thema Depleted Uranium aus den Medien verschwand

Hektor Haarkötter: Wie kommt die Nachricht (nicht) in die Medien?

Themenkarrieren und Themenvernachlässigung

Sabine Schiffer: Medien in Deutschland

Über den Zustand des Medienbetriebes

Marvin Oppong: Medienkooperationen ohne Folgen?

Kooperationen zwischen Verlagshäusern und Lobbyverbänden und ihr Einfluss auf die Berichterstattung

David Goeßmann: Ideologie und Verantwortung

Die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung im griechischen Schuldendrama

Sebastian Müller: Bessere Medien online?

Der digitale Traum vom herrschaftsfreien Diskurs

Anhang

Quellenverzeichnis der Beiträge

Eckart Spoo

Wording

Anmerkungen zum Sprachgebrauch

Es kommt auf das richtige Wort an. Richtiger gesagt: auf das falsche. Das richtig falsche. So funktioniert Propaganda: verwirrend. Propaganda muss ihre Adressaten verwirren, das ist ihr Auftrag. Sie muss das Offensichtliche vernebeln und uns zu blindem Glauben und Gehorsam erziehen – zu dem Glauben, das Unwahre sei wahr, das Richtige falsch, das Gute böse, das Böse gut.

In der Propaganda, der wir viel öfter ausgesetzt sind, als wir ahnen, nämlich fast immer, allemal in Kriegszeiten, sind Aufklärung und Propaganda ein Begriffspaar, ähnlich wie Freiheitskämpfer und Terroristen. Die Guten, nämlich die Unsrigen, warnen, die Bösen, das heißt die Feinde, drohen. Gemeint ist ein und dasselbe Verhalten: Man verknüpft Forderungen an die Gegenseite mit der Ankündigung, ihr empfindlich zu schaden, falls sie nicht nachgibt. Auch Sanktionen werden als Warnungen ausgegeben, die bis zur Hungerblockade reichen dürfen – vorausgesetzt, dass wir Guten sie verhängen.

In früheren Zeiten, als noch NATO und Warschauer Pakt einander gegenüberstanden, war es in der westlichen Propagandasprache immer die NATO, die warnte, der Warschauer Pakt, der drohte. Je nachdem, ob nach Darstellung der von uns konsumierten Medien jemand warnt oder droht, wissen wir, was wir von ihm zu halten haben, denn Warnen, das wissen wir, ist ein freundliches, Drohen hingegen ein feindliches Verhalten. So inszeniert die Propaganda das Welttheater und macht uns zu vermeintlich Wissenden, ohne dass wir einen Beweis erhalten und ohne dass wir uns dieser Indienstnahme unserer Köpfe bewusst werden, denn die beiden Wörter warnen und drohen sind so unscheinbar, dass sie uns beim Lesen oder Hören gewöhnlich nicht auffallen. Sie wirken unterschwellig.

Freiheitskämpfer sind gut, Terroristen böse. Wer auf unserer Seite kämpft – genau gesagt: auf der Seite unserer Obrigkeit –, ist Freiheitskämpfer. Im Kampf gegen den Terror sind ihm, weil er ein Unsriger ist, auch unerlaubte Mittel erlaubt. Anti-Terror-Methoden werden durch ihren Zweck zu guten Methoden, während die Mittel der Bösen nur böse Mittel sein können.

Weil 1999 die albanisch-islamisch-separatistischen UÇK-Kämpfer im Kosovo gegen die Serben kämpften – also gegen Deutschlands Feinde schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg – und weil sie Jugoslawien zerschlagen wollten, das nach den in Deutschland vorherrschenden Interessen ein unerwünschtes Überbleibsel des von Deutschland verlorenen Zweiten Weltkrieges war, sollten sie uns als Freiheitskämpfer erscheinen. Ihre Überfälle, Brandstiftungen, Morde dienten der angeblich guten Sache. Was die jugoslawischen Sicherheitskräfte dagegen unternahmen, war selbstverständlich Terror.

Im Zweiten Weltkrieg war laut Nazi-Propaganda jeglicher Widerstand gegen die deutsche Besatzung Terror – auf dem Balkan wie in Frankreich, Polen und der Sowjetunion. Später galt den tonangebenden bundesdeutschen Politikern und Publizisten beispielsweise auch die Nationale Befreiungsfront in Vietnam, die für die Befreiung ihres Landes erst von französischer und dann von US-amerikanischer Herrschaft kämpfte, als terroristisch. Nachdem die FLN militärisch gesiegt hatte, wurde sie bald weniger als Feind, sondern als möglicher Handelspartner gesehen und galt nicht mehr als terroristisch. Die Propagandasprache richtet sich eben nach den jeweiligen Interessen und Machtverhältnissen. In diesem Sinne sortiert sie, was gut und was böse ist. Gut ist vor allem die hierzulande herrschende Obrigkeit, der die Propaganda als Mittel der Herrschaftssicherung dient.

Propaganda ist ursprünglich ein kirchlicher Begriff. Gemeint war die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Nichtgläubige sollten zu Gläubigen gemacht werden. Unter Aufklärung hingegen – in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes – war und ist die geistige Bewegung zu verstehen, die sich gegen das Gottesgnadentum des Absolutismus richtete und die Menschenrechte einforderte, darunter das Recht der freien Meinungsäußerung, Freiheit von staatlicher Zensur und klerikaler Bevormundung. Eine herrschaftskritische Bewegung.

Joseph Goebbels nannte sich nicht nur „Reichsminister für Propaganda“, sondern eignete sich für seine Amtsbezeichnung auch das Wort Aufklärung an: Reichsminister für Aufklärung und Propaganda. Die Herrschenden versuchen immer – mehr oder weniger frech, mehr oder weniger erfolgreich – sich alles anzueignen, was das Volk hervorbringt, auch und gerade die geistigen Waffen, die es gegen die Herrschaft schmiedet; sie wenden sie dann gegen das Volk selber. In der heutigen Propagandasprache ist Propaganda ein böses Mittel der anderen, der Bösen. Die Propaganda, die man selber betreibt, nennt man Aufklärung.

Verteufeln, mundtot machen, vernichten

Hauptleistung der Propaganda ist die Verteufelung der anderen Seite, gegen die dann, wenn sie als ganz und gar böse gefürchtet wird, jedes Mittel recht erscheint. Denn mit dem Teufel kann man nicht friedlich zusammenleben, er muss vernichtet werden.

Vor seinem psychischen Tod wird der Teufel in seiner jeweiligen Gestalt (Milošević, Saddam, Gaddafi) von den Medien vernichtet. „Der Irre“, „der Schlächter“, wie ihn die Bild-Zeitung jedes Mal nennt, darf nicht mehr zu Wort kommen. Er wird mundtot gemacht. Wer sich erdreistet, ihn aufzusuchen und zu interviewen, wird selber zum Opfer von Hetze und Häme, ausgegrenzt aus unserer Gemeinschaft der Guten. Dabei sollten die Medien doch eigentlich vermitteln, allen Konfliktbeteiligten Gehör verschaffen, ihnen den Weg zum Verhandlungstisch ebnen. Ja, wenn die Medien nach Frieden trachteten …

Um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen, kann ein einziges Wort genügen – ein Falschwort.

Als sich nach dem blutigen Putsch in Kiew im Februar 2014 die autonome Republik Krim durch Beschluss ihres Parlamentes und durch Volksentscheid von der Ukraine trennte (jeweils mit großer Mehrheit, ohne Blutvergießen), als sie die Aufnahme in die Russische Föderation beantragte und das russische Parlament diesem Antrag stattgab, einigten sich die tonangebenden Politiker und Publizisten in den NATO-Ländern im Nu auf ein Wort, mit dem dieser Vorgang zu bezeichnen sei: Annexion. Russland habe die Krim annektiert und damit einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht begangen.

Man hätte ganz im Gegenteil von einer Sezession sprechen können, wie es der Hamburger Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tat.1 Man hätte der Bevölkerung der Krim bescheinigen und dazu gratulieren können, dass sie von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Und man hätte Vergleiche mit der Abtrennung des Kosovo von Serbien ziehen sollen. Damals, 1999, hatte die NATO die UÇK mit schweren Bombenangriffen gegen Serbien unterstützt. Eine Aggression. Eindeutig völkerrechtswidrig. Ganz im Gegensatz zur Sezession der Krim. Aber mit der Behauptung, Russland habe die Krim annektiert, rechtfertigt die NATO inzwischen ihre massive Aufrüstung an den Grenzen Russlands, nachdem die NATO-Staaten schon entscheidend zu dem Putsch in Kiew beigetragen hatten. Allein die USA zahlten dafür nach Angaben der für Europa zuständigen Staatssekretärin im State Department, Victoria Nuland, fünf Milliarden Dollar.

Wenn eine Regierung gestürzt wird, lesen und hören wir, ob es sich bei dem Ereignis um einen Putsch oder eine Rebellion oder eine Revolution handelt. Wenn die NATO oder ihre Führungsmacht USA einen regime change herbeiführt, hat das als Revolution, als demokratischer Wandel zu gelten, auch wenn faschistischer Terror daran mitgewirkt hat. „Ohne den Rechten Sektor und andere militante Gruppen hätte die ukrainische Februarrevolution (also der Kiewer Putsch gegen den gewählten Präsidenten Janukowitsch; E.S.) gar nicht stattgefunden“, wie die New York Times wenige Wochen nach dem Ereignis klarstellte. Diese Faschisten nahmen und nehmen dann auch in der Putschisten-Regierung zentrale Ämter ein. Unerwünschte Regierungen hingegen (solche, die ausgewechselt werden sollen) müssen in der Propagandasprache mit der Bezeichnung Regime vorliebnehmen. An der Spitze stehen dann auch keine Präsidenten mehr, sondern Machthaber, Autokraten, Diktatoren, mögen sie auch durch demokratische Wahlen besser legitimiert sein als zum Beispiel der US-Präsident. Die in Washington überaus beliebten Könige und Scheichs brauchen keine derartige Herabsetzung und schon gar keine von den USA betriebene Absetzung zu fürchten, auch wenn sie noch so diktatorisch, noch so brutal regieren.

Ein Hilfszeitwort genügt

Am 2. Mai 2014 rollten Panzer aus dem Westen der Ukraine in den Osten des Landes, wohin auch Kampfhubschrauber in großer Zahl verlegt wurden. Die Bevölkerung der Gebiete Donezk und Lugansk, überwiegend Russisch sprechend, hatte mit großer Mehrheit Autonomierechte verlangt, nachdem die Putschisten die Absicht verkündet hatten, Russisch nicht mehr als eine der Landessprachen anzuerkennen. Andreas Schwarzkopf gab in der Frankfurter Rundschau für die militärische Intervention folgende Erklärung: „Kiew musste nun gegen die Separatisten vorgehen, um nicht unglaubwürdig zu werden.“2

Schauen wir uns den Satz genauer an: „Kiew musste …“ Wer ist Kiew? Gemeint sind die in Kiew an die Macht gelangten Politiker der äußersten Rechten. Und wie sollen wir das Hilfszeitwort müssen verstehen? Das unscheinbare Wort erweist sich bei einigem Nachdenken als das wichtigste Wort des zitierten Satzes. Mit diesem Wörtchen rechtfertigt der Autor die Aggression, mit der der Bürgerkrieg begann. Er unterstellt, das Regime in Kiew habe nicht anders gekonnt. Er stellt die Aggression als notwendig dar. Notwendig warum? … um nicht unglaubwürdig zu werden. Was ist das aber für eine Glaubwürdigkeit, die dazu zwingt, gegen eine Bevölkerungsgruppe im eigenen Land Krieg zu führen? Was sind das für Menschen, die sich nur dann glaubwürdig vorkommen, wenn sie militärische Gewalt anwenden? Es sind Menschen, die zum Beispiel Gewerkschaftshäuser in Brand setzten, Kommunisten aus dem Parlament prügelten, den Chefredakteur des Fernsehens folterten, bis er unterschrieb, dass er sein Amt aufgebe. Es sind Politiker, die den einstigen Faschistenführer Stepan Bandera posthum zum „Helden der Ukraine“ ernannten. Die zeitweilig in deutschen Medien vergötterte Julia Timoschenko gab sich mit Äußerungen dieser Art zu erkennen: „.wir sollten Waffen nehmen und die verdammten Katsaps (Russen) töten […] Ich selber bin bereit, ein Maschinengewehr in die Hand zu nehmen und dem Drecksack (Putin) in den Kopf zu schießen […].“ So reden glaubwürdige Faschisten. Aber in der Propagandasprache der tonangebenden Medien in Deutschland gibt es keine Faschisten. Dieses Wort wird strikt vermieden. Und damit ist das Problem gelöst. Man braucht sie nur Populisten oder Nationalisten zu nennen, und alles ist in Ordnung.

Dass Medien das Hilfszeitwort müssen dazu verwenden, Gewalt zu propagieren und zu rechtfertigen, finden wir auch in der Innenpolitik, auch im Lokalteil der Regionalzeitung. Zum Beispiel liest man in Berichten über Demonstrationen: „Die Polizei musste vom Gummiknüppel, von Reizgas, von Wasserwerfern Gebrauch machen.“ Die schlichte Nachricht würde lauten: Die Polizei machte vom Wasserwerfer Gebrauch, versprühte Reizgas, verprügelte Demonstranten mit dem Gummiknüppel. Aber konformistische Journalisten unterstellen: Die Polizei konnte nicht anders, es gab keine Alternative. Mit Vokabeln wie müssen werden auch Kürzungen an Sozialetats gerechtfertigt: „Es muss gespart werden.“ Dass es keine Alternative gebe, ist in jedem Fall erlogen. Selbstverständlich gibt es in einem Land, dessen Produktivität wächst und wächst, Alternativen zum Sozialabbau, und es gibt immer Alternativen zum Krieg.

Wenn jemand wie einst Gustav Noske sagt, einer müsse der Bluthund sein, womit er sich selber für die Aufgabe empfahl, Kommunisten zu morden, dann sagt er damit, dass er bereit und entschlossen ist, es zu tun, und dass es darüber nichts mehr zu diskutieren gebe. Solche gewaltbereiten Minister, Obristen, Polizisten und auch Journalisten, denen das Wörtchen müssen zur Rechtfertigung gewaltsamen Handelns dient, stellen sich so dar, als wären sie ausführende Organe des Schicksals, einer göttlichen Vorsehung. Da verbietet sich jeglicher Widerspruch. Keine Alternative! Basta! Wat mutt, dat mutt!

Von Verantwortung reden und Verantwortliche ausblenden

Ähnlich ehrfurchtgebietend berufen sich Gewaltpropagandisten gern auf die Verantwortung, ohne zu erklären, für wen oder was sie Verantwortung beanspruchen. Von Verantwortung für den Frieden und von dem Gebot, Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen, hören und lesen wir immer seltener. Nach dem Wort Frieden muss man in Reden regierender Politiker und in Leitartikeln der Konzernpresse lange suchen. In letzter Zeit sprechen sie besonders gern von der Schutzverantwortung, die letztlich Interventionen auf dem ganzen Erdball legitimiert. Schutztruppen nannten sich die Interventen schon in Kolonialzeiten. Aus jenen Zeiten stammt auch das Wort bestrafen, das jüngst wiederaufgetaucht ist. Wenn wir, die Guten, Sanktionen verhängen oder militärisch intervenieren, bestrafen wir die unartigen Regierungen. Elterliche Verantwortung zwingt uns zu elterlicher Gewalt.

Auffallend oft bilden die Propagandisten kapitalistischer Machtentfaltung Passivsätze nach dem Muster „Seit 5:45 Uhr wird zurückgeschossen“, Sätze ohne Subjekt, ohne Täter, ohne einen Verantwortlichen. Unverantwortlich. Ein Beispiel: Als durch die verdienstvolle Arbeit von Edward Snowden und seinen Freunden herauskam, dass Hacker erfolgreich Telefone im Bundestag attackiert hatten, war in einer Nachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu hören: „Im Hintergrund wird der russische Geheimdienst vermutet.“ Der Satz nennt niemanden, der eine Vermutung geäußert und den russischen Geheimdienst verdächtigt hätte, an dem Angriff beteiligt gewesen zu sein. Er nennt auch keinerlei Umstände, die eine solche Vermutung stützen könnten. Welche Interessen mögen hinter der Vermutung stecken, der russische Geheimdienst stecke hinter dem Angriff? Liegt nicht die Annahme nahe, dass hier just die Institution am Werke war, die schon das Handy der Kanzlerin und die Computer deutscher und anderer Wirtschaftsunternehmen ausgeforscht hatte, also die US-amerikanische National Security Agency (NSA)? Könnten nicht US-amerikanische oder auch deutsche Stellen versucht haben, durch Streuung unbewiesener Vermutungen von all den peinlichen Enthüllungen abzulenken? Was sonst können solche Pseudo-Informationen ohne Quellenangeben bewirken? Jedenfalls Stimmungsmache gegen Russland. Beschönigung der Zustände in der NATO, unserer anmaßend sogenannten westlichen Wertegemeinschaft. Psychologische Kriegsvorbereitung.

Kinder sollten Medienanalyse lernen, kritischen Umgang mit der Mediensprache, auch mit der Sprache der Bilder. Sie sollten dazu angehalten werden, jedes Wort zu prüfen. Was suggeriert die Wortwahl?

Welchen Interessen dient sie? Übernehmen die Medien kritiklos propagandistische Wortprägungen wie Eigenverantwortung (Sozialabbau zugunsten des Staates und der Unternehmen) oder Verfassungsschutz (Geheimdienst mit engen Beziehungen zu Neonazis)? Welche Wirkung erzielt man, wenn man Paarwörter wie Fluchthelfer und Schleuser austauscht? Was ändert sich, wenn wir einen Satz aus dem Passiv ins Aktiv übertragen? Kommen in der Berichterstattung über Konflikte jeweils beide Seiten zu Wort? Welche Quellen nennt der Autor? Oder mutet er uns statt Quellenangaben solche verschleiernden Formulierungen wie „hieß es in unterrichteten Kreisen“ oder einfach „hieß es“ zu? Wie wirkt es sich auf die Meinungsbildung aus, wenn Journalisten – wie in der Tagesschau geschehen – dem Publikum lakonisch, ohne Angabe der Täter und der Opfer, mitteilen, das Gewerkschaftshaus in Odessa sei „in Brand geraten“. Auf Kritik an der Berichterstattung der Tagesschau antwortete ihr Chefredakteur Kai Gniffke, die Diktion der Tagesschau wie auch der Tagesthemen stimme mit dem Wording der Nachrichtenagenturen und der „Qualitätszeitungen“ überein. Wording – das klingt doch gleich viel besser und moderner als Sprachregelung.

Eckart Spoo

geb. 1936, studierte in Berlin, Zürich, Hamburg und Frankfurt am Main und arbeitete dann von 1962 bis 1997 für die Frankfurter Rundschau. Ehrenamtlich war er von 1970 bis 1986 Bundesvorsitzender der Deutschen Journalisten-Union. Als (Mit-) Herausgeber mehrerer Bücher und als Autor zahlreicher Buchbeiträge hat sich Spoo immer wieder mit der Verantwortung des Journalismus für Demokratie und Frieden, mit dem republikanischen Grundrecht auf zutreffende Information und mit den Arbeitsbedingungen der Journalisten beschäftigt. Der vorliegende Text basiert darauf. Spoo ist Gründer der Zweiwochenschrift Ossietzky.

Wolfgang Bittner

Feindbild Putin

Wladimir Putin und der Ukraine-Konflikt im Spiegel der Medien

Am 17. Februar 2015 lief im ZDF (ZDFzeit) zur besten Sendezeit ein Film über den russischen Präsidenten: Mensch Putin!1 Vorgeführt wurde ein KGB-Mann mit stechenden Augen‚ „machtbesessen und zu jedem Risiko bereit“, ein geschiedener, hinterhältiger Taktiker, unberechenbar, mal in Uniform, mal mit nackter Brust. Putin, der „Triumphator“, der nur eins fürchtet, „seine Entmachtung und Ermordung“. Die Sowjetunion wolle er reanimieren, so war zu erfahren, als KGB-Offizier in Dresden habe er seinen „KGB-Schlüsselbund“ verloren und wahrscheinlich sei er für einen tschetschenischen Terrorakt in Moskau verantwortlich. 45 Minuten Unterstellungen, Vermutungen, Albernheiten und Häme, angekündigt als Dokumentation.

Wieder einmal wurde dem geneigten Fernsehpublikum eines dieser gehässigen Bilder Wladimir Putins geboten, weitab von einer auch nur halbwegs sachlich-informativen Berichterstattung. Aber solche Schäbigkeiten finden sich fast täglich in unseren Presseerzeugnissen und in zahlreichen anderen Fernsehsendungen, sogar in dem viel gesehenen ZDF heute-journal. Moderiert von Claus Kleber wurde uns beispielsweise am 9. Februar 2015 zuerst ein brennendes Haus in Donezk gezeigt, dann eine weinende Frau und verzweifelte Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz, danach rollte ein Panzer der Separatisten ins Bild, als ob sie ihre eigenen Häuser zerstörten, ihre Städte in Grund und Boden bombten.2

Demagogie wird belohnt

Auch in der ARD läuft derartige Propaganda. Dort berichtet in den Tagesthemen, moderiert von dem unsäglichen Thomas Roth, gern die voreingenommene Korrespondentin Golineh Atai über die Ukraine-Krise und den angeblichen Aggressor Russland.3 Die Journalistin, deren tendenziöse Berichterstattung von zahlreichen Zuschauern kritisiert worden ist, erhielt im Oktober 2014 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für ihre „Tugend der persönlichen Zurückhaltung, der akribischen Ernsthaftigkeit und des unbedingten Willens zur Aufklärung“. Einer der vielen Skandale!

Mit einem ähnlichen Preis, dem M100 Media Award, wurde am 12. September 2014 in Potsdam der Kiewer Bürgermeister und ehemalige Boxer Vitali Klitschko ausgezeichnet – ein beschämendes, aber höchst informatives Ereignis. Der Preis wird jährlich von einer angeblichen Elite des europäischen Journalismus für Verdienste um Demokratie, Meinungsfreiheit und Völkerverständigung vergeben. Zum Beirat bzw. zur Jury gehörten unter anderen: der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG Mathias Döpfner, der Gesamtherausgeber der Bild-Gruppe Kai Diekmann, der Chefredakteur des ZDF Peter Frey, der Chefredakteur des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin Ulrich Deppendorf, der Chefredakteur der Zeit Giovanni di Lorenzo, der Herausgeber der Welt und Geschäftsführer von N24 Media Stefan Aust, der Chefredakteur des Tagesspiegel Stephan-Andreas Casdorff, der Chefredakteur der Weltwoche Roger Köppel, der Chefredakteur für Digitale Medien der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Mathias Müller von Blumencron, die Leiterin des FAZ-Literaturforums Rachel Salamander, der Gründungsdirektor des Deutschlandradios Ernst Elitz, der ehemalige Fernsehdirektor der Deutschen Welle Christoph Lanz, der Aufsichtsratsvorsitzende von Renault und ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende von Le Monde Louis Schweitzer, der britische Verleger Lord George Weidenfeld, der ehemalige tschechische Außenminister S.D. (Seine Durchlaucht) Fürst Karel zu Schwarzenberg.

Klitschko, „der sein Boxhandwerk auf einem sowjetischen Militärstützpunkt erlernt hat und bis heute besser Deutsch als Ukrainisch spricht“,4 warb bei der Preisverleihung um Unterstützung für das Wahnsinnsvorhaben seines Intimus Arsenij Jazenjuk, eine 2 200 Kilometer lange „Schutzmauer“ gegen Russland zu errichten. Am 23. April 2015 verlieh ihm dann noch die Stadt Köln den Konrad-Adenauer-Preis „für sein Engagement für Frieden und Demokratie in der Ukraine“. Klitschko und Atai, Roth und Kleber und wie sie alle heißen: die Leuchttürme unserer Demokratie, Meinungsfreiheit und Medienberichterstattung?

Extensive Feindpropaganda

Schlagen wir die Zeitung auf, springen uns seit Monaten Putin-Karikaturen entgegen und Leitartikel geißeln die angeblich kriegslüsternen Russen. Häme, Unterstellungen und Lügen auch in Radio- und Fernsehsendungen. „Stoppt Putin jetzt!“, lautete ein Spiegel-Titel und im Deutschlandfunk wurde gefragt: „Ist Putin noch zu stoppen?“, oder wir erfuhren: „Russland schürt den Konflikt“. NDR-Weltbilder klärte uns über die „Psyche von Wladimir Putin“ auf, der sich laut ZDF als „der neue Zar“ fühlt und den Prinz Charles mit Hitler verglich. „Dem Mann fehlt Menschlichkeit“, hieß es im Tagesspiegel.

Von „prorussischem Mob“ (Spiegel-Online, ARD-Tagesschau) in der Ostukraine war die Rede, in der Welt erinnerte „die Ruchlosigkeit der Putin-Propaganda erschreckend an die Hochzeiten des Stalinismus“, die Bild-Zeitung entlarvte „Moskaus Kriegshetze“, im ZDF wurde gefragt: „Ist die Angst vieler Menschen in den baltischen Staaten berechtigt?“ Dementsprechend mahnten die US-Regierung, der NATO-Generalsekretär und Verteidigungsministerin von der Leyen höhere Verteidigungsausgaben an.

Die westlichen Politiker fallen seit 2014 zurück in den Kalten Krieg. Sie drohen, fordern, verhängen Sanktionen, sie lassen das Militär gegen Russland aufmarschieren, verlangen aber zugleich den Rückzug russischer Truppen von den eigenen Grenzen. Putin breche ständig internationales Recht, ist aus Washington und Berlin zu hören, er belüge die Weltöffentlichkeit und provoziere den Westen. Die US-Sicherheitsberaterin Susan E. Rice bezichtigte die Moskauer Regierung der Brandstiftung.

Die Zeit kommentierte, Putin müsse „endlich Russlands Marsch in den nationalistischen Wahn stoppen“;5 er habe „den Konflikt in der Ukraine bis zu seiner jetzigen tragischen Zuspitzung“ angeheizt.6 In der Bild-Zeitung wurde gewarnt: „Nie zuvor seit Ende des Kalten Krieges stand der Westen so nah vor einem militärischen Schlagabtausch mit Russland.“7 Und so weiter, eine endlose Litanei bis heute.

Kein Wort zu den jahrelangen Umsturzbemühungen westlicher Geheimdienste, Regierungsstellen und NGOs, obwohl deren subversive Tätigkeit erwiesen ist.8 Die Schuld an dem Ukraine-Konflikt wird ausschließlich Russland, namentlich dessen Staatspräsident Wladimir Putin, angelastet, und zwar in einer Weise, die allein schon von der Diktion her abstößt. Die ehemalige ARD-Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz spricht in diesem Zusammenhang – eher zurückhaltend – von „unprofessionell arbeitenden Medien“.9

Die Hetze gegen den russischen Präsidenten nimmt groteske und unmenschliche Züge an. So berichtete die Welt über „Tränen in der Mongolei“:

„Putin rollen in der fernen Mongolei beim Klang der russischen Nationalhymne Tränen über die Wangen. Er wischt sie weg, der kleine Narziss. Das Volk daheim soll Derartiges nicht sehen. Aber war es wirklich Selbstliebe und nicht eher der selbstmitleidige Gefühlsausbruch eines Überforderten? Die breiten Schultern mögen noch stählern wirken, das mit Botox behandelte Gesicht aber spricht die Sprache von Selbstzweifel und Alterungsangst. Als er nach seinem Wahlsieg vor zwei Jahren mitten in Moskau bei vaterländischen Klängen die Contenance verlor, soll es der kalte Wind gewesen sein. Nie ist man es selbst.“10

In Talk-Shows und Interviews dürfen Politiker – zumeist widerspruchslos – ihre diffamatorischen Ansichten über den russischen Präsidenten verbreiten, zum Beispiel ein ehemaliger Grünen-Parlamentarier namens Werner Schulz:

„Putin ist skrupellos. Putin ist eiskalt. Er ist ein Verbrecher […] Er ist ein Kriegstreiber und scheut vor nichts zurück […] Er ist einer, der erst aufgibt, wenn er merkt, dass er unterlegen ist. Aber da muss er schon am Boden liegen. Er hat sich in den Sankt Petersburger Hinterhöfen als Beißer durchgesetzt. Solche Leute geben nicht so schnell auf. Man muss darauf eingestellt sein, dass er bis zum Äußersten geht.“11

Schuldzuweisungen anstelle von Beweisen

Eine erneute heftige Medienkampagne gegen Russland – und wieder namentlich gegen Putin – gab es, nachdem am 17. Juli 2014 ein malaysisches Passagierflugzeug (Flug MH17) mit 298 Passagieren über der Ostukraine abgestürzt war. Das Kiewer Außenministerium erklärte noch am selben Tag, die Maschine sei mit einer russischen Rakete des Systems BUK abgeschossen worden. Nahezu sämtliche westlichen Medien übernahmen diese Meldung und verursachten einen Sturm der Entrüstung und des Hasses gegen Russland, noch bevor es irgendeine Untersuchung gegeben hatte.

Der ukrainische Präsident Poroschenko sprach von einem „terroristischen Akt“, für den Putin verantwortlich sei.12 Und der Kiewer Bürgermeister Klitschko sagte gegenüber Springer-Medien, die internationale Gemeinschaft müsse „endgültig verstehen, dass es sich hier um einen Krieg handelt“ und der russische Präsident Putin müsse dafür „endlich zur Verantwortung gezogen werden“.13

Keine kritischen Fragen in den Medien zu den unterdrückten Informationen der US-Satellitenüberwachung, der ukrainischen Flugsicherung und der fehlenden Auswertung der Blackbox. Die nach dem Absturz des Passagierflugzeuges gegen Russland gerichtete Propaganda ist ein Tiefpunkt journalistischer „Berichterstattung“. Beteiligt waren in Deutschland fast sämtlich größere Medien. Aber die Ursachen des Flugzeugabsturzes sind bis dato nicht geklärt.

Der niederländische Publizist und Politikwissenschaftler Karel van Wolferen schreibt:

„Die Beinahe-Hysterie während der Woche nach dem Flugzeugabschuss hat verhindert, dass Leute mit Wissen über einschlägige Geschichten ihren Mund aufmachten. Arbeitsplatzsicherheit ist in der heutigen Welt des Journalismus ziemlich wackelig, und gegen den Strom zu schwimmen, käme fast einem Paktieren mit dem Teufel gleich, weil es die journalistische ‚Glaubwürdigkeit‘ beschädigen würde.“14 Gabriele Krone-Schmalz sagt: „Es grenzt ja an Selbstmord, wenn man Kollegen kritisiert.“15

Das Versagen der westlichen Medien

Es fragt sich, was mit dieser extensiven Feindpropaganda bezweckt wird. Soll die deutsche Bevölkerung wirklich auf einen „großen Krieg“ in Europa vorbereitet werden? Gehetzt wird ständig gegen den bösartigen, gefährlichen Aggressor Russland in der Person Putins, obwohl schon lange feststeht, dass die Ukraine-Krise eine Inszenierung des Westens ist16 (wenn man nicht erst bei der sogenannten Annexion der Krim beginnt, die im Übrigen bei genauem Hinsehen eine Sezession war).17

Aber die Hintergründe dieser und anderer Krisen bleiben im Dunkeln; wie auch der Putsch in Kiew, die Morde auf dem Maidan-Platz oder der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges über der Ostukraine nicht aufgeklärt werden. Ebenso wenig wird thematisiert, dass sich in der Westukraine seit Langem US-amerikanische Militärberater befinden und in der Ostukraine proamerikanische Mörderbanden und nationalistische Freiwilligenbataillone Krieg gegen die dortige Bevölkerung führen und jeden Waffenstillstand verhindern.18 Einer immer skeptischer werdenden Öffentlichkeit wird die Propaganda, die zum Teil in Kriegshetze ausartet, als objektiv, und die Aggressionspolitik des Westens als notwendig zum Schutze der „westlichen Wertegemeinschaft“ verkauft.

Kritiker dieser unverantwortlichen Berichterstattung verfallen einer dreisten Gegenpropaganda: Sie werden diffamiert und sind von Existenzentziehung bedroht. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor „Russlands Vorsprung im Informationskrieg“ und vor „Missinformation, Infiltrierung und Verunsicherung“, womit es sich „auseinanderzusetzen“ gelte.19 In der FAZ ortete man die Missinformanten, Infiltrierer und Verunsicherer unter den Bloggern und auf Webseiten, die damit beschäftigt seien, „Moskaus Sicht der Dinge in die Welt zu tragen“.20

Die westlichen Medien überbieten sich in der Ukraine-Krise in Lügen, Gemeinheiten und – wo es ins Konzept passt – geheuchelter Anteilnahme und inszenierter Empörung. Wie ist ein solches Versagen auf ganzer Linie möglich – so fragen wir uns. Wir wissen es, seit bekannt wurde, dass nicht nur viele der führenden Politiker, sondern ebenso Journalisten in maßgeblichen Positionen Think-Tanks und anderen Vereinigungen angehören oder nahestehen, die von staatlichen Stellen, zum Beispiel dem US-Außenministerium, der CIA oder sonstigen interessierten Organisationen und Konzernen finanziert werden. Der Medienwissenschaftler Uwe Krüger, der über die Verbindungen deutscher Anchor-Journalisten zu außen- und sicherheitspolitisch aktiven Eliten geforscht hat, veröffentlichte seine beängstigenden Ergebnisse 2013 in dem Buch Meinungsmacht .21

Der Schweizer Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser, der über „NATO-Geheimarmeen“ geforscht hat, lenkt den Blick auf die Berichterstattung über das Nordatlantische Verteidigungsbündnis:

„Die NATO hat in verschiedenen Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz befreundete Journalisten, welche immer im Sinne der NATO schreiben. Das nennt man ‚Information Warfare‘. Das ist Teil des Krieges […] Den Gegner, in diesem Fall Putin, dämonisieren, Chaos schüren und die eigene Gewalt verdecken und Spuren verwischen […] In fast jedem Bericht zur Ukraine ist Putin der Böse. Die NATO-Osterweiterung wird praktisch nie erwähnt. Die Hintergründe des Regierungssturzes in Kiew werden nicht ausgeleuchtet.“22

Strategie der westlichen Allianz

Inzwischen kann auch als erwiesen gelten, dass die Ukraine-Krise durch die USA und EU inszeniert wurde, um des Weiteren gegen Russland vorgehen zu können. In einem Gespräch mit dem Spiegel warnte der ehemalige Staatspräsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, vor einem „großen Krieg“ in Europa, der „heute wohl unweigerlich in einen Atomkrieg münden“ würde.23 Dem US-Präsidenten Obama, der Russland als Gefahr bezeichnet hatte, entgegnete er: „Es gibt heute eine große Seuche – und das sind die USA und ihr Führungsanspruch.“24

In der Tat zeichnet sich mehr und mehr die Strategie der westlichen Allianz unter Führung der USA ab, Russland als Machtfaktor in der internationalen Politik auszuschalten und durch Wirtschaftssanktionen, Beeinflussung der Kapital- und Energiemärkte sowie die aufgebürdeten Kosten für Nachrüstung zu ruinieren. Ganz offensichtlich ist das Ziel, Osteuropa einschließlich Russland den westlichen Kapitalinteressen aufzuschließen und den imperialen Zielen der USA unterzuordnen. Wer sich nicht beugt, wird bekanntlich entweder bombardiert oder ruiniert.

Antiamerikanismus? Es gibt keine kollektive Identität! Immer mehr Menschen wenden sich mit dem Recht der an dieser furchtbaren Politik Verzweifelnden gegen die Zerstörung von Ländern durch die USA, gegen Kriegshetze, Militarisierung und Aufrüstung, gegen Totalüberwachung durch die NSA, Drohnenmorde, Folter, Mediennetzwerke zur Indoktrinierung ganzer Bevölkerungen usw. Antiamerikanismus? Das ist ein offensichtlich vom CIA geprägter Kampfbegriff, ebenso wie zum Beispiel „Verschwörungstheorie“ oder die „Totalitarismus-Theorie“ oder jetzt „Putin-Versteher“, „Querfrontler“, „moskauhörig“.

Der polnisch-US-amerikanische Politikwissenschaftler und Regierungsberater Zbigniew Brzeziński, der 1997 in seinem Buch Die einzige Weltmacht die geopolitische Strategie der USA nach dem Untergang der Sowjetunion entwickelt hat, schrieb seinerzeit:

„Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.“25

Für die einzige Supermacht USA sei – so Brzeziński – Eurasien „das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird“.26 In diesem Kontext ist auch die Äußerung Henry Kissingers am 2. Februar 2014 in einem CNN-Interview zu sehen, wonach der Regime Change in Kiew sozusagen die Generalprobe für das sei, „was wir in Moskau tun möchten“.27 Die USA haben es geschafft, Europa wieder zu spalten, die über Jahre hinweg sich verbessernden Handelsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland zu unterbrechen und eine akute Kriegsgefahr in Europa heraufzubeschwören.

Das alles hat Methode, wie der Rede eines der Bellizisten der Republikaner, George Friedman, zu entnehmen ist. Er ist Direktor des einflussreichen US-Think-Tanks Stratfor (Strategic Forecasting, Inc.) und sagte am 4. Februar 2015 im Chicago Council on Global Affairs: Ziel der US-Politik seit einem Jahrhundert sei gewesen, ein Bündnis zwischen Russland und Deutschland zu verhindern, „weil sie vereint die einzige Macht sind, die uns bedrohen kann“.28 Und weiter:

„Für die Vereinigten Staaten ist die Hauptsorge, dass […] deutsches Kapital und deutsche Technologie sich mit russischen Rohstoff-Ressourcen und russischer Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden […] Der Punkt bei der ganzen Sache ist, dass die USA ein ‚Cordon sanitaire‘, einen Sicherheitsgürtel, um Russland herum aufbauen […] Die Vereinigten Staaten kontrollieren aus ihrem fundamentalen Interesse alle Ozeane der Welt. Keine andere Macht hat das jemals getan. Aus diesem Grund intervenieren wir weltweit bei den Völkern, aber sie können uns nicht angreifen. Das ist eine schöne Sache.“29

Wenn wir diese Hybris, wie auch die Aussagen von Brzeziński und Kissinger zur Kenntnis nehmen, brauchen wir uns über nichts mehr zu wundern. Die amtierenden Politiker Europas machen das mit und die Medien folgen. Van Wolferen spricht in diesem Zusammenhang von Atlantizismus als einem „europäischen Glauben“ und „Kind des Kalten Krieges“, der es Washington ermöglicht, „unerhörte Dinge“ zu tun, ohne deswegen gemaßregelt oder womöglich infrage gestellt zu werden.30

Aber natürlich spielt bei allem der sogenannte militärisch-industrielle Komplex eine ausschlaggebende Rolle, es geht letztlich um Kapitalinteressen. Zu hoffen ist, dass die Politiker doch noch zur Besinnung kommen und Europa ein dritter Weltkrieg erspart bleibt. Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt.

Wolfgang Bittner

geb. 1941 in Gleiwitz, lebt als freier Schriftsteller in Göttingen. Der promovierte Jurist schreibt für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, ist Mitglied im PEN und erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen. Mitarbeit bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen. Er veröffentlichte mehr als 60 Bücher, u.a. die Romane Hellers allmähliche Heimkehr (2012) und Schattenriss (2011) sowie die Sachbücher Beruf: Schriftsteller (2002) und Die Eroberung Europas durch die USA (2014).