Insel des Vergessens
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
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© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur.
ISBN 978-3-440-14851-8
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services, Leipzig
Als Peter Shaw aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel und schien ihm durchs Fenster ins Gesicht. Normalerweise weckten ihn das Gurgeln der Kaffeemaschine und das Klappern des Geschirrs in der Küche. Heute jedoch nicht. Das Haus war still.
Und es fiel ihm wieder ein: Seine Eltern besuchten alte Freunde an der Ostküste. Sie waren am Abend zuvor aufgebrochen und würden ein paar Tage lang wegbleiben.
Sturmfreie Bude!
Peter war schlagartig hellwach. Er schlug die Decke zurück, sprang aus dem Bett, lief die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und schaltete die Anlage ein. Er drehte die Lautstärke hoch, sicherheitshalber auch noch den Bass, dann drückte er auf Play.
Der erste Gitarrenriff ließ die Gläser im Schrank klirren. Als der Sänger seiner neuen Lieblingsband »Let’s rock this house« schrie, bebten die Wände.
Peter sprang mit angewinkelten Beinen in die Luft, sang aus vollem Hals mit und spielte Luftgitarre.
Genau das würde er jetzt eine Woche lang jeden Morgen tun. Außerdem jeden Nachmittag und jeden Abend und jede Nacht, wenn er Lust dazu hatte. Und er würde Chips auf dem Sofa essen, bis tief in die Nacht fernsehen und am Computer spielen, solange er wollte. Peter war im Paradies.
Er warf den Herd an und machte sich einen kleinen Berg Pfannkuchen. Nachdem er sie in einem See aus Ahornsirup ertränkt hatte, fläzte er sich mit dem Teller auf die Couch, schaltete die Musik aus und den Fernseher an, zappte sich durch die Kanäle und frühstückte dabei.
Er war gerade bei einem lokalen Nachrichtensender angekommen, als das Telefon klingelte.
»Peter Shaw«, meldete er sich, während er den Ton des Fernsehers leiser drehte.
»Guten Morgen, Mr Shaw, hier spricht Sandra Martinez vom Sunny Island Retirement Center in Oxnard. Sind Sie der Schwiegersohn von Mr Bennington Peck?«
»Äh, nein«, sagte Peter verwirrt. »Sein Enkel.«
»Ach so. Sind denn deine Eltern zu sprechen?«
»Zurzeit nicht, sie sind auf Reisen.«
Sandra Martinez zögerte nur kurz. »Die Sache ist die: Dein Großvater ist seit gestern verschwunden. Und natürlich kann er sich von Rechts wegen grundsätzlich aufhalten, wo er will, aber wir sind besorgt, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Weißt du, wo dein Großvater ist? Du könntest ihm ausrichten, dass wir bei längerer Abwesenheit eine Abmeldung beim Pflegepersonal zu schätzen wissen, damit sich niemand Gedanken machen muss.«
Peters Stirn war so gerunzelt, dass sie beinahe wehtat. »Ich fürchte, ich verstehe kein Wort. Von wo rufen Sie an?«
»Vom Sunny Island Retirement Center.«
Peter lachte unsicher. »Das klingt ja wie ein Altenheim.«
»Wir bevorzugen den Begriff Seniorenresidenz.«
»Und was genau hat mein Großvater mit Ihrer Seniorenresidenz zu tun?«
»Nun ja, er wohnt hier.«
Wieder lachte Peter. »Das muss eine Verwechslung sein. Mein Großvater wohnt in keiner Seniorenresidenz, sondern in seinem eigenen Haus in Rocky Beach. Vielleicht gibt es noch einen anderen Bennington Peck.«
»Ach«, sagte Mrs Martinez überrascht. »Nun ja, das wäre natürlich möglich. Moment, ich rufe seine Daten auf.« Mrs Martinez nannte ihm den Geburtstag und -ort seines Opas.
»Das ist beides korrekt«, sagte Peter verunsichert. »Aber Sie müssen sich trotzdem irren. Mein Großvater wohnt hier in Rocky Beach und ganz bestimmt nicht bei Ihnen. Das wüsste ich doch.«
»Nun ja, das ist ziemlich merkwürdig«, sagte Mrs Martinez nachdenklich. »Vielleicht könnte dein Großvater sich trotzdem bei uns melden, damit wir die Angelegenheit klären können? Wenn es eine Verwechslung ist, wird er es ja am besten wissen.«
»Dafür kann ich sorgen.«
Sandra Martinez gab ihm die Telefonnummer der Seniorenresidenz durch, dann verabschiedete sie sich und legte auf.
Peter war fest davon überzeugt, dass das alles ein Irrtum war. Trotzdem rief er bei seinem Großvater an. Auf dem Handy antwortete nur die Mailbox. Das passierte oft, weil Opa das Mobiltelefon dauernd verlegte und dann vergaß, dass er überhaupt eines besaß. Daher hinterließ Peter keine Nachricht, sondern probierte es auf dem Festnetz.
Es meldete sich der Anrufbeantworter. »Hier ist Ben Peck. Wenn diese blöde Maschine nicht schon wieder kaputt ist, können Sie jetzt eine Nachricht hinterlassen.« Es piepte.
»Hallo, Opa, hier ist Peter. Eben hat eine Frau aus einem Altenheim angerufen. Sie meinte, du würdest da wohnen und seist jetzt verschwunden. Du sollst da mal anrufen. Ich hab’s alles nicht richtig verstanden. Weißt du, worum es geht? Ruf mich doch mal zurück!«
Als Nächstes beschloss Peter, seine Eltern anzurufen. Vielleicht wussten die etwas, was er nicht wusste. Doch seine Mutter ging nicht an ihr Handy und Peter hatte keine Lust, die Geschichte auf die Mailbox zu sprechen. Er würde es später wieder versuchen.
Ein wenig ratlos blickte Peter auf den Fernseher und versuchte, sich einen Reim auf die ganze Geschichte zu machen, als er etwas sah, das ihn erstarren ließ.
In den Nachrichten kam ein Bericht über einen Überfall auf eine Tankstelle. Ungläubig verfolgte Peter die Bilder einer Überwachungskamera und griff hastig nach der Fernbedienung, um den Ton lauter zu stellen.
»… bedrohte der Mann einen Kunden und den Tankwart mit einer Waffe und zwang diesen, die Kasse zu leeren. Danach konnte der Täter unerkannt fliehen. Der Überfall fand am späten Nachmittag statt. Das Bildmaterial der Überwachungskamera ist der einzige Hinweis, den die Polizei von Ventura derzeit hat.«
Während die Nachrichtensprecherin den Fall schilderte, wurden die ruckeligen Aufnahmen der Überwachungskamera in Dauerschleife gezeigt. Es waren nur ein paar Sekunden Material. Die Videoqualität war schlecht. Und der bewaffnete Täter war nur von schräg oben zu sehen. Trotzdem gab es für Peter keinen Zweifel: Der Mann, der die Tankstelle in Ventura überfallen hatte, war sein Großvater!
Auch als schon längst die Wettervorhersage lief, starrte Peter noch auf den Fernseher. Er konnte nicht fassen, was er gerade gesehen hatte! Es war schlicht und ergreifend unmöglich.
Als sein Handy klingelte, zuckte Peter zusammen. Die Polizei! Das war bestimmt die Polizei, auf der Suche nach Opa! Aber ein Blick auf das Display verriet ihm: Es war seine Mutter. Und das war eigentlich noch schlimmer.
Es klingelte weiter.
Er würde einfach nicht drangehen. Aber dann würde sie sich Sorgen machen. Schließlich hatte er sie eben erst angerufen. Doch wenn er jetzt mit ihr sprach … Er konnte ihr unmöglich sagen, was er gerade gesehen hatte! Sie würde vollkommen ausrasten! Und sofort den nächsten Flug nach Hause nehmen! Und dann würde sich herausstellen, dass alles nur ein blöder Irrtum war.
Es klingelte immer noch.
Ein Irrtum, genau. Es musste ein Irrtum sein, alles andere war ja völliger Unsinn. Und genau deshalb brauchte Peter ihr gar nichts zu sagen.
Noch ein Klingeln und die Mailbox würde anspringen.
Der Zweite Detektiv nahm ab. »Hallo?«
»Hallo, Sohnemann. Du hast mich gerade angerufen. Ich habe das Klingeln zu spät gehört. Was gibt’s, ist alles in Ordnung?«
Peter schluckte. »Äh …«
»Äh?«
»Äh, ja! Ja, klar, alles bestens.«
»Aha. Und warum hast du dann angerufen?«
»Ich … wollte nur wissen, wie es euch geht. Wie ist das Wetter in New York?«
»Nicht so gut wie in Kalifornien. Bist du sicher, dass alles okay ist? Du klingst nicht so.«
»Doch, doch. Mir ist nur eben ein Pfannkuchen angebrannt.« Peter klapperte mit dem Teller. »Ist gerade etwas ungünstig.«
Seine Mutter lachte. »Tag eins von ›Peter allein zu Haus‹ und schon steht alles in Flammen, ja?«
»So ungefähr.«
»Na, dann will dich nicht länger bei den Renovierungsarbeiten stören. Du meldest dich, wenn was ist, oder?«
»Klar.«
»Dein Vater und ich treffen uns gleich mit Kate und John und dann gehen wir ins Museum.«
»Toll! Schöne Grüße! Und viel Spaß!«
»Dir auch. Bis dann!«
Peter legte auf und atmete tief durch. Der Fernsehbericht war auf einem Lokalsender gelaufen. Seine Eltern würden ihn in New York nicht zu Gesicht bekommen. Es sei denn, er schaffte es in die landesweiten Nachrichten. Er musste den Sender anrufen und dafür sorgen, dass der Bericht nie wieder gezeigt wurde! Er musste Opa finden! Er musste herauskriegen, was überhaupt Sache war! Er musste … er musste … er musste sofort zu Justus und Bob!
Innerhalb kürzester Zeit hatte Peter eine Notfallsitzung in der Zentrale einberufen und seinen Freunden die schockierenden Neuigkeiten berichtet. Justus war auf die Idee gekommen, sich den Fernsehbericht im Internet noch einmal anzusehen.
Nun hockten Justus, Bob und Peter in der Dunkelheit ihres Geheimverstecks, einem unter Schrottbergen verborgenen alten Campinganhänger, und blickten konzentriert auf den Computerbildschirm.
Bob brach das Schweigen, nachdem sie sich den kurzen Film angesehen hatten. »Das ist dein Opa.«
»Wirklich?«, fragte Peter, der sich heimlich der Hoffnung hingegeben hatte, einem Hirngespinst aufzusitzen.
Bob und Justus nickten gleichzeitig.
»Aber das kann nicht sein!«, rief Peter. »Warum sollte er eine Tankstelle überfallen? Er hat eine Waffe in der Hand! Opa besitzt überhaupt keine Waffe!«
»Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Justus.
Peter überlegte einen Moment. »Vor drei Wochen vielleicht. Er war zum Abendessen bei uns.«
»Und ist dir da etwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«
Langsam schüttelte Peter den Kopf.
»Hat er vielleicht irgendetwas zu dir gesagt?«
»Er hat eine Menge zu mir gesagt, Justus«, erwiderte der Zweite Detektiv ungehalten. »Aber nichts, was das erklären würde! Was soll ich denn jetzt machen? Ich muss doch irgendwas tun!«
»Na ja«, murmelte Bob. »Streng genommen müsstest du zur Polizei gehen.«
»Was!? Auf keinen Fall!«
»Aber du hast einen gesuchten Verbrecher identifiziert.«
»Einen gesuchten Verbrecher! Mein Opa ist doch kein Verbrecher!«
Bob räusperte sich unbehaglich, woraufhin Peter gleich an die Decke ging. »Was soll dieses Geräusper? Mein Opa ist kein Verbrecher!«
»Nein, das ist er nicht, Peter«, gab Bob zu. »Aber er ist reizbar und streitlustig. Und er neigt dazu, sich mit seinen Mitmenschen anzulegen. Ich kann mir jedenfalls schon vorstellen, dass es in dieser Tankstelle zu irgendeinem Streit kam und …«
»Quatsch«, unterbrach Peter seinen Freund. »Das ist Quatsch, Bob, und das weißt du auch. Opa würde nie mit einer Waffe auf jemanden losgehen! Da steckt etwas anderes dahinter. Das ist doch sonnenklar!«
»Nur was?«, fragte Justus in den Raum hinein. »Gibt es denn gar keinen Hinweis?«
»Doch«, sagte Peter. »Oder auch nicht. Wahrscheinlich hat es gar nichts damit zu tun. Heute Morgen hat mich eine Frau aus einem Altenheim angerufen.« Er berichtete seinen Freunden von dem Gespräch mit Sandra Martinez. »Das ist natürlich großer Unfug. Opa wohnt in keinem Altenheim. Es muss eine Verwechslung sein.«
»Eine Verwechslung vielleicht«, bekannte Justus. »Aber wahrscheinlich kein Zufall. Erst ist dein Opa angeblich aus einem Altenheim verschwunden, in dem er gar nicht wohnt, und dann überfällt er eine Tankstelle. Diese beiden Vorfälle sind so außergewöhnlich, dass ich an einen Zusammenhang glauben muss.«
»Und was für ein Zusammenhang soll das sein?«, fragte Peter.
»Das ist mir leider völlig schleierhaft«, gestand Justus.
»Vielleicht hat Mr Peck einen Doppelgänger«, überlegte Bob.
»Am besten fahren wir zu ihm«, sagte Justus. »Du warst noch nicht bei ihm zu Hause, oder, Peter?«
Der Zweite Detektiv schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nur angerufen, aber er scheint nicht da zu sein. Danach bin ich gleich zu euch gekommen.«
»Dann fahren wir jetzt hin und schauen nach. Dass er nicht ans Telefon geht, kann viele Gründe haben.« Justus erhob sich von seinem Stuhl.
»Einverstanden«, sagte Peter halb erleichtert, halb beklommen. Er war froh, dass sie etwas unternahmen. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er Angst hatte vor dem, was sie herausfinden könnten.
Das Haus von Bennington Peck lag in einer beschaulichen Wohngegend von Rocky Beach. Vom Schrottplatz aus waren es mit dem Auto keine fünf Minuten. Peter stellte seinen Wagen ab, ging zur Tür und klingelte. Er lauschte angestrengt, aber drinnen rührte sich nichts. Seine heimliche Hoffnung, Opa wäre zu Hause und würde die ganze Geschichte schlüssig und undramatisch aufklären, zerfiel zu Staub.
Peter probierte die Tür, doch sie war verschlossen. »Gehen wir nach hinten«, murmelte er und betrat den schmalen Rasenstreifen zwischen dem Haus und der Hecke, die es vom Nachbargrundstück abtrennte. Auf der Rückseite gab es einen kleinen Garten und einen Geräteschuppen, der auch als Werkstatt diente. Der Rasen sah ziemlich ramponiert aus. Ben Peck war ein passionierter Erfinder. Eine seiner letzten Erfindungen war ein automatischer Rasenmäher gewesen, der jedoch immer wieder Probleme bereitete. Zahllose Testfahrten hatten eine gerupfte Grasfläche voller kahler Flecken hinterlassen. Und bei seinem letzten Einsatz war der Mäher eigenständig zur Straße gerattert und hatte die dort spielenden Kinder in Angst und Schrecken versetzt.
Die drei Detektive betraten die Terrasse und spähten durch die Glasscheibe der Hintertür ins Innere des Hauses, aber niemand war zu sehen. Peter klopfte laut. Nichts tat sich.
»Hältst du es angesichts der Umstände für vertretbar, wenn wir uns selbstständig drinnen einen Überblick verschaffen?«, fragte Justus den Zweiten Detektiv. »Vielleicht finden wir einen Hinweis auf Mr Pecks Aufenthaltsort. Weißt du, ob er irgendwo einen Zweitschlüssel aufbewahrt?«
Peter nickte. »Ich glaube schon. Opa denkt sich zwar alle paar Wochen ein neues Versteck aus, aber letztes Mal hatte er ihn da oben.« Er wies auf eine hohe Ulme im Garten.
»Im Baum?«, fragte Bob zweifelnd.
»Im Vogelhäuschen«, korrigierte Peter ihn und erst jetzt sah Bob den kleinen Holzkasten, der vier, fünf Meter über ihren Köpfen an den Stamm genagelt worden war.
»Ein todsicheres Versteck«, gab Bob zu. »Da kommt kein Mensch ran. Auch wir nicht. Oder liegt hier im Garten eine Feuerwehrleiter herum?«
»Nein«, antwortete Peter. »Aber ein Gartenschlauch.« Er ging zur Hausecke, wo ein langer Schlauch aufgerollt an der Wand hing, drehte den Wasserhahn auf und kehrte mit dem in eine Spritzpistole mündenden Schlauchende zurück.
»Und jetzt?«, fragte Bob stirnrunzelnd.
»Jetzt pass gut auf.« Peter zielte mit der Spritzpistole auf das Vogelhaus und ließ den Wasserstrahl hervorschießen. Er traf genau den Vogelhauseingang, sodass das Häuschen mit Wasser volllief. Und plötzlich kam in dem runden Loch etwas zum Vorschein, das kurz darauf herausplumpste.
Peter klaubte eine hühnereigroße Plastikkugel aus dem Rasen. Er schraubte sie auf und nahm einen Schlüssel heraus.
Bob war beeindruckt. »Cooler Trick! Aber der arme Vogel …«
»Da wohnt kein Vogel. Opa hat das Haus mit irgendeiner stinkenden Paste bestrichen, die die Vögel davon abhält, darin zu nisten.«
Peter hängte den Schlauch zurück an die Wand, stellte das Wasser ab und ging zur Hintertür. Er schloss auf und betrat Ben Pecks Haus.
Niemand war da. Und alles sah aus, wie Peter es kannte. In Opas Haus herrschte immer ein leichtes Chaos. Auf dem Schreib- und dem Couchtisch lagen Berge von Notizzetteln, Handwerkerzeitschriften und Skizzen. An der Wand im Wohnzimmer hingen Zeitungsausschnitte von Artikeln, in denen über die detektivischen Erfolge der drei ??? berichtet wurde. Ben Peck war nämlich sehr stolz auf seinen Enkel. Die drei Detektive drehten eine kurze Runde durchs Haus und warfen in jedes Zimmer einen Blick, aber es war nichts Auffälliges zu entdecken.
Peter seufzte. »Alles ganz normal. Als wäre Opa gerade nur kurz aus dem Haus gegangen. Und ich hatte so gehofft, dass wir einen Hinweis finden.«
»Du irrst, Zweiter«, meinte Justus. »Es sieht nämlich eben nicht danach aus, als wäre Mr Peck nur kurz aus dem Haus gegangen.«
Peter runzelte die Stirn. »Nicht?«
»Nein. Ich habe deinen Großvater als einen Menschen kennengelernt, der sich nicht gerade durch große Ordnungsliebe auszeichnet.«
»Es ist ja auch nicht ordentlich«, bemerkte Bob.
»Das nicht. Aber es befindet sich keinerlei dreckiges Geschirr oder Besteck in der Spüle. Im Schlafzimmer ist das Bett gemacht.« Justus betrat die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er war abgesehen von ein paar Flaschen Wasser komplett leer. »Keine verderblichen Lebensmittel. Ben Peck ist nicht kurz aus dem Haus gegangen. Er hat es geplant für längere Zeit verlassen. Als würde er eine Reise machen.« Er strich mit dem Zeigefinger über den aufgeräumten Küchentisch und betrachtete die Spur, die er in der sehr, sehr feinen Staubschicht hinterlassen hatte. »Und das ist mindestens zwei Wochen her, eher länger, würde ich schätzen.«
Bob nickte nachdenklich. »Du hast recht, Just.«
»Nein, hast du nicht«, widersprach Peter. »Meine Mutter hat nämlich mit ihm telefoniert, und das ist erst eine Woche her.«
»Vielleicht auf dem Handy?«, überlegte Bob.
»Sie ruft ihn meistens zu Hause an, weil er sein Handy ständig verlegt.«
»Vielleicht hat er eine Rufumleitung eingerichtet. Deine Mutter rief ihn zwar hier an, aber angenommen hat er das Gespräch ganz woanders.«
Peter schüttelte ratlos den Kopf. »Ich begreife das alles nicht. Warum sollte er verschwinden, ohne jemandem etwas zu sagen? Was hat das alles zu bedeuten? Und wieso überfällt er eine Tankstelle??«
»Am besten schauen wir, ob wir unter diesen ganzen Papierbergen einen Hinweis finden. Einen Reiseplan, ein Flugticket, etwas dergleichen.«
Sie fanden vor allem Zeichnungen und Skizzen der seltsamen Dinge, an denen Peters Großvater in letzter Zeit gearbeitet hatte: ein Schreibtisch mit Teleskopbeinen, mit denen man den Tisch auf Knopfdruck höhenverstellen konnte; eine Thermoskanne mit Wärmeanzeige; ein Miniroboter, der gleichmäßig Samen in ein Gemüsebeet pflanzen konnte. Hinweise auf eine geplante Reise fanden sie nicht.
Peter entdeckte, dass der Anrufbeantworter blinkte. Die Sorge war größer als der Anstand und er spielte die Nachrichten ab. Es waren nur zwei: seine eigene, gerade erst eine gute Stunde alt, und eine vom Sunny Island Retirement Center vom Vortag. Peter erkannte die Stimme von Sandra Martinez wieder. Sie war sehr sachlich und bat Großvater lediglich, in der Seniorenresidenz zurückzurufen.
Bob, der derweil im oberen Stockwerk gewesen war, kam wieder herunter. In der Hand hielt er einen kleinen Stapel Bücher. »Ich habe etwas Merkwürdiges gefunden.«
Peter sah auf. »Was denn?«
»Die Bettlektüre deines Großvaters. Diese Bücher lagen alle auf seinem Nachttisch.« Bob zeigte sie ihm.
Altersdemenz – Ursachen, Diagnose, Therapie.
Opa im Nimmerland – Ratgeber für Angehörige von Demenzpatienten.
Alzheimer, die Geschichte einer Krankheit.
Peter runzelte die Stirn. »Was hat das zu bedeuten?«
»Als Demenz bezeichnet man eine Erkrankung des Gehirns, die hauptsächlich alte Menschen betrifft«, erklärte Justus. »Das Gehirn arbeitet nicht mehr richtig. Die Symptome sind Vergesslichkeit, Verwirrung und mitunter ausgeprägte Persönlichkeitsveränderungen. Die Alzheimerkrankheit ist die häufigste Ursache für Demenz.«
»Das weiß ich alles, Just«, sagte Peter gereizt, obwohl er es nur halb gewusst hatte. »Aber warum sollte Opa so etwas lesen? Doch nicht etwa, weil er selbst …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Justus nahm Bob den obersten Band, in dem ein Lesezeichen steckte, aus der Hand. Er schlug das Buch bei einem Kapitel über die Symptome von Alzheimer auf. Auf dem Pappkärtchen, das als Lesezeichen gedient hatte, war etwas notiert.
»Das ist Opas Handschrift«, erkannte Peter und besah sich das Lesezeichen genauer. »Da steht: Sunny Island – Neill: Haus 3, 2.14 – Maria da Silva, James Swift, Martha Longingdale. Sunny Island, so heißt doch die Seniorenresidenz, die angerufen hat. Was hat das –«
Peter verstummte mitten im Satz, denn er hatte ein Geräusch gehört. Alle drei verharrten und lauschten.
Da war jemand an der Tür! Und dem Klappern und Kratzen von Metall auf Metall nach zu urteilen, versuchte die Person, sich Zutritt zu verschaffen!