DEIN WILDES HERZ
IN MEINER HAND
Aus dem Englischen von Anja Herre
KOSMOS
Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge GmbH Kilchberg (Schweiz)
unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images / BeachcottagePhotograph
Text copyright © Stacy Gregg, 2014
Published by arrangement with Miles Stott Children’s Literary Agency
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Island of Lost Horses bei HarperCollins Children's Books, Great Britain.
Aus dem Englischen von Anja Herre
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© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15210-2
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
12. April 2014
Ich schreibe diese Zeilen, so schnell ich kann. Die Türen auf der Phaedra lassen sich nicht abschließen und Mom könnte jeden Augenblick hereinkommen. Privatsphäre habe ich nicht. Außer mir kenne ich kein einziges dreizehnjähriges Mädchen, das ein Zimmer mit seiner Mutter teilen muss. Ich habe mich schon tausendmal beschwert, wie ungerecht es ist, dass die Quallenausrüstung den kompletten vorderen Teil des Bootes einnimmt, aber Mom hört mir nicht zu. Typisch – die Quallen kriegen ihr eigenes Zimmer, ich nicht.
Das soll jetzt keine Ausrede für meine krakelige Handschrift sein, aber mein Arm zittert so sehr, dass ich den Stift kaum halten kann. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich so lange am Traktor festgehalten habe. Den ganzen Heimweg musste ich an den Radkasten geklammert hinter Annie sitzen, wie ein Papagei auf der Piratenschulter. So wie sie über die von Spurrillen zerklüfteten Trampelpfade durch den Dschungel fuhr, hatte ich eine Riesenangst, ich könnte abrutschen und unter die Räder kommen.
Als wir endlich die Bucht erreichten und ich die Phaedra sehen konnte, war mein Körper so durchgeschüttelt wie eine Dose Limo.
Von Mom keine Spur, als der Traktor durch die Dünen den Strand entlang Richtung Meer pflügte. Um ehrlich zu sein, ich war erleichtert. Die ganze Zeit bei Annie wollte ich unbedingt zum Boot zurück, aber als ich dann zu Hause war, wurde mir schlecht bei dem Gedanken, meiner Mutter zu begegnen. Sie würde stinkwütend auf mich sein. Ich war schließlich zwei Tage lang verschwunden gewesen …
Annie bremste scharf und ich rutschte vom Traktor und fiel in den Sand. Ich glitt wie Götterspeise aus der Form, so weich waren meine Beine.
„Bee-a-trizz!“ Annie landete mit einem Satz neben mir und hakte ihre Arme unter meinen Achseln ein, um mich wieder auf die Füße zu hieven.
„Lieber Gott, Kindchen!“
Für eine kleine, alte Frau war sie verdammt stark. Sie schleifte mich wie eine schwere Stoffpuppe durch den Sand und ich vergrub mein Gesicht an ihrer Brust. Ich konnte die Baumwolle ihres Kleides riechen und sehen, an welcher Stelle das blaue Blumenmuster vom Schweiß schon ganz gelb geworden war.
Annie trug mich den Strand nach oben bis zur Gezeitenmarke, wo der Sand trocken war, und so lag ich mit geschlossenen Augen da, atmete heftig und versuchte, das Gefühl von Schwindel und Übelkeit loszuwerden.
Dann hörte ich den Zodiac. Ich erkannte das vertraute Heulen des Außenbordmotors und das Flapp-Flapp, jedes Mal, wenn die luftgefüllte Gummihülle auf die Wellen klatschte. Ich öffnete die Augen und sah, wie Mom den Zodiac auf den Strand zusteuerte. Sie ruderte wild mit den Armen und ich winkte kraftlos zurück. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich gleich übergeben.
„Warte hier, Bee-a-trizz.“ Annie lief zum Wasser und half dabei, das Boot an Land zu bringen. Sie stand bis zu den Knien im Meer und hielt es fest, während Mom heraussprang und sie dort stehen ließ, um den Strand hinauf zu mir zu rennen.
„Beatriz!“ Sie fiel neben mir auf die Knie. „Oh Gott, Bee!“
„Hey Mom.“ Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. Als sie mein Gesicht berührte, fühlte sich ihre Hand wie Eis auf meiner Haut an.
„Beatriz, du glühst ja!“
„Mir geht’s gut“, versicherte ich. „Ist nur ein bisschen Sonnenbrand.“
„Gut?“ Meine Mutter war entsetzt. „Wir müssen dich sofort ins Krankenhaus bringen …“
„Nein.“ Ich stemmte mich aus dem Sand hoch. Um mich herum drehte sich alles. „Alles okay. Ehrlich …“
„Wird schon mit der Kleinen.“ Das war Annie. Sie sprach mit starkem karibischen Akzent und zog die Worte auseinander wie Kaugummi.
„Entschuldigung?“, sagte Mom, sichtlich schockiert über die Erklärung dieser Fremden. „Sind Sie Ärztin?“
„’nen Doktor braucht Bee-a-trizz nicht“, gab Annie zurück. „Das Kindchen hatte schlimmes Fieber, hab sie deswegen bei mir schlafen lassen bis zum Morgen. Das Fieber ging runter, wird wieder gut …“
„Bei Ihnen? Ich habe sie zwei Tage lang gesucht …“
Moms Stimme klang angespannt. Jetzt geht’s los, dachte ich. Mom würde Annie verhören, bis sie die ganze Geschichte kannte. Sie würde alles über das Pferd erfahren und das Watt und wie Annie mich gefunden hatte …
Doch Annie richtete jetzt ihre Aufmerksamkeit auf die Phaedra, die etwa 40 Meter vom Strand entfernt ankerte. Sie nickte mit dem Kopf in Richtung des Bootes und machte mit ihren Lippen eine deutende Bewegung, so wie andere Menschen mit den Fingern auf etwas zeigen.
„Bist nur du auf’m Boot?“
Moms Augen zuckten kurz zum Boot und wieder zurück zu Annie. Ich sah, wie ihr plötzlich bewusst wurde, dass wir mitten im Nirgendwo standen, nur wir und diese komische alte Frau mit ihrem Traktor.
„Ja“, sagte Mom argwöhnisch. „Ich meine, nur Beatriz und ich – wir beide.“
Annie runzelte die Stirn. „Macht Ferien?“
Mom schüttelte den Kopf. „Ich bin Meeresbiologin. Ich arbeite an einer wissenschaftlichen Publikation für die Universität von Florida über das Migrationsverhalten von Schirmquallen, Linuche unguiculata …“
Annie schnaubte. Sie hatte das Interesse verloren und wollte wieder zu ihrem Traktor zurückgehen.
„Warten Sie!“, sagte Mom. „Ich meine … danke. Dass Sie Beatriz zurückgebracht haben. Ich hatte furchtbare Angst …“
„Dem Kindchen geht’s bald besser, keine Sorge“, gab Annie zurück. Sie kletterte wieder auf ihren Fahrersitz und zerrte an ihrem Rock, um bequemer zu sitzen. Dann drehte sie den Schlüssel in der Zündung und trat mit dem nackten Fuß fest auf das Pedal. Das Tuckern und Brummen des Motors zerstörte augenblicklich jegliche Hoffnung meiner Mutter auf eine mögliche Fortsetzung des Gesprächs.
Annie drückte ihren Strohhut energisch auf ihre Dreadlocks. „So ’ne Insel kann gefährlich sein“, sagte sie. Sie ließ den Blick über die Dünen schweifen, von wo wir gekommen waren, bis nach drüben zum weit entfernten Ende der Insel, wo das Watt lag. „Sehr gefährlich. Muss man aufpassen, so Leute wie ihr …“
Der Traktor ruckte an, Annie drehte schwungvoll das Lenkrad und fuhr so dicht an mich heran, dass ich dachte, sie würde mit den riesigen Reifen über meine Zehen fahren. Dann hob sie die Hand, winkte kurz zum Abschied und fuhr davon; die Reifen gruben Zickzackspuren in den feinen weißen Sand.
Annies abgewetzter Strohhut war das Letzte, was ich sah, bevor sie hinter den Dünen verschwand.
„Diese Frau ist vollkommen verrückt.“
Meine Mutter und ihre üblichen Ansagen.
„Annie ist nicht verrückt“, entgegnete ich. „Sie ist meine Freundin …“ Obwohl das auch nicht wirklich stimmte, oder doch? Annie machte mir Angst. Die ganze Zeit, während ich bei ihr gewesen war, hatte ich am liebsten wieder gehen wollen. Doch das würde ich Mom gegenüber niemals zugeben.
„Du warst bei ihr zu Hause?“, fing Mom an. „Was hast du dir gedacht? Wieso hast du mich nicht angerufen?“
Ich zog mein Handy aus der Tasche. Es war sandig und salzverkrustet und innendrin triefnass.
„War nicht mehr zu gebrauchen“, sagte ich. Ganz kurz blitzte ein Gedanke in meinem Kopf auf: Sollte ich ihr erzählen, was passiert war?
Nein, bremste ich mich. Wenn sie erfährt, was geschehen ist, wird sie dir nicht wieder erlauben, das Boot zu verlassen – und du musst wieder zurück. Du musst dein Pferd wiedersehen …
„Mom?“ Ich atmete tief ein. „Können wir bitte rüberfahren? Ich glaube, mir wird schlecht …“
Es gelang mir, die Übelkeit unter Kontrolle zu halten, obwohl der Zodiac über die Wellen sprang und hüpfte. Ich saß zusammengekrümmt auf dem Sitz im Bug und konzentrierte mich ganz auf den Horizont, was man tut, um nicht seekrank zu werden.
Als wir an der Phaedra ankamen, knotete Mom das Gummiboot an, während ich mich die Leiter hinauf an Deck quälte. Ich zitterte immer noch, stolperte und klammerte mich an die Reling, um stehen zu bleiben.
„Bist du sicher, dass du keinen Arzt brauchst?“, fragte Mom. Blöde Frage. Selbst wenn ich einen brauchte, wo sollten wir in einem Naturschutzgebiet am äußeren Rand der Bahamas einen finden?
„Ich muss mich nur hinlegen“, blieb ich standhaft.
„Soll ich dir etwas zu essen machen?“, bot Mom an.
Vorsichtig schüttelte ich den Kopf. „Nein, danke, Mom. Ich muss bloß schlafen.“
An Steuerkabine und Kombüse vorbei schleppte ich mich aufs Oberdeck, wobei ich die Reling keine Sekunde losließ, und dann die schmalen Stufen hinunter in unsere Kabine.
Unter Deck gibt es zwei Zimmer. In dem Raum am vorderen Bootsende werden die Quallenbecken, Monitore und sonstige Ausrüstung aufbewahrt. Das andere ist für mich und Mom. Auf meiner Seite sind die Wände mit Pferdebildern tapeziert. Das schönste zeigt Meredith Michaels-Beerbaum auf ihrem Pferd Shutterfly im Sprung über ein großes Wasserhindernis bei den Olympischen Spielen.
Ich ließ mich vornüber auf mein Stockbett fallen. Der Sonnenbrand pulsierte, mein Körper schmerzte. Dann fiel mir das Tagebuch ein, und ich zwang mich dazu, mich wieder hinzusetzen.
Meinen Rucksack hatte ich auf den Boden fallen lassen. Mit ausgestrecktem Arm griff ich danach und zog ihn näher zu mir heran, um den Reißverschluss öffnen zu können. Das uralte Tagebuch lag ganz obenauf, wo ich es hingepackt hatte, in ein schmutziges, grünes Tuch gehüllt.
Als ich es auswickelte, fiel mir auf, dass der Lumpen mit zerschlissener Spitze eingefasst war und sogar ein Kragen mit Knopfloch daran war. Vermutlich war es einmal ein altmodisches Hemd gewesen, aber es war so vermodert, dass man sich nur schwer vorstellen konnte, wie es jemand getragen haben soll.
Ich legte das Tuch beiseite und hielt das Tagebuch in meinen Händen. Meine Finger fuhren die hart gewordenen Risse entlang über das Leder und die Buchstaben, die auf der Vorderseite eingeprägt waren.
Gerade wollte ich es auf der Seite aufschlagen, an der ich zuletzt aufgehört hatte zu lesen, da waren auf der Treppe Schritte zu hören.
„Bee?“ Hastig wickelte ich das Tagebuch in das Tuch und steckte es wieder in den Rucksack. Mein Herz pochte. Einen Herzschlag lang wartete ich darauf, dass die Tür aufging.
„Ja?“
„Ich koche Nudeln. Willst du welche?“
„Ähh“, zögerte ich, „nein, danke, Mom. Ich hab keinen Hunger.“
„Okay.“
Ich wartete einen oder zwei weitere Herzschläge ab, dann hörte ich sie die Treppe wieder hinaufgehen. Gerade wollte ich das alte Tagebuch wieder aus dem Rucksack holen, als mir ein Gedanke kam.
Ich erhob mich vom Bett und zog die Schublade darunter auf, in der ich meine Bücher aufbewahrte. Ich durchwühlte den Stapel und dachte einen Augenblick, das Gesuchte sei vielleicht gar nicht dabei. Doch da war es, ganz unten. Es war kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, mit blauem Umschlag und blassgelben, linierten Seiten. Ich schlug mein „4. Klasse“-Tagebuch auf und stellte erleichtert fest, dass der Großteil der Seiten, wie vermutet, leer war.
In den letzten drei Jahren, seit ich diese Einträge geschrieben hatte, hatte sich meine Handschrift nicht besonders verändert.
Das Tagebuch war ein Schulprojekt gewesen, das unsere Lehrerin Mrs Moskowitz benotete. Wir sollten unsere Gefühle aufschreiben, doch das tat ich nie. Obwohl Mom und Dad stritten. Das war, kurz bevor sie sich trennten und wir aus Florida wegzogen.
Ich erwähnte auch Pferde nicht. Ich hatte Angst, dass mir jemand in der Klasse das Tagebuch wegnehmen und es laut vorlesen könnte, denn ich wurde ohnehin schon damit aufgezogen, ein ‚Pferdemädchen‘ zu sein.
Die meisten Einträge drehten sich darum, was ich zu Mittag gegessen und neben wem ich in der Klasse gesessen hatte und so weiter. Auf der letzten Seite hatte ich darüber geschrieben, dass Kristen Adams und ich die allerbesten Freundinnen der 4. Klasse waren. Als ich das las, zuckte ich kurz zusammen. Schöne beste Freundin! Seit bestimmt zwei Jahren hatte sie keine meiner E-Mails mehr beantwortet.
Egal, jedenfalls riss ich, nachdem ich diese Seite gelesen hatte, diese und alle anderen aus dem Buch – nur die beschriebenen. Ich trennte sie vorsichtig heraus, um die leeren Seiten nicht kaputt zu machen, knüllte die schon benutzten Blätter zusammen und warf sie auf mein Bett. Dann setzte ich mich auf meinen Kissen zurecht und strich die erste Seite glatt. Es war ein schönes Gefühl, dieses erste, leere Blatt vor mir zu haben – das darauf wartete, von mir beschrieben zu werden.
Ich dachte daran, wie Annie mir Felipas Tagebuch gegeben hatte. Sie hatte ganz ernst getan und es mir überreicht, als sei es eine Riesensache. „Bee-a-trizz“, sagte sie. „Du bist jetzt Wächterin der Worte.“
Zu dem Zeitpunkt dachte ich, es ginge darum, dass Felipas Tagebuch auf Spanisch geschrieben war und ich die Sprache konnte, weshalb ich darauf aufpassen sollte. Doch jetzt wurde mir klar, dass Annie möglicherweise noch etwas anderes gemeint hatte. Sie hatte gesagt, ich sei die Wächterin der Worte. Vielleicht waren also auch meine Worte von Bedeutung? Nach allem, was mir in den letzten zwei Tagen widerfahren war, draußen im Watt und bei Annie zu Hause, hatte ich endlich etwas Wichtiges aufzuschreiben. Meine eigene Geschichte zu erzählen.
Es sollte nicht so sein wie bei den Seiten, die ich herausgerissen hatte. Dieses Mal würde ich die Wahrheit schreiben, wie es bei Tagebüchern sein sollte, und gleichzeitig etwas Unglaubliches. Anfangen würde ich mit dem Tag, an dem ich mein Pferd fand. Frei galoppierend am unmöglichsten Ort, den man sich nur vorstellen konnte. Hier, auf dieser winzigen Insel, eine Million Kilometer von irgendwo entfernt, am äußeren Rand der Karibik.
Wenn das alles überhaupt einen Sinn ergeben soll, dann muss ich ein wenig in der Zeit zurückgehen und erklären, wie ich überhaupt nach Great Abaco auf den Bahamas kam.
Mom und ich waren mitten in einer Quallenblüte angekommen, wie immer. So nennt man eine große Ansammlung von Quallen. Damit beschäftigt sich meine Mutter – sie folgt den Spuren der Quallen und erforscht ihr Fortpflanzungsverhalten.
Ich war zehn Jahre alt, als Mom mich von der Schule nahm und mich mitten ins Nirgendwo beförderte. Mittlerweile schleift sie mich seit drei Jahren auf der Phaedra mit sich herum, von Insel zu Insel, was zur Folge hat, dass die Landkarte der Bahamas in mein Gehirn eingebrannt ist.
Quallen sind übrigens vollkommen hirnlos. Das sage ich nicht nur aus Missgunst, weil sie das belagern, was eigentlich mein Zimmer sein sollte – es stimmt wirklich. Mom meint, sie kämen ganz wunderbar ohne Gehirn klar. Die Natur sei, im Gegensatz zum Menschen, in solchen Angelegenheiten völlig wertfrei. Ich finde allerdings, dass die Natur sich mal ernsthaft mit sich selbst auseinandersetzen sollte, weil sie ein paar wirklich bescheuerte Dinge erfunden hat. Wer wusste zum Beispiel, dass Mund und Anus einer Qualle dasselbe Loch sind? Bäh!
Auch ohne Hirn versammeln sich Quallen und schwärmen und wenn sie das tun, dann folgen wir ihnen. Unser Boot, die Phaedra, ist wirklich schön. Sie ist ganz weiß lackiert und ihr Name steht in geschwungenen blauen Buchstaben direkt oberhalb der Wasserlinie geschrieben, sodass es aussieht, als tanzte er auf den Wellen.
Ursprünglich wurde die Phaedra als Hummerkutter gebaut, deshalb schafft sie nicht mehr als zwölf Knoten in der Stunde. Was nicht schlimm ist, weil sich die Quallenschwärme, denen wir folgen, nie schneller als mit zwei Knoten pro Stunde bewegen.
Manche Inseln, zu denen die Quallen uns führen, sind winzig klein und bestehen aus nicht mehr als einem Riff und ein paar Bäumen. Andere sind riesig, mit großen Hotels und Spaßbädern, und wenn zu Weihnachten die Touristen kommen, verwandeln sie sich in Disneyland.
Wir waren zum ersten Mal auf Great Abaco. Das ist eine abgelegene Insel mit einem weitläufigen Dschungel, weit entfernt von der Hauptinsel Nassau, und wir hatten unseren Kurs so geplant, dass wir im Hafen von Marsh Harbour über Nacht ankern, Vorräte einkaufen und tanken konnten.
An diesem ersten Abend gingen wir an Land, anstatt in unserer winzigen Kombüse zu kochen, und Mom spendierte uns ein Abendessen bei Wally’s. Dort treffen sich die ortsansässigen Taucher: ein leuchtend pinkfarbenes, zweistöckiges Gebäude, heruntergekommen, aber auf nette Art. Wir saßen auf dem Balkon und ich bestellte einen Muschel-Burger, wie immer, und dazu Pommes und ein Stück Limettentorte. Ich hatte mein Dessert halb aufgegessen, als ich Mom darauf ansprach, nach Florida zurückzukehren.
Das Lustige ist, als wir Florida verließen, hatte Mom mich absolut überzeugt, dass unser Leben ein Riesenspaß werden würde. Ein Abenteuer. Ich würde die Schule sausen lassen und die sieben Meere bereisen – wie ein Pirat oder so.
Ich schwöre, so ist es ganz und gar nicht.
Zuallererst einmal habe ich immer noch Schule. Nur bin ich jetzt eine dieser komischen Leute, die zu Hause unterrichtet werden. Ich arbeite Fernlernkurse und Lehrbücher durch und bespreche mich per Internet mit meinen Lehrern.
„Ich habe hier keine Freunde“, sagte ich zu Mom, während ich meinen Kuchen aß.
Als ich von der Schule abging, machten alle einen Aufstand, wie sehr sie mich vermissen würden und dass sie in Kontakt bleiben wollten. Besonders Kristen, die eine Riesenshow abzog, dass wir für immer und ewig beste Freundinnen bleiben würden. Für immer und ewig dauerte, wie sich herausstellte, ein paar Monate, bevor die E-Mails und Telefonate per Skype einfach aufhörten.
„Nun, vielleicht musst du dich etwas mehr anstrengen“, entgegnete Mom.
Das sagt sie immer. Doch sie konnte nicht behaupten, dass die Sache mit den Pferden meine Schuld war.
Zu Hause in Florida lagen die Ställe nur ein Stück die Straße hinunter. Nach der Schule stellte ich auf dem Heimweg mein Fahrrad dort ab und fütterte die Pferde über den Zaun hinweg. Seit ich klein war, hatte ich Mom wegen Reitstunden angebettelt, und unmittelbar bevor wir wegzogen, hatte sie mir versprochen, ich könnte damit anfangen.
„Hast du gesagt“, beharrte ich. „Du hast es versprochen.“
Mom seufzte. „Manchmal laufen die Dinge nicht so, wie wir es uns wünschen …“
Das Problem ist, dass ich präzise geplant habe, eine fantastische Reiterin zu werden und an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Mom weiß das, denn ich rede über nichts anderes.
„Mir läuft die Zeit davon“, erklärte ich ihr. „Meredith Michaels-Beerbaum hat in meinem Alter schon ihren ersten Grand Prix gewonnen. Wie soll ich auf einem Boot für Olympia trainieren?“
Mom streckte ihren Löffel zu mir herüber und bediente sich an meiner Torte.
„Mom! Du nimmst mich nicht ernst“, sagte ich. „Ich will wieder nach Florida.“
„Nein.“
„Du kannst nicht einfach Nein sagen. Ich bin Bürgerin der Vereinigten Staaten und ich habe Rechte.“
„Du hast das Recht, zu schweigen“, sagte meine Mutter.
„Wie wäre es, wenn ich bei Dad wohnen würde? Ich könnte dich in den Ferien besuchen …“
„Beatriz!“ Ich darf Dad nicht einmal erwähnen, ohne sie wütend zu machen. „Ich habe gesagt, du sollst das Thema lassen, okay? Das ist keine Option. Du wohnst bei mir. Ende der Diskussion.“
Am darauffolgenden Morgen brachen wir im Morgengrauen auf, tuckerten aus dem Hafen in Richtung Süden entlang der Küstenlinie der Cherokee-Meeresenge, wo die orangeroten, mintgrünen und zitronensorbetfarbenen Strandhütten wie Farbtupfen den Sand sprenkelten.
Als wir das Ende der Meeresenge erreichten, waren die Hütten mit ihren leuchtenden Farben und den hübschen Gärten verschwunden und die Küste war farblos und vom Wind gezeichnet. Die weißen Sandstrände waren menschenleer und anstelle gepflegter Blumenrabatten wucherte Gestrüpp von Meertrauben, Mangroven und Oschersträuchern.
Das war das Great-Abaco-Wildnisreservat. Der ganze südliche Teil der Insel war unbewohnt, bedeckt von Wäldern aus Karibischer Pinie, Trompetenbaum und Blutbeere. Vom Boot aus betrachtet wirkte der Dschungel wie eine dunkle Wolke über dem Land, als wir vorbeifuhren.
„Hier ankern wir.“ Mom drosselte den Motor.
„Wo ist hier?“, fragte ich und schaute skeptisch auf die verlassene Küste.
Mom schaute weiter auf das Kontrollgerät, während sie die Phaedra steuerte.
„Shipwreck Bay, die Bucht der versunkenen Schiffe“, sagte sie.
Sie reichte mir die Karte, den Blick nach wie vor auf das Tiefenkontrollgerät geheftet, und jetzt konnte ich sehen, weshalb sie so vorsichtig manövrierte. Am Eingang zur Bucht gab es ein verborgenes Riff, so dicht unter der Oberfläche, dass es beinahe unmöglich war, hindurch zu navigieren.
Ich lief zur Seite der Phaedra und starrte nach unten ins Wasser. Es veränderte beständig seine Farbe, als wir über das Riff fuhren, und wurde zu tiefem Indigoblau, wo das Wasser am tiefsten war. Ich sah, wie sich unter den Wellen Schatten bewegten. Riffhaie, große, wie es schien. Dann noch ein Schatten, weiter unten, der dem Umriss eines Schiffes glich. Ich legte mich auf das Deck der Phaedra, streckte meinen Kopf zur Seite über den Rand des Bootes hinaus, um besser sehen zu können, und starrte in das dunkle Wasser. Es war wirklich ein Schiff. Als wir darüber hinwegfuhren, konnte ich den Umriss des Mastes ausmachen.
„Bee?“, rief Mom mir zu. „Wirf den Anker aus, ja?“
Mom ließ die Motoren der Phaedra laufen und drehte das Boot in den Wind, während ich nach unten, durch unser Zimmer und das Quallenquartier rannte, um die Ankerwinde anzuwerfen. Ich drückte fest auf den Knopf und der Motor spulte die Kette ab und senkte den Anker ins Meer. Ich sah dabei zu, bis der Anker die Zwölf-Meter-Marke erreichte und anhielt. Er war auf dem Meeresgrund aufgeschlagen.
Bis ich wieder oben an Deck war, hatte Mom schon angefangen zu arbeiten. Sie hatte ihren Laptop hervorgeholt und auf dem Küchentisch lagen verschiedene Karten.
„Was machst du heute, Bee?“, fragte sie mich.
Manchmal, wenn Mom arbeitet, bleibe ich an Bord, liege auf dem Deck und lese. Ich bin braun wie eine Kaffeebohne von all der Leserei. Mom sagt, das liege an unserem spanischen Blut – wir werden schnell braun. Sie ist so dunkel wie ich und hat dasselbe schwarze Haar, abgesehen davon, dass meines lang ist und sie ihres kurz trägt.
Problematisch ist, wenn ich an Bord bleibe, dass Mom nicht gern „untätige Hände“ sieht. Es gibt immer eine ganze Liste von Aufgaben, die sie nur zu gern auf mich abwälzt.
„Ich gehe an Land“, sagte ich.
„Hast du deine Schularbeiten gemacht?“ Sie sah nicht hoch.
„Ja“, log ich. Am Freitag stand mir ein Spanischtest bevor, für den ich noch nicht gelernt hatte. Aber das konnte ich später auch noch. Wenn man zu Hause unterrichtet wird, kann man sich seinen Stundenplan eigenständig einteilen.
Ich stand an Deck der Phaedra und schaute zur Insel. Den Zodiac brauchte ich nicht. Bis zum Strand waren es nur vierzig Meter und so weit konnte ich leicht schwimmen.
Es war kein Witz, als Mom sagte, ich hätte es ins Schwimmteam geschafft. Wenn ich trainieren würde, könnte ich es vielleicht bis zu den Olympischen Spielen schaffen. Ich kann schwimmen wie ein Fisch. Vielleicht sogar besser als so mancher Fisch. Deshalb sorgt sich meine Mutter nie um mich.
Ich stieg aus meinen Shorts, zog mein T-Shirt aus, stand im Bikini auf dem Rand des Bootes und schaute nach unten auf das tiefblaue Wasser. Dann streckte ich die Arme über den Kopf und sprang.
Das Wasser war kühler, als ich erwartet hatte. Es war wie ein kleiner Schock, der mich kurz nach Luft schnappen ließ, als ich wieder an die Oberfläche kam und begann, in Richtung Strand zu schwimmen. Etwa alle zehn Züge hob ich den Kopf, um zu sehen, wie weit ich noch zu schwimmen hatte. Als ich der Insel näher kam, zeichnete sich der Dschungel dunkel am Horizont ab. Ich war mitten in einem Schwimmzug, als eine heftige Eruption die Baumwipfel erzittern ließ. Eine Schar leuchtend roter Papageien stob in den Himmel, mit den limettengrünen Flügeln schlagend, krächzend und lautstark klagend.
Ich hielt an und blieb im Wasser stehen, während ihre Schreie durch die Bucht hallten. Ich konnte nicht sehen, was sie erschreckt hatte. Mit der Hand schirmte ich meine Augen gegen das auf der Wasseroberfläche gleißende Sonnenlicht ab und spähte in Richtung Dschungel. Da! Ein Schatten, der zwischen den Bäume hindurch zuckte. Ein Schauer fuhr mir über den Rücken. Ich zögerte, dann senkte ich den Kopf und schwamm weiter.
Shipwreck Bay war wie ein Hufeisen geformt und ich schwamm direkt zur Mitte der Biegung. Weißer Sand erstreckte sich etwa einhundert Meter in beide Richtungen.
Mein Plan war, den Strand entlang bis zur nächsten Bucht und dann den ganzen Weg zur Landspitze zu laufen, was meiner Schätzung nach etwa zwei Stunden dauern würde – pünktlich zum Abendessen wäre ich wieder zurück.
Ich lief los und freute mich darüber, dass meine neuen Riffschuhe alienartige Spuren im Sand hinterließen – mit Kreisen wie Tintenfischsaugnäpfe an den Sohlen und ohne Zehen. Die Papageien schwiegen mittlerweile, doch ich hielt dennoch ein wachsames Auge auf die Bäume.
Als ich um die Felsen herum in die nächste Bucht lief, wurde mir klar, dass mein Plan, bis zur Landspitze zu laufen, nicht aufgehen würde. Die Bucht vor mir war ebenso sandig wie die, vor der die Phaedra geankert hatte, aber am südlichen Ende war eine Klippenwand, die unmittelbar ins Meer mündete, zu steil zum Klettern. Wenn ich weiterwollte, musste ich in Richtung Inland laufen.
Als ich mir meinen Weg durch schwarze Mangroven und taillenhohe Strandbinsen bahnte, wurde der Boden unter meinen Füßen matschig. Ich war noch nicht weit gegangen, als ich ein Jucken an meinem Knöchel spürte. Ich schaute nach unten und sah einen großen schwarzen Blutegel an meinem Bein, unmittelbar oberhalb des Schuhrandes.
Wenn man einen Egel entfernen muss, darf man auf keinen Fall in Panik ausbrechen. Wenn man ihn abreißt, spuckt er in die Wunde und verursacht eine Infektion. Man muss den kleinen Schmarotzer vorsichtig mit dem Fingernagel lösen und dann abziehen.
Ich versuchte es, ekelte mich aber so sehr, dass ich immer wieder die Hand wegzog. Gerade als ich endlich den Mut aufbrachte, wurde der Blutegel so prall und dick, dass er von selbst abfiel. Ich trat darauf und mir wurde ein wenig übel, als ich mein eigenes Blut heraustriefen sah.
Danach erschreckte mich jeder Grashalm, der mein Schienbein streifte. Ich stellte mir glänzende schwarze Egel vor, die sich an meinem Fleisch festsetzten, auf der Suche nach einem warmen Puls, in den sie ihre Zähne schlagen konnten.
Als ich dem Dschungel näher kam, brandete das Geschrei der Papageien wieder auf. Von den Wipfeln der Pinien kreischten sie, als wollten sie mich warnen: Vorsicht! Gefahr, Gefahr!
Dann, plötzlich, ein anderer Laut. Er übertönte die Rufe der Papageien. Ein Knacken und Krachen, als sich irgendetwas durch das buschige Unterholz der Pinien bewegte.
Ich stand regungslos und lauschte angestrengt. Was auch immer das war, es war groß, und es kam auf mich zu. Schnell.
Dem Geräusch nach zu urteilen, das es machte, als es auf mich zu preschte, konnte es nichts anderes sein als ein wilder Eber! Sie leben im Dschungel auf den meisten Inseln der Bahamas und die Einwohner jagen sie wegen ihres Fleisches. Man sollte gut zielen können, wenn man Eber jagt, denn wenn man sie nur verletzt, werden sie wütend. Eber haben lange Stoßzähne, mit denen sie einen auf der Stelle töten können.
Ich schaute mich um, auf der Suche nach einem Baum, den ich hochklettern könnte, aber da waren bloß Kermesbeere und Trompetenbäume, beides zu dürr, um mein Gewicht zu tragen. Mein Herz hämmerte. Der Eber musste ganz in der Nähe sein, doch ich konnte nirgendwohin fliehen. Ich hastete umher und versuchte, einen Stock zu finden, etwas Großes und Stabiles. Das Krachen war ohrenbetäubend, so nah …
Da tauchte sie plötzlich auf der Lichtung vor mir auf.
Später schämte ich mich sogar ein bisschen, dass ich vor Angst zurückgeschreckt war, als ich sie zum ersten Mal sah. Aber wie gesagt, ich dachte, sie sei ein Eber. Eine Stute ist so ziemlich das Letzte, was man im Dschungel erwartet.
Sie hatte ein komplett weißes Gesicht, bleich wie Knochen, und ihre hervorstechenden blauen Augen erinnerten an Saphire in feinstem Porzellan. Über ihren wilden Augen hingen Kletten und kleine Zweige in ihrer Mähne, was an religiöse Gemälde von Jesus mit der Dornenkrone erinnerte, und ihre Mähne am Hals war derart verfilzt, dass sie sich in Dreadlocks verwandelt hatte.