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Martha Grimes


 

Inspektor Jury
lässt die
Puppen tanzen

 

 

Roman

 

 

Aus dem Englischen
von Cornelia C.Walter

 

 

 

 

 

 

 

1

Benny Keegan sauste den Korridor im fünften Stock des Zetter entlang, sein kleiner Hund Sparky folgte ihm brav auf den Fersen. Schwungvoll hielt Benny das Tablett mit einer Hand hoch, so wie er es bei Gilbert gesehen hatte. Als die Kaffeekanne ein Stückchen rutschte und die Tassen leise klapperten, nahm er es jedoch schnell wieder herunter und hielt es mit beiden Händen fest. So etwas musste er erst noch üben.

Nicht, dass das Hotel ihn jemals als Zimmerkellner einstellen würde. Dafür, hatte es geheißen, bräuchte ein Sechzehnjähriger noch jede Menge »Würze«. Die Leute, die das Einstellungsgespräch mit ihm geführt hatten, lachten über den Ausdruck »Würze« – wie bei Speisen, kapiert? Benny verstand sehr wohl und setzte insgeheim noch eins drauf. Er war nicht sechzehn, sondern erst dreizehn: Und ihr seid drauf reingefallen, kapiert?

Dreizehn! Doch was ihm an Körpergröße und Erfahrung fehlte, machte er durch Tiefgründigkeit wett – in seinem Blick, seiner nachdenklichen Miene, seiner auffälligen Ernsthaftigkeit und Weltgewandtheit.

»Und die richtige Würze«, hatten sie hinzugefügt, »kriegst du in der Küche – beim Tellerwaschen und in der Spätschicht …«

Und nun sprang er mit seinem Hund für den alten Gilbert ein und brachte ein Tablett mit Kaffee hoch.

Er klopfte an die Tür. Keine Antwort. Klopfte noch mal. Wie lief so etwas normalerweise eigentlich ab? Auf die Feinheiten war der alte Gilbert nicht eingegangen: Dieser Gast hier hatte sich das Abendessen aufs Zimmer kommen lassen und anschließend noch einen Kaffee bestellt. Es müsste also jemand da sein. Benny klopfte erneut. Gilberts Chipkarte hatte er dabei. (»Pass gut darauf auf, mein Junge. Braucht ja keiner zu erfahren. Ich bin bloß mal kurz weg, ’n Bierchen trinken.« Sein Lachen hörte sich verschleimt an, während er den Mantel überzog.)

Doch beim letzten Klopfen hatte die Tür nachgegeben, war ein Stückchen aufgegangen, und nun stieß Benny sie sachte auf. Dabei machte er sich erneut bemerkbar: »Zimmerservice.« Keine Antwort. Hoffentlich hatte er nicht das falsche Zimmer erwischt. Nun stand er mit Sparky in dem schwach erleuchteten Raum und sah sich vorsichtig um. Man konnte sagen, was man wollte, piekfein war das hier schon – richtig modern und schick. Nicht piekfein à la dreihundert Mäuse die Nacht, aber er hätte nichts dagegen, hier mal zu übernachten – blütenweiße Bettlaken gab es hier und Badetücher, mit denen man ein Zelt aufschlagen könnte. Und überall blitzblank poliertes Holz. Sehr nett.

Links war ein Wandbord, das man auch als Schreibtisch oder Esstheke benutzen konnte. Darauf stand das Essensgedeck, das Gilbert vor etwa einer Stunde serviert hatte. Schweres Besteck, gutes Porzellan. Die Überreste von einem Hamburger, dazu Pommes frites und kleine Töpfchen mit Senf, Ketchup und Essiggürkchen – der Inhalt üppig über die Pommes frites und den halb gegessenen Hamburger verschmiert. Wo steckte dieser Mensch bloß? Vielleicht war er ja hinuntergegangen, um mit jemandem am Empfang zu sprechen oder sonst etwas. Ins Restaurant wohl kaum, schließlich hatte er Zimmerservice bestellt. Die Schiebetür zum Balkon stand offen – zum Patio, wie es hier im Hotel vornehm hieß –, und Sparky war schon draußen und schnüffelte herum. Sämtliche Zimmer hier oben verfügten über eine Dachterrasse, und die hier war richtig groß. Vielleicht war der Gast ja dort draußen und genoss die Aprilnacht.

Weil Sparky auf einmal zu bellen anfing, trat Benny mit dem Tablett in der Hand auf die Terrasse hinaus. Dort standen ein paar Metallstühle herum, ein Tisch. Und Pflanzen, große Pflanzen in großen Töpfen. Und da sah er ihn plötzlich, direkt neben Sparky. Der Mann lag seltsam verrenkt neben dem Tisch, das Gesicht unnatürlich zur Seite verdreht.

Benny hielt sich am Tablett fest, die Kaffeekanne zitterte, die kleinen Tassen stießen aneinander. Das Tablett fühlte sich an, als klebte es an seinen Händen. Er holte ein paar Mal tief Luft, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie gebannt starrte er hinunter auf das Gesicht des Mannes, das er nur undeutlich ausmachen konnte. Ziemlich jung. Und vermutlich viel Kohle – das Jackett, das er trug, war wirklich edel. Nun ja, inzwischen vielleicht nicht mehr ganz so edel mit dem großen Blutfleck drauf.

Endlich schaffte er es, das Tablett abzustellen. Er schob den Hund beiseite und beugte sich hinunter. Eigentlich müsste er die Leiche umdrehen, aber das hatten sie bekanntlich bei der Polizei nicht so gern. Er würde den Hotelmanager oder sonst jemanden verständigen müssen. Doch das hatte Zeit. Nachdem sie ihn unten in der Küche ständig herumkommandiert hatten, wollte er sich zur Abwechslung mal von niemandem dreinreden lassen, bloß für ein paar Minuten die Zügel in der Hand haben.

Er betrachtete den Mann. Sah jung aus, fand er. Benny war sich sicher, dass er tot war. Wie jemand tot aussah, hatte er schon gesehen, es sah völlig anders aus als ohnmächtig oder im Delirium. (So was kam unter der Waterloo Bridge schon mal hin und wieder vor.) Tot sah aus, als wäre der Zug abgefahren, aus und vorbei, für immer. Trotzdem sollte er besser nachschauen, ob noch Lebenszeichen festzustellen waren. Die Arterie da am Hals? Die eignete sich gut. Er kniete sich hin und legte die Finger an die Stelle, wo Hals und Schulter sich trafen. Nichts, kein leises Pochen, gar nichts.

Sein eigenes Herz hörte er dagegen wie wild hämmern.

Der Mann war tot, keine Frage. Benny stand auf und schaute sich vorsichtig auf der Dachterrasse um, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, worauf, wusste er auch nicht. Aber so machten es die Leute von der Kripo immer. Sie schauten sich ganz genau um.

Womöglich erhaschte man dann ja einen Blick auf etwas, was nicht stimmte oder ungewöhnlich war. Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte Benny langsam den Kopf hin und her. Aber Fehlanzeige.

Benny pfiff nach Sparky und ging ins Zimmer zurück. Wieder fiel ihm das halb aufgegessene Abendessen auf. Hieß das, der Schütze hatte den Mann beim Essen unterbrochen? Oder war er einfach nicht besonders hungrig gewesen? Hamburger, Pommes mit Ketchup darüber, kleiner, gemischter Salat. Und was hatte der Kerl noch mal zu Gilbert gesagt, als der ihm das Essen brachte? Dass er später Kaffee für zwei Personen wollte.

Für zwei. Na, da haben wir es doch, klar wie Kloßbrühe: Der Typ hört es klopfen, geht an die Tür, sagt hallo, und sein Kumpel kommt rein. Vielleicht setzt er sich wieder hin und will vollends aufessen, da … Benny hob die Hände, die Linke fest um die Rechte geklammert, und feuerte seine imaginäre Pistole ab. Peng!

Sparky hatte die Schnauze tief in eine Ecke neben dem Fernseher gesteckt. Wetten, dachte Benny, dass der Sachen aufspüren konnte, die den normalen Polizeispürhunden schlichtweg entgingen. Schlauer Bursche!

Behutsam, die weiße Serviette vom Tablett als Handschuh benutzend, durchsuchte er die Taschen des Mannes – er wusste zwar, dass er nichts anfassen durfte, aber zum Teufel! Er wollte irgendwelche Ausweispapiere finden. In der Hosentasche steckte eine Brieftasche, die er vorsichtig herauszog und aufmachte. Na, wer sagt’s denn!

Benny holte sein eigenes Adressbüchlein heraus. Das hatte einmal zu einer großen Stoffpuppe im Moonraker-Buchladen gehört, wo er nachmittags arbeitete. Die Puppe hieß Kleine Reisetante und war fein herausgeputzt mit Mantel und Hut, Reisekoffer und eben diesem Adressbüchlein. Als die Ladeninhaberin meinte, sie könnte die Puppe ja für wohltätige Zwecke weggeben, da sie offenbar keiner haben wollte, hatte Benny um das Adressbüchlein gebeten. Die Puppe wollte er nicht. Na ja, eigentlich hätte er sie schon ganz gern genommen, aber wie hätte das denn ausgesehen, ein großer Junge wie er, der eine Puppe mit Koffer herumschleppte?

Zwei Nummern hatte er im Adressbüchlein notiert. (Obwohl er sie auswendig konnte, schlug er doch gern in seinem Büchlein nach.) Die eine war die vom Moonraker. Die andere fand er, trat ans Telefon und wählte.

 

Richard Jury fühlte sich prächtig. Zufrieden und mehr oder weniger vollständig angezogen saß er in seiner Wohnung in Islington und lauschte der Dusche in seinem Badezimmer, deren Wasserstrahl sich über die unbestritten schönsten Schultern im Großraum London ergoss.

Gleichzeitig hoffte er, dass die Füße, die soeben gerade aus der Wohnung im zweiten Stock die Treppe herunterklapperten, nicht auf seine Tür zusteuerten.

Nicht hier stehen bleiben, Carol-Anne. Nicht anklopfen. Nicht hereinkommen und fragen: »Wenn Sie auf dem Sofa sitzen, wer ist dann unter der Dusche?« Anders als die Mehrzahl seiner zum Himmel geschickten Gebete wurde dieses erhört. Die klobigen schweren Klapperschuhe gingen weiter bis zur Haustür, die sich öffnete und wieder schloss …

(Danke dir, lieber Gott …)

 … dann überlegte Carol-Anne es sich offensichtlich anders und kam zurück.

(… für gar nichts. Ach ja, danke, dass du mir erst weismachst, ich wäre gerettet, um mir dann patsch! eins in die Fresse zu geben.)

Tapp, tapp, tapp, Absätze auf Fußboden.

Klopf, klopf, klopf, Hand an Tür.

Jury legte die Hände trichterförmig um den Mund: »Ich bin unter der Dusche! Kommen Sie später wieder!«

Stille, dann entfernten sich die Schritte. Genüsslich versetzte sich Jury wieder in seinen vorigen Zustand besäuselter Zufriedenheit und griff nach seinem Tee.

Wieder die Haustür. Andere Schritte. Weicher, wie mit Hauslatschen: schlapp, schlapp, schlapp. Vor seiner Tür blieben sie stehen.

Es war bestimmt die alte Dame aus der Wohnung im Untergeschoss, die selten an seine Tür kam. Mrs. Wasserman. Sanftes Klopfen mit alten Handknöcheln.

Diesmal stand Jury eilends auf und huschte in die Küche, um seine Stimme von weiter weg klingen zu lassen. »Ich bin im Bad!« Im Badezimmer prasselte das Wasser hernieder.

Aus dem Hausflur waren gedämpfte Worte zu hören. Er schlich wieder zum Sofa und hörte, wie sich die Hausschlappenschritte entfernten, die Eingangstür auf- und wieder zuging.

Mit einem tiefen Seufzer nahm er seinen Teebecher zur Hand.

Ein scharrendes Geräusch auf der Treppe ließ ihn aufhorchen. Das Scharren verstummte vor seiner Tür. Dann Stille. Dann ein dumpfes Klopfen.

Meine Güte! Hatte er überhaupt kein Privatleben mehr? War er so etwas wie der Hauptkunde der Firma Störungen & Unterbrechungen? Ehrenmitglied im »Vor-uns-gibt’s-keine-Geheimnisse«-Verein? Sollte dies seine ganz persönliche Hölle sein: ein Hausflur mit einer ewigen Abfolge von Schritten, die kamen und gingen, von Leuten, die er nicht sehen konnte?

Ach was, zum Teufel damit! Er stand auf und riss die Wohnungstür auf. »Hereinspaziert, hereinspaziert, ist doch egal, wie unglaublich ungelegen ihr kommt! Das ist übrigens meine Freundin da unter der Dusche. Wenn sie gleich rauskommt, könnt ihr ihr ein Loch in den Bauch fragen, von wegen, wer sie ist und was sie hier unter meiner Dusche zu suchen hat. Unser Liebesleben ist ein offenes Buch. Nur immer herein, herein. Kann ich euch was anbieten? Bohnen auf Toast? Einen Gin?« Jury trat beiseite und schwenkte den Arm einladend von der Türschwelle zum Wohnzimmer.

Der Hund spazierte herein, ließ sich niederplumpsen und gähnte.

»Was? Ist dir etwa schon langweilig? Ach, tut mir leid, wir haben uns im Restaurant den übrig gebliebenen Kaviar nicht einpacken lassen. Soll ich vielleicht eine Creme brûlée organisieren? Oder einen Schokoriegel? Oder einen Knochen?«

Jury griff unter einen Fußhocker und zog ein ziemlich abgenagtes Lederding hervor, das er dem Hund hinschubste.

»Mit wem redest du da?«

Dass die Dusche nicht mehr lief, bemerkte Jury erst, als er ihre Stimme hörte.

»Mit Stone. Dem Hund von oben.«

Phyllis steckte den nassen Kopf durch die Tür. Er konnte den oberen Rand eines Badetuchs sehen, das sie sich umgewickelt hatte. Sie zog den Kopf wieder ein. »Bin gleich draußen.«

»Lass dir Zeit. Hier paradiert gerade lediglich ganz Islington durch.« Das sagte er aber zu sich selbst, denn die Badezimmertür war schon wieder geschlossen.

Also redete er ein Weilchen mit Stone. Nichts Weltbewegendes, nur Geplänkel, während sie es sich beide bequem machten.

Das Telefon klingelte. Natürlich! Es war ja erst halb elf, worauf warteten die Leute?

Am anderen Ende meldete sich Benny Keegan.

Jury war erstaunt. »Benny! Wie geht’s dir? Wo bist du? Was gibt’s?« Sie hatten vereinbart, dass Benny ihn jederzeit anrufen konnte, Tag und Nacht. Das hatte der Junge bisher noch nie getan.

»Ich bin im Zetter, das ist dieses schicke Hotel in Clerkenwell. An der Clerkenwell Road. Also, ich hab da einen Job angefangen, wo ich manchmal abends in der Küche aushelf.« Benny senkte die Stimme. »Und heute Abend waren sie ein bisschen knapp beim Zimmerservice, da sollte ich einem Gast ein Tablett aufs Zimmer bringen.«

Jury lächelte. Benny Keegan war dreizehn. Offensichtlich hatte das Hotel von Kinderarbeit noch nie etwas gehört. Allerdings war jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt, das Thema Alter zur Sprache zu bringen. »Schieß los.«

»Ich bring also so eine neumodische Kaffeekanne, Kaffeepresse sagt man wohl dazu, auf einem Tablett rauf in den fünften Stock. Ich klopf an, und die Tür geht von selber auf. Ich klopf noch mal und noch mal, aber es kommt keiner. Ich geh rein, niemand im Zimmer, ich also raus auf den Balkon. Auf der Etage haben nämlich alle Zimmer einen. Und da seh ich ihn. Und da is der … tot!« Den letzten Satz stieß er mit Fistelstimme hervor.

Jury setzte sich ruckartig auf. »Benny, alles in Ordnung mit dir?«

»Mit mir schon, Mr. Jury. Kann ich von dem Typ in Zimmer 523 aber nich behaupten. Da bin ich nämlich grade.«

»Hast du schon jemanden verständigt?«

Benny seufzte. »Ja, natürlich. Sie, Mr. Jury. Sie haben doch gesagt, wenn’s mal Probleme gibt –«

»Du hast vollkommen recht. Ich bin froh, dass du dich bei mir gemeldet hast. Und jetzt –«

Benny dämpfte die Stimme, als könnte der Tote ihn belauschen. »Also, das is so. Ich hab denen verzapft, also, dem Typ, der mich eingestellt hat, ich wär sechzehn. Und eben ’n bisschen klein für mein Alter. Aber das war denen vom Hotel ja egal, solang ich bloß den Müll rausgetragen hab. Aber einen Toten finden … die werden jetzt wahrscheinlich merken, äh, dass ich noch minderjährig bin.«

»Gib mir die Adresse, Benny.«

»In EC 1 isses, in der Clerkenwell Road 86–88.«

Jury notierte es sich, riss den Zettel ab und sagte: »Pass auf. Du musst jetzt sofort die Sache melden. Geh einfach runter zur Küchenmannschaft und sag, was du entdeckt hast. Soll einer von denen zur Geschäftsleitung gehen, und die soll dann die Polizei holen. Wahrscheinlich ist dort die Polizei von Islington zuständig. Auf die Art bist du aus dem Schneider. Vorläufig jedenfalls.« Sehr vorläufig. »Das machst du, ja?«

»Klar. Wenn Sie’s sagen. Der Typ heißt übrigens Maples. Steht in seinem Führerschein.«

»Was?«

»Der Tote. Der heißt Billy Maples.«

Jury steckte seinen Schreibstift wieder in die Tasche. »Benny, du sollst doch nichts anfassen.«

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein genervter Seufzer. »Klar, weiß ich doch. Die Brieftasche hab ich mit ’ner Serviette als Handschuh rausgefischt. Konnte ich dem Kerl so aus der Tasche ziehen.«

»Hol die Geschäftsleitung, Benny.«

»Ich hab aber die Leiche gefunden, Mr. Jury. Die werden mir ’ne Menge Fragen stellen.«

»Keine Sorge. Ich bin in zwanzig Minuten da.«

»Und was is mit ’nem Doktor?«

»Bring ich mit. Rühr dich nicht vom Fleck.« Er legte auf.

Jury klopfte an die Badezimmertür. »Phyllis?« Er lächelte. Selbst die Luft im Badezimmer würde wie Tau auf ihren Schultern liegen.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, dann noch ein Stück. Sie war immer noch in das große Badetuch gewickelt.

»Dr. Nancy. Wir werden gebraucht.«

Phyllis Nancy sagte: »Das ist ja wie im Film! Soll ich meinen Emma-Peel-Taucheranzug tragen? Wie in Mit Schirm, Charme und Melone? Oder lieber das rückenfreie Schwarze?«

Das »rückenfreie Schwarze« war das modische Seidenteil, das sie am selbigen Abend getragen hatte, als sie im West End zum Dinner ausgegangen waren. Der Stoff verhüllte vorneherum alles, hinten zeigte das Kleid vom Hals bis zur Taille jedoch reichlich nackte Haut.

Jury hatte sich eine Bemerkung dazu nicht verkneifen können.

»Wie wahr! Nicht gerade der Arbeitskittel einer Pathologin bei Scotland Yard«, hatte Phyllis entgegnet, als sie sich später in seinem Schlafzimmer aus dem Kleid schälte. Es glitt zu Boden.

Als sie jetzt die Tür etwas weiter aufmachte, hakte er seine Finger an der Stelle ins Badetuch, wo es übergeschlagen war. Und sah auch dieses zu Boden fallen.

»Zieh dich an. Billy Maples braucht uns.««

»Wer ist Billy Maples?«

Jury wollte gerade die Arme um sie schlingen, als ihm Benny einfiel, allein mit einer Leiche. Er hielt sich zurück. »Unser nächster Fall.«

2

Das Zetter, das Wert auf die Bezeichnung »Restaurant mit Gästezimmern« legte, lag in der Clerkenwell Road. Es besaß die schlichten, eckigen Konturen einer alten Lagerhalle, und hier war Schlichtheit in coole Eleganz verwandelt worden. Klare Formen galten nun als minimalistisches Interieur. Man musste dem Kind nur einen neuen Namen geben. So einfach war das.

Jury fragte sich, ob das Zetter womöglich Vorbote eines neuen Trends war. Vermutlich schon, wenn man bedachte, wie viele Spitzenrestaurants in letzter Zeit in London dazugekommen waren. Vor zwanzig Jahren wäre es jedenfalls undenkbar gewesen, dass die Leute allein des Restaurants wegen ein ganz bestimmtes Hotel wählten.

Da es in der Clerkenwell Road, die selbst zu dieser späten Stunde stark befahren war, keine Parkmöglichkeit gab, fuhr Jury beim St. James’ Green in eine Lücke.

Phyllis trug keinen Mantel, behauptete aber, ihr schwarzer Kaschmirschal böte ausreichend Schutz vor der Unbill der Witterung: vor Orkanen, Wirbelstürmen und Flutwellen. Es hatte heftig zu regnen begonnen, so dass sie die Straße im Laufschritt überquerten, bis sie zu einem Durchgang namens Jerusalem Passage gelangten. Dankbar stellten sie sich unter.

Eine dunkel gekleidete Gestalt kam mit gesenktem Kopf auf sie zugelaufen, auf der Flucht vor dem Regen vielleicht. In dem engen Durchgang stieß sie mit Phyllis zusammen.

»He!«, knurrte Jury.

Über die Schulter rief ihnen der Mann eine Entschuldigung zu. Jury hätte ihn ohne Umschweife angehalten, wäre ihm nicht das dunkle Gewand aufgefallen, der berufstypische weiße Kragen. Ob er vor einem zürnenden Gott davonrannte?, überlegte Jury laut. Phyllis lachte, und sie gingen weiter.

Am Empfangstresen im Hotel stellte Jury fest, dass der Todesfall dem Restaurantbetrieb herzlich wenig Abbruch getan hatte. Selbst um fast elf Uhr schien der Laden noch brechend voll zu sein.

Er zeigte der gutaussehenden Empfangsdame seinen Dienstausweis, die daraufhin leicht blasiert das Haustelefon betätigte, leise etwas hineinsprach und sich dann wieder an Jury wandte: »Sie sollen gleich raufgehen. Es ist im fünften Stock, Zimmer 523.« Sie nickte ihm lächelnd zu, wogegen sie Phyllis in ihrem kurzen schwarzen Kleid mit einem leicht skeptischen Blick bedachte, bis diese ebenfalls ihren Ausweis hervorzog.

Sie betraten einen Raum, in dem die Kollegen von der Spurensicherung bereits dabei waren, Beweismaterial einzusammeln. Eine relativ junge Frau, vermutlich das Zimmermädchen, wurde gerade vom diensthabenden Beamten befragt. Ihr Englisch war schlecht, und sie mühte sich ziemlich ab. Von hinten gesehen kam Jury der Detective irgendwie bekannt vor. Dann drehte sich dieser um.

»Ron Chilten!«, sagte Jury.

Ron setzte sein hintergründiges Lächeln auf, in Andeutung einer Fülle von Enthüllungen, die, wie Jury wusste, nie kamen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil es nichts zu enthüllen gab. Das war Chiltens Stärke. »Richard, meine Güte.« Er tat hoch erstaunt. »Was suchen Sie denn hier? Ich kann mich nicht entsinnen, einen Hilferuf losgelassen zu haben.«

»Sie brauchen mich doch immer, oder? Was treiben Sie hier außerhalb von Fulhams Stadionmauern?«

»Bei Ihnen klingt das wie frisch aus dem Knast entlassen. Stimmt vielleicht auch.« Für echten Groll war Ron viel zu locker, und Grund dafür hatte er nicht. Es ging einfach um das Revier, den Zuständigkeitsbereich. Die Polizei von Islington kam nämlich eigentlich ganz gut allein zurecht, ohne dass der Rest der Metropolitan Police ihren Senf dazugab. »Ich frage noch mal – was führt Sie hierher?«

»Ihr Starzeuge.« Jury deutete mit einem Kopfnicken auf Benny Keegan, der gerade mit einem älteren Mann redete. Beide sahen erwartungsvoll und gespannt herüber. »Ich kenne Benny gut, glaube aber nicht, dass er mit der Polizei von Islington auf vertrautem Fuß steht.«

Sie waren aus dem Zimmer auf eine Dachterrasse hinausgetreten, ein riesiges Holzdeck, um einiges größer als der Raum selbst. Am anderen Ende befanden sich ein Tisch, zwei Stühle und eine Leiche. Und Dr. Nancy.

»Wer ist das?« Er sah zu Phyllis hinunter.

Die hatte sich bereits neben die Leiche gekniet und sie einer flüchtigen Untersuchung unterzogen. Sie hob den Blick. »Dr. Phyllis Nancy. Superintendent Jury hat mich hergebeten.«

»Wir haben schon einen Arzt«, entgegnete DS Chilten in eher unsicherem als verärgertem Tonfall. Das Opfer würde keinen mehr brauchen. Das lag mit Brustschuss da, aus der Wunde sickerte Blut.

Phyllis musterte ihn. »Natürlich. Ich war zufällig da und kam einfach mit. Außerdienstliche Amtshandlung sozusagen.« Sie streifte die von der Spurensicherung geborgten Gummihandschuhe über und wandte sich wieder der Leiche zu. Ihr Verhalten war so frei von jeglicher Arroganz, dass es nahezu unmöglich war, sie als Bedrohung zu betrachten. »Ich würde ihn gern umdrehen, ja?«

Chilten nickte etwas skeptisch.

Sie tat es mit einer einzigen glatten Bewegung. Dabei ging es nicht ums Gewicht, sondern um Hebelwirkung. Jury musste daran denken, dass es sich bei den meisten Dingen so verhielt. Nun gut, bloß so ein Gedanke. »Wir sind gleich wieder weg. Es ist schließlich Ihr Fall, Ron.«

Fingerschnippend verlangte Chilten von einem der Kriminaltechniker eine Plastiktüte, ließ etwas hineinfallen und übergab sie dem Mann wieder. Dann steckte er sich nachdenklich erst einen, dann noch einen Streifen Kaugummi in den Mund und kaute bedächtig, als hätte er sonst nichts Wichtigeres zu tun. »Nicht direkt.«

Jury musterte ihn fragend. »Nicht direkt was?«

»Mein Fall.«

»Aber der von Islington.«

»Ja, schon, das heißt, er gehört Lu.«

Da er dieser Aussage nichts hinzufügte, konnte sich Jury schon denken, dass er wohl wieder Chiltens kleine Rätselstunde über sich ergehen lassen musste. »Wer zum Teufel ist Lu?«

Nun musterte Chilten ihn seinerseits fragend. »Aguilar? Sie kennen Detective Inspector Aguilar nicht?«

»Sollte ich das? Lassen Sie mich jetzt nicht bei Adam und Eva anfangen.«

Aber genau darauf hatte Chilten es angelegt. Er betrachtete das Tablett – alle beide Tabletts –, die der Zimmerservice an dem Abend gebracht hatte, und wandte sich dann den Kellnern zu, Benny und dem älteren namens Gilbert Snow. »Das ist also das Essenstablett, das Sie heraufgebracht haben?« Er musterte Snow.

»Jawohl, allerdings halb aufgegessen.«

Chilten nickte. »Du hast da doch nichts weggenommen, Benny, oder?«

»Was?« Benny schien entgeistert, dass ihm jemand so eine Frage überhaupt stellen konnte. »Wie käm ich dazu, was vom Tatort wegzunehmen!«

»Du wusstest ja nicht, dass hier jemand umgebracht worden ist, Freundchen. Oder doch?« Chiltens Stimme hatte diesen herablassenden Tonfall, den Erwachsene oft gegenüber Kindern anschlagen, dieses »Wie kannst du denn was Wichtiges wissen?«, wo du erst dreizehn oder zehn oder sechs oder acht bist. Kein Wunder, dass Kinder die Klappe zumachen, dachte Jury.

Benny sagte: »Aber der Mann da war doch ziemlich tot, oder?«

Ein Kollege von der Spurensicherung streckte den Kopf aus der Badezimmertür. »Verzeihung, Sir, aber da ist ein Hund in der Dusche.«

Chilten runzelte die Stirn. »Das Opfer hatte einen Hund? Wieso zum Teufel hat der nicht gebellt oder sonst was? Und wieso ist der –? Vielleicht wollte ihn der Schurke aus dem Weg haben.«

»Sieht so aus.«

Chilten hechtete in Richtung Badezimmer.

»Sparky?«, fragte Jury.

Benny nickte verlegen. »Also, Sparky wartet sonst immer draußen auf mich. Ich war aber schon über ’ne Stunde später dran und musste doch noch den Kaffee raufbringen. Und unheimlich gegossen hat es auch. Da dachte ich, was soll’s, das eine Mal kann er doch mitkommen, also hab ich ihn im Aufzug mit raufgenommen.«

Phyllis Nancy wollte wissen: »Ist das etwa der Sparky, der Superintendent Jury das Leben gerettet hat?«

Benny reckte die stolzgeschwellte Brust. »Genau der.« Es freute ihn, dass man sich an Sparkys großen Einsatz erinnerte.

Chilten kam zurück, der Mann von der Spurensicherung mit dem Hund hinterher.

Sparky, ein kleiner weißer Terrier, hielt sich hübsch still, bis er Jury bemerkte. Dann allerdings fing er an zu bellen und sich wie wild zu drehen und zu winden.

Chilten fragte: »War der Köter hier, als du den Kaffee gebracht hast?«

Benny sah zu Jury hinüber und merkte an dessen Gesichtsausdruck, dass er besser gleich mit der Wahrheit herausrückte. »Also, Sparky, das is mein Hund.«

»Dein Hund. Dein Hund? Na, und hat der etwa das Tablett hereingetragen?«

Der Kriminaltechniker kicherte. Chilten musterte ihn streng. Der Mann hörte auf. Chilten fuhr fort: »Was gibt’s über den Hund zu sagen, junger Freund?«

Jury sah, wie Benny bei dieser Anrede zusammenzuckte. Doch er antwortete: »Hab ich doch gesagt, ich hatte ihn eben dabei. Wir wollten danach gleich nach Hause gehen.«

»Die Geschäftsleitung findet es bestimmt ganz toll, dass dein Hund hier rumrennt. Am Tatort –«

»Wir haben aber doch gar nich gewusst, dass hier was passiert is!«

Jury wandte sich ab. Benny ging DS Chilten offenbar ziemlich auf die Nerven.

»Sehr witzig.« Chilten sah zu Sparky hinunter. »Das fehlt uns grade noch, was? Eine Leiche und ein Hund.«

Wenn es nach Jury ging, konnte es gar nicht genug Hunde auf der Welt geben: Arnold. Stone. Sparky. Mungo.

Benny sagte: »Nachdem ich den Toten gesehen hab, na ja, da hab ich Sparky ins Bad gesperrt, aus Angst, dass der sonst noch an ein Beweismittel stößt oder so.«

Sehr geschickt, dachte Jury. Er legte die Hand auf Bennys Schulter. Offenbar hatten alle vergessen, dass der Junge eben erst eine Leiche gefunden hatte und dies ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein musste.

Chilten sah zur Zimmertür hinüber. Soeben war ein Mann eingelassen worden. »Mr. Lewis?«

»Ganz recht. Ich vertrete den Geschäftsführer, der heute Abend nicht hier ist. Sie wollten etwas über den äh, über das Opfer wissen? Maples heißt er, Billy Maples.« Mr. Lewis blickte grimmig drein. Auf diesen Mord während seiner Dienstzeit hätte er gut verzichten können. »Ich kann Ihnen bloß sagen, dass er heute Nachmittag eingecheckt hat, so etwa um zwei Uhr. Ich habe kurz im Computer nachgesehen, bevor ich heraufgekommen bin. Ich wusste ja, dass etwas Schlimmes passiert war.«

Chilten nickte. »Und weiter?«

»Als Wohnort hat Mr. Maples Chelsea angegeben. Hier, bitte. Ich habe es Ihnen zusammen mit der Telefonnummer aufgeschrieben.« Lewis hielt einen Zettel hoch. Genau so eines lag auch hier neben dem Telefon. Er blickte zwischen Chilten und Jury hin und her, unsicher, wer von beiden zuständig war.

Jury machte eine Kopfbewegung zu Chilten hinüber.

Chilten nahm den Zettel. »Noch etwas, Mr. Lewis. Die Zimmer hier auf dieser Etage – Sie nennen sie Studios, nicht? Die sind bestimmt ganz schön teuer, was?«

Lewis zuckte die Schultern. »Ja, ich denke schon. Dieses hier ist das First-Class-Studio. Dann gibt es noch das Deluxe, das kostet etwas mehr. Sie haben aber auch mit die beste Aussicht auf London. Wie Sie sehen können.« Er machte eine ausladende Geste in Richtung Dachterrasse. Sie traten hinaus und genossen den Ausblick, der sich von hier oben bot.

Ausblick mit Leiche, dachte Jury. Trotzdem war es wunderschön: auf der einen Seite der Kirchturm von St. Paul, auf der anderen die Spitze des Fernsehturms. London bei Nacht. Einfach umwerfend. Er lächelte über das Häusermeer hinweg.

»Ich selbst habe die Buchung nicht vorgenommen, kann mich aber nach etwaigen Details erkundigen.«

»Wenn Sie so gut wären. Leisten konnte er es sich, nehme ich mal an, seinem Anzug nach.« Chilten sah zu der Leiche hinunter, als wollte er sie wieder zum Leben erwecken, nur damit er sich nach dem Anzug erkundigen konnte. »So einen habe ich in einem Schaufenster in der Upper Sloane Street gesehen. Beschaffen Sie mir alle Informationen, inklusive Telefonlisten. Sämtliche von hier getätigten und entgegengenommenen Anrufe. Ein Handy haben wir noch nicht entdeckt, obwohl so ein feiner Schnösel wie der bestimmt eins bei sich hatte.«

Jury lächelte, als er den Ausdruck »Schnösel« hörte. Wie lange war es her, dass er ihn zuletzt gehört hatte?

Chilten nickte dem stellvertretenden Geschäftsführer abschließend zu. »Das wär’s dann vorab. Danke.«

Mr. Lewis empfahl sich.

Phyllis stand auf und streifte die Handschuhe ab. Sie zitterte in der kalten Abendluft. »Ich würde sagen, es ist vor einer guten Stunde etwa passiert, das kommt ungefähr hin. Zwei Stunden wäre zu reichlich angesetzt. Aber den Zeitrahmen kennen wir ja, nicht?«

»Das Abendessen kam etwa um neun Uhr herauf, behauptet dieser Gilbert –«

»Snow, Sir. Um neun Uhr, stimmt.«

»Und der Kaffee dann gegen zehn.«

Ron nickte und blätterte kurz in seinem Notizbuch.

Wie viele Seiten konnte der um alles in der Welt denn bereits vollgeschrieben haben, wenn er lediglich eine Viertelstunde vor Jury hier eingetroffen war?

»Okay. Snow, der Kellner, bringt um neun das Essen rauf, unser junger Freund Benny dann den Kaffee –« Erneuter Blick auf seine Notizen. »Um zehn oder zehn nach zehn. Er ist sich nicht absolut sicher, weiß aber, dass das ungefähr hinkommt –«

»Entschuldigung, Sir.«

Benny stand zusammen mit dem alten Kellner dicht neben Jury.

»Gil meint grade, Ihnen entgeht da was ganz Wichtiges.« Dies brachte Benny in einer Abfolge von etwa einem Dutzend getrennter Silben hervor, wahrscheinlich um ganz sicherzugehen, dass Chilten und Jury die Wichtigkeit erkannten. »Sagen Sie’s ihnen, Gil.«

Gilbert Snow war weit über sechzig, hatte traurige Augen und eine leicht blässliche Gesichtsfarbe und schien, wenngleich keineswegs korpulent, sich doch in der Hotelküche gut durchgefuttert zu haben.

»Also, das war etwa so: Der junge Herr bestellt sich sein Abendessen, und ich bring es ihm rauf. Dann sagte er, er will Kaffee, aber der sollte so etwa um zehn gebracht werden. Kaffee für zwei Personen wollte er, für zwei. Darauf hat er extra Wert gelegt.«

Jury sagte: »Dann erwartete er also jemanden.«

Benny nickte. Gil ebenfalls. »Na ja, könnte man doch annehmen, oder?«

Jury überlegte, weshalb Snow den Kaffee nicht selbst heraufgebracht hatte, bohrte jedoch nicht weiter, sondern hob sich die Frage für später auf. Falls Chilten ihm nicht zuvorkam. Was der jedoch nicht tat. Hatte er vielleicht bereits. Der Kellner war – abgesehen von dem erwarteten Gast – womöglich der Letzte gewesen, der das Opfer lebend gesehen hatte. Gilbert Snow wusste, was das zu bedeuten hatte. Und wer wollte so etwas schon auf sich sitzen lassen?

»Sagen wir, der Tod trat vor anderthalb Stunden ein. Natürlich inklusive der Zeit, die wir für die Fahrt hierher brauchten.«

»Phyllis?« Jury sah sie fragend an. »Über den Daumen gepeilt ungefähr?«

»Kann ich nicht genau sagen. Der Zeitraum selbst lässt sich leicht eingrenzen. Vor und nach der Tat gibt es einen Zeugen –« Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Aber über den exakten Todeszeitpunkt kann ich erst etwas sagen, wenn ich – ich meine, wer eben die Autopsie durchführt –, wenn die also gemacht ist. Ich verstehe aber nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Denken Sie an Ihren Sherlock Holmes, Jury«, sagte Chilten.

»Der ist mir stets präsent. Wieso?«

»Die einfachste Theorie ist die beste. Und meistens auch die richtige.«

»Das ist nicht Holmes. Das ist ›Ockhams Rasiermesser‹, auch das Sparsamkeitsprinzip genannt.«

Phyllis trat Jury auf den Fuß und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Dann meinte sie in die Runde: »Ich gehe dann jetzt. Und Benny nehme ich am besten mit, meinen Sie nicht?«

»Nehmen Sie meinen Wagen.« Jury kramte in seiner Tasche nach den Schlüsseln.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich lasse uns ein Taxi kommen. Ich rufe unten beim Empfang an.«

»Ich glaube, Benny sollte lieber auf Detective Inspector Aguilar warten«, meinte Ron.

Jury seufzte. »Wo zum Teufel steckt denn dieser Kerl? Der lässt sich ja ganz schön Zeit –«

»Direkt hinter Ihnen.«

3

Jury hatte mit dem Rücken zur Tür gestanden. Rasch drehte er sich um und sah, dass Chiltens »Lu« in der Tat kein männliches Wesen war. Bei Detective Inspector Aguilar handelte es sich unbestreitbar um eine Frau.

Und um was für eine! DI Lu Aguilar hatte der Luft förmlich sämtlichen Sauerstoff entzogen, als sie hereingekommen war. Hochgewachsen, gertenschlank, schwarzes Haar, dunkle Augen, bronze schimmernde Haut. Aguilar: Der Name könnte vieles sein – lateinamerikanisch oder spanisch, südamerikanisch, sogar indianisch. Lu konnte für Louise stehen, Lucille, Louella, ach was, seinetwegen konnte sie auch Lucrezia Borgia heißen. Mit diesen Formen, diesen Wangenknochen und dieser arroganten Pose wirkte sie so, als käme sie eben von einem Pariser Laufsteg und nicht von einer Islingtoner Polizeiwache. Er überlegte, ob sie auf ihre Mannschaft dieselbe Wirkung ausübte. Die stand wie atemlos abwartend da, bis auf Ron Chilten, bei dem Jury nie erlebt hatte, dass ihm irgendetwas den Atem geraubt hätte.

Anstatt sich zu erkundigen, wer er war, hob DI Aguilar mit einer Geste äußerster Geringschätzung die Augenbrauen.

Er musste beinahe lachen. »Richard Jury.«

Dies stellte die Augenbrauen jedoch nicht zufrieden. Die blieben oben.

»Superintendent, Kriminalpolizei New Scotland Yard.«

Immer noch nicht zufrieden, bediente sie sich nun jedoch der Worte: »Wie kommt es, dass Sie sich an einem Tatort aufhalten, der in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, Superintendent?«

Chilten – den der kleine missliche Zwischenfall enorm amüsierte, was Jury sich schon hatte denken können – kam ihm zu Hilfe: »Der Junge, Benny Keegan, hat ihn verständigt. Benny fand die Leiche.«

Sie nahm es zur Kenntnis. »Na, wen haben wir denn da?«

Einer der Kriminaltechniker reichte ihr eine Brieftasche. »Billy Maples heißt er.«

Sie sah alles durch, Führerschein, Kreditkarten, diverse andere dort hineingestopfte Siebensachen. Nahm dann den Führerschein heraus und gab Ron die Brieftasche.

Nun wandte sich DI Aguilar an Benny, der zusammen mit Sparky gespannt neben Phyllis verharrt hatte. »Du bist also Benny«, sagte sie.

»Ja, Sir – äh – Chefin.«

»Und du?« Sie richtete sich an Sparky.

»Der heißt Sparky«, kam es von Phyllis. »Und ich bin Doktor Phyllis Nancy. Pathologin.«

Jetzt machen Sie aber mal halblang, konnte Jury bei Phyllis heraushören.

»Und hat der Hund etwas Brauchbares zutage gefördert?«

Bennys Augen verengten sich zu Schlitzen. »Der hat heute Abend noch nicht mal sein Futter gekriegt. Wir sind nämlich schon seit ’ner guten Stunde hier.« Dann wiederholte er, was er Jury und Ron Chilten gesagt hatte.

Lu Aguilar bedankte sich knapp. »Du kannst gehen, Benny, aber vielleicht möchte ich später noch mal mit dir reden. Und du hältst doch dicht, nicht wahr?«

Jury konnte sich schon vorstellen, wie »dicht« Benny halten würde, sobald er erst wieder bei seinen Freunden unter der Waterloo Bridge war. Das konnte man glatt vergessen.

Doch der Junge nickte folgsam.

»Na, dann komm, Benny«, meinte Phyllis. »Ich fahre dich nach Hause. Dich und Sparky.« Sie wandte sich an Aguilar. Phyllis’ Ton war frostig, doch ihr Haar sah aus, als stünde es in Flammen. »Sie werden ja Ihren eigenen Pathologen haben. Ich habe DS Chilten meine Erkenntnisse mitgeteilt.«

Dass ihr Haar Funken sprühte, hatte Jury schon einmal gesehen. Dass es in Flammen aufging, noch nie. Phyllis wartete nicht ab, bis man sie hinauskomplimentierte. »Wir sehen uns dann morgen«, sagte sie zu Jury.

»Ja, sicher.« Es war ihm im Stillen etwas unbehaglich, dass er Privates und Berufliches vermischte. Gleich darauf bereute er diesen Gedanken wieder. Wenn es jemanden gab, der wusste, wie wichtig es war, beides sauber voneinander zu trennen, dann Phyllis.

Sie gingen. Sparky nahmen sie mit.

Ron informierte DI Aguilar über das, was man bis dahin herausgefunden hatte.

»Wo war also dieser Essensgast?«

»Kaffeegast vielmehr, und mutmaßlich der Mörder.«

Er deutete zu Snow hinüber, der auf einem Hocker saß. »Das ist Gilbert Snow, der Zimmerkellner, der das Abendessen heraufgebracht hat. Und Benny Keegan um zehn nach zehn dann den Kaffee.« Chilten konsultierte seine Notizen.

»Rufen Sie ihn herüber«, sagte sie, auf den Kellner deutend.

Ron tat es.

Sie hätte, überlegte Jury, auch zu Snow hinübergehen können.

Der alte Kellner wiederholte für DI Aguilar noch einmal die gleiche Geschichte, die er Jury erzählt hatte. Dann fragte er, ob er nun gehen könne.

»War ’n langer Tag. Setzt mir ganz schön zu, so was.« Dabei schlug er sich sachte gegen die Brust. »Herz will nich mehr so recht.«

Sie lächelte ihm aufmunternd zu. Er ging.

Ron schaltete sich ein. »Eins frag ich mich aber doch: Wenn Maples zwischen Abendessen und Kaffee ermordet wurde, wo war dann der Schütze, als Benny hereinkam? Ich meine, hätte er noch hier im Zimmer sein können?«

»Wenn sie alle die Wahrheit sagen«, sagte DI Aguilar, bevor sie sich kurz den beiden Kollegen von der Spurensicherung zuwandte, die noch nicht gegangen waren. »Irgendwas gefunden?«

»Schon, aber nichts Handfestes, Chefin. Wir sind hier so weit fertig. Bis auf Connie. Der montiert noch im Bad drüben den Ablauf wieder zusammen.«

Aguilar nickte und schaute den beiden nach. Sie bewegten sich behutsam, als wollten sie nicht einmal die Luft im Raum durcheinanderwirbeln, als würde diese ebenfalls noch einmal für weitere Untersuchungen gebraucht. Dann wandte sie sich wieder Jury und Chilten zu.

Chilten runzelte die Stirn. »Wen meinen Sie mit ›sie‹?«

»Die beiden Zimmerkellner und die Frau vom Empfang«, erwiderte Aguilar.

Chilten blätterte seine Notizen durch, was eine Ewigkeit zu dauern schien.

»Okay. Snow sagt, er brachte um neun das Essen hoch.« Ron hielt inne und deutete auf die Überreste des Abendessens. »Hamburger, Pommes frites und irgendein Salat.«

»Kleiner gemischter Salat«, sagte Aguilar. Sie hatte sich die Zimmerspeisekarte gegriffen, sie aufgeschlagen und deutete nun auf das Gericht.

Jury lächelte. Vielleicht war es Aguilars Anflug von Häuslichkeit, was ihm ein Lächeln entlockte.

Chilten fuhr fort: »Sagen wir, etwa um neun ging Gilbert Snow wieder, Maples widmet sich ungefähr eine Viertelstunde seinem Essen, vielleicht auch länger. Dann trifft schließlich derjenige ein, mit dem er verabredet war. Vermutlich unser Schütze. Um zehn taucht dann Benny auf und findet die Leiche. Die Dame am Empfang meinte, Maples sei gegen halb neun ins Hotel zurückgekommen. Das würde Snows Aussage bestätigen. Ich nehme nicht an, dass beide lügen.«

»Dann müsste der Küchenchef ebenfalls lügen«, sagte Jury. »Oder derjenige, der dieses Essen zubereitet hat. Es ist zwar bloß ein Hamburger. Aber das Arrangement ist recht aufwändig, mit den Gewürztöpfchen und so.«

Aguilar lächelte. Oder grinste verächtlich. »Wieso? Das hätte jeder machen können. Auch Snow selber. Es ist bloß ein Hamburger mit Pommes.«

Jury schüttelte den Kopf.

Aguilar nickte. »Fragen Sie in der Küche nach, Ron. Das Restaurant hier soll wirklich spitzenmäßig sein, also hat der Superintendent vermutlich recht. So aufgemacht kann es nur von hier sein. Und packen Sie das Zeug ein.«

»Das Essen? Warum?«, wollte Ron wissen.

»Warum nicht? Man kann nie wissen.« Sie wandte sich Jury zu.

»Glauben Sie, Benny hat den Mörder möglicherweise überrascht? Der vielleicht noch hier im Raum war?«

»Kann sein.«

Sie sagte: »Aber der Junge ist bestimmt gleich rausgerannt, als er die Leiche entdeckt hat.«

»Nein. Er rief mich an. Von hier aus. Benny ist nämlich keiner, der wegrennt.« Jury blickte sich im Raum um. »Vielleicht dachte der Mörder ja, Benny hätte etwas gesehen. Oder unser Schütze hatte etwas vergessen und kam zurück … Aber das sind alles Spekulationen, die uns nicht weiterbringen.«

»Das wär’s dann, Chefin.« Der Techniker, offenbar dieser Connie, trat aus dem Badezimmer.

Chilten nickte. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, gehe ich.« Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, ohne sie anzuzünden. »Soll ich Sie irgendwohin mitnehmen?«

»Nein, danke, Ron«, erwiderte Jury. »Ich glaube, ich gehe ein Stück zu Fuß. Das hilft mir beim Nachdenken.«

»Ich nehme ihn mit«, sagte Aguilar, ohne einen von beiden eines Blickes zu würdigen. Jurys Bemerkung über den Fußmarsch ignorierte sie. Inzwischen waren nur noch die beiden Kollegen da, die sich gerade anschickten, den Toten in einen Leichensack zu verfrachten.

Ron Chilten verabschiedete sich von Jury und brach auf. Zusammen mit Connie, der wahrscheinlich Conrad hieß.

Inzwischen unterzog Aguilar das Essen auf dem Tisch einer ausführlichen Begutachtung. Mit einem Kugelschreiber hob sie die ungegessene Hälfte des Hamburgers kurz an, betrachtete die Pommes, stocherte im Salat herum. »Ich wette, die Mayonnaise ist hausgemacht.«

Die verbliebenen Kollegen von der Spurensicherung warteten immer noch auf eine Anweisung, wie es nun weitergehen sollte, doch sie war mit dem Essen beschäftigt. »Ich wundere mich, dass er sich einen Hamburger mit Pommes hat kommen lassen. Und, ehrlich gesagt, dass er ihn hier bekommen hat. Wenn man sich die Speisekarte so anschaut.« Sie schüttelte den Kopf. »Alles ist nur halb aufgegessen.«

»Ist mir auch aufgefallen.«

Sie nickte und warf ihm einen langen, sinnierenden Blick zu.

Ihm war klar, dass sie über eine bestimmte Frage sinnierte, nicht über ihn. »Finden Sie das nicht merkwürdig?«

»Nein. Er wurde unterbrochen.«

»Aber …« Sie runzelte die Stirn, unternahm einen erneuten Vorstoß mit dem Stift, dann zuckte sie die Schultern. Sie traten auf die Terrasse hinaus. Sie sah zu der Leiche hinunter. Als die beiden Polizisten sie fragend musterten, nickte sie, worauf sie den Reißverschluss zuzogen, den Sack auf eine Tragbahre hievten und ihn abtransportierten.

»Billy«, sagte sie, als spräche sie den Namen zum ersten Mal bewusst aus. »So hat er unten auf der Anmeldung unterschrieben. Nicht mit William oder Bill.« Sie bohrte den Kugelschreiber in einen großen Aschenbecher mit Münzen, Streichhölzern und einer Zimmerkarte, schob den Stift dann durch die Lasche eine Streichholzbriefchens und hob es an. »Dust. Das ist der Klub da drüben auf der anderen Seite.« Sie neigte den Kopf und tat, als würde sie in die dunkle Nacht hinausschauen. »Dort war er gewesen, sagten sie am Empfang.«

»Heute Abend?«

Sie nickte. »Nachdem er zuerst eine Ausstellungseröffnung besucht hatte.«

Ah. Ein weiterer Grund, sie zu hassen: Sie hatte mehr herausgefunden als er selbst. Der Hauptgrund war jedoch ihre Schönheit.

Lu Aguilar begann im Zimmer umherzugehen, ließ ihre langen Finger über Stuhllehnen gleiten, inspizierte die Bücher im Regal und betrachtete die Bilder an der Wand, nicht so sehr als Polizistin auf der Suche nach Beweismitteln, wie als Frau, die eine Wohnung daraufhin begutachtete, ob sie ihr zusagte. Dann stellte sie sich wieder neben ihn. »Er traf hier jemanden oder hatte es jedenfalls vor. Aber diese Person muss nicht unbedingt der Mörder gewesen sein.«

Jury schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen, es war jemand, den er irrtümlich für einen Freund hielt. Er hatte doch Kaffee für zwei bestellt. Wie kommen Sie darauf, dass es einen Dritten gegeben hat?«

Sie blieb die Antwort schuldig. Stattdessen hob sie den Stift hoch, an dem das Streichholzbriefchen schwang wie ein Gattertörchen im Wind.

»Gehen wir.«

»Wohin?«

»Ins Dust. Kommen Sie.«