TIMOTHY ZAHN
BLACKCOLLAR
Drei Romane in einem Band
Deutsche Erstausgabe

Die Vormittagssonne brannte vom leuchtend blauen Himmel herab, doch es gelang ihr nicht, die Kältewelle zu vertreiben, die den Frühling in beinahe ganz Mitteleuropa unterbrochen hatte. Allen Caine stellte als Schutz gegen den vom Genfer See wehenden Nordwind den Kragen auf. Es wäre schön gewesen, wenigstens einen Teil der Strecke zu fahren, doch nur jemand vollkommen Uninformierter unternahm am Victory Day den Versuch, im Ostteil von Neu-Genf ein Taxi aufzutreiben. Im Stadion fand wie jedes Jahr die Feier zur Beendigung des Krieges zwischen Terranern und Ryqril statt, und die Regierungsbeamten, die daran teilnehmen wollten, hatten die meisten Fahrzeuge mit Beschlag belegt. Caine hatte eigentlich erwartet, dass die Beteiligung infolge der Kälte gering sein würde – die Loyalitätskonditionierung erstreckte sich nicht auf etwas so Triviales wie Versammlungen –, aber es waren etliche Ryqril anwesend, und die Beamten in Neu-Genf wussten genau, von wem die Butter aufs Brot kam. Obwohl Caine noch gute drei Kilometer vom Stadion entfernt war, hatte er bereits gedämpft Beifall vernommen. Eine erstaunlich schamlose Zurschaustellung von Heuchelei, dachte er verbittert; noch dazu fand diese Veranstaltung seit neunundzwanzig Jahren statt, war also überraschend langlebig. Ein Fremder, der zu Besuch hier war, hätte daraus geschlossen, dass das Terranische Demokratische Empire den Krieg gewonnen hatte.
Wie üblich herrschte auf den Straßen an diesem Ende der Stadt rege Geschäftigkeit – das gewöhnliche Volk stand dem Victory Day verdrossen und gleichgültig gegenüber –, und deshalb fiel es Caine nicht schwer, in der Menge unterzutauchen. Er war erst vor zwei Wochen in Neu-Genf eingetroffen – die Reise betrachtete er als verspätetes Geburtstagsgeschenk –, kam sich aber bereits wie ein Einheimischer vor. Wie jede andere Menschengruppe auf der Erde, so verfügte auch diese über charakteristische Gesten und Eigenheiten, und Caine hatte den Auftrag gehabt, sie sich anzueignen. Zusammen mit seinem adretten Aussehen ermöglichte ihm diese Vorbereitung, sich als Student, als aufstrebender Jungmanager, oder – wenn er seinen Bart in der richtigen Art stutzen ließ – als Angehöriger der halb freiberuflichen Vereinigungen Neu-Genfs auszugeben. Natürlich war es in diesem Sektor leicht, nicht aufzufallen, aber er machte sich noch nicht allzu viele Sorgen, denn er würde erst in einigen Wochen in den Regierungsbezirk übersiedeln. Vermutlich würde er bis dahin auch dafür bereit sein.
Seine Kleidung war für das Wetter etwas zu leicht, aber Caine erreichte sein Ziel, bevor er zu unterkühlt war. In dem schäbigen Mittelstandsviertel der Stadt war zwischen zwei Bars ein kleiner CD- und Bücherladen eingezwängt, in dessen Schaufenstern verblasste Bänder von Dickens und Heinlein standen. Caine trat ein und blieb einen Augenblick lang bei der Tür stehen, damit sich seine Augen an die relative Dunkelheit gewöhnten. Der Besitzer des Ladens lehnte einige Meter von ihm entfernt an seiner Registrierkasse und musterte ihn. »Wird es draußen wärmer?«, erkundigte er sich.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Caine und sah sich im Geschäft um. Drei oder vier Männer schmökerten zwischen den Regalen. Caine wandte sich dem Besitzer zu und zog fragend die Augenbrauen hoch. Dieser nickte unmerklich; daraufhin schlenderte Caine durch einen der beiden Gänge und tat, als lese er die Buchtitel. Er arbeitete sich gemächlich bis zur Rückwand durch. Dort befand sich halb hinter einem Regal verborgen eine Tür mit dem Schild ›Nur für Angestellte‹.
Caine wartete, bis ihm alle Kunden den Rücken zukehrten, dann schlüpfte er geräuschlos durch die Tür und den dahinter liegenden, vollgestellten Lagerraum. Er ging in der Mitte des alten Steinbodens in die Hocke und drückte sanft auf eine der Platten. Offensichtlich wurde er erwartet, denn ein zwei Quadratmeter großes Stück des Bodens glitt gleich darauf zur Seite. Er tastete mit dem Fuß nach der Holztreppe und stieg in den Schacht hinunter. Dann bückte er sich und ließ den Fußboden wieder an seinen Platz gleiten. Sobald der Einstieg geschlossen war, schob sich eine Eisenstange geräuschlos vor und verriegelte die Falltür. Caine drehte sich um und ging die schwach beleuchtete Treppe hinunter.
Am Fuß der Treppe erwartete ihn ein kurzer Korridor, an dessen Ende sich eine Tür befand. Caine öffnete sie und betrat einen dunklen Raum. Die Tür fiel hinter ihm von selbst ins Schloss.
Unvermutet leuchtete grelles Licht auf. Er hob schützend den Arm vor die Augen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Wer sind Sie?«, fragte eine Stimme.
Caines Antwort erfolgte sofort. »Ich bin Alain Rienzi, Adjutant des Senators Auriol«, erwiderte er scharf. »Schalten Sie das verdammte Licht aus!«
Der Scheinwerfer wurde ausgeschaltet, und stattdessen gingen gedämpftere Lampen an. Vor Caines Augen schwebte noch immer ein roter Lichtfleck, aber er erkannte undeutlich drei Männer und eine Frau, die um einen niedrigen Tisch saßen. »Ausgezeichnet«, sagte einer der Männer, vor dem ein schuhkartongroßes Gerät stand. »Kein Zögern, kein merkbarer Lügnerstress, und genau das richtige Maß an Arroganz. Er ist so weit, Morris.«
Ein anderer Mann nickte und machte eine Handbewegung. »Setzen Sie sich, Allen!«
Caine nahm auf dem angegebenen Stuhl Platz und musterte die Anwesenden; als seine Augen wieder deutlich sehen konnten, begann sein Herz schneller zu schlagen. Das war keine Routinezusammenkunft. Die vier Leute, die ihm gegenübersaßen, waren wahrscheinlich die obersten Führer des Widerstands in ganz Europa. Der Mann mit der Schachtel hieß Bruno Hürlimann, ehemaliger Captain in der terranischen Raumflotte; der zweite Mann war Raul Marinos, der während des größten Teils der vergangenen neunundzwanzig Jahre Sabotageakte gegen die Ryqril geplant und durchgeführt hatte; bei der Frau handelte es sich um Jayne Gibbs, ein ehemaliges Mitglied des vor langer Zeit aufgelösten Parlaments; und ›Morris‹ war General Morris Kratochwil persönlich, der letzte Befehlshaber der terranischen Verteidigungskräfte in der Endphase des Krieges. Natürlich sah keiner von ihnen so alt aus, wie er wirklich war; trotz der Kontrollen durch die Regierung gelangte genügend geschmuggeltes Idunin über den schwarzen Markt zum Widerstand, sodass der zweiundneunzigjährige Kratochwil biologisch einem Fünfundvierzigjährigen entsprach. Caine hatte jeden der vier irgendwann einzeln kennengelernt, aber sie noch nie beisammen gesehen. Etwas enorm Wichtiges musste also im Gang sein.
Es war, als hätte General Kratochwil Caines Gedanken gelesen. »Sieht so aus, als wäre Ihr Einführungslehrgang abrupt zu Ende, Allen«, meinte er. »Wir beschleunigen unsere Maßnahmen drastisch. Die Teilchen haben sich unerwartet zu einem Ganzen gefügt, und Sie werden in kaum zwanzig Stunden nach Plinry abreisen.«
Caines Mund wurde trocken. »Ich habe geglaubt, dass ich zuerst für ein paar Wochen Alain Rienzi ersetzen soll.«
»Das haben wir auch geglaubt«, erwiderte der General, »aber jetzt stellt sich heraus, dass es nicht notwendig sein wird. Rienzi ist gestern in Urlaub gefahren und hat anscheinend niemandem verraten, wohin. Es ist genau die richtige Gelegenheit, und wir haben beschlossen, sie zu ergreifen.«
Damit konnte Allen seine restliche Ausbildung vergessen … aber wenn er nicht oft mit Regierungsleuten zusammenkam, würde er es wahrscheinlich schaffen. »Sie haben Rienzi aus dem Verkehr gezogen?«
Marinos nickte. »Wir haben ihn heute früh abgeholt. Keine Probleme.« Er zeigte auf ein Kuvert, das auf dem Tisch lag. »Da drin ist sein Ausweis – natürlich entsprechend verändert – und Ihr übriges Zeug.«
Caine griff nach dem Päckchen, achtete aber darauf, nicht an den pilzförmigen ›Wanzenstörer‹ in der Mitte des Tisches zu stoßen, der alle in der Nähe befindlichen Überwachungsgeräte elektronisch lahmlegte. Er öffnete den Umschlag und entnahm ihm einen blauen Personalausweis sowie eine Brieftasche, die Regierungs- und persönliche Kreditplättchen, mehrere hundert Mark in knisternden TDE-Banknoten und ein nicht bestätigtes Ticket zur fernen Welt Plinry enthielt. »Das Ticket ist eigentlich nur eine Reservierung«, erklärte Marinos. »Sie müssen Ihren Ausweis am Flughafen überprüfen lassen, bevor Sie an Bord gehen können.«
Das Gesicht im Ausweis war länglich, hager und von sorgfältig frisiertem braunen Haar umgeben – eine glatt rasierte Ausgabe von Caines Gesicht. Doch unterhalb des angeblich fälschungssicheren Plastiks gab es auch Fingerabdrücke und Netzhautmuster – Kopien dieser Muster waren in einem kaum zehn Kilometer entfernten, schwer bewachten Computersystem gespeichert. »Sind Sie sicher, dass meine Fingerabdrücke und Netzhautmuster in die Regierungsunterlagen gelangt sind?«, fragte Caine.
»Das ist alles erledigt«, beruhigte ihn Marinos. Sein lässiger Ton bagatellisierte die Schwierigkeiten, die sie überwunden hatten. Es war kein Honiglecken, das Sicherheitssystem der Ryqril auszutricksen.
»Wir besitzen noch nicht die Bewilligung, mit der Sie Einblick in die Archive von Plinry nehmen können«, erklärte Kratochwil, »aber wir bekommen sie heute um 18 Uhr. Wenn Sie Glück haben, müssen Sie nur hineingehen, Ihr Seemannsgarn über ein Buch spinnen, die richtige Aufzeichnung einstecken und abhauen.« Er lächelte ironisch. »In der Praxis ist es natürlich nie so einfach. Aber Sie werden bestimmt imstande sein, mit allen Problemen fertig zu werden, vor die man Sie stellen wird.«
Caine nickte. Er war zwar noch nie mit einer Aufgabe betraut worden, doch er verfügte über die beste psychisch-mentale und kämpferische Ausbildung, die der Widerstand anzubieten hatte. »Wie sieht der letzte militärische Lagebericht aus, und wie wird er sich voraussichtlich auf die Situation in Plinry auswirken? Vermutlich unterhalten die Ryqril dort eine Basis, richtig?«
»Wir nehmen es an, aber das sollte Sie nicht stören.« Kratochwil wandte sich an Hürlimann. »Captain?«
»Die Berichte bezüglich eines großen Ryqril-Sieges über die Chryselli in der Nähe von Regulus scheinen zu stimmen«, berichtete Hürlimann. Seine Sprechweise erinnerte Caine an einen Collegeprofessor. »Es scheint sie aber mehr gekostet zu haben, als sie zugeben. Sie haben bereits zwei Truppentransporter der Elefantenklasse und ein vollständiges Geschwader von Korsaren von verschiedenen Basen auf der Erde abgezogen und sie vermutlich an die Chrysellifront in Marsch gesetzt. Falls es auf Plinry eine Basis gibt, könnte dort die gleiche Art von Mobilmachung in Gang sein. Aber das sollte kein Problem darstellen; solange Sie über die richtigen Papiere verfügen, kann Ihnen jedes zusätzliche Durcheinander nur von Vorteil sein.« Er lächelte. »Und je stärker die Ryqril im Gebiet der Chryselli gebunden sind, desto besser für uns.«
»Wie gesagt, die Situation entwickelt sich zu unseren Gunsten«, meinte Kratochwil. »Wenn Sie mit den Informationen zurückkommen, werden die Mannschaften hoffentlich so weit sein, dass sie aufbrechen können.« Er sah die anderen an. »Noch etwas?«
»Unterstützung auf Plinry«, murmelte Jayne Gibbs.
»Richtig. Seit Plinry besetzt wurde, also seit fünfunddreißig Jahren, haben wir mit ihm keinen Kontakt mehr. Deshalb wissen wir nicht, worauf Sie dort stoßen werden. Wir erwarten eine ähnliche politische Struktur wie auf der Erde – eine Gruppe Ryqril, die mithilfe einer zur Loyalität konditionierten menschlichen Regierung herrscht –, aber wir können es nicht mit Sicherheit annehmen. Wenn Sie mit Problemen konfrontiert werden, sollten Sie versuchen, was immer es an Untergrund gibt zu kontaktieren und sich seine Hilfe zu sichern.«
»Vorausgesetzt, dass es einen Untergrund gibt«, wandte Caine ein.
»Richtig«, stimmte Kratochwil zu. »Ich hoffe jedoch, dass General Avril Lepkowski die Eroberung des Planeten überlebt hat. Merken Sie sich diesen Namen, Allen: Wenn Plinry einen Untergrund besitzt, dann ist wahrscheinlich Lepkowski der führende Kopf. Bei Kriegsende gab es dort ungefähr dreihundert Blackcollars – einige von ihnen könnten noch am Leben sein.«
Blackcollars. Bei dem Wort streckte sich Caine ein wenig. Er hatte nie einen dieser hervorragend ausgebildeten Guerillakämpfer kennengelernt, aber ihre Heldentaten im Krieg waren legendär. Auf der Erde gab es nur noch wenige von ihnen, und die meisten hatten ihre Uniformen verbrannt und waren in der Bevölkerung untergetaucht. Die Handvoll, die noch aktiv war, machte den Ryqril angeblich in Nordamerika das Leben zur Hölle.
Kratochwil sprach noch immer. »Ich werde versuchen, bis heute Abend die Namen von einigen Leuten in Erfahrung zu bringen, die sich vielleicht auf Plinry aufhalten. Für den Fall, dass Sie General Lepkowski finden, werde ich auch einen Mikro-Einführungsbrief für Sie verfassen. Es stellt sicherlich ein gewisses Risiko dar, wenn Sie ihn bei sich tragen, aber ich finde, dass er das Risiko wert ist. Natürlich liegt die Entscheidung bei Ihnen.« Er erhob sich, und die Übrigen sprangen auf. »Das ist wohl alles, was wir im Augenblick unternehmen können. Seien Sie heute Abend um 18 Uhr hier, um Ihre restlichen Papiere und vielleicht weitere Anweisungen entgegenzunehmen, die uns noch einfallen. Bis dahin können Sie Ihren Bart behalten; es ist zwar unwahrscheinlich, dass Sie hier über einen Bekannten von Rienzi stolpern, aber es hat keinen Sinn, dieses Risiko einzugehen. Außerdem wird es ab heute zwölf Uhr mittags einen Zwei-Stunden-Sicherheitszyklus im Buchladen geben. Achten Sie darauf!«
»Geht klar.«
»Gut.« Der General ergriff über den Tisch hinweg Caines Hand. »Wenn Sie heute Abend kommen, bin ich vielleicht nicht hier, deshalb verabschiede ich mich schon jetzt. Sie sind sehr wertvoll für uns, Allen, und wir möchten natürlich, dass Sie vorsichtig und auf Ihren Schutz bedacht sind. Gleichzeitig handelt es sich jedoch wahrscheinlich um den wichtigsten Auftrag der letzten zwanzig Jahre, und es ist keine Übertreibung, wenn ich feststelle, dass die Chancen, die Erde zu befreien, von Ihnen abhängen. Wir werden vielleicht nie wieder in der Lage sein, jemanden für eine solche geheime Erkundung auf einen anderen Planeten zu befördern, und Sie wissen, dass es unmöglich ist, mit Gewalt an die Informationen heranzukommen. Enttäuschen Sie uns nicht.«
Caine sah dem General in die Augen, während er ihm die Hand schüttelte. Kratochwils braune Augen waren klar, wach und dank des Idunins relativ jung. Aber in ihnen lag noch etwas, das keine Jugenddroge beeinflussen konnte. Zweiundneunzig Lebensjahre, davon dreizehn in einem aussichtslosen Krieg und weitere neunundzwanzig unter feindlicher Herrschaft hatten diese Augen alt gemacht, und Caine fühlte sich plötzlich wieder wie ein Kind. Die selbstsichere Erklärung, die er abgeben wollte, verflüchtigte sich. »Ich werde mein Bestes tun, Sir«, murmelte er stattdessen.
Es war fünf vor sechs, als sich Caine durch die übliche Menge von heimwärts strebenden Arbeitern drängte und sich wieder dem Buchladen näherte. Die Victory-Day-Feiern waren vorbei, und auf den Straßen kurvten wieder Automat-Taxis und dazwischen gelegentlich ein privater Wagen herum; dadurch blieb ihm reichlich Zeit, in das Geschäft zu schlüpfen, sich seine restlichen Papiere zu holen und wieder in der Menge unterzutauchen.
Er war beinahe am Ziel angelangt und drängte sich gerade zum Rand des Gehsteigs durch, um die Straße zu überqueren, als ihn etwas in der Auslage erstarren ließ. Bei einem Zweistundenzyklus wäre die Auslage seit seinem Vormittagsbesuch dreimal verändert worden. Der Heinlein musste um neunzig Grad rotiert haben, und am Dickens musste eine CD-Box lehnen. Aber die Box war nicht vorhanden, und die Auslage befand sich im Vierzehn-Uhr-Zustand. Jemand hat es vergessen, war sein erster, hoffnungsvoller Gedanke, doch er dachte ihn nicht einmal zu Ende. Er wusste, dass es nur eine einzige Erklärung gab.
In dem Buchladen hatte in den letzten vier Stunden eine Razzia stattgefunden.
Diese Möglichkeit hatte natürlich immer bestanden, aber es hatte sich nie in seiner unmittelbaren Nähe abgespielt, und der Schock betäubte ihn. Weil die bewusste Kontrolle durch sein Gehirn aussetzte, trat seine Ausbildung an ihre Stelle, sodass er ohne zu zögern am Buchladen vorbeiging. Als sein Gehirn wieder zu funktionieren begann, befand er sich zwei Häuserblocks weiter und in Sicherheit.
In Sicherheit. Aber wie lange? Wenn die Regierung den Buchladen überwacht hatte, dann wusste sie, dass Caine innerhalb der letzten zwei Wochen viermal hier gewesen war. Auch wenn sie dieser Tatsache noch keine Bedeutung beimaßen, würden sie über kurz oder lang alles über ihn herausfinden. Bestimmt war mindestens einer der vier Leiter des Widerstands anwesend gewesen, als die Sicherheitskräfte eintrafen, und wurde jetzt unter Anwendung von Verifin oder Neurotrace einem Verhör unterzogen. Caine musste fliehen … aber wohin? Der Widerstand hatte zahlreiche Schlupflöcher angelegt, aber man konnte sich jetzt keinem anvertrauen. Kratochwil und die anderen hatten die beste verfügbare Psychor-Ausbildung erhalten, doch auch das nützte bei einem Neurotrace-Auswerter nur kurze Zeit. Irgendwann würden sie zusammenbrechen … und dann würde die Regierung imstande sein, ihn überall auf der Erde aufzuspüren.
Es dauerte eine Sekunde, bis ihm das klar wurde; doch dabei erinnerte sich Caine an das dicke Päckchen in seiner inneren Jackentasche. Rienzis Ausweis, ein kleiner Geldbetrag … und ein Rundflugticket nach Plinry. Falls Kratochwil zu den Festgenommenen gehörte, hatte wahrscheinlich für den Widerstand in diesem Gebiet die letzte Stunde geschlagen – aber das galt nicht unbedingt für Caines Auftrag. Wenn er sich die Hilfe von General Lepkowski und dem Plinry-Untergrund sichern konnte, gab es noch eine geringe Möglichkeit, dass er es schaffen würde. Gering, verdammt – mikroskopisch klein. Aber er hatte keine andere Wahl. Und wenn es schiefging, hatte er wenigstens die kleine Befriedigung, dass ihm die Ryqril über acht Parsec Weltraum nachjagen mussten.
Er benötigte nicht ganz eine Stunde, um in seine Wohnung zurückzukehren, sich den Bart abzurasieren, sich umzuziehen und alle Allen Caine betreffenden Dokumente zu vernichten. Er nahm den eleganteren Koffer, der zu einem Regierungsbeamten zweiten Ranges passte, und fuhr mit einem Automat-Taxi zum westlichen Ende der Stadt. Mit Rienzis Ausweis gelangte er ohne Schwierigkeiten durch die Absperrungen und betrat zum ersten Mal in seinem Leben den Regierungsbezirk von Neu-Genf.
Die erste Hürde – den Wächter am Tor – hatte er hinter sich; aber jetzt stand er vor einem unerwarteten Problem. Bis zum Start seines Raumschiffs um sechs Uhr früh waren es noch elf Stunden – viel zu lange, um im Flughafen zu bleiben. Falls er ein Zimmer in einem Hotel nahm, musste er jedoch Rienzis Ausweis herzeigen, und je seltener er den benützte, desto besser.
Die Lösung war einfach. Er fuhr mit dem Taxi zum Flughafen und steckte sein Gepäck in ein Schließfach. Dann begab er sich mit dem Geld, das ihm Rienzi dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hatte, auf eine Besichtigungstour von Neu-Genf. Er besuchte Bars, Restaurants und Vergnügungsetablissements und brachte die Nacht hinter sich, ohne erkannt zu werden. Als der Himmel im Osten endlich hell wurde, kehrte er zum Flughafen zurück.
Sogar um diese Zeit herrschte dort geschäftiges Treiben. Neu-Genf war erst nach dem Krieg zur Hauptstadt der Erde ernannt worden, und der Flughafen war sowohl für Flugzeuge als auch für Raumschiffe ausgelegt. Vor dem Krieg wäre er dadurch hoffnungslos überlastet gewesen, doch weil jetzt nur Regierungsbeamte und akkreditierte Geschäftsleute fliegen durften, konnte der Betrieb aufrechterhalten werden. Caine holte sein Gepäck. Als er durch den langen Korridor zum Raumflugterminal ging, pochte sein Herz schmerzhaft.
Das Check-in-Gebäude kam in Sicht; ein halbes Dutzend Leute schlenderte herum oder saß in den Stühlen in der Nähe des Gates. Daneben lehnte an einer Wand ein gelangweilter Wächter. Caine verzog das Gesicht. Das Ganze sah wie die klassische Falle für Anfänger aus, bei der in einem Umkreis von zweihundert Metern jeder Zivilist ein Sicherheitsmann war. Doch für einen Rückzug war es zu spät! Wenn es eine Falle war, hatte man ihn bestimmt schon entdeckt und identifiziert, und wenn er jetzt umkehrte, würde die Falle nur etwas früher zuschnappen. Er biss die Zähne zusammen und ging weiter.
Der Angestellte lächelte, als Caine zum Schalter trat. »Ja, Sir?«
»Alain Rienzi, mit Ziel Plinry«, antwortete Caine mit steifen Lippen. Er zog seine Ticketreservierung und Rienzis Ausweis heraus, ohne dabei den Angestellten aus den Augen zu lassen.
Es erfolgte keine sichtbare Reaktion. »Ja, Sir.« Der Angestellte schob den Ausweis in einen Schlitz im Steuerpult. »Würden Sie bitte Ihre Daumen auf diese Platte drücken und dort hinüberschauen …«
Es war so weit. Im Gegensatz zur einfachen visuellen Überprüfung, die der Sicherheitsmann vor ein paar Stunden am äußeren Tor vorgenommen hatte, erwartete Caine jetzt ein gründlicher Check. Seine Daumenabdrücke und sein Netzhautmuster würden mit jenen auf Rienzis Ausweis und mit den Aufzeichnungen des Computers verglichen werden. Wenn Marinos kein Wunder vollbracht und die Aufzeichnungen verändert hatte, war hier Endstation.
Licht flackerte beinahe zu schnell auf, um wahrgenommen zu werden, traf seine Augen, und die Platten an seinen Daumen fühlten sich warm an. Der Angestellte drückte auf einen Knopf. Caine hielt den Atem an … und auf dem Steuerpult ging ein grünes Lämpchen an. »Alles erledigt, Mr. Rienzi. Von welchem Konto sollen wir den Flug abbuchen?«
Die Spannung löste sich schlagartig, und Caine begann wieder zu atmen. Dann reichte er dem Angestellten Rienzis persönliche Scheckkarte. Dieser steckte sie in einen Schlitz, und einige Sekunden darauf spuckte die Maschine ein offizielles Ticket, Caines Ausweis, seine Scheckkarte und eine kleine Magnetkarte aus. Caine musterte Letztere mit gerunzelter Stirn. »Was ist das?«
»Medizinische Daten, Sir«, erklärte der Angestellte. »Offenbar gibt es in der Umwelt von Plinry etwas, das Ihnen Schwierigkeiten bereiten könnte. Sie können das Rezept bei dem Schalter dort drüben einlösen.«
Caine wollte gerade fragen, wie, zum Teufel, irgendwer eine Ahnung davon haben konnte, was für Tabletten er auf Plinry brauchen würde, überlegte es sich aber gerade noch rechtzeitig. Natürlich enthielten die Akten der Regierungsbeamten auch ihre medizinischen Daten, und der Computer hatte Rienzis medizinisches Diagramm mit den Bedingungen auf Plinry verglichen und eine rasche Diagnose erstellt. »Okay, danke«, antwortete er.
»Gern geschehen, Sir. Sie können in zehn Minuten an Bord gehen.«
Es dauerte beinahe fünfzehn Minuten, bis der Apotheker das Medikament laut Rezept hergestellt hatte, und deshalb konnte Caine den zum Raumschiff führenden Korridor direkt von dort aus benützen und damit dem gelangweilten Wächter ausweichen, der vermutlich nie erfahren würde, wie knapp er an einer Beförderung vorbeigeschlittert war. Die Tabletten in der kleinen Phiole in Caines Tasche klapperten mahnend, und er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen anfangen sollte. Es war nicht anzunehmen, dass er und Rienzi einander physisch so ähnlich waren, um die Tabletten für ihn verwertbar werden zu lassen; anderseits war es möglich, dass Marinos alle Aufzeichnungen über Rienzi durch Caines Daten ersetzt hatte, und in diesem Fall würden ihn unter Umständen die Tabletten auf Plinry am Leben erhalten. Er musste sie einfach schlucken und hoffen, dass das Medikament, was immer es war, ihn wenigstens rasch umbringen würde.
Krankheit war jedoch seine geringste Sorge. Bis jetzt hatte sich seine Aufmerksamkeit darauf konzentriert, Neu-Genf zu verlassen und in ein Raumschiff zu gelangen, bevor die Widerstandsbewegung wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Nachdem er diese beiden Programmpunkte jetzt beinahe erledigt hatte, konnte er sich den ungeheuren Problemen zuwenden, vor denen er noch immer stand. Ohne Kratochwils gefälschte Bewilligung würden ihn die Behörden auf Plinry bestimmt nicht einmal in die Nähe der Aufzeichnungen lassen, auf die er es abgesehen hatte. Und ohne Einführungsschreiben würde es genauso schwierig sein, sich die Kooperation des Untergrunds von Plinry zu sichern. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass General Lepkowski tatsächlich der Führer des Untergrunds war. Wenn er Lepkowski davon überzeugen konnte, dass er ein Mitarbeiter von Kratochwil war, dann würde ihm dieser vielleicht helfen. Und sobald er die Information besaß … Caine schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, so weit vorauszudenken; es lagen schon so genügend unmögliche Aufgaben vor ihm. Er musste eins nach dem anderen erledigen.
Aus dem Korridor gelangte er zu der Rampe, an der das Passagierraumschiff – seinem Aussehen nach ein umgebauter Vorkriegsfrachter – wartete. Er wechselte den Koffer in die andere Hand, blieb dabei stehen und sah sich um. Die Rampe führte vom Erdboden zum Einstieg, und man erblickte von ihr aus große Teile der Stadt, des Sees und der umliegenden Berge. Doch obwohl Caine den Anblick genoss, zog es seinen Blick beinahe magnetisch nach Südwesten. Dort lag in sieben Kilometern Entfernung das geschwärzte Gebiet, das einmal Genf gewesen war. Caine erschauerte und ging weiter auf das Schiff zu.
Er wusste, dass die Ryqril dieses Spiel gewinnen wollten.