Über dieses Buch

Cover

Der junge Historiker Mümtaz hat eine geradezu osmotische Beziehung zu der alten, vom Verfall bedrohten Sultansmetropole: zu ihren Bauwerken, zum Basar voller rätselhafter Dinge, zur Poesie, zur klassischen Musik. Als er Nuran kennenlernt, erwacht in dieser Liebe einen Sommer lang der Zauber der alten osmanischen Kultur zu neuem Leben. Bis eines Tages der todkranke Suat, Studiengefährte und Rivale von Mümtaz, auftaucht und diese Liebe zerstört.

»Tanpinars Werk ist aus der türkischen Gegenwartsliteratur nicht wegzudenken. Nicht nur Linksintellektuelle, Modernisten und am Westen ausgerichtete Denker, sondern auch Konservative, Traditionalisten und Nationalisten räumen ihm diesen Status ein und berufen sich gerne und oft auf Tanpinars Renommée und Ansehen. Seine Auseinandersetzung mit der alten würdevoll-beschaulichen osmanischen Kultur einerseits und sein Aufgreifen moderner Tendenzen der europäischen Literatur andererseits machen ihn zu einer faszinierenden Persönlichkeit.« Orhan Pamuk

»Tanpinars metaphernreiche Beschreibungskunst raubt einem den Atem. Dies allein würde das Buch zu einem Meisterwerk des literarischen Impressionismus machen, aber es ist weit mehr. Es ist im selben Atemzug eine Hommage an die sufistisch inspirierte türkische Musik und ein Zeitroman, der in tiefsinnigen Gesprächen die Identitätssuche türkischer Intellektueller jenseits ideologischer Festlegungen beschreibt. Nicht Kemalismus und Kommunismus sind die Bezugspunkte, sondern Hegel, Nietzsche und die islamische Mystik.«

Stefan Weidner, Die Zeit, Hamburg

Ahmet Hamdi Tanpinar

Ahmet Hamdi Tanpinar (1901-1962) arbeitete zunächst als Gymnasiallehrer. Von 1939 bis zu seinem Tod 1962 war er Professor für türkische Sprache und Literatur in Istanbul. Seine Romane, insbesondere Seelenfrieden, haben in der Türkei Kultstatus gewonnen.

Christoph K. Neumann

Christoph K. Neumann (*1962) lehrt seit 2002 Neue Geschichte an der Bilgi-Universität Istanbul. Darüber hinaus schreibt er auch journalistische Arbeiten und Reiseführer und übersetzt aus dem Türkischen.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB), E-Book (Kindle), E-Book (Apple-Geräte) – Ihre Ausgabe

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Ahmet Hamdi Tanpinar

Seelenfrieden

Nachwort von Wolfgang Günter Lerch

Roman

Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1949.

Türkische Bibliothek im Unionsverlag, Zürich, herausgegeben von Erika Glassen und Jens Peter Laut

Eine Initiative der Robert Bosch Stiftung

Die vorliegende Übersetzung richtet sich nach den Ausgaben, die 1986 beim Istanbuler Verlag Dergâh und 2001 beim Verlag Yapı ve Kredi, Istanbul, erschienen sind.

Die erste Ausgabe dieses Werks im Unionsverlag erschien am 2.9.2008

© by Ahmet Hamdi Tanpınar 1949

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-60167-3

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Erster Teil

İhsan

1 

Mümtaz hatte kaum noch das Haus verlassen, seit İhsan krank war – sein Cousin väterlicherseits, den er »großer Bruder« nannte. Einmal abgesehen von Dingen wie den Arzt zu rufen, mit einem Rezept zur Apotheke zu gehen und ein Medikament zu holen oder von der Wohnung der Nachbarn aus zu telefonieren, hatte er fast die ganze Woche neben dem Bett des Kranken verbracht, in seinem Zimmer gelesen oder gegrübelt und İhsans Kinder beschäftigt. İhsan hatte ein, zwei Tage über Fieber, Schlappheit und Rückenschmerzen geklagt, und schon war daraus eine Lungenentzündung geworden. Das Haus war im Ausnahmezustand; es herrschten Angst, Sorge und Trauer, Stoßgebete lagen allen auf den Lippen, und aus jedem Blick sprach Verzweiflung.

Mit der Sorge um İhsans Krankheit legte man sich zu Bett, mit ihr wachte man wieder auf.

Auch an diesem Morgen erwachte Mümtaz bedrückt aus einem Schlaf, in dem die Pfeifen von Lokomotiven eine Vorahnung ganz anderer Ängste in ihm ausgelöst hatten. Es ging auf neun Uhr zu. Er setzte sich auf die Bettkante und dachte nach. Heute gab es viel zu erledigen. Der Arzt hatte sich für zehn Uhr angemeldet; aber es war nicht nötig, auf ihn zu warten. Vor allem musste eine Krankenpflegerin gefunden werden. Weil weder Macide noch seine Tante, İhsans Mutter, von der Seite des Kranken wichen, waren die Kinder sehr verstört.

Mit Ahmet kam die alte Hausangestellte einigermaßen zurecht. Aber Sabiha brauchte jemanden, der ganz für sie da war, mit dem sie reden konnte. Mümtaz lächelte beim Gedanken an seine kleine Nichte. Dann fiel ihm auf, wie sehr seit seiner Heimkehr seine Zuneigung zu seiner Verwandtschaft gewachsen war: »Ist das nur aus Gewohnheit? Mögen wir jemanden bloß, weil wir uns an ihn gewöhnt haben?«

Um sich von diesem Gedanken loszureißen, überlegte er, wie er das Problem der Krankenpflegerin lösen könne. Auch Macide war ja nicht wirklich kerngesund. Erstaunlich, wie sie diese Belastung aushielt. Aber Bedrückung und Erschöpfung konnten sie schon bald wieder in ein Schattenwesen verwandeln. Ja, er musste los und eine Krankenpflegerin finden! Und nachmittags hatte er sich mit dem Ärgernis zu befassen, das man Mieterschaft nennt.

Beim Ankleiden murmelte er vor sich hin: »Nur ein Schilfrohr ist der Mensch …« Mümtaz, der einen guten Teil seiner Kindheit sehr einsam gewesen war, sprach gerne mit sich selbst. »Und dieses ganz andere seltsame Ding, das wir Leben nennen …« Dann kehrten seine Gedanken wieder zu der kleinen Sabiha zurück. Die Vorstellung, dass er seine Nichte nur deswegen lieb hatte, weil er nach Hause zurückgekehrt war, widerstrebte ihm. Nein, er war ihr seit dem Tage ihrer Geburt verbunden. Er war ihr sogar dankbar, denn kaum ein anderes Kind hatte in so kurzer Zeit so viel Trost und Freude ins Haus gebracht wie sie. Und dies angesichts der Umstände, unter denen sie zur Welt gekommen war!

Seit drei Tagen suchte Mümtaz nun schon eine Krankenpflegerin. Er hatte zahllose Adressen gesammelt und herumtelefoniert. Aber kaum sucht man in unserem Land jemanden, ist er wie vom Erdboden verschwunden. Im Orient wartet man erst einmal ruhig ab. Nur etwas Geduld, und alles ergibt sich ganz von selbst. Noch Monate nach İhsans Genesung würden sich sicherlich Krankenpflegerinnen melden. Aber wenn etwas dringlich war … Die Sache mit der Krankenpflegerin war ein typisches Beispiel für diese Mentalität. Und der Mieter erst … Das Problem mit dem Mieter war ein ganz besonderes Ärgernis. Seit dem Tag, an dem er den kleinen Laden von İhsans Mutter gemietet hatte, mäkelte er ständig an ihm herum. Aber zwölf Jahre lang hatte er nicht daran gedacht, ihn aufzugeben. Dieser gute Mann schickte nun seit zwei Wochen ein um das andere Mal Mitteilungen mit der Bitte, einer der Herren oder die gnädige Frau selbst möchten ihn doch unbedingt beehren.

Das hatte es noch nie gegeben! Sogar der Kranke in seinem Fieber und seinen Schmerzen war entgeistert. Denn alle im Haus wussten, dass es Mietern zuvörderst eigentümlich ist, unsichtbar zu bleiben, sich zu verbergen, ja möglichst spät und vor allem zögerlich aufzutauchen, wenn man nicht Kontakt mit ihnen suchte, und selbst dann, wenn man es tat.

Mümtaz, den man seit einigen Jahren mit Dingen betraute, wie den Mietvertrag zu erneuern und die Miete zu kassieren, wusste nur zu gut, wie schwierig es war, mit dem Mieter zu reden, auch wenn man ihm in seinem Laden gegenüberstand.

Sobald der junge Mann den Laden betrat, setzte sich der Mieter wie einen Talisman mit Zauberkraft, ja wie eine magische Waffe eine Brille mit schwarzen Gläsern auf, wurde hinter dieser Glaswand so gut wie unsichtbar und erzählte dann von der wirtschaftlichen Flaute, davon, wie hart sein Leben sei und wie glücklich dagegen die seien, die als Staatsbeamte ein festes Einkommen bezögen. So schimpfte er dann auf sich selbst und machte sich Vorwürfe, weil er seine Beamtenstellung aufgegeben und dem Prophetenwort »Der Kaufmann ist ein Liebling Gottes« gefolgt sei – ja, er hatte nur deswegen, um diesem Wort des Propheten nicht bewusst den Gehorsam zu verweigern, sich selbstständig gemacht. Seine abschließenden Ausführungen blieben vage: »Mein Herr, Sie kennen die Lage; im Moment ist es mir nicht möglich, bitte, richten Sie der gnädigen Frau meine Verehrung aus. Ich bitte um ein paar Tage Aufschub. Sie ist nicht mehr bloß unsere Vermieterin, sie ist zu unserer Wohltäterin geworden. Wenn sie mit Gottes Willen in zwei Wochen vorbeikommt, wird uns das nicht nur eine große Ehre sein, sondern ich kann ihr dann auch etwas überreichen.« Wollte Mümtaz aufbrechen, hob der Mieter erneut an, wobei seine Stimme zitterte, als erschreckte ihn die Größe seines Versprechens: »Ob es mir in zwei Wochen allerdings möglich sein wird …« Und weil er nicht sagen konnte: »Wenn möglich, soll sie nicht kommen, keiner von euch soll hier auftauchen, wozu solltet ihr auch! Als ob es nicht reichte, dass ich in diesem wackligen Gebäude, in diesem absurden Käfig sitzen muss! Soll ich euch dafür auch noch Geld zahlen?«, bat er: »Besser, sie gibt mir gegen Monatsanfang die Ehre oder sogar Mitte des nächsten Monats.« So versuchte er, diese Unterredung nach hinten, in die ferne Zukunft zu verschieben.

Und nun schickte dieser Mann, der es nicht leiden konnte, wenn man ihn aufsuchte oder sich nach ihm erkundigte, Nachricht über Nachricht, fragte nach dem Ergehen, verlangte, die gnädige Frau oder wenigstens einer der Herren sollte ihn zu einem Gespräch aufsuchen, redete davon, er wolle wegen der verfallenen Anbauten des Stadthauses hinter und der beiden Räume über dem Laden in Verhandlungen treten und dass der Mietvertrag erneuert werden müsse. Sie hatten recht, sich zu wundern.

So wollte Mümtaz sich heute Nachmittag wie jeden Monat an jenen Ort begeben, widerwillig zwar, weil er den Mieter nicht mochte und weil er schließlich schon vorher wusste, welche Antwort der parat haben würde. Aber diesmal lag die Sache anders. Als ihn seine Tante am Abend mit den Worten erinnert hatte: »Mümtaz, geh und red mit dem Mann«, hatte İhsan dieses Mal nicht hinter dem Rücken seiner Mutter Zeichen gemacht, die bedeuten sollten: »Bemüh dich nicht für nichts; du weißt, was er dir erzählen wird, mach eine Runde und komm wieder.« İhsan lag ans Bett gefesselt, mühevoll hob und senkte sich seine Brust.

İhsans Verhältnis zu diesem Mieter beruhte auf der Einsicht, dass es nicht vernünftig sei, etwas allgemein Bekanntes ohne dringende Notwendigkeit praktisch zu überprüfen. Mümtaz dagegen wollte seine Tante nicht kränken, die auf diese Miete einfach nicht verzichten mochte, weil sie Teil ihres väterlichen Erbes war. Außerdem war die Mietgeschichte Anlass für zahlreiche Anekdoten im Leben dieser innig miteinander lebenden Menschen, die hier an einem Ort wohnten, den Mümtaz die »İhsan-Bey-Insel« nannte.

Wenn er nach Hause kam und der alten Dame die Antwort weitergab, die er erhalten hatte, dann amüsierte sich ein jeder: Wie sich der anfängliche Zorn seiner Tante – »Soll ihm doch der Kopf von den Schultern fallen … dieser altersschwache Dummkopf« – langsam in Mitleid verwandelte – »Der Arme kann ja auch nichts machen, und krank ist er außerdem« – und endlich in Bedauern: »Vielleicht macht er ja wirklich kein Geschäft!« Dann wurde versucht, doch eine Lösung zu finden, und sie sagte Sätze wie: »Von dem riesigen Stadthaus ist nur noch der Laden übrig, sonst hätte ich den doch längst verkauft, eine Erlösung wäre das«, die zeigten, was für eine Quelle von Betrübnis diese einfach nie pünktlich eingenommene Miete in ihrem Leben darstellte. Irgendwann beschloss seine Tante, den fälligen Besuch zu machen; und man schickte Nachricht an die ehemalige Dienerin Arife Hanım in Üsküdar, weil die Tochter des seligen Selim Paşa doch nicht ohne Begleitung auf die Straße gehen konnte. Arife Hanım kam am festgesetzten Tag, danach wurde drei oder vier Tage lang beschlossen: »Morgen gehen wir aber und sprechen mit diesem Kerl …«, ja es kam zu Aufbrüchen, die bei Nachbarn oder im Gedeckten Basar endeten, und schließlich kehrte eines Tages das von der Tante bestiegene Automobil vollgepackt mit vielen Dingen nach Hause zurück.

Allerdings war ihr Besuch bei dem Mieter nie vergeblich; wenigstens einen Teil ihres Geldes erhielt sie immer. Mümtaz und İhsan waren jedes Mal über diesen Erfolg erstaunt. Dabei war eigentlich gar nichts Erstaunliches daran.

İhsans Mutter mochte Arife Hanım einerseits, andererseits konnte sie ihr Geschwätz nicht ertragen. Je länger Arife Hanım bei ihr wohnte, desto heftiger wurde, wie sie seit ihrer Kindheit wusste, diese schroffe Abneigung. Schließlich, wenn sich genügend Ärger aufgestaut hatte, bestellte man einen Wagen, brach auf, ohne dass Arife klar war, wohin es gehen sollte, und die alte Dienerin wurde an der Anlegestelle für die Dampfer nach Üsküdar mit einem »Mach es gut, meine liebe Arife … Ich lasse dich wieder rufen, in Ordnung?« abgesetzt. Dann suchte Sabire Hanım unverzüglich den Laden auf. Klar, dass es schwierig war, einen Vermieter in solch einer gereizten Stimmung abzuwimmeln. Tatsächlich hat unser guter Mann es einige Male versucht und begonnen, von Magenschmerzen und anderen Zipperlein zu erzählen. Beim ersten Mal empfahl ihm Sabire Hanım Pfefferminztee, beim zweiten Mal beschrieb sie ihm eine komplexere Kur, beim dritten Mal aber fragte sie ihn, als er wieder mit Klagen über seinen Gesundheitszustand begann: »Hast du die Medikamente genommen, zu denen ich dir geraten habe?«, und auf seine verneinende Antwort entgegnete sie: »Dann erzähl mir nicht noch einmal etwas von Krankheiten, ist das klar?« Der Mieter hatte bei diesem dritten Besuch begriffen, dass es nicht möglich war, diese alte Dame mit ihrem Zorn und ihren Gewissensbissen abzuschütteln. Deswegen bestellte er ihr sogleich einen Kaffee, machte auf dem Tisch ein oder zwei Abrechnungen ohne rechte Grundlage, drückte ihr dann, sobald sie den Kaffee getrunken hatte, einen Umschlag in die Hand und schob sie ab. Danach besuchte Sabire Hanım einen Laden nach dem anderen, ließ das Taxi überall warten, suchte für einen jeden ein passendes Geschenk aus und kehrte nach Hause zurück, wenn sie das eingenommene Geld bis auf den letzten Groschen ausgegeben hatte. İhsan und Mümtaz betrachteten den Laden mit seiner Miete und seinem Mieter, sogar mit Arife Hanım, die wie ein stimulierendes Anhängsel dazugehörte, als die einzige Unterhaltung, den einzigen Luxus und das einzige wichtige Geschäft, dem die alte Dame in ihrer freien Zeit nachging, und sie hatten deshalb keine Einwände, wenn sie sich damit abgab.

Ohnehin wurde auf der İhsan-Bey-Insel gutgeheißen, was ein jeder tat; jedem verrückten Einfall und jeder Vorliebe wurde, wenn nicht gar mit lautem Lachen, so doch mit einem Lächeln begegnet. Das wollte der Herr der Insel so; er war überzeugt, dass alle glücklich sein könnten, wenn man es so hielte. Er hatte über Jahre diesen Bau der Glückseligkeit Stein für Stein errichtet. Aber jetzt stellte ihn das Schicksal zum zweiten Mal auf die Probe. Denn İhsans Krankheit war ernst. Mümtaz dachte: ›Das ist nun der achte Tag.‹ Man hatte ihm gesagt, dass die Tage mit gerader Zahl ruhiger verliefen.

Er schüttelte das Gefühl der Schwäche ab, das ihm noch von der halb durchwachten Nacht nachhing, und ging nach unten. Sabiha hatte ihre Pantoffeln angezogen und saß schmollend in der Diele.

Dass dieses laute und lustige Mädchen so verschlossen war, fand Mümtaz unerträglich. Allerdings war auch Ahmet still. Aber der war es von Natur aus. Er gehörte zu den Menschen, die sich selbst verurteilen. Vor allem seit dem Tag, an dem er von den traurigen Vorfällen um seine Geburt erfahren hatte – von wem und wie, das wusste keiner zu sagen; vielleicht hatte es ihm ein Nachbar erzählt? –, saß er dauernd in seiner Ecke und hielt sich von der Hausgemeinschaft fern. Das ging so weit, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, wenn man ihn ein bisschen verwöhnen wollte, weil er dachte, man wolle ihn trösten. So etwas kann überall vorkommen. Manche Menschen sind von Geburt aus verdammt; das Schilfrohr zerbricht dann wie von selbst. Aber bei Sabiha war das etwas anderes. Sie war das Märchen dieser Familie. Unaufhörlich redete sie, lief umher, erfand fantastische Geschichten und sang. Stets erfüllten ihre gute Laune und ihr Lärmen die İhsan-Bey-Insel.

Auch sie hatte in den letzten drei Nächten nicht richtig geschlafen, sondern im Zimmer ihres Vaters, auf dem breiten Diwan im Erker, nur so getan, als schliefe sie, und hatte mit den anderen beim Kranken gewacht.

Mümtaz schaute so gut gelaunt wie möglich dem Mädchen in das blasse Gesicht, ihre Augen waren ganz tief in die Höhlen gesunken. Sie hatte, wie schon in den letzten drei Tagen, kein Band in ihr Haar geflochten.

Vor drei Tagen hatte sie Mümtaz gesagt: »Ich mach mir mein rotes Band nicht mehr ins Haar. Erst wenn Vater gesund ist, schmücke ich mich wieder!« Das hatte sie mit ihrer üblichen Koketterie, mit ihrem typischen Lächeln und dem Augenaufschlag gesagt, mit dem sie den Leuten zeigte, dass sie im Bilde war und sie mochte. Aber als Mümtaz sie ein bisschen liebkoste, begann sie zu weinen. Sabiha weinte auf zwei verschiedene Weisen. Einmal wie ein Kind, ein kleiner Despot, der auf etwas besteht. Dann wurde ihr Gesicht hässlich, ihre Stimme verstieg sich in absonderliche Lagen, sie stampfte mit den Füßen, kurz: sie wurde, wie jedes egoistische Kind, zu einem kleinen Teufel.

Und dann gab es bei ihr ein Weinen, wenn sie wirklichem Unglück begegnete, soweit ihr kindlicher Verstand das begreifen konnte. Dieses Weinen war stumm und versiegte oft auf halbem Wege. Eine Zeit lang konnte sie ihre Tränen beherrschen. Aber ihr Ausdruck wechselte, ihre Lippen zitterten, sie wich mit ihren feuchten Augen Blicken aus. Ihre Schultern spannten sich nicht wie bei der ersten Art des Weinens, sondern fielen geradezu ein. So weinte sie, wenn sie glaubte, vernachlässigt, gedemütigt oder ungerecht behandelt worden zu sein, oder wenn sie sich von ihrer Umgebung in ihre Kinderwelt zurückzog, in jene eigene Sphäre, in der nach ihrem Willen alle lieb zueinander und gut Freund sein mussten, die über und über mit Korallenzweigen und Perlmuttblumen geschmückt und durch und durch belebt war. Wann immer sie so weinte, glaubte Mümtaz, dass sogar das rotsamtene Haarband seiner Nichte an Glanz verlor.

Dieses Band war ein Schmuck, den Sabiha sich selbst zugelegt hatte … Ein paar Monate nach ihrem zweiten Geburtstag streckte sie ein kirschrotes Haarband, das sie auf dem Boden gefunden hatte, ihrer Mutter hin und sagte: »Tu mir das ins Haar, los!« Dieses Haarband war nun seit zwei Jahren mehr als ein Schmuck; es war in diesem Haus zu einem festen Bestandteil Sabihas geworden. Alles, was ihr gehörte, hatte ein rotes Band, und Sabiha verschenkte Bänder, wie ein Herrscher Orden an seine Freunde verteilt. Katzenjunge, Puppen, Dinge, die sie mochte – vor allem ihr neues Kinderbett –, alles und jeder, dem sie ihre Liebe schenkte, erhielt dieses Abzeichen. Es kam sogar vor, dass sie ein außerordentliches Edikt erließ und diesen Orden zurücknahm; als die Köchin sie nicht nur wegen ihrer Verwöhntheit getadelt, sondern sich sogar bei ihrer Mutter über sie beschwert hatte, hatte Sabiha nach langem Weinen und Klärung der Angelegenheit sie gebeten, das ihr geschenkte Haarband abzulegen. Man muss allerdings einräumen, dass Sabihas Kinderleben eines war, das solche Gnadenerweise und Bestrafungen rechtfertigte. Bis zu dieser Krankheit jedenfalls hatte sie im Haus geherrscht. Sogar Ahmet fand es selbstverständlich, dass seine Schwester das Sagen hatte, die langsam alle Herzen gewann. Denn Sabiha war in dieses Haus gekommen, nachdem ein Unglück es in seiner Wurzel getroffen hatte. Man hatte Macide für halb verrückt gehalten, als sie das Kind zur Welt brachte. Nur durch Sabihas Geburt hatte sie ihren Verstand und ihren Platz im Leben wiedergefunden. Freilich war Macides Erkrankung nicht völlig geheilt. Von Zeit zu Zeit hatte sie kleinere Anfälle und lief wieder wie früher Märchen erzählend oder mit der süßen Stimme eines kleinen Mädchens parlierend durchs Haus; saß am Fenster oder an ihrem Platz und wartete stundenlang auf die Rückkehr ihrer älteren Tochter, dieses Kindes, das sie nie erwähnte.

Ein schweres Schicksal hatte damals zweifelsohne seine Hand im Spiel. İhsan und die Ärzte hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, damit Macide nichts von dem Unglück erfuhr, aber niemand konnte seine Betroffenheit und Trauer vor der sich in den ersten Wehen windenden Frau verbergen. Schließlich erfuhr sie von der Krankenpflegerin, was der Tochter zugestoßen war, hatte sich von ihrem Lager zu dem Platz geschleppt, wo die Leiche lag, hatte sie aufgebahrt liegen sehen und war neben ihr erstarrt niedergefallen. Danach war sie nicht wieder richtig zu sich gekommen.

In schwerem Fieber hatte sie tagelang dagelegen und in diesem Zustand Ahmet zur Welt gebracht.

Dies war an einem Junimorgen vor acht Jahren geschehen. Zeynep war mit ihrer Großmutter in das Krankenhaus gegangen, in dem ihre Mutter lag, hatte dann gemerkt, dass sie ihr Geschenk nicht dabeihatte, war, ohne jemandem Bescheid zu geben, nach draußen gegangen, um auf ihren Vater zu warten und ihm das zu sagen, und hatte in einem Augenblick, in dem ihr kleiner Kindskopf wer weiß welchen Gedanken nachträumte, plötzlich selbst den Tod gefunden.

İhsan konnte sich ohnehin nicht verzeihen, dass er auf die Ärzte gehört hatte, die vor Komplikationen gewarnt hatten. Er war es gewesen, der seine Frau überredet hatte, für die Geburt ins Krankenhaus zu gehen. Wenige Minuten nach dem Unfall war er dazugekommen, als der Körper seiner Tochter noch blutete und warm war. Auf seinen Armen hatte er sie hineingetragen und erlebt, wie die letzte Hoffnung zerstob.

Das Schicksal hatte diese Tragödie so geschehen lassen, dass es keinen Schuldigen gab. Macide hatte kein einziges Mal gebeten, ihre Tochter solle auf Besuch ins Krankenhaus kommen. İhsans Mutter hatte zwei Tage lang dem Betteln und Weinen des Mädchens widerstanden. İhsan hatte trotz aller Bemühungen keinen Wagen gefunden, um rechtzeitig ins Krankenhaus zu kommen, und war mit der Trambahn eingetroffen. Er hatte sich sogar auf das Trittbrett gestellt, um auf dem Weg vielleicht ein leeres Taxi zu finden. So machte jeder sich selbst für das Unglück verantwortlich. Aber derjenige, der sich die meiste Schuld gab, der ganz in diesem Unglück lebte, war Ahmet.

Mümtaz sah, dass Ahmet am Kopfende des Bettes saß, in dem sein Vater lag, bereit, beim kleinsten Wink zu verschwinden. Macide war aufgestanden und spielte versonnen mit einem Faden, der sich aus dem Gewebe ihrer Strickjacke gelöst hatte.

İhsan freute sich, Mümtaz zu sehen. Sein Gesicht war wieder gerötet. Mit Mühe hob und senkte sich seine Brust. Mümtaz fand ihn im Morgenlicht noch magerer, als er ohnehin war. İhsan war unrasiert; der langsam wachsende Bart verlieh ihm einen seltsamen Ausdruck, so als wollte er sagen: »Ich höre auf, İhsan zu sein. Bald werde ich irgendetwas oder ein Nichts sein. Darauf bereite ich mich vor.«

Der Kranke machte mit der Hand eine undeutliche Bewegung.

Mümtaz beugte sich über sein Bett: »Ich habe die Zeitungen noch nicht gelesen. Ich glaube nicht, dass man sich Sorgen machen muss …«

Dabei war er in Wahrheit sicher, dass in Kürze ein Krieg ausbrechen würde. »Wenn die Welt das Hemd wechselt, hat man die Folgen zu tragen.« İhsan, mit dem er in den letzten Jahren die Weltlage regelmäßig besprach, hatte diesen Satz Albert Sorels immer wieder zitiert. In letzter Zeit ergänzte Mümtaz diese Warnung durch die bittere Weissagung eines Dichters, den er sehr mochte: »Das Ende Europas …« Aber diese Dinge konnte er jetzt mit İhsan nicht besprechen. İhsan war krank.

Der bedachte die Lage aus seinem Bett heraus. Seine Hand fiel mit einer hilflosen, flehenden Geste auf die Decke.

»Wie war die Nacht?«

Macide antwortete mit träumerischer, sanfter und weicher Stimme, hergeweht wie ein Hauch von Wiesengrund: »Die ganze Zeit so wie jetzt, Mümtaz, so wie jetzt …«

»Hast du überhaupt geschlafen?«

»Ich habe mich hier mit Sabiha hingelegt. Aber ich konnte nicht schlafen.«

Lächelnd zeigte sie auf den Diwan. Sie hätte auf diesen Platz, auf dem sie die letzten fünf Nächte verbracht hatte, genauso gut mit Abscheu wie auf ein Schafott zeigen können. Aber im Falle Macides, dieses seltsamen, unendlich begnadeten Wesens, machte das Lächeln die Hälfte ihrer Persönlichkeit aus. Das ging so weit, dass sie kaum wiederzuerkennen war, wenn sie einmal nicht lächelte. »Gott sei Dank, diese Zeit liegt hinter uns!« Die Tage, in denen Macide aufgehört hatte zu lächeln, waren Vergangenheit.

»Dann schlaf doch wenigstens jetzt ein bisschen!«

»Geh du erst; dann, wenn du wiedergekommen bist … Ich konnte die Nacht über wegen des Lärms der Eisenbahnen nicht schlafen. Ich weiß nicht, werden Truppen verschickt?«

›Ich hatte vom Unglück in Kastamonu durch ein Telegramm erfahren. Ich war sofort herbeigeeilt. Das Kind und Macide fand ich voneinander getrennt vor. Alle kümmerten sich um Macide. Meine Tante hatte fast den Verstand verloren. İhsan war ein Schatten seiner selbst. Nie werde ich jenen Sommer vergessen. Was wäre aus Macide geworden, wenn İhsan nicht so sehr an das Leben geglaubt hätte?‹

Da zeigte İhsan auf Macide: »Sag …«

Er hielt inne, als könne er nicht zu Ende reden.

»Sag etwas zu ihr!«

Mein Gott, wie schwer ihm das Sprechen fiel! Mümtaz kannte niemanden, der gewandter und schöner sprach als dieser Mann, dessen Vorträge, Plaudereien und Scherze einem noch tagelang im Gedächtnis blieben. Und jetzt hatte er nur mit Mühe diese vier Wörter zusammengebracht. Aber er war trotzdem zufrieden. Schließlich hatte der alte Junge – das war İhsans Selbstbezeichnung – es geschafft. Er hatte sich verständlich gemacht. Mümtaz würde sicher einen Weg finden, Macide zu schonen. İhsans Auge ruhte auf dem Gesicht des jungen Mannes.

Als der vor die Tür trat, blickte er auf die Straße, als sehe er diese nach einer langen Trennung zum ersten Male wieder. Am Tor zur Moschee, das dem Haus genau gegenüberlag, spielte ein Kind mit einer Schnur und betrachtete dabei die Zweige des Feigenbaums, die über die niedrige Hofmauer hingen. Vielleicht überlegte es sich, wie es sich gleich auf die Genuss verheißenden Feigen stürzen würde. ›Genau wie ich vor zwanzig Jahren dagesessen und überlegt habe … Aber die Moschee sah damals anders aus …‹, voller Trauer vollendete er seinen Gedanken, »und auch das Viertel.«

Die Straße lag hell da. Versonnen blickte Mümtaz in dieses Licht. Dann schaute er wieder auf das Kind, die Zweige des Feigenbaumes und auf die Moscheekuppel, die sich über allem erhob und der man das Blei mit der gleichen Leichtigkeit abgezogen hatte, mit der man einen Handschuh von den Fingern oder die Schale von den Früchten dieses Feigenbaumes zieht. ›Mehmed Efendi mit den kastanienbraunen Augen‹, dachte er. ›Ich muss immer noch herausfinden, wer dieser Mann war.‹ Er hatte in Eyüp noch eine Moschee gebaut und lag neben der in seinem Mausoleum. Aber würde Mümtaz jemals die Stiftungsurkunde finden?

2 

Die meisten Anschriften, die man Mümtaz gegeben hatte, waren falsch. Unter der ersten Adresse, bei der er vorsprach, hatte nie eine Krankenpflegerin namens Fatma gelebt. Nur die Tochter des Hauses besuchte einen Kurs in Krankenpflege. Das Mädchen empfing ihn mit einem Lächeln: »Ich habe mich eingeschrieben, damit ich zu etwas nütze bin, wenn der Krieg ausbricht. Aber ich kann noch überhaupt nichts.« Dann wurde sie ganz ernst: »Mein älterer Bruder ist eingezogen worden … Ich habe an ihn gedacht …« Im zweiten Haus, das er besuchte, hatte tatsächlich eine Krankenschwester gelebt. Aber sie hatte vor drei Monaten in einem Krankenhaus in Anatolien Arbeit gefunden und war dorthin gezogen. Ihre Mutter sagte zu Mümtaz: »Ich schau mal; wenn ich eine der Kolleginnen meiner Tochter sehe, sage ich ihr Bescheid …«

Mümtaz notierte sich die Adresse mit der Geduld von jemandem, der kein Spielverderber sein möchte. Er stand vor dem armen, alten Haus. ›Was machen die denn bloß im Winter? Wie kriegen sie das Haus warm?‹, dachte er beim Weggehen. ›Was machen die nur? Wie heizen sie?‹ Das war im Augenblick eine seltsame Frage. Denn an diesem Morgen Ende August waren alle Straßen wie Ofentüren, die sich vor einem öffneten, sich dann hinter einem schlossen, einen im Ofen brieten und dann an den nächsten Ofen weitergaben. Ein schattiges Stück auf dem Weg, ein leichter Lufthauch an einer Kreuzung waren Labsal. »İhsan, diesen Sommer kann ich nicht von den Bibliotheken weg … Ich muss den ersten Band auf jeden Fall fertig bekommen.« Der erste Band. Mümtaz sah die mit seiner kleinen Schrift eng beschriebenen Blätter geradezu vor sich. Die Zusätze in roter Tinte, die umfangreichen Ergänzungen, die Streichungen, die aussahen, als liege er mit sich selbst im Streit … Wer weiß, vielleicht würde das Buch nie fertig? Mit diesem quälenden Gedanken im Kopf ging er durch die Straßen, sprach mit den Krämern und Teehausbesitzern, die an den Ecken ihre Geschäfte hatten. Die einzige Krankenpflegerin, die er zu Hause angetroffen hatte, hatte ihm gesagt: »Mein Mann ist krank; deswegen habe ich mir freigenommen. Ich habe Arbeit. Wenn er ins Krankenhaus kommt, fange ich wieder an zu arbeiten.« Das Gesicht der Frau glich einer Ruine.

Mümtaz blieb nichts anderes übrig, als zu fragen: »Was hat er denn?«

»Er war plötzlich gelähmt. Ich war nicht dabei. Als man ihn nach Hause gebracht hat, hing die Hälfte seines Körpers einfach nur herunter. Er wäre jetzt im Krankenhaus, wenn man ihn gleich dorthin gebracht hätte. Jetzt sagen die Ärzte, er muss zehn Tage warten, bis er wieder transportiert werden kann. Wie oft habe ich dieses fürchterliche Weib angefleht, lass ab von ihm. Er hat kein Geld, er ist nicht jung, er sieht nicht gut aus; finde dir einen besseren! Aber nein, es musste unbedingt der sein … Jetzt stehe ich da mit drei Kindern.«

Mümtaz konnte angesichts dieses Familiendramas nichts anderes tun, als sich zu verabschieden. Drei Kinder, ein gelähmter Mann … das Gehalt einer Krankenschwester. Sie lebten in zwei Zimmern einer recht großen Wohnung. Es standen sogar Wasserkrüge in der Diele. Das hieß, dass sie keine Küche hatten, vielleicht nicht einmal einen Abort. Es war ein Holzhaus, das einmal wer weiß welcher reiche Beamte, vielleicht ein Oberfinanzdirektor oder ein Gouverneur, zur Hochzeit seiner Tochter errichtet haben mochte. Trotz der abblätternden Farbe erkannte man auch von außen, mit welcher Sorgfalt es einst gebaut worden war. Fensterrahmen, Erker, Dach: Alles war fein geschnitzt und ineinandergefügt. Zum Eingang führte von beiden Seiten eine Treppe mit fünf Stufen hinauf. Rechts davon war eine Tür zum Kohlenlager. Aber der Hausbesitzer hatte diesen Raum an einen Kohlenhändler vermietet. Vielleicht hatte auch die Küche einen eigenen Mieter.

Ein Lastwagen mit Kohlen rollte mächtig wankend heran und nahm dabei die ganze Breite der Straße ein.

Mümtaz bog in eine Seitengasse ab.

Er dachte daran, wie er einen Sommer zuvor in diesen Gassen, vielleicht sogar in einer von denen, durch die er heute gekommen war, mit Nuran spazieren gegangen war, wie sie durch Kocamustafapaşa, durch Hekimalipaşa gelaufen waren. Seite an Seite mit der jungen Frau, die Körper fast miteinander verschmolzen und in ständigem Gespräch vertieft, waren sie in den Hof dieser Medrese eingebogen, hatten sich in der Hitze den Schweiß von der Stirn gewischt und vielleicht jene Brunneninschrift dort gelesen. Das war jetzt ein Jahr her. Mümtaz schaute sich um, als suche er nach dem kürzesten Weg, um dieses eine Jahr zurückgehen zu können. Er merkte, dass er bis Yedişehitler gelaufen war. Die sieben Heldentoten des Eroberersultans schliefen Seite an Seite in ihren kleinen steinernen Sarkophagen. Die Gasse war staubig und eng. Nur an der Stelle, wo die Heldentoten bestattet lagen, weitete sie sich zu so etwas wie einem Platz. Ein Tango war durch das Fenster eines ärmlichen Hauses zu hören, das zwar zwei Stockwerke hatte, aber wirkte, als sei es aus Karton gemacht, ähnlich wie diese kleinen Seifenkisten. Mitten auf der Straße tanzten Mädchen, die über und über mit Staub bedeckt waren. Mümtaz hörte ihr Lied:

Kaufherr, die Tür mach auf, mach auf die Tür!

Kaufherr, was gibst du dem, der anklopft, Kaufherr, was?

Die Mädchen waren alle kräftig und hübsch, aber sie hatten Lumpen an. Diese verfallenen, abgelebten Häuser, diese elende Kleidung und dieses Lied in einem Viertel, in dem einmal der Palast Hekimoğlu Ali Paşas gestanden hatte: All das mutete Mümtaz seltsam an. Sicherlich hatte auch Nuran sich zu diesem Tanz gedreht, als sie ein Kind war. Und vor ihr hatten ihre Mutter und ihre Großmutter dieses Lied gesungen und auch auf diese Weise dazu getanzt.

›Was weiterleben muss, ist eben dieses Lied. Dass unsere Kinder mit diesem Lied, mit diesem Tanz groß werden. Nicht Hekimoğlu Ali Paşa selbst, nicht sein Palast, nicht einmal sein Viertel. Alles kann sich ändern; wir verändern es sogar ganz bewusst. Was sich nicht verändern wird, ist das, was das Leben prägt, was ihm unseren Stempel aufdrückt …‹

Wie gut würde İhsan das verstehen! Einmal hatte er gesagt: »In einem Schlaflied sind die Gedanken und Träume von Millionen Kindern aufbewahrt.« Aber İhsan war krank, Nuran und er hatten sich zerstritten, und die Überschriften in den Zeitungen redeten von einer angespannten Lage. All diese Dinge bestürmten ihn nun, die er seit dem Morgen zu vergessen oder doch in einen Winkel seines Bewusstseins zu verdrängen bemüht war.

Die armen Kinder tanzten auf einem Pulverfass. Aber das Lied war das alte Lied; das Leben würde also auch auf einem Pulverfass weitergehen.

Er lief weiter und sprang dabei von einem Gedanken zum anderen. Ihm war klar, dass er in dieser Gegend niemanden finden würde. Seine letzte Adresse hatte er schon weit hinter sich gelassen. Er würde umkehren und auch dort vorbeischauen und anschließend einen Verwandten anrufen, der im Amerikanischen Krankenhaus arbeitete, und dann in der Gegend dort drüben weitersuchen.

Er ging durch elende, heruntergekommene Viertel, zwischen Häusern, die vor lauter Armut erschienen wie menschliche Gesichter. Um ihn herum waren unzählige Leute, die verwahrlost und krank aussahen.

Alle wirkten niedergedrückt. Man dachte an die Zukunft, ahnte die Katastrophe.

Wenn jetzt wenigstens İhsan nicht krank wäre! Und wenn er nun auch eingezogen würde? Wenn er gezwungen würde, İhsan krank zurückzulassen?

Als er nach Hause kam, schlief Macide. İhsans Atem ging gleichmäßig. Der Arzt hatte seinen Zustand besser gefunden und war gegangen. Ahmet stand mit seiner Großmutter am Bett seines Vaters. Sabiha hatte sich zu Füßen ihrer Mutter zusammengerollt und schlief diesmal wirklich.

Merkwürdig ruhig ging Mümtaz auf sein Zimmer. Denn er hatte beinahe alles gesehen, woraus seine Welt bestand – beinahe … Denn er wusste nicht, wie es Nuran ging. Was Nuran jetzt wohl machte?

3 

In Mümtaz’ Leben spielten İhsan und seine Frau eine außerordentlich wichtige Rolle. Nachdem sein Vater und seine Mutter nacheinander im Abstand von wenigen Wochen gestorben waren, hatte ihn sein Cousin aufgezogen. Macide und İhsan, İhsan und Macide. Bevor er Nuran kennenlernte, hatte er sein Leben fast ausschließlich zwischen diesen beiden Menschen verbracht. İhsan war ihm zugleich Vater und Lehrer.