Carlos, der ehemalige Anführer einer militanten Gruppe, führt mit Freunden ein Hotel bei Barcelona, in dem die polnische Mannschaft während der Fußballweltmeisterschaft in Spanien 1982 wohnt. Ohne Wissen seiner Freunde versteckt er zwei Untergrundkämpfer – in Erinnerung an seine eigene aktive Zeit. Doch im Hotel ist auch ein Verräter. Der Kreis von Polizisten zieht sich immer enger, die Bewachung der Polen wird zu einer Belagerung. Wie soll Carlos seiner Vergangenheit entfliehen und die Zukunft leben? Inmitten der Stimmen von Lebenden und Toten setzt er seine Existenz aufs Spiel, als handle es sich um ein unabwendbares Schicksal.
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»Zu den Verdiensten dieses Buches gehören die vorurteilslosen Porträts von Männern und Frauen, die in der Presse nur als Kriminelle, Entführer, Erpresser und Attentäter vorkommen. Wenn sich am Schluss des Romans das Gewitter entlädt, das sich in der trügerisch lockeren Atmosphäre aufbläht, tut es weh.«
Zürcher Oberländer
Bernardo Atxaga (eigentlich Joseba Irazu Garmendia, *1951) studierte Wirtschaftswissenschaften. Mit Romanen, Gedichten, Liedertexten und Kinderbüchern gewann er in seiner Heimat große Popularität. Er übersetzt seine Bücher von seiner Muttersprache Baskisch selbst ins Spanische.
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Giò Waeckerlin Induni, in einer italienischsprachigen Familie in Zürich aufgewachsen, ist Lektorin und Übersetzerin vorwiegend aus dem Italienischen, Spanischen und Englischen.
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Ein Mann allein
Roman
Aus dem Spanischen von Giò Waeckerlin Induni
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Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel Gizona bere bakardadean im Verlag Pamiela, Iruña (Navarra).
Die spanische Ausgabe erschien 1994 in der Übersetzung von Arantza Sabán und Bernardo Atxaga unter dem Titel El hombre solo bei Ediciones B, Barcelona.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt mit einem Beitrag der Dirección General del Libro, Archivos y Bibliotecas del Ministerio de Educación y Cultura de España.
Die erste Ausgabe dieses Werks im Unionsverlag erschien am 10.8.1997
© by Bernardo Atxaga 1994
© by Unionsverlag, Zürich 2015
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Tony Stone / Adrian Weinbrecht
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-60228-1
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Doch wehe dem, der allein ist!
Wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet.
Ekklesiastes, IV,10
Der Mann, den alle Carlos nannten, wusste, dass das sich vor ihm ausbreitende Eismeer, bloß ein sich langsam verflüchtigendes Traumbild war, und er wusste auch – weil eine Stimme in seinem Bewusstsein ihn daran erinnerte –, dass er vom Sofa aufstehen und möglichst schnell in den Hotelsaal hinuntergehen musste, um sich dort das Fußballspiel anzusehen, das die Mannschaften Polens und Belgiens um neun Uhr abends jenes Tages, des 28.°Juni 1982, austragen würden. Doch das Meer in seinem Traum hüllte einen Teil seines Bewusstseins ein, der sich immer noch den Befehlen seines Verstandes entzog, und dieser losgelöste Teil flüsterte ihm ein, er solle die Augen nicht aufmachen, er solle sich nicht bewegen, er solle nicht ganz aufwachen, solle sich wohlig fallen lassen, das Gefühl genießen, das sich jetzt seiner bemächtigte und ihn in einen Stein verwandelte, der in seinem Fall auf die Eisschicht prallen und im Wasser versinken würde. Unten angekommen, blieb er jedoch knapp über der Meeresfläche in der Schwebe, sodass er zwei, drei in Dunst gehüllte Fische erkennen konnte, die zwischen den Eisspalten hin und her schwammen. Gleich darauf verwandelte sich der Stein in eine große Fledermaus, die über dem Meer flog, einem Meer, das nun, von oben betrachtet, wie eine riesige weiße Ebene aussah.
Er rollte sich auf dem Sofa zusammen und kehrte dem Fenster, durch das die Spätnachmittagssonne hereinschien, den Rücken zu. Er wollte nicht aufwachen, wollte die Traumbilder festhalten und für ein paar Sekunden jene Fledermaus sein, wollte einen flüchtigen Moment lang die Schwerelosigkeit und das Gefühl genießen, nicht er selbst zu sein. Sein Verlangen wurde durch die Orchestermusik noch verstärkt, die von weit weg, von irgendwoher in der weißen Ebene bis zu ihm drang und den an sich schon duftigen Bildern zusätzliche Zartheit verlieh.
Sein Wunsch erfüllte sich nicht. Die Musik wurde von der Stimme einer Frau überlagert, die einem Paläontologen namens Ruiz Arregui eine Frage stellte, und dieses Detail – seit er in Barcelona wohnte, ließen ihn baskische Namen unweigerlich aufhorchen – zwang ihn, die Augen aufzumachen und in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er sah ein Fernsehgerät mit siebzehn Tasten vor sich und auf dem Bildschirm einen jungen Mann mit Brille, den Paläontologen, der die Frage der Moderatorin beantwortete.
»Selbstverständlich nicht. Wie bereits erwähnt, an der baskischen Küste können unmöglich Pterosaurier gelebt haben. Zudem, hätte es sie tatsächlich gegeben, hätten sie nicht fliegen können, weil diese Saurier – wie im übrigen alle Saurier – Kaltblütler waren und daher nicht in der Lage waren, ihre Körpertemperatur zu regeln. Was bedeutet das? Nun, dass sie in Lethargie zwischen dem Eis verharrt hätten, was wiederum bedeutet, dass sie unmöglich fliegen konnten.«
»Was beweist«, pflichtete ihm die Moderatorin lächelnd bei, »dass es in jener Zeit, von der in dieser Sendung die Rede ist, keine Pterosaurier – Flugechsen also – gegeben haben kann und dass diese Saurier viele Millionen Jahre früher von der Erdoberfläche verschwunden sind. Und dass die Bezeichnung Fledermaus, wie ich diese urzeitlichen Tiere vorhin genannt habe, ebenso wenig gerechtfertigt ist, weil es sich eindeutig um einen Vogel handelt, genau genommen um ein Reptil. Fassen wir daher für unsere Freunde am Bildschirm zusammen: Beim Pterosaurier handelt es sich um ein Reptil, besser gesagt, um eine Flugechse, die lange, lange bevor sich die ersten Menschen in Höhlen ansiedelten, von der Erde verschwand.«
Es war eine populärwissenschaftliche Sendung, und sowohl die Moderatorin als auch der Paläontologe bemühten sich offensichtlich, ein zwangloses Gespräch zu führen. Carlos war etwas enttäuscht über den trivialen Ursprung seines Traumes. Er schaute auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis neun, eine halbe Stunde also, bis das Fußballspiel begann, das Boniek, Lato und seine Mannschaftskollegen gegen Belgien austrugen und das vom zweiten Sender übertragen wurde.
Sein Blick fiel auf die Sportzeitung, die neben dem Sofa auf dem Fußboden lag. Boniek ist in Fußballkreisen eine Persönlichkeit – las Carlos zerstreut, während er das Geschehen auf dem Bildschirm aus dem Augenwinkel verfolgte. Er wird außerordentlich geschätzt; er wird bewundert, ja er wird vergöttert, wie wir in Barcelona immer wieder Gelegenheit gehabt haben festzustellen. Bei seinen Teamkollegen genießt er Hochachtung, denn in Polen vergisst niemand seine Geste zu Gunsten des Torhüters Mlynarczyk, als dieser in volltrunkenem Zustand am Flughafen von Warschau erschien. Die Verantwortlichen des Fußballverbandes verlangten, dass Mlynarczyk zu Hause bleiben müsse, doch Boniek drohte, dass er in diesem Fall das Flugzeug ebenfalls nicht besteigen werde, und die Angelegenheit wurde schließlich dank Bonieks Intervention geregelt.
Dann überflog er die Schlagzeilen der Tageszeitung, die ebenfalls auf dem Fußboden lag: Gespannte Situation für die Palästinenser in Beirut. – ETA dementiert die Meldung, wonach das jüngste Bombenattentat, bei dem ein Kind schwer verletzt wurde, auf ihr Konto gehe. Es waren die zwei erwähnenswertesten Nachrichten des Tages.
Auch wenn die heißeste Zeit des Sommers noch bevorstand, überstieg die Temperatur im Zimmer die fünfundzwanzig Grad. Carlos streckte den Arm aus und öffnete das Fenster, ohne vom Sofa aufzustehen. Er ließ die Abendbrise über sein Gesicht streichen und lag ganz ruhig da wie jemand, der Kopfschmerzen hat und sich vor der kleinsten Bewegung scheut: Er wollte nicht denken, er wollte das von den Traumbildern ausgelöste Gefühl noch ein bisschen genießen, bevor sich neue Bilder einstellten, die sich, durch die Schlagzeilen ausgelöst, in seinem Kopf drängelten, um Gestalt anzunehmen. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gezirpe, das von draußen ins Zimmer drang; ein regelmäßiger knirschender Ton, der Gesang von Insekten, die wohl seit Zeit und Ewigkeit und für alle Zeiten die Erde bevölkerten. Ihre Anwesenheit störte ihn nicht, so wie es ihn nicht störte, dass die Söhne des Kochs mit ihren Montesas oder Derbys in der Gegend umher knatterten, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Auspuffrohre mit Schalldämpfern zu versehen. Alle monotonen Geräusche beruhigten ihn. Ja, sie schläferten ihn ein. Doch heute durfte er dem Wunsch zu schlafen nicht nachgeben. Er musste endlich aufwachen und in den Saal hinuntergehen, um seine Versprechen einzuhalten und sich mit seinen Kompagnons und den Hotelangestellten das Fußballspiel anzusehen.
Noch ganz benommen vom Schlaf, ließ Carlos das Zirpen der Insekten auf sich einwirken. Die Regelmäßigkeit war wichtig und überdies wohl tuend, nicht nur für den Körper, für die Magen- und Darmtätigkeit, sondern ebenso sehr für die Psyche. Wer in der Lage war, Geplantes zur geplanten Zeit zu erledigen, wer das Glück hatte, über die Monate und Jahre hinweg von brüsken Zwischenfällen verschont zu bleiben, der konnte auf ein erträgliches Leben zurückblicken. Ja, das Geheimnis lag in der Regelmäßigkeit. Hatte er seinem Bruder nicht immer wieder gepredigt, dass die Regelmäßigkeit einem hilft, schwierige Situationen zu meistern? Dass sie wie der Sand ist, den man unter das Rad streut, wenn es auf dem Glatteis schleudert?
Willst wohl nicht behaupten, dass es ihm viel genützt hat. Wenn ich mich nicht täusche, ist Kropotky heute in einer psychiatrischen Klinik, hörte er in sich eine Stimme sagen. Carlos verzog verärgert das Gesicht: Obwohl er es gewohnt war, Stimmen zu hören, obwohl er seit seiner Gefängniszeit auf diese Methode zurückgriff, um sich mit sich selber zu unterhalten, vermochte er die Stimme nicht zu identifizieren, die eben in ihm gesprochen hatte. Es handelte sich offensichtlich nicht um jemand, den er kannte, um eine der Personen, die ebenfalls in ihm lebten und Menschen entsprachen, die er in seiner Vergangenheit gekannt hatte; die wie Schauspieler im gegebenen Moment auftraten, mit einer Stimme, zu der eine Gestalt und ein Gesicht gehörten. Manchmal hatte er den Eindruck, es handle sich vielleicht um eine Ratte, die zwischen seinen Eingeweiden groß und größer wurde und nichts anderes bezweckte, als ihn zu demütigen.
Carlos stand vom Sofa auf und stellte sich ans Fenster; er versuchte die Bemerkung der Rattenstimme hinsichtlich seines Bruders zu verscheuchen. Draußen atmete alles die nahende Nacht: Die Drähte in den Lichtbogenlampen um das Hotel herum glühten bereits; eine kleine Fledermaus, eine ganz andere als die aus seinem Traum, umflatterte das orange Licht. In der Ferne verdichtete sich die Dunkelheit wie der Bodensatz in einer Flasche; die Oliven- und Mandelbäume am Berghang waren nur noch verschwommen erkennbar und verschmolzen langsam mit dem Strauchwerk, das sich bis weit in die Ebene hinunterzog. Etwas weiter weg – ungefähr dreihundert Meter vom Hotel entfernt – blinkten an der Straße nach Barcelona bereits die roten und blauen Neonbuchstaben der Tankstellen. Dahinter erhob sich wie ein riesiger grauer Wall der Montserrat. Ja, es wurde wie jeden Tag Nacht, regelmäßig, unaufhaltsam. Eine Stunde später, wenn es ganz dunkel sein würde, würde man den Berg nicht mehr sehen, und die Kirche des Dorfes, zu dessen Verwaltungsbezirk das Hotel und alle Wohnsiedlungen in der Umgebung gehörten, würde hell beleuchtet sein. Dann war die Reihe wieder an den Insekten, bis auch sie verstummten; und auch der Verkehr würde nachlassen und schließlich ersterben. Vollkommene Ruhe würde herrschen, bloß die blauen und roten Lichter der Tankstelle würden bis zum nächsten Morgen blinken und einem das Gefühl vermitteln, dass das Leben weiterging und dass jemand da war, der es bewachte.
Carlos setzte sich wieder auf das Sofa und schlüpfte zerstreut in seine Sandalen. Was er eben vor dem Fenster gesehen hatte, war die Kulisse seines Exils: Berge, Häuser und Straßen, die wenig mit den Bergen, den Häusern und Straßen zu tun hatten, die er wirklich liebte. Dennoch, die hier herrschende Regelmäßigkeit half ihm, die in ihm wühlende und ihn demütigende Ratte zu besänftigen. Er wusste nicht, was die Zukunft ihm noch bescheren würde, doch was immer es sein mochte und selbst im schlimmsten Fall, würde er es nicht diesem Ort zuschreiben können.
»Ich denke schon. Abgesehen von Altamira und Lascaux gibt es wenige so interessante Höhlen wie die von Ekain. Zum einem bergen sie außergewöhnliche Wandmalereien, und zum zweiten handelt es sich um bedeutende Fundorte. In Ekain wurden jede Menge Gegenstände gefunden, sowohl aus dem Paläolithikum als auch neolithische.«
Auf dem Bildschirm sah man jetzt eine Landkarte des Golfs von Biscaya und der angrenzenden Regionen. Ein roter Punkt in der Nähe der Küste bezeichnete die Lage der Höhle. Ein paar Sekunden später war die Landkarte verschwunden, und der rote Punkt hatte sich in einen vom Regen feuchten, moosüberwachsenen Felsen verwandelt.
Carlos konzentrierte sich auf den Bildschirm. Die Kamera zoomte den Felsen in den Vordergrund, bis er verschwand, dahinter erschien ein Buchenwald, dann kam ein sattgrüner Gipfel ins Bild; der Blick schweifte über weitere Berge, keine grünen mehr, sondern blaue, und dann leuchtete am Horizont der Saum des Meeres auf. Die Kamera überflog jetzt – wie die Fledermaus in seinem Traum – die Berge, die Häuser und Straßen, an denen sein Herz hing. Dort sind meine Berge, dort sind meine Täler. Er fand spontan die Worte zum Volkslied, das in einer Orchesterbearbeitung die Bilder begleitete. Dort sind meine Berge, dort sind meine Täler, die weißen Häuser, die Bäche, die Flüsse. Ich stehe an der Grenze in Henday, und meine Augen füllen sich mit Tränen. O Baskenland …
Carlos wählte eine interne Telefonnummer, die Siebzehn. Er legte auf und wählte ein zweites Mal.
»Habt ihr den Fernseher an?« fragte er, als jemand am anderen Ende der Leitung abhob. »Dann stellt das Zweite Programm ein, sie zeigen unser Land, die Küste von Zarauz und die ganze Gegend dort. Ihr habt bestimmt Heimweh, oder? Schließlich seid ihr schon über zwei Wochen weg.«
Carlos hatte seit mehr als einem Jahr das Land, das eben im Fernsehen gezeigt wurde, nicht mehr betreten; seine Bemerkung über das Heimweh war als Scherz gemeint. Doch die Frau auf der anderen Seite der Leitung schien sie überhört zu haben. Oder wollte sie nicht hören.
»Gut, wir schalten ein. Doch wenn du es genau wissen willst, was uns am meisten fehlt, ist das Essen. Wir haben die ständigen Konserven zum Kotzen satt«, sagte sie. Ihre Stimme klang verdrossen.
»Das vollkommene Glück gibt es nicht«, sagte Carlos und legte auf. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Der Paläontologe kommentierte die Bilder; er schilderte die Menschen, die vor 40 000 Jahren in der Gegend der Höhle lebten. Sie hätten seltsame Bräuche gehabt; der vielleicht ungewöhnlichste habe darin bestanden, Mollusken zu sammeln, aber keine essbaren Mollusken, sondern schöne, möglichst bunte Muscheln, die sie zu Schmuck verarbeiteten, zum Beispiel die der Gattung Nassa reticulata. Im übrigen müsse man sich vor Augen halten, dass das Meer in jenen Urzeiten sich nicht an der gleichen Stelle befunden habe wie heute, im 20. Jahrhundert, sondern viel weiter weg, mindestens zwanzig Kilometer weiter entfernt, und dass die Temperatur im Golf von Biscaya keineswegs die Temperaturen des diesjährigen Sommers erreichte, sondern mindestens vierzig Grad unter Null betrug. War es also nicht erstaunlich, dass jene Männer und Frauen vor vierzigtausend Jahren das Bedürfnis hatten, sich zu schmükken? Man musste sich wirklich fragen, warum sie so viele Mühe und so viele Gefahren auf sich nahmen, nur um sich mit einem Muschelhalsband herauszuputzen.
Als der Paläontologe seine Ausführungen schloss, waren die Bilder der grünen und blauen Berge, die die Höhle einschlossen, bereits verschwunden, und auch die Bilder der Pferde und Auerochsen in ihrem Innern. Auf dem Bildschirm war nur noch das etwas nervöse Gesicht der Moderatorin zu sehen. Die weitschweifigen Ausführungen des Paläontologen hatten den Zeitplan durcheinander gebracht. Die Sendung musste schnell beendet werden.
»Man könnte also behaupten, dass sie ebenso raffiniert und eitel waren wie wir«, ergänzte sie abschließend seinen Kommentar. »Und jetzt, nur noch ganz kurz, weil unsere Zeit fast abgelaufen ist, zeigen wir Ihnen die Landkarte und die Lage von weiteren Höhlen an der Nordküste, wo man ebenfalls die Wandmalereien unserer Vorfahren bewundern kann. Wenn Sie in Ihrem nächsten Urlaub Kultur und Freizeit miteinander verbinden möchten, vergessen Sie nicht, sie zu besuchen. Ganz bestimmt ist ein Ausflug ins Baskenland von Mal zu Mal …«
»Von Mal zu Mal mit mehr Schwierigkeiten verbunden«, kam der Paläontologe der Moderatorin zu Hilfe. »Die jüngsten Attentate fördern diese Art von Tourismus nicht unbedingt.«
»Trotzdem, wir dürfen nicht zu sehr schwarzmalen. Das wäre Wasser auf die Mühlen jener, die keine andere Sprache als die der Bomben und Maschinenpistolen verstehen«, fügte die Moderatorin abschließend hinzu.
Carlos schloss die Augen und versuchte, sich die Männer und Frauen vorzustellen, die vor 40 000 Jahren ein äußerst karges Leben geführt hatten, aber trotzdem die Höhlenwände mit Zeichnungen schmückten oder Halsketten aus Muscheln der Gattung Nassa reticulata trugen. Ein schönes Bild, ebenso schön wie das Eismeer aus seinem Traum; er überlegte sich, dass diese Geschichte keineswegs trivial war, überhaupt nicht, sondern eine Lehre enthielt, einen Fingerzeig, den er vielleicht möglichst schnell beherzigen müsste. Aber die jetzt auf der Landkarte flimmernden Namen – Biarritz, Zarauz, Guernica, Bilbao – weckten die Ratte in ihm, und seine Erinnerung, weit davon entfernt, ihm zu Hilfe zu kommen, ließ unangenehme Bilder aus seiner Vergangenheit an ihm vorbeiziehen. Carlos sah den Rathausplatz von Zarauz mit seinem Musikpavillon in der Mitte, dann eine enge gewundene Straße mit einem Kino. Im Kino spitzten sich die von der Ratte geweckten Bilder zu, und sein Geist – sein Astralkörper, wie sein Bruder Kropotky gesagt hätte – schwebte weiter, zuerst bis zum Projektionsraum, dann von dort aus zu einem fensterlosen Raum – dem Dorfverlies – unter dem Kinosaal. Auf einer Pritsche saß der Geschäftsmann, den er entführt hatte; er schaute zu ihm auf, und sein Blick schien zu fragen: Was geschieht mit mir? Was wirst du mir antun?
Das Telefon klingelte, Carlos streckte den Arm nach dem Hörer aus. Er zögerte einen Moment lang, weil sein schwebender Geist – sein Astralkörper – ihn immer noch mit Bildern aus der Vergangenheit quälte: Er flog zuerst nach Biarritz, wo Carlos sich selbst sah, dreiundzwanzigjährig, in einem Sessel des Kino Daguerre, wo er sich mit Sabino, seinem besten Freund von damals, einen Pornofilm ansah. Dann flog er nach Guernica, wo er wiederum sich selbst sah, diesmal jedoch als Heranwachsenden, während er der Rede seines Bruders zuhörte, die dieser von einem Podium herunter an die auf einem Platz versammelte Menge richtete. Mit der für ihn typischen arroganten Selbstsicherheit deklamierte Kropotky – Carlos schämte sich bei der bildhaften Erinnerung an diese Szene – ein altes englisches Gedicht, das er für den Abschluss der Feier des »Tages der baskischen Heimat« ausgesucht hatte: »Baum Guernicas! Wie kannst du Blüten und Blätter tragen in dieser Zeit der Zerstörung? Welche Hoffnung, welchen Trost bringen die Sonne, die leichte Brise vom Atlantischen Ozean, der Morgentau, der sanfte Aprilregen?« Kropotky rezitierte mit steigender Inbrunst. Und er, Carlos, schämte sich immer mehr.
Es gelang ihm schließlich, die von der Ratte ins Rollen gebrachten Bilder aus seinem Geist zu verdrängen, und er hielt den Hörer ans Ohr. Zuerst hörte er Ugarte husten, dann Stimmen, die über Fußball diskutierten. Der Anruf kam aus dem Hotelsaal.
»Darrf man wissän, was ein Diirräktionsmitglied dieses Hotäls macht, anstatt in dän Salon hinuntärr zu kommen, wo wirr uns allä das Spiel anschauen? Odär bässärr gäsagt, darrf man wissän, was einärrr mäiner Kompagnons maacht, anstatt am brridärrlichen Fäst zwischän Arrbeitgäberrn und Arrbeitnähmerrn teilzunähmen?« fragte Ugarte. Man konnte zwar nicht behaupten, er sei von Natur aus ein Spaßvogel, doch er redete seit Jahren nicht mehr in einem normalen Tonfall. Er brüllte herum, betonte zwei oder drei Wörter pro Satz, vor allem aber imitierte er ständig irgendwen.
Am anderen Ende der Leitung übertönte der Sportmoderator das Stimmengewirr im Saal: Er informierte über die Verletzung des Torhüters der belgischen Mannschaft, die dieser sich beim Training zugezogen hatte. Pfaff würde heute Abend also nicht spielen. Carlos schaute auf seine Armbanduhr. Es fehlten zwanzig Minuten, bis das Spiel zwischen Polen und Belgien angepfiffen wurde.
»Ich komme gleich. Muss nur in die Sandalen schlüpfen«, sagte er und schaltete gleichzeitig das Fernsehgerät aus.
Carlos hatte eine angenehme Stimme, geformt wie die eines Schauspielers, allerdings nicht etwa geschult, um die kleinste Schwankung seiner Gemütsverfassung oder Seelenstimmung auszudrücken, sondern, im Gegenteil, um nichts durchscheinen zu lassen, weder Ängste noch Zweifel, noch Unruhe. Seine Stimme, die nichts ausdrückte – und daher ruhig und entspannt wirkte –, war, wie viele andere hervorstechenden Eigenschaften seiner Persönlichkeit, ein Relikt aus seiner militanten Vergangenheit im bewaffneten Kampf.
»Ja, bittä sährr. Komm zu uns hinuntärr. Solidarrität ist dringänd nötig. Arrbeitgäberr, Arrbeitnähmerr, alle värrsammelt, um die pallnische Mannschaft spielän zu sehän. Allä unsärrä Spielärrr zu untärrstitzen. Und natirrlich ist auch die Polizei da. Die spanischä Polizei bäfindet sich äbenfalls in diesäm Saal, um die pallnischen Spielärr anzufeiärrn«, schwafelte Ugarte auf ihn ein. Es war offensichtlich, dass der Alkohol in einem ziemlich überhöhten Prozentsatz durch seine Adern floß. Und es war ebenso offensichtlich, dass die heutige Imitation auf Danuta Wyca gemünzt war, die Dolmetscherin, die die polnische Mannschaft nach Barcelona begleitete.
»Ich komme gleich hinunter«, sagte Carlos und legte auf. Dann ging er zum Fenster und sperrte es weit auf.
Das Thermometer zeigte immer noch mindestens fünfundzwanzig Grad. Die tausende von Insekten im Gebüsch oder in den Mandel- und Olivenhainen zirpten wie immer drauflos. Aber nicht alles war wie immer. Wie er aus dem abschließenden Kommentar Ugartes geschlossen hatte, waren die für die Sicherheit Latos, Bonieks und der übrigen Spieler der polnischen Mannschaft verantwortlichen Polizeibeamten nicht auf ihren Posten draußen, sondern im Hotel drinnen oder sonst wo, wo ein anständiges Fernsehgerät stand. Zumindest sah es so aus: kein einziger Polizist am Haupteingang des Hotels und ebenso wenig auf der Esplanade längs der Vorderfront des Gebäudes, und auch niemand in der Allee, die zur Hauptstraße hinunterführte. Ein Gedanke kam ihm: Er ging rasch zum Telefon. Er wählte wie vor fünf Minuten die Siebzehn, legte auf und wählte erneut.
»Ich habe eine Idee. Ihr habt bestimmt Lust auf ein anständiges Abendessen, oder? Ich glaube, ich kann euch eines besorgen«, sagte er. Seine Stimme klang trotz der Eile ruhig, beruhigend.
»Wenn es keine Schwierigkeiten gibt, nur zu. Ich habe die ständigen Konserven bis obenauf satt«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Und der Freund neben mir ist gleicher Ansicht. Ich sterbe vor Lust nach etwas ordentlich gekochtem.«
»Ich bringe euch etwas Fleisch vom Grill und was ich sonst noch in der Küche auftreiben kann. In weniger als einer halben Stunde bin ich drüben.«
Der Montserrat war jetzt fast unsichtbar, und die beleuchtete Kirche hoch über den Lichtern der Siedlungen und hoch über den Scheinwerfern auf der Autostraße nach Barcelona war der hellste Orientierungspunkt weit und breit. Gäbe es Fledermäuse wie die in seinem Traum – dachte Carlos – und hätten sich diese Fledermäuse am nächtlichen Himmel über ihm verirrt, würden sie ganz bestimmt ihren Flug nach jenem leuchtenden Punkt orientieren, um sich dann an eines der Dächer im Dorf am Fuße des Berges zu hängen. Carlos schloss seufzend das Fenster. In der Gegend war es meistens ruhig. Heute herrschte zudem spärlicher Verkehr, wie immer, wenn das Fernsehen ein Fußballweltmeisterschaftsspiel übertrug; die blinkenden blauen und roten Leuchtschriften blendeten einen fast. Die einzige Fledermaus in der Umgebung des Hotels schien allerdings unfähig zu sein, weiter zu fliegen als bis zu den Lampen längs der Esplanade.
Er riss sich von seinen Träumereien los. Als er eben das Fenster schloss, um anschließend in die Küche hinunterzugehen, hörte er die Tür gehen, und gleich darauf tauchte Pascal im Zimmer auf und hinter ihm Guiomar, mit dem er die Wohnung teilte. Der Kleine hielt einen Ball in den Händen; er warf ihn lachend vor seine Füße und kickte. Der Ball traf eine Lampe.
»Also, Pascal, wie stehts? Bist du lieber DʼArtagnan oder Boniek?« fragte ihn Carlos.
Aber der Junge lachte bloß ein bisschen hysterisch und kickte den Ball ein zweites Mal. Der Zeitungsständer neben dem Sofa bekam den ersten Treffer ab, der kleine niedere Tisch in der Mitte des Teppichs den zweiten.
»Elfmeter«, schrie der Kleine.
»Antworte, Pascal. Antworte auf Carlosʼ Frage«, mischte sich Guiomar ein. Er stand hinter der spanischen Wand, die den Flur vom Wohnzimmer trennte. Er war fast zwei Meter groß, die spanische Wand reichte ihm bis zum Brillenrand.
»Sag, welcher der beiden bist du? DʼArtagnan oder Boniek?« wiederholte Carlos. Doch der Junge war ganz aufgeregt, weil es ihm gelungen war, in die Wohnung seiner zwei »Onkel« einzudringen, und statt einer Antwort lachte er schrill weiter.
»Los, Pascal, antworte«, wiederholte Guiomar und trat hinter der spanischen Wand hervor. Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich zum Beispiel bin einerseits DʼArtagnan, daher trage ich das Schwert im Gürtel, bin aber gleichzeitig der Stellvertreter Bonieks und aller seiner Teamkollegen, daher kann ich es nicht zulassen, dass du einfach ruhig dasitzt, während die polnische Mannschaft in die Schlacht zieht.«
»Ich weiß, das Spiel beginnt in ein paar Minuten, aber ich habe noch zu tun, ich komme etwas später nach«, erwiderte Carlos und bückte sich, um rasch den Ball vom Teppich aufzuheben, bevor Pascal Zeit fand, ein weiteres Mal zu kicken.
»Was soll das heißen? Was ist mit dir los?« fragte Guiomar überrascht.
»Was soll schon los sein? Nichts ist los.«
»Ich verstehe das nicht«, Guiomar schüttelte den Kopf. Er rückte seine Brille zurecht und richtete den Blick auf den Fußboden. »Es ist vielleicht kindisch von mir, aber ich bin der Ansicht, dass wir irgendwie kundtun sollten, dass die polnische Mannschaft bei uns logiert ist. Und zudem ist es eine gute Gelegenheit, ein bisschen zu feiern. Alle sind bereits im Saal unten, und der Tisch mit den belegten Broten und den Bierflaschen steht ebenfalls bereit. Nur du fehlst noch. Und das fällt auf. Schließlich bist du der Fußballfan in diesem Hotel.«
»Reg dich nicht auf. Ich weiß, dass das Fest deine Idee war und du dir viel Mühe gegeben hast, aber ich muss zuerst die Hunde füttern …«
»Die Hunde können bis nachher warten, denke ich.«
»Ja, aber ich muss auch noch in der Backstube vorbeischauen. Die Hunde können zwar warten, der Brotteig aber nicht. Er muss im genau richtigen Moment geknetet werden und nicht, wenn man Lust hat.«
»Ich kann es nicht fassen. Ich kenne dich seit vielen Jahren und kann es trotzdem nicht fassen. Ich dachte, die Zeit der Geheimnisse sei vorbei. Ehrlich, Carlos.«
»Sei nicht böse, Foxi«, beschwichtigte ihn Carlos. Foxi, einer der Decknamen, die Guiomar in der Organisation geführt hatte, war eine Abkürzung von Foxterrier, denn er stand im Ruf, hartnäckig zu sein wie diese Hunderasse. Wenn er ihm keine überzeugende Erklärung gab, würde er tage-, ja wochenlang nicht aufhören, ihm Fragen zu stellen.
»Du wirst uns im richtigen Moment informieren. Wir sind auf unseren Posten«, seufzte Guiomar. Der Satz stammte aus einer anderen Zeit und bezog sich auf eine andere Situation, was den an Carlos gerichteten Vorwurf hinsichtlich seiner Geheimnistuerei noch verstärkte.
»Glaub mir, ich habe nichts zu verbergen. Ich habe bloß Lust, mir die Beine etwas zu vertreten, bevor ich mich zu euch geselle. Wir haben alle unsere Marotten, Foxi. Die einen sind starrköpfig und feiern gern Feste, die anderen sind lieber allein.«
»Der Ball«, bat Pascal weinerlich und streckte Carlos die Arme entgegen, doch der gab ihn nicht aus den Händen.
»Jeder sieht, dass du ein Geheimnis hast. Ich habe im übrigen auch eines. Für den Fall, dass du es nicht wissen solltest, auch ich habe ein Geheimnis«, sagte Guiomar. Er nahm den Ball und reichte ihn dem triumphierend lächelnden Kleinen.
»Es steht geschrieben: Wir sehen den Strohhalm im Auge des Nächsten, aber nicht den Balken in unserem Auge«, fügte Carlos scherzend hinzu. Vielleicht plante Guiomar eine Reise nach Kuba, er redete schon lange davon, ein paar Monate in der Karibik zu verbringen.
»Meines und deines, das sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Ich möchte dir gern erzählen, was mich beschäftigt, aber ich kann im Moment nicht. Morgen oder übermorgen bin ich vielleicht dazu in der Lage, doch heute nicht. Du aber willst gar nichts erzählen.«
»Das ist nun mal meine Art. Auch früher habt ihr nicht viel über meine Frauenbekanntschaften gewusst«, wich Carlos aus und betrachtete den Kleinen. Pascal zog quengelnd Guiomar am Gürtel auf die Wohnungstür zu.
»Ich weiß, Pascal, ich weiß, das Spiel beginnt in ein paar Minuten. Wir gehen gleich.« Guiomar fuhr dem Jungen mit der Hand über das Haar. Dann schaute er Carlos fest in die Augen: »Was ist los?« fragte er flüsternd mit einem Seitenblick auf den Jungen: »Treibst es mit zweien gleichzeitig? Ich meine nur so, weil ich vorhin unten im Saal María Teresa gesehen habe.«
»Wo sie bestimmt belegte Brote serviert. Da liegt unter anderem das Problem. María Teresa macht die Arbeit von zwei Kellnerinnen, was dazu führt, dass sie kaum noch Zeit für mich hat. Übrigens, werden ihr die Überstunden bezahlt? Ich möchte nicht …«
»Frage Ugarte. Ich bin nur für den Einkauf zuständig«, unterbrach ihn Guiomar. Carlosʼ Ablenkungsmanöver war zu durchsichtig. Dann wieder flüsternd: »Wer ist deine neue Freundin? Beatriz? La nostra bellissima Beatriu?«
Die schöne Beatriz arbeitete seit sechs Monaten an der Hotelrezeption. La nostra bellissima Beatriu, die Bezeichnung stammte aus einer erfolgreichen Operette, die vor fünf Jahren in Barcelona aufgeführt worden war – zu der Zeit, als Carlos und seine Freunde die Leitung des Hotels übernommen hatten.
»Vielleicht, wer weiß …«
Gut gemacht, Carlos, Glückwunsch, hörte er die innere Stimme. Die Ratte konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. Du bist unschlagbar, wenn es darum geht, deinen Nächsten hinters Licht zu führen. Brauchst dir keine Gedanken zu machen, nicht im geringsten, Guiomar ist meilenweit davon entfernt, die Wahrheit zu vermuten. Und es ist besser, wenn das so bleibt, denn an dem Tag, wo er erfährt, was im Hotel wirklich vor sich geht, wird er sehr verletzt sein. Er glaubt, ihr zwei wäret enge Freunde und dass das Vertrauen zwischen euch beiden grenzenlos ist.
Keine Sorge, Carlos, hörte er gleich darauf. Sein Gewissen sprach jetzt mit der Stimme Sabinos. Seit der Zeit in Biarritz, erst recht aber seit dessen Tod in einer Straße von Bilbao, war Sabino seine gute Stimme, die einzige, die sich der Ratte entgegenstellte. Du tust das einzig Richtige, was du in deiner Situation tun kannst, um ihn nicht in die Geschichte zu verwickeln, und du tust gut daran. Guiomar wird dir dankbar sein, dass du dich ihm nicht anvertraust.
»Nun also, erzählst es mir später«, sagte Guiomar nach kurzem Schweigen. »Komm, Pascal, gehen wir«, fügte er dann hinzu, legte dem Kleinen die Hand auf die Schulter und schob ihn zur Wohnungstür. »Beeilen wir uns, wer sich ein Spiel nicht von Anfang an anschaut, ist bloß ein fieser Fußballfan. Nicht wahr, Pascal? Du bist ganz bestimmt kein fieser Fan, oder?«
»Nein, nein«, rief der Kleine begeistert, verschwand dann treppabwärts hinter dem von Stufe zu Stufe hüpfenden Ball.