Der alte Maori-Holzschnitzer konnte sein größtes Lebenswerk, das Versammlungshaus mit den Ahnenfiguren, nicht vollenden; der letzte Pfosten blieb leer. Und Toko, das Kind mit den hellseherischen Kräften, empfängt eines Tages bedrohliche Visionen von der Zukunft seines Dorfes. So kommt Unruhe in den magischen Kreislauf von Mensch und Natur, Tag und Nacht, Leben und Tod in der Maori-Siedlung an der Küste Neuseelands. Der »Dollarmann« taucht auf: Ein moderner Freizeitpark an der Küste verheißt Fortschritt und Einkommen. Die Dorfgemeinschaft versucht den Bulldozern und der Verlockung des großen Geldes zu widerstehen. Da wird Tokos Vision wahr: Die Dollarmänner überfluten die Felder und den Friedhof, und eines Nachts steht sogar das heilige Versammlungshaus in Flammen.
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»Potiki ist Maori-Poesie in Roman-Form UND eine politische Handlung. Anders formuliert: Man ist dabei, wenn der alte Schnitzer die Figuren, die im Baum verborgen sind, herausholt; und hört zu, wenn der ›Dollarmann‹ zu den Ureinwohnern an die Küste kommt und ihnen Touristen schmackhaft machen will (denen sie dann in den Hotelanlagen die Klos putzen dürfen).«
Peter Pisa, Kurier, Wien
Patricia Grace (*1937) war viele Jahre Lehrerin. 1975 gelang ihr mit dem Erzählband Wairaki als erster Maori-Autorin eine Veröffentlichung. 2006 wurde sie mit dem neuseeländischen Prime Minister's Award for Literary Achievement geehrt.
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Dieter Riemenschneider, Professor für Anglistik in Frankfurt, unterrichtete Deutsch an den Universitäten Chandigarh und Delhi und promovierte über den indischen Roman in englischer Sprache. Er forscht zu englischsprachigen Literaturen und Kulturen, insbesondere Indiens, Afrikas und Neuseelands.
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Helmi Martini-Honus und Jürgen Martini übersetzen seit 1982 Bücher aus dem Englischen. Waren es zunächst afrikanische Romane und Jugendbücher, so haben sie inzwischen auch einen philippinischen Roman und mehrere Romane von Patricia Grace übersetzt.
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Jürgen Martini und Helmi Martini-Honus übersetzen seit 1982 Bücher aus dem Englischen. Waren es zunächst afrikanische Romane und Jugendbücher, so haben sie inzwischen auch einen philippinischen Roman und mehrere Romane von Patricia Grace übersetzt.
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Potiki
Roman
Aus dem Englischen von Helmi Martini-Honus und Jürgen Martini
Mit einem Nachwort von Dieter Riemenschneider
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Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel Potiki bei Penguin Books (N.Z.) Ltd., Auckland.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Die erste Ausgabe dieses Werks im Unionsverlag erschien am 31.8.1993
© by Patricia Grace 1986
© by Unionsverlag, Zürich 2015
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-60620-3
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Aus der Mitte
Aus dem Nichts
Aus dem, was man nicht sieht
Aus dem, was man nicht hört
Da kommt
Ein Schieben
Ein Rühren
Und ein Vorwärtskriechen
Da kommt
Ein Stehen
Ein Springen
In einen äußeren Kreis
Da kommt
Ein Einziehen
Von Atem –
Tihe Mauriora
Es war einmal ein Holzschnitzer, der beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit Holz, damit, die Figuren, die darin verborgen waren, auszumachen und bloßzulegen. Diese wunderlichen oder mutigen, mürrischen, schrulligen, verschlagenen, betörenden, peinigenden Figuren des Leides oder der Liebe entwickelten sich zunächst in den Wäldern, im Schoß der Bäume, aber es kam auf den Meister mit seinem karakia und seinen Werkzeugen, seinem Verstand und seinem Empfinden, seinem Atem und seiner Besonderheit an, sie in diese Welt zu bringen.
Der Baum trägt nach einem Leben des Früchtetragens, nach seinem ersten Tod, in den Händen eines Meisters weiterhin Früchte.
Das heißt weder, dass der Mann Herr des Baumes ist. Noch ist er Herr dessen, was schließlich durch seine Hände entsteht. Er ist nur Meister des Handwerks, das zutage bringt, was schon in dem Schoß lag, im Schoß, der ein Baum ist – ein Baum, der seine weitere Zukunft als Haus oder Klassenzimmer oder als Brücke oder Mole zugebracht haben könnte. Oder er könnte auf dem Meer oder einem Fluss dahingetrieben oder von einem Sumpf verschlungen worden sein oder als Uferbefestigung gedient oder sich am Strand hingebreitet haben, wo er zwischen Sand, Steinen und Sonne ausblich.
Es ist, als würde ein Kind seinen Vater oder seine Mutter zur Welt bringen, weil das, was unter des Meisters Händen entsteht, älter ist als er, schon aus vergangener Zeit stammt.
Wenn der Holzschnitzer stirbt, lässt er ein Haus für sein Volk zurück. Er hinterlässt auch einen Teil seines Selbst – Späne von Herz und Sein, Hunger und Angst, Liebe, Unglück, Hoffnung, Sehnsucht, Freude oder Verzweiflung. Er hat dem Volk sein Selbst gegeben, und er hat mit den eigenen Vorfahren dem Volk auch die seinen gegeben.
Und diese Vorfahren kommen mit riesigen Köpfen, die rund oder eckig, spitz oder oval sein können, zu ihrem Volk. Sie haben weit aufgerissene Münder mit herausgestreckter Zunge; aber manchmal ist die Zunge eine Hand oder ein Schwanz, die hinter dem Kopf hervorkommen, oder sie ist wie ein Trichter geformt oder gespalten, wobei beide Teile in verschiedene Richtungen weisen. Es wird einen Grund geben für diese Art von Köpfen oder Zungen, die die Figuren erhalten haben.
Die geschnitzten Ahnen sind breitschultrig, haben aber einen gedrungenen Rumpf und kurze Beine und stehen fest auf ihren dreizehigen Füßen. Oder ihr Körper kann groß und gewunden und schuppig sein, Schwimmer, für den Fluss oder das Meer geschaffen.
Nach dem Herausformen von Kopf, Körper und Gliedmaßen macht sich der Holzschnitzer ans Glätten der Figuren und schmückt sie dann fein aus. Als letzten Schliff erhalten sie Augen.
Das frühere Leben, das Leben im Schoß des Baumes, war eine Zeit ohne Augen, des Wartens, Anschwellens, Erhärtens. Es war eine Zeit des Vorhandenseins, schon mit Augenbrauen, Zunge, Schultern, Fingern, Genitalien, Füßen, Zehen, und des Wartens darauf, als solche zum Vorschein zu kommen. Aber noch ohne Augen. Augen, die sich im Kreise drehen und tanzen, sind die letzte Gabe des Holzschnitzers, aber die Augen sind ebenso eine Gabe des Meeres.
Wenn alles beendet ist, hat das Volk seine Ahnen. Es schläft zu ihren Füßen, es lauscht ihren Geschichten, es nennt sie beim Namen, widmet ihnen seine Lieder und Tänze, scherzt mit ihnen, wird zu ihren Kindern, ihren Sklaven, ihren Feinden, ihren Freunden.
Auf diese Weise bleiben die Ahnen bekannt und in Erinnerung. Aber an den Holzschnitzer erinnert sich vielleicht keiner mehr, außer einige wenige. Diese wenigen, die mit ihm zusammen aufgewachsen sind oder an seiner Seite gesessen haben, werden hin und wieder an ihn denken und sagen: »Ja, ja, ich erinnere mich an ihn. Er arbeitete Tag und Nacht für unser Volk. Er war ein Meister.« Sie mögen vielleicht hinzufügen, dass er obendrein ein bisschen porangi war oder ein Trunkenbold, ein Klatschmaul, ein Schürzenjäger, ein Spieler oder ein ganz beschissener Künstler.
Abgesehen davon, dass er ein bisschen porangi gewesen sein mag und dass er gewiss ein Meister wurde, würde keine dieser Bezeichnungen auf den Holzschnitzer in diesem Kapitel unserer Geschichte zutreffen. Er war ein bescheidener und liebenswürdiger Mann.
Er war das jüngste Kind von Eltern in mittleren Jahren, die entschieden, er solle nicht zur Schule gehen, da er ein kränkliches Baby gewesen war.
Bevor sie starben und als der Junge zehn Jahre alt war, hüllten sie ihn in Schultertücher und setzten ihn einem Meisterschnitzer, der zu der Zeit gerade mit den Schnitzereien für ein neues Haus begann, zur Seite. Dieser Mann hatte keine Frau. Er hatte keine eigenen Kinder.
Der Junge saß da und schaute und hörte zu; bis er vierzehn war, rührte er sich kaum, außer dass er die Späne wegfegte und Holz schmirgelte und polierte.
Dann machte der Meister eines Tages aus einem Stück rimu einen neuen Fäustel und schnitzte an der Spitze des Griffs einen Kopf mit einem Schnabel und versah den Kopf mit zwei Augen. Er überreichte den Fäustel dem Jungen und sagte: »Leg deine Schultertücher ab, mein Sohn, und fang an zu arbeiten. Denk dabei immer an zweierlei: Schnitz niemals jemanden nach der eigenen Erinnerung und blas niemals auf die Späne, oder dein Holz wird sich erheben und dich erschlagen.«
Der Junge ließ die Tücher fallen und nahm den Fäustel in die Hand. In dem Augenblick verspürte er einen Tritt in den Unterleib.
Er kehrte nie wieder zu seinen Tüchern zurück. Er ließ sie genau da fallen, wo er an der Seite seines Mentors gesessen hatte, und griff nie wieder auf sie zurück. Später wurde er selber ein Meister seines Handwerks. Es gab niemanden, der ihm in seinem Können ebenbürtig gewesen wäre, und viele waren der Meinung, dass es niemanden gab, der ihn als Märchen- und Geschichtenerzähler hätte übertreffen können.
Gegen Ende seines Lebens arbeitete der Mann an einem Haus, von dem er wusste, dass es sein letztes sein würde. Es war ein kleines und stilles Haus, und das gefiel ihm sehr. Darin steckte die beste Arbeit, die er je geleistet hatte.
Es waren keine anderen Holzschnitzer da, um ihm bei seiner Arbeit zu helfen, aber die Leute kamen jeden Tag, um für ihn zu kochen und ihn zu versorgen und Motive zu malen und Bilder zu weben und ihm auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Vor allem kamen sie, um seinen Geschichten zuzuhören, die aus lebendigem Holz waren, seinen Geschichten von den Ahnen. Er erzählte auch die Geschichten der Motive und was für eine Bedeutung die Motive für das Leben hatten. Er erzählte von der Wirkung von Wetter und Wasser auf das Holz und erzählte all das, was er an der Seite seines Meisters gelernt, all das, wofür er sein ganzes Leben gebraucht hatte.
Zu der Zeit, als er das letzte poupou für das neue Haus anfing, wurde er krank. Um die anderen poupou, die schon fertig waren, hatte es viele Diskussionen, Streitereien und Entwürfe gegeben. Die Leute waren besorgt, dass auch ja alle Facetten ihres eigenen Lebens und das ihrer Ahnen in dem neuen Haus dargestellt würden. Sie wollten, dass alle bekannten Ahnen, mit denen sie zusammenhingen, mit einbezogen waren, und ebenso sollten die Ahnen mit einbezogen sein, die alle Menschen von der Vergangenheit bis in alle Zukunft mit der Erde und dem Himmel verbanden und die den Menschen von ihrer Beziehung zueinander, zum Licht und zum Wachsen erzählten.
Aber über das letzte poupou war nicht debattiert worden, und um dem Mann die Ehre zu erweisen, die ihm gebührte, sagten die Leute: »Das hier ist deines, wir werden nichts dazu sagen. Du sollst selbst entscheiden.«
Der Mann wusste, dass diese Arbeit seine letzte war. Er wusste, sie würde seine ganze verbleibende Kraft aufbrauchen, und er würde dennoch die Arbeit nicht vollenden.
»Wenn ich das hier nicht zu Ende bringe«, sagte er, »dann deshalb, weil es noch nicht beendet werden kann und weil ich nicht die Kraft dazu habe. Ihr müsst es in euer Haus einsetzen, ob es nun fertig ist oder nicht. Da gibt es etwas, was ich gerne machen würde, aber es kann noch nicht vollendet werden. Es gibt noch keinen, der es für mich fortsetzen kann, weil da ein Teil ist, den noch niemand kennt. Es gibt noch keinen, der es vollenden könnte, das muss irgendwann in der Zukunft geschehen. Wenn es bekannt ist, wird es vollendet werden. Und da ist noch etwas, was ich euch erzählen muss. Der Teil, den ich mache, die Figur, die ich aus dem Holz herausarbeite, stammt aus meiner eigenen lebendigen Erinnerung. Es ist wohl verboten, aber es ist das, was ich unbedingt machen wollte.« Die Leute sagten nichts. Sie konnten es ihm nicht verbieten. Still gingen sie davon, als er sich der Werkstatt zuwandte.
Er beschloss, sich für diese letzte Arbeit ganz auszugeben, die letzte Figur nicht mit den Augen oder dem Verstand hervorzubringen, sondern nur mit den Händen und dem Herzen. Und als er mit dem Holz sprach, sagte er nur: »Es sind die Hände und das Herz, diese Hände und dieses Herz, die dich aus dem Schattenreich hervorholen, diese Hände und dieses Herz, ehe sie zu Erde werden.«
In seinem hohen Alter waren seine Augen schwach geworden, aber er verhängte das Fenster der Werkstatt, um den Raum abzudunkeln, und seine Hände und sein Herz machten sich an die Arbeit.
Der Junge an seiner Seite stellte keine Fragen, und niemand sonst kam hinzu.
Nach etlichen Wochen zog der Holzschnitzer das Tuch vom Fenster der Werkstatt weg. Er rief die Leute herein und sagte ihnen, die obere Figur sei fertig. »Ich werde euch ihre Geschichte erzählen«, sagte er, »aber die untere Figur muss, bis sie bekannt ist, für die Zukunft aufgespart bleiben.
Es ist die Geschichte von einem Mann mit roten Augen, der sein ganzes Leben lang gebeugt war und der keine Frau und keine eigenen Kinder hatte. Er erschuf Figuren aus Holz und ließ seine Erkenntnisse aus dem Ellbogen fließen. An diesem Ellbogen der Erkenntnis gibt es eine Stelle, die immer unausgefüllt bleiben kann, bis auf dieses Tuchmotiv. Sie ist wie eine Gedächtnislücke, ein blinder Fleck auf dem Auge, aber das Tuchmotiv ist da.
Sein Kopf ist groß, damit alles in ihn hineinpasst, die Geschichten und Erkenntnisse der Menschen und die Lieder und Motive und das Wissen über Pflanzen und Bäume. Seine Stirn ist mit einem komplizierten Muster verziert, um den Grad seines Wissens zu zeigen. Seine Augen sind wegen ihrer Nähe zu seiner Arbeit klein, auch weil er, noch vor meiner Zeit, in einer schummrigen Hütte arbeitete, nachts beim Schein einer Laterne, noch viele Stunden nach Dunkelwerden.
Seine Zunge ist lang und schön und gedreht, die Zunge eines Geschichtenerzählers, und sein Hals ist kurz, so dass es vom Kopf zu den Armen nicht weit ist. Sein Kopf und seine Hände arbeiten zusammen.
Der gebeugte Rücken und die Krümmung seiner Brust erzählen uns von seiner Unterwerfung und Hingabe. Die Arme sind kurz wegen ihrer Nähe zu seiner Arbeit. Mit sechs Fingern an jeder Hand ist er zu uns gekommen, was die Begabtheit seiner Hände ausdrückt.
Der Fäustel in seiner rechten Hand ruht auf seiner Brust, und der Fäustel ist ein zweites schlagendes Herz.
Seine linke Hand umfasst den Beitel, und er hält den Beitel an sein Becken. Das lange Blatt des Beitels wird zu seinem Penis, der sich zu der Form eines Mannes verdickt. Und dieser Beitel-Penis-Mann gleicht ihm wie ein Kind, das durch den Beitel von Holz oder durch den Penis von Fleisch und Blut erzeugt wird.
Die Augen des Mannes und die Augen des Penis-Kindes enthalten alle Farben des Himmels, der Erde und des Meeres, aber die Augen des Kindes sind klein, als wären sie noch nicht ganz geöffnet.
Die Beine sind nicht klar ausgebildet, und sie sind nicht übermäßig verziert, aber sie sind kräftig und geben ihm bei seiner Arbeit sicheren Halt. Und zwischen und unter seinen dreizehigen Füßen ist der Platz noch frei. Das ist der Platz für die untere Figur, aber bis jetzt gibt es noch keinen, der diesen Platz einnehmen könnte. Der bleibt der Zukunft vorbehalten.
Alles, was man bei dem Mann sehen kann, ist eine Verkörperung seines Lebens und Werks, bis auf einen Flecken an seinem Ellbogen, der bis auf das Tuchmotiv immer frei bleiben wird.
Ein Mann kann zu Lebzeiten ein Meister seines Handwerks werden, aber wenn er stirbt, gerät er vielleicht in Vergessenheit, vor allem wenn er keine eigenen Kinder hat. Ich übergebe ihn euch, damit er nicht in Vergessenheit gerät. Lasst ihn in unserem Haus weiterleben.
›Ein Leben für ein Leben‹ könnte bedeuten, dass ihr euer Leben für jemanden hergebt, der euch das seine schon gegeben hat. Ich bin davor gewarnt worden, ja nicht jemanden aus der eigenen Erinnerung hervorzurufen, aber nun ist es geschehen. Ich bin davor gewarnt worden, ja nicht dem Holz meinen Atem zu leihen, aber … ›Ein Leben für ein Leben‹ könnte bedeuten, dass man sein Leben für jemanden hergibt, der einem sein eigenes schon längst gegeben hat.«
Als die Leute gegangen waren und er den Jungen weggeschickt hatte, schloss der Holzschnitzer die Tür der Werkstatt. Er ging mit seinem Gesicht dicht an die Nasenlöcher des hölzernen Gesichts heran und blies.
Am nächsten Morgen hoben die Leute das poupou von ihm herunter und kleideten ihn in die allerfeinsten Sachen.
Roimata
Ich heiße Roimata Kararaina und bin mit Hemi Tamihana verheiratet. Wir haben vier Kinder. James, Tangimoana, Manu und Tokowaru-i-te-Marama. Wir leben am Meer, das die ausgezackte Küste säumt und zusammenheftet. Dieses Stück Land ist Familienbesitz der Tamihanas. Unsere Häuser stehen dort, auf dem papakainga, eng beisammen und schauen auf die glatte Bucht des Meeres hinaus. Auf diese Krümmung richten wir ständig unsere Augen, Fluten von Augen, die in einer dem Meer entgegengesetzten Bewegung rollen.
Das Haus, in dem wir leben, ist der alte Familienbesitz, im Zentrum der Bucht gelegen. Auf beiden Seiten von uns leben die anderen Tamihana-Familien, und am äußersten Ende, nahe bei den Bergen, liegt das kleine wharenui, wo Hemis Schwester Mary jeden Tag mit Besen und Staubtuch hingeht, um zu putzen und polieren. Während sie arbeitet, singt sie, manchmal leise, manchmal laut, nur für sich und für das Haus.
Ich liebe Hemi schon, seit ich fünf war.
Unser Sohn James ist wie sein Vater – ruhig und sicher und mit der Geduld, die die Erde besitzt. Obwohl er der Erstgeborene ist, war er derjenige, der ganz leicht zwischen den Schenkeln hervorkam. Seine ersten Schreie riefen kein Erdbeben oder Himmelsgrollen hervor und erregten auch kein Aufsehen zu mitternächtlicher Stunde.
Tangimoana ist ein Jahr jünger als ihr Bruder. Sie ist nicht geduldig, aber so scharfkantig wie die Felsen im Meer, und sie vernimmt jeden Hauch der Gezeiten. In der Nacht, in der sie geboren wurde, erwachte ich durch das gequälte Brüllen des Meeres. Wir nannten sie nach dem Geräusch, das das Meer machte.
Manu ist das jüngste Kind von Hemi und mir. Er fürchtet sich vor Lärm und der Nacht, vor Formen und Schatten. Er schreit und kämpft im Schlaf, und wir müssen ihn wecken oder beruhigen. Ich habe von seiner Geburt nichts mitbekommen. Als ich ihn das erste Mal sah, schlief er, und seine malvenfarbenen geschlossenen Lider zitterten.
Tokowaru-i-te-Marama ist zwei Jahre jünger als sein Bruder Manu, aber er ist nicht das Kind von Hemi und mir.
Hemis Schwester Mary lebt auch bei uns. Ich liebe sie schon, seit ich fünf Jahre alt war, seit dem Tag, an dem für uns beide die Schule begann. Schon damals begriff ich, dass sie jemand ist, den man lieb haben muss, dass sie ein gutes Mädchen war und dass dieses Gutsein Liebe und Fürsorge brauchte. Ich kümmerte mich um sie, obwohl sie größer und älter war als ich.
In der Schule bekamen wir Heiligenbildchen und Sahnebonbons, um Gottes Willen besser erfüllen zu können. Gottes Wille bedeutete für uns, stillzusitzen oder kerzengerade auf beiden Füßen zu stehen. Es war Sein Wille, dass wir beteten, dass wir saubere Taschentücher dabeihatten, Schürzen trugen, Pennys für arme Seelen mitbrachten, unsere Brotrinden aßen, unseren Nachbarn an der Hand hielten. Es war Sein Wille, dass wir nicht schubsten oder trödelten, pfiffen, ausspuckten, Schimpfwörter gebrauchten oder Eselsohren in Bücher machten. Aber wie machte man denn Eselsohren in Bücher? Gab es denn Eselsohren ohne den Rest des Esels? Es ging, denn es gab Klein Eselchen Schande, völlig auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt – möglicherweise ohne Ohren.
Es war Gottes Wille, dass wir das Alphabet sangen, das Einmaleins, die Kirchenlieder und den Katechismus, und die Sahnebonbons und die Bildchen der leidenden Heiligen wurden in einer grünen Jesus-Dose aufbewahrt.
Die Kinder, die Jesus wohlgefielen, durften ihre Hand in die grüne Dose stecken und ein Bildchen oder ein Sahnebonbon nehmen – was wie ein kleines Stückchen vom Himmel war, der die letztendliche und höchste Belohnung sein würde, wo man hineingreifen und sich eine ganze Handvoll nehmen konnte und wo einem Bilder und Sahnebonbons zwischen allen Fingern steckten und manche auf den Boden oder vielmehr auf die Wolken fielen, die vorbeizogen. Wenn man wollte, konnte man sogar die ganze Dose nehmen.
Wir hatten jeder eine Schiefertafel und später Hefte und Bleistifte, bis auf Mary, die ein Staubtuch und einen Korb hatte. Wenn sie geknufft oder geärgert wurde, lachte sie manchmal, und manchmal weinte sie. Wenn sie unglücklich war, kam sie und setzte sich zu mir.
Ich lauschte den Belehrungen über das Bravsein und wusste, dass Mary der Jesus-Dose am nächsten war, da sie niemals andere verleumdete oder herabsetzte, rachsüchtig, ungehorsam, habgierig, eifersüchtig oder betrügerisch war. Ich wusste, dass sie meine Fürsorge brauchte.
Jeden Morgen sah ich zu, wie Hemi und Mary mit ihrem Pferd auf die Koppel neben der Schule ritten. Sie hatte ihr Ohr an Hemis Rücken gelegt und ihre Arme um seinen Bauch geschlungen. Manchmal, wenn sie bei der Schule ankamen, vergaß sie, Hemi wieder aus ihrer Umschlingung zu entlassen, und er musste ihr die Finger auseinander ziehen. Er versorgte immer das Pferd, und ich kümmerte mich um Mary.
Sie war ganz begeistert, in der Schule zu sein und mich zu sehen. »Roimata, Roimata«, sagte sie immer, »ich habe was in meiner Tasche«, und dabei grinste sie und zeigte ihre seltsamen spitzen Zähne. »Was denn?«, fragte ich, und sie zeigte mir ihre Butterbrotpakete, ihre Äpfel oder Pflaumen, ihr sauberes Taschentuch, ihre Schürze und ihr Handtuch. Ich sagte jedes Mal im Tonfall von Schwester Anne: »Braves Mädchen« und kümmerte mich darum, dass sie ihre Sachen beiseite tat, und holte ihr die Tücher und den Korb aus dem Schrank.
Hemi, der klein und gedrungen war, lächelte mich manchmal an und meinte, ein Schweineschwanz gehöre eben an einen Schweinehintern. In seinem Hemd, direkt über dem Herzen, trug er immer sein Rechtschreibheft.
An den Wochenenden brachte mein Vater mich oft hierher an diesen Strand, der den vordersten Rand des Tamihana-Landes bildet. Mein Vater ging dann fischen oder half den Tamihanas bei der Gartenarbeit, aber wahrscheinlich war es das Zusammensein, das so wichtig für ihn war. Zweifellos war er seit dem Tod meiner Mutter ein einsamer Mann. Ich ging immer mit Mary und ihren Geschwistern und Cousinen und Cousins schwimmen, oder wir spielten am Bach oder auf den Hügeln. Manchmal arbeitete ich aber auch mit ihnen im Garten oder zog los, um Meeresfrüchte zu sammeln, oder half im wharekai. Manchmal saßen wir auf der Veranda dieses Hauses und unterhielten uns und sangen. Ich habe mir immer gewünscht, auch einmal auf dem Pferd der Tamihanas reiten zu können, die Arme um Hemi Tamihana geschlungen, mein Ohr an seinem Rücken, durch seinen Rücken hindurch seinen Herzschlag zu hören, aber ich habe es nie getan.
Mary ging drei Jahre lang zur Schule, staubte für Schwester Anne die Bilder und Figuren ab oder schob ihren Bohnerbesen im Zickzack zwischen den Tischen herum. Sie sang leise vor sich hin, während sie Staub wischte oder bohnerte, oder laut, wenn sie den Tafellappen draußen auf dem Zementsims ausschlug. Doch manchmal schlief sie ein, den Kopf gegen das Marienstandbild gelehnt, den Mund leicht geöffnet, so dass man ihre seltsamen Zähne sah, die aussahen, als wären sie geschliffen.
Als Schwester Anne wegging, kehrte Mary nicht wieder zur Schule zurück. Hemi ging in dem Jahr auch fort, um auf die Oberschule zu gehen. Ein Jahr danach, als ihr Vater starb, verließ Hemi die Schule endgültig, um auf dem Land der Familie zu arbeiten.
Einige Jahre lang arbeitete er in der Landwirtschaft, lernte dabei alles, was er nur lernen konnte, und beschloss, dass es sein Lebensinhalt sein solle, das Wissen zu gebrauchen, das ihm vermittelt worden war, und dieses Wissen später auch weiterzugeben. Dann musste das Land ein paar Jahre lang sich selbst überlassen bleiben und andere Arbeit gesucht werden, aber Hemi wusste immer, dass er eines Tages erleben würde, wie das Land uns wieder alle ernährte.
Als Kind lebte ich mit meinem Vater in einem Eisenbahnerhaus mit einer kleinen dunklen Küche. Das kleine Küchenfenster war ein Fenster mit Aussicht auf einen Bogen aus Stahl – Stahl, der aus der Erde gekommen und jetzt fest mit ihr verbunden war. Unser Fenster rahmte die fliegenden Fenster ein, fliegende Augen, von Zügen, die alle Sinne auf sich zogen und sie zu verschiedenen Morgen mitnahmen, zu verschiedenen Nachmittagen und verschiedenen Nächten.
Aber jetzt lebe ich an diesem anderen Bogen, der Land und Meer miteinander verbindet.
Der Strand ist ein Ort ohne Saat, ohne Nährstoffe, ein gereinigter toter Ort. Er ist wüstes Land, zu salzig für Wachstum, wo das Meer ablegt, was es nicht mehr braucht. Angespülter Tang schlägt keine Wurzeln, sondern trocknet aus und häuft sich, seine Hüllen platzen in der Sonne auf, während gebleichte Landpflanzen brechen und ver-knöchern.
Aber weil der Strand nichts ist, ein indifferenter Ort – nicht Land, nicht Meer –, gibt es dort Freiheit und Ruhe.
Es gibt dort die Freiheit, das Nichts zu suchen, Tanghaufen, Treibholz, leere Muscheln, Fischgerippe, die Suche nach dem Punkt, dem Anfang – oder nach dem Ende, das der Anfang ist.
Hoffnung und Verlangen können dort ruhen, Gedanken und Gefühle können mit den Sandkörnern ziehen, die von Wasser und Wind gesiebt werden.
Eines Abends stellte ich dort meine Tasche ab und ruhte mich aus und ließ das Nichts passieren, das Nichts, das ein Nadelstich sein kann, eine Bewegung. Ich nahm warme Sachen aus meiner Tasche und wartete die ganze Nacht lang bis zum Morgen, der ein neuer Anfang sein würde.
Mary
Mary stand auf der Stufe und schüttelte ihr Staubtuch aus, dann machte sie sich mit ihrem Eimer mit Dosen und Tüchern auf den Weg über das steinige Ufer zum Versammlungshaus. »Fort, fort, fort, Maria. Fort, fort, fort, Maria«, sang sie.
Sie ging an der Wasserkante entlang und sang, manchmal redete sie auch, während sie so vor sich hin ging. Ab und zu bückte sie sich und hob etwas auf. Wenn es -etwas war, das lebte oder hätte lebendig sein können – ein Krebs, ein Schalentier oder Tang –, so warf sie es wieder ins Meer zurück. Wenn es etwas war, das nicht lebte und auch nicht lebendig sein konnte – Papier, Plastik, Dosen –, so tat sie es in ihren Eimer und nahm es mit nach Hause. »So ist es besser und schön«, sagte sie immer.
Am anderen Ende des Strandes sah sie einen Mann, der an einem kleinen Feuer stand und aus einem Blechkessel Tee ausschenkte. Sie hatte ihn seit dem Sommer nicht mehr gesehen, aber sie erkannte ihn wieder. »Joe-Blechkessel«, rief sie. Er hörte sie und winkte ihr zu.
»He, Joe-Blechkessel. Bist wieder da, nicht wahr?« Er rief ihr etwas zu, was sie nicht verstand, und sie fuhr fort, zu singen, zu reden und das Ufer zu säubern.
Als sie in die Nähe des wharenui kam, verließ sie die Wasserkante und stieg zu dem Haus hinauf. Bevor sie eintrat, rief sie Granny Tamihana, die schon nach ihr Ausschau gehalten hatte, zu: »Kommst du, Gran?«
»Später, mein Liebling.«
»Komm und sieh meine Arbeit.«
»Ja, gleich.«
»In meinem schönen Haus.«
»Bald.«
»Komm und fang mich.«
»Ja, gleich komm ich und fang dich, für unseren Tee.«
»Gleich?«
»Ae, dauert nicht mehr lange.«
Mary stand auf der Terrasse und tauschte ihre Schuhe gegen Pantoffeln aus und ging ins Haus. »Hier bin ich«, sagte sie zu dem Haus und legte den Stein neben die Tür. Sie öffnete das Fenster, dann setzte sie den Eimer ab und breitete die Tücher auf dem Fußboden aus. Sie strich die Tücher glatt, nahm die Dose mit der Politur, schüttelte sie dicht an ihrem Ohr und lauschte.
Sie staubte das poupou ab und polierte es, redete mit den Figuren und sprach sie mit den Namen an, die sie ihnen gegeben hatte. Manchmal sang sie ihnen ihr Lied vor. »Fort, fort, fort, Maria. Fort, fort, fort, Maria.« Manchmal flüsterte sie ihnen etwas ins Ohr.
Um zwölf Uhr humpelte Granny Tamihana auf die Veranda und rief nach ihr. »Haere mai te awhina o te iwi. Haere mai ki te kai, haere mai ki te inu ti.«
»Schau, Gran!«
»Sehr schön, Mary.«
»Schön und fein.«
»Sehr schön und fein … Komm jetzt und trink eine Tasse Tee.«
»Tasse Tee.«
»Komm und trink eine Tasse Tee und iss ein Brot.«
»Komme später wieder und mache meine Arbeit.«
»Nach deiner Tasse Tee und einem kai.«
»Komme nachher wieder, nachher«, sagte sie zu dem Haus und folgte Granny Tamihana hinaus.
In der Küche strich Granny Tamihanas Katze Mary um die Beine. Sie schmiegte sich an und schnurrte.
»Marama, na, du magst mich. Oder?«
»Streich du dir Butter aufs Brot«, sagte Granny Tamihana. »Und ich schenke uns Tee ein.«
Butter schmolz auf der Brotecke, und der Tee dampfte. Granny schaute durch den Dampf hindurch Mary an. »Nimm dir doch Brombeermarmelade. Lecker. Nimm doch.«
»Du magst Mary, nicht wahr? Marama, magst du Mary?«
»Nimm dir Marmelade. Leckere Marmelade.«
Mary bohrte ihr Messer in das Marmeladenglas und hebelte die Marmelade heraus. In der Marmelade waren ganze Früchte, und sie war weinrot, und Mary verstrich sie in der schmelzenden Butter.
»Iss, mein Liebling. Trink deinen Tee.«
»Marama, du komische Schmusekatze. Du magst Mary. Nicht wahr?«
»Deine Butter tropft vom Brot, meine Gute.«
Granny Tamihana schnitt ihre eigene Brotscheibe in kleine Stückchen. Sie ergriff jedes Stück mit Daumen und Zeigefinger und stopfte es sich so in den Mund, als würde sie einen Vogel füttern. Sie ließ ihren Tee abkühlen. Mary biss kleine Stückchen von ihrem Brot ab und kaute sie gründlich, ehe sie sie herunterschluckte, aber mit ihrem Tee war sie sehr vorsichtig.
»Vorsicht mit dem Tee«, sagte Granny Tamihana.
»Heiß«, Marys Ellbogen ragten vor. Sie blickte stirnrunzelnd in ihren Tee.
Nachher begleitete die Katze sie zu dem Haus zurück und rollte sich auf dem paepae, wo die Sonne hinschien, ein.
»Da bin ich«, sagte Mary zu den tipuna, als sie hineinging. »Bin wieder zurück bei meiner Arbeit und mache euch hübsch und fein.«
Mit ihrer Politur und dem Staubtuch und dem Hocker zog sie von einem poupou zum nächsten und plauderte und sang: »Du magst es, wenn ich singe, nicht wahr?« Und sie sprach sie alle mit den Namen an, die sie ihnen gegeben hatte – Böse Mutter, Kämpfender Mann, Fischfrau, Redendes Mädchen, Trauriger Mann, Hübsche Mutter. »Ich mach dich so hübsch und fein«, sagte sie. »Das magst du, nicht wahr? Du magst Mary, nicht wahr?« Langsam arbeitete sie sich mit ihrem Tuch die Figuren abwärts, vom Kopf zu den Schultern und die Arme entlang, den Rumpf und die Beine herab, und stand dabei auf ihrem Hocker, um an die oberste Figur jedes Pfostens zu reichen. Sie rieb mit ihrem Tuch sorgfältig jedes Eckchen des whakairo ab und sang: »Schöner Mann, schöne Mutter. Ihr habt das gern. Nicht wahr? Mary macht euch hübsch und fein. Ausgesprochen hübsch und fein.«
An der rechten Wand, fast am obersten Ende, war ihre Lieblingsstelle. »Da bist du ja«, sagte sie. »Und ich bin auch da.« Sie stieg auf ihren Hocker, schüttelte die Dose mit der Politur dicht an ihrem Ohr, sprühte dann Politur über den Kopf der Figur und begann, das Gesicht abzureiben und kreisend auch die glitzernden Augen. Sie arbeitete sich abwärts über den kurzen Hals zu den Schultern, und abwärts die Arme und Hände entlang. Sie legte ihr Ohr an deren Brust und lauschte, sie sang nicht und redete nicht, lauschte nur. »Ich höre dich, Liebender Mann«, sagte sie, dann fuhr sie mit ihrer Arbeit fort. Liebevoll rieb sie über seinen Körper und redete und sang dabei, bis sie bei seinem Penis ankam, der die Form des gebeugten, schmaläugigen Selbst der Figur hatte.
Da bemerkte sie, dass dem Penis-Mann ein Auge fehlte. »Ach, du Ärmster«, sagte sie. »Du Ärmster. Nicht schlimm, nicht schlimm. Mary hilft dir.« Sie schaute sich auf dem Fußboden nach dem fehlenden Auge um, konnte es aber nicht finden. Also ging sie vor die Tür und fand dort einen kleinen schwarzen Stein, den sie in die Höhlung, in der das Auge gesessen hatte, einfügte. Sie nahm ihr Tuch und polierte den Penis und die Schenkel. Als sie fertig war, stieg sie wieder auf ihren Hocker und sagte: »Da, hübsch und fein. Das gefällt dir, nicht wahr, Liebender Mann?« Und sie legte ihr Gesicht an das geschnitzte Gesicht und schmiegte ihren Körper an den geschnitzten Körper. Dann schlossen sie einander in die Arme und hielten sich fest und lauschten dem Schlagen und Hämmern und der Stille ihrer Herzen. Hinter ihnen war das sanfte Wispern des Meeres.