Wenn der Wind die Disteln aufwirbelt, dann ist für die Bewohner des weltabgeschiedenen Dorfes hoch im Taurusgebirge die Zeit zum Aufbruch gekommen. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Gebrechliche und Kranke - keiner bleibt zurück. Mit allem Hab und Gut, mit Kindern, Pferden, Hühnern, Eseln ziehen sie hinunter in die Ebene, um sich als Tagelöhner zu verdingen. Auf den Baumwollfeldern der Großgrundbesitzer wollen sie verdienen, was es zur Bezahlung der Schulden und zum Überleben im harten Winter braucht. Für den gebrechlichen Halil wird der Zug zur Höllenfahrt durch eine grausame Natur und archaische Landschaften.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.
Zur Webseite von Yaşar Kemal.
Helga Dağyeli-Bohne (*1940) übersetzt seit Ende der Siebzigerjahre gemeinsam mit ihrem Mann literarische Texte aus dem Türkischen.
Zur Webseite von Helga Dagyeli-Bohne.
Yildirim Dağyeli ist Verleger und literarischer Übersetzer. Anfang der Achtzigerjahre gründete er in Berlin den auf türkische Literatur spezialisierten Dağyeli Verlag.
Zur Webseite von Yildirim Dağyeli.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB), E-Book (Kindle), E-Book (Apple-Geräte) – Ihre Ausgabe
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Der Wind aus der Ebene
Roman
Aus dem Türkischen von Helga und Yildirim Dağyeli-Bohne und Margarete Bormann
E-Book-Ausgabe
Mit 6 Bonus-Dokumenten im Anhang
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente
Die Originalausgabe erschien 1960 unter dem Titel Ortadirek im Verlag Remzi Kitabevi, Istanbul.
Die erste Ausgabe dieses Werks im Unionsverlag erschien am 31.12.1985
© by Yaşar Kemal 1960
© by Unionsverlag, Zürich 2015
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Mehmet Güter, Mutter und Mutter , Öl auf Papier, 1983
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-60788-0
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für Apple-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Haupttext (E-Book-Body): Version 1
Zusatztexte (Front-/Backmatter): Version vom 17.12.2015, 04:01h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
www.unionsverlag.com
mail@unionsverlag.ch
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Da ist sie wieder, die torkelnde Distel. Da, auf unserer Schwelle! Geh, zeig sie den Leuten im Dorf!
Nein, versuchte er sich einzureden, das kann nicht sein. Es sind nur einzelne verirrte Disteln, noch ist die Baumwolle in der Çukurova-Ebene nicht reif. Irgend etwas stimmt da nicht dieses Jahr mit den Wurzeln dieser torkelnden Disteln. Vielleicht haben die Würmer die verdammten Dinger angefressen, oder die Feldmäuse haben sie angenagt. Dann brechen sie ab und wehen herüber, obwohl es noch viel zu früh für die Ernte ist.
Er saß vor seinem Haus in der Sonne, hatte die Beine ausgestreckt und den Rücken an die Wand gelehnt und blickte aus seinem langen verrunzelten Gesicht finster und erschöpft vor sich hin. Sein schütterer, schmutzigweißer Bart hing ihm auf die Brust, graue, buschige Brauen standen über seinen winzigen grünen Augen, sein Kopf aber war völlig kahl. Die Knochen seiner großen nackten Füße mit den schwarzen gekerbten Nägeln konnte man zählen. Seine Pluderhose und das Hemd aus grober handgewebter Baumwolle waren so oft geflickt, dass man von ihrem ursprünglichen Stoff fast nichts mehr sehen konnte.
Ein Zicklein hüpfte um ihn herum und streifte seine Hand. Vor ihnen rannte eine aufgeregte Glucke geschäftig hin und her, gefolgt von einem Schwarm fast körperloser sanftgelber Daunen, die durch den Staub krochen. Halil der Alte liebte es über alles, den eben ausgebrüteten flaumigen Küken, die sich zugleich an der Erde und an der Sonne wärmten, zuzusehen. Aber heute hob er nur von Zeit zu Zeit beim Geschrei der Henne den Kopf und brummte: »Dass dich die Pest hole, du dummes Vieh. Was soll dieses Getue?« Dann sank ihm das Kinn wieder auf die Brust.
Und wenn die torkelnde Distel nun bis an meine Tür weht, grübelte er. Wenn die Samenkapseln in den Feldern der Çukurova aufplatzen und die ganze Ebene weiß überweht wird, und ich habe keine Kraft mehr in den Knien. Dieses Jahr kann ich nicht in die Ebene ziehen. Ich kann einfach nicht.
Der Tag neigte sich schon zum Nachmittag, als er sich mühsam aufrichtete und seiner Schwiegertochter zurief: »Tochter, bring mir Wasser.«
Aus dem Haus kam keine Antwort. »Weib, dass du doch unfruchtbar bliebst!« fluchte er. »Keiner da, der einem einen Schöpflöffel Wasser bringt. Lieber sterben, statt alt zu werden!« Er ging hinein, füllte eine Schale und trank mit zitternden Händen, wobei er das Wasser auf seinen Bart verschüttete.
Gegen Abend begab er sich auf die Spitze des Hügels. Dunst legte sich über die ferne Steppe, und die weite Fläche färbte sich grau. Ihm schien, als sehe er ein Büschel torkelnde Disteln im Winde flattern.
Die torkelnde Distel ist wieder hier, daran kannst du nichts ändern. Dieser Gedanke verfolgte ihn. Wenn du den Leuten im Dorf nicht sagst, dass in der Çukurova die Baumwolle reif ist, werden sie dich lebendig fressen, Halil, mit Haut und Haar. Stell dir vor, sie kommen zu spät, lange nachdem die Landarbeiter aus den anderen Dörfern die ganze Baumwolle gepflückt haben … Was wirst du ihnen dann sagen, Halil? Dass du dich verrechnet hast?
Wenn die torkelnde Distel von der weiten Steppe herweht, weiß Halil der Alte, dass in der Çukurova-Ebene die reifen Samenkapseln aufbrechen. Jedes Jahr um diese Zeit, manchmal sogar noch früher, liest er eine der Disteln auf, untersucht ihre feinen Zweige und Dornen und macht sich dann auf den Weg zum Haus des Amtmanns.
»He, Sohn des Vorstehers Hidir, die torkelnde Distel ist wieder da. Ich habe ganze Schwärme gesehen, sie stiegen auf wie ein Kranichzug und flogen zum Berge Tekeç. Sag den Leuten im Dorf, sie sollen sich in drei Tagen bereithalten.«
Und jedes Jahr rüsten sich die Bauern auf dieses Zeichen hin für die Baumwollernte der Çukurova.
Ein Strom wirrer Bilder hielt Halil den Alten die ganze Nacht wach. Kühle Herbstwinde setzen ein, streifen frostig über die graue Erde, die Vögel kauern mit eingezogenen Köpfen in ihrem Unterschlupf. Die Rebhühner piepsen nicht mehr, und die Spuren ihrer hennaroten Füße unter den Büschen sind verschwunden. Pfeifende Windstöße entwurzeln die Disteln und schleudern sie von Hügel zu Hügel. Riesige korbförmig zusammengeballte Disteln treiben über die kahlen Hügelkuppen in den bleichen Himmel, füllen Täler und Schluchten und überfluten Wege und Ebenen.
Diese Leute im Dorf, haben sie denn gar keinen Verstand? tobte er. Haben sie weder Augen noch Ohren, können sie denn überhaupt nicht denken? Was hätten sie in diesen dreißig Jahren ohne mich getan? Stellt euch mal vor, Halil der Alte wäre tot. Stellt euch das nur mal vor … Na, und dann, ihr Burschen, wäret ihr nicht trotzdem genauso wie immer zur Baumwollernte gezogen? Ihr Bettler, nicht einer von euch hat je zu mir gesagt: Dank dir, Onkel Halil, dir verdanken wir, dass wir immer rechtzeitig zur Ernte hinunterkamen … Wie, wenn ich mich dieses Jahr mal irrte. Das kann jedem Menschen passieren. Bin ich denn noch, der ich war? Ihr seht doch selbst, wie schwach ich geworden bin. Woher sollte ich wissen, ob die Baumwolle in der Çukurova reif ist, wie konnte ich das wohl? Ich kann es eben nicht, ihr Lümmel!
Solche Gedanken quälten ihn bis zum Morgen, und als er aufstand, waren seine Augen rot und schmerzten ihn, als hätte er sie mit Pfeffer eingerieben. Er blickte in die Ferne hinaus. Es ging ein kalter Wind.
»Die Leute hier sind Esel!« schrie er. »Alles Esel!« Sein Sohn stand hinter ihm und fragte: »Was ist, Vater?«
Halil der Alte beachtete ihn nicht.
»Vater, ist die Baumwolle noch nicht reif?« Er bekam keine Antwort.
»Um Allahs willen, Vater, was ist denn in den letzten Tagen über dich gekommen? Nicht mal mit einem Messer könnte man deinen Mund aufsperren.«
Halil der Alte zog drohend die Brauen in die Höhe und sah seinen Sohn von oben bis unten an. Der Sohn war auch schon über fünfzig Jahre alt.
»Möge Allah dich mit Flüchen überschütten! Sieh dir den an, den verdammten Kerl, wie er dasteht und wie er mit mir redet!« schrie er wütend. In seinem Groll suchte er verzweifelt nach einem Ausweg, und es gab nichts, was er den Bauern nicht vorwarf. Am Amtmann, an seinem Sohn, an Taşbaşoğlu, an keinem ließ er ein gutes Haar.
Als sein Zorn verrauchte, ließ er sich ermattet auf einem Stein nieder. Er faltete die Hände unter seinem Bart und stützte das Kinn darauf.
Sein Sohn stand neben ihm und konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sein Vater so zornig war.
»Wenn du so wärest wie anderer Leute Söhne, wäre ich dann so elend wie jetzt?« Er zeterte und brummte weiter vor sich hin, so dass sein Sohn sich schließlich davonschlich. Halil der Alte war mit sich und seinem Zorn allein.
Die torkelnde Distel ist wieder hier. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als sie dem Amtmann zu bringen. Er stand auf und streckte seine schmerzenden Glieder. Dann stützte er sich schwer auf seinen Stock und humpelte ins Dorf.
Er beschloss, einen Umweg zu machen, um Mullas Sohn nicht zu begegnen, denn der würde ihn wieder aufreizen mit seinem dreckigen Grinsen: »Na, Onkel Halil, in wie viel Tagen kommen denn deine torkelnden Disteln angeflogen wie ein Kranichzug? Wann machen wir uns auf nach der Çukurova? Wir sind alle auf deine Gnade angewiesen, Onkel Halil. Wenn du wolltest, könntest du uns so lange hinhalten, bis es zu spät ist für die Baumwolle, bis in den Winter hinein, stimmts, Onkel Halil?« Dieser Hurensohn, schnaubte Halil der Alte. Wenn der ein Mann sein will, warum versucht er es dann nicht mal selbst und sagt uns, wenn die Baumwolle soweit ist?
Alle zwei Schritte hielt er an und schöpfte Atem. Bin ich wirklich so alt geworden? fragte er sich. Gott weiß, ich bin sicher schon über achtzig. Aber es ist nicht das Alter, es ist der Hunger. Meine Schwiegertochter, diese Hure, gibt mir nicht genug zu essen. Versteckt alles, damit ich es nicht finde. Deswegen bin ich so schwach. Unter in der Çukurova gibt es Wassermelonen, Tomaten, alles, was das Herz begehrt. Aber wie komme ich in die Çukurova? Ach, Ali, du bist ein guter Junge, du bist der Sohn meines Freundes Ibrahim, aber… Wenn deine Mutter nicht wäre, dieses alte Luder… Sie hat den Tod meines Vaters verschuldet, bei Allah, das hat sie getan, die alte Hexe!
Als er sich dem Haus von Ali dem Langen näherte, stieß er zweimal mit seinem Stock auf den Boden. Sein Großvater hatte Alis Haus gebaut. Es war eine niedrige, ungetünchte Hütte aus Lehm und großen unbehauenen Steinen. Er hoffte, Ali allein anzutreffen. Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu reden, wenn seine Mutter Meryemce, dieses alte Weib, zu Hause war. »Ali, mein Kind«, rief er leise. »Ali.«
»Willkommen, Onkel Halil«, antwortete Ali und trat heraus. »Willst du nicht hereinkommen?«
Halil der Alte ließ sich auf einen Holzklotz fallen. »Komm, setz dich zu mir«, sagte er.
Ali setzte sich schweigend. Schon seit einer Woche besuchte der Alte ihn regelmäßig. Er hatte geredet und geredet und war dann doch gegangen, ohne zur Sache zu kommen. Ali wusste, worauf er hinauswollte, aber was konnte er tun …
»Wir haben noch viel Zeit bis zur Baumwollernte«, begann Halil der Alte. »Es war dieses Jahr sehr kalt, deshalb blüht sie spät. Aber später oder früher, wie kann ich in die Çukurova gehen, Ali, mit diesen schwachen Beinen? Verflucht sei das Alter. Es ist das größte Unglück auf Erden. Ich werde es nie schaffen. Selbst auf dem Weg hierher musste ich zehnmal stehenbleiben und Atem holen. Meine Beine schmerzen und zittern wie bei einem Erdbeben. Es reißt mich in allen Gliedern … Ich möchte mal irgend jemand sehen, der in einem so elenden Zustand in die Çukurova geht.« Er hielt inne und blickte zu Boden. Eine kleine Distel kam dahergeweht und blieb zu seinen Füßen liegen. Er schnippte sie fort, und der Wind trieb sie weiter. Als er den Kopf hob, waren seine kleinen Augen feucht.
»Ach«, sagte er mit leiser, wimmernder Stimme, »dein Vater, er ruhe in Frieden, möge Heiligenschein auf sein Grab fallen . .. Dein Vater Ibrahim … Ach, wenn der noch lebte … Warum bin ich nicht an seiner Statt gestorben? Warum starben wir nicht beide zusammen? Ich hätte meinen Ibrahim nicht überleben sollen. Ein Mann kann sich eben nicht auf seinen Nachbarn verlassen, auch auf seine Frau nicht und nicht einmal auf den eigenen Sohn. Nein, nur auf einen Freund. Und was war Ibrahim für ein sanftmütiger Bursche! Sanftmütig und kühn zugleich! Und was für ein gerissener Dieb! Er konnte einem Schlafenden das Weiße aus dem Auge stehlen! Mich nahm er immer mit auf seine Diebeszüge, und bei ihm lernte ich stehlen. Ihm verdanke ich, dass ich immer mein Auskommen hatte und nicht von irgendwelchen Knickern abhängig war. Aber jetzt bin ich alt, und Ibrahim ist tot .. . Verflucht sei das Alter! Man sollte einen Mann umbringen, ehe sein Rücken sich krümmt. Geh nur einmal mit diesem krummen Rücken, diesen zitternden Beinen in die Çukurova hinunter, ja, versuch es nur einmal! Nur im Sarg wirst du das schaffen. Das schreibt der Koran vor. Verfluchte Vorschrift! Schau, Ali, ich hab mir gedacht, ich könnte ganz allein im Dorf bleiben, aber die Leute würden denken, ich sei verrückt geworden, und außerdem würde ich hier verhungern. Wie kann einer denn ganz allein in einem verlassenen Dorf leben? Es sind ja nicht nur fünf oder zehn Tage, sondern zwei volle Monate! Da kann er von Wölfen überfallen werden. Und die Ameisen werden ihn verspeisen und ihm die Augen aus den Höhlen fressen. Ist überhaupt schon jemand während der Baumwollernte im Dorf geblieben? Sag mir, ist das je vorgekommen? Solange ich lebe, nicht.«
»Nein, nie«, erwiderte Ali kleinlaut.
Halil der Alte fühlte, dass seine Worte Ali gerührt hatten. Seine Stimme klang triumphierend. »Ach, wenn ich nur mit meinem Ibrahim gestorben wäre und diese Zeiten nicht mehr erlebt hätte. Oder wenn ich einen Sohn hätte wie dich … Aber Allah gab mir nur diesen alten triefnasigen Hasan. Von dem habe ich nie etwas Gutes erfahren! Hasan hat kein Pferd, nicht einmal einen Esel, den ich reiten könnte. Ach, ich weiß noch, wie Ibrahim mit deinem Araber ankam. Er hatte ihn einem tscherkessischen Aga oben auf der
Hochebene Uzunyayla geraubt, und er hat dir mit Allahs Segen jahrelang gut gedient. Ja, Ali, mein Sohn, Hasan hat kein Pferd wie du. Ich mag diesen Taugenichts nicht meinen Sohn nennen! Er stockte und beugte sich erwartungsvoll vor.
Ali kratzte mit einem Zweig über die Erde. Er wagte nicht, seinen Kopf zu haben, fühlte aber, dass die Blicke des Alten ihn durchdrangen wie spitze Nägel.
Schließlich erhob sich der Alte und humpelte davon. Er ging noch gebeugter als zuvor. Wie kann ich auch, dachte er verbittert, von einem, den diese Hure Meryemce geboren hat, etwas Gutes, irgendeine Hilfe erwarten? Der ist sicher nicht Ibrahims Nachkomme.
Wer weiß, von wem Meryemce ihn empfangen hat. Undankbares Lumpenvolk, wer brachte euch das Pferd, he? Und wenn niemand sonst davon erfuhr, Meryemce weiß es genau. Sie weiß, dass ihr Mann keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, und nie hätte er ein Pferd gestohlen! Pfui über das Schicksalsrad, möge es brechen. So weit hast du Halil den Alten schon gebracht, dass er für diesen kurzen Ritt in die Çukurova von Tür zu Tür betteln gehen muss! Fort mit dir, du elende Welt! Mögen diejenigen, die sich deiner Wohltaten erfreuen, dein Lob singen. O je, mein Rückgrat bricht!
Ali sah ihm nach. Der Alte schwankte auf zitternden Beinen davon.
Nie wird er den weiten Weg in die Çukurova zu Fuß gehen können, dachte er und kratzte mit dem Zweig über die Erde. In diesem Augenblick hörte er die gereizte Stimme seiner Mutter: »Was hatte er denn diesmal zu erzählen, der verdammte Hund?«
»Was konnte er schon sagen, der arme Mann«, antwortete Ali traurig. »Er hat es nicht so genau ausgedrückt, aber er meinte … Du weißt schon.«
»Nichts da, schlag dir das aus dem Kopf!«, schrie Meryemce. »Solange ich lebe und atme, soll dieses Aas, dieser stinkende Schweinekadaver nie wieder auf meinem Pferd sitzen. Letztes Jahr habe ich es noch erlaubt, nur deinetwegen. Danach sah ich im Traum meinen Ibrahim. ›Meryemce, du Alte‹, sagte er vorwurfsvoll, ›wie kannst du den auf meinem Pferd reiten lassen? Ich fand die ganze Zeit keine Ruhe in meinem Grab.‹ ›Ibrahim‹, sagte ich, ›nun ist es ja vorbei. Dein Sohn hat es so gewünscht, und wie konnte ich ihm das verweigern? Vergib mir. ›Nein, nein, Ali, nie wieder. Nicht einmal, wenn der Heilige von Deliktaş aus seinem Grab steigt und es mir befiehlt. Geh, Heiliger, würde ich sagen, mit all deiner Heiligkeit. Lass das Pferd eines armen Sterblichen in Frieden. Und außerdem, Ali, ist das Tier krank. Es ist viel schwächer als Halil der Alte. Ich weiß noch nicht mal, ob es mich dieses Jahr tragen kann. Es lässt die Ohren hängen, und seine Nase tropft. Ich warne dich, Ali, wenn du den wieder auf mein Pferd setzen willst, musst du mir erst die Kehle aufschlitzen.«
Ali stand auf und strich mit der Hand über seine Pluderhosen. »Er hat ja nicht einmal gefragt, ob er reiten darf, der arme Kerl«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Er sprach nur davon, dass seine Kräfte ihn verlassen.« Meryemces Augen funkelten. »Wenn er heute nicht gefragt hat, dann tut er es morgen. Hör zu, was ich dir sage. Der ist so unverschämt, dass er es fertigbringt, mich absteigen zu lassen, um allein weiterzureiten. Er ist der leibhaftige Sohn des Teufels. Das weiß ich, und der große Allah dort oben weiß es auch. Es gibt Dinge, die ich dir nie gesagt habe, Ali. Lass mich nicht davon sprechen. Ich bete nur darum, dass sein schmutziges Herz von tödlichen Kugeln durchlöchert wird.«
»Sag das nicht, liebe Mutter. Ich bedaure ihn von Herzen. Wie kann der arme Mann den langen Weg zu Fuß gehen? Vielleicht stirbt er unterwegs.«
»Dann lass ihn sterben«, schrie Meryemce. »Es ist mir gleich, was aus ihm wird, solange er nicht mein Pferd reitet.«
Ali warf ungeduldig den Zweig fort. »Wenn ich nur ganz sicher wäre, dass das Pferd euch beide tragen kann, würde ich ihn hinter dir aufsitzen lassen.«
Bei diesen Worten geriet Meryemce in schäumende Wut. Von ihren Lippen floss ein solcher Strom von Beschimpfungen, dass man kaum verstehen konnte, was sie sagte. Ali erschrak. »Nein, nein! Ich lasse ihn nicht aufs Pferd«, rief er und ergriff ihren Arm, »ich schwöre es dir.«
Meryemce beruhigte sich ein wenig. »Wenn du das tust, dann gehe ich fort in ein Land, von dem weder du noch irgendein anderer je etwas gehört hat. Ich gehe weg, und die weiße Milch, die du aus meinen Brüsten gesogen hast, soll dir zum Fluch werden.«
Sie war eine hochgewachsene, aber vom Alter gebeugte Frau. Ihre Züge waren immer noch schön, mit hohen, breiten Backenknochen, die auf ein spitzes Kinn zuliefen, und ihre schwarzen Augen mussten einst in ihrer Jugend groß und leuchtend gewesen sein. Ein Labyrinth von kleinen Falten bedeckte ihr Gesicht, und ihre Wangen waren tief in den zahnlosen Mund eingesunken. Ein paar weiße, hennarot gefärbte Haarbüschel hingen unter ihrem Kopftuch hervor in ihre Stirn.
»Dass du mir nie wieder von dem Pferd sprichst. Das alte Schwein Halil kann kommen so oft er will. Und damit Schluss!« Sie stürmte davon und verschwand in der Hütte.
Halil der Alte kam noch ein paar Mal wieder. Er klagte bei jedem Besuch über seine Gesundheit und pries Alis Vater immer höher, aber jedesmal bemerkte er, dass er auf taube Ohren stieß.
Es gab vier Pferde im Dorf. Halil der Alte besuchte auch die drei anderen Besitzer und erzählte ihnen von seinen Leiden. Aber er mochte sich nicht so weit demütigen und geradeheraus darum bitten, dass sie ihn reiten ließen, und keiner von ihnen bot ihm an, was er so begierig erwartete. Sie hörten ihm verlegen zu und stahlen sich dann beschämt davon.
Die Tage vergingen, und Halil strich verzweifelt durch das Dorf wie ein Betrunkener. Der Tod, dachte er, wäre leichter als dies. Ihm schien, als hätten die Leute im Dorf nichts zu tun, als ihn zu quälen.
»Ist es noch nicht soweit, Onkel Halil?«
»Letztes Jahr um diese Zeit hatten wir schon tagelang Baumwolle gepflückt!«
»Liegt es am kalten Wetter, dass die Baumwolle dieses Jahr noch nicht reif ist?«
»Onkel Halil, die Täler und Schluchten sind voll von torkelnden Disteln.«
»Vielleicht irrst du dich diesmal, Onkel Halil. Nur Allah ist unfehlbar.«
»Hört auf, ihr Burschen, hackt nicht so auf ihm herum. Hat Halil der Alte uns je im Stich gelassen? Er wird schon wissen, was er tut.«
»Aber irgend etwas stimmt da nicht. Halil der Alte ist diesmal so seltsam.«
»Sag uns um Himmels willen, Onkel Halil, wie lange dauert es noch, bis wir aufbrechen?«
Er versuchte diese Angriffe abzuwehren so gut er konnte, er log, fluchte oder tat, als hätte er nichts gehört, aber der Gedanke ließ ihm keine Ruhe.
Die torkelnde Distel ist wieder da, daran kannst du nichts ändern. Er fühlte sich in die Enge getrieben. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und machte sich auf den Weg zum Haus des Amtmanns. Früher war er jedes Jahr lachend und vor Freude tanzend durch das Dorf gelaufen und hatte die torkelnde Distel in der Hand geschwenkt.
Die Dorfbewohner beobachteten ihn, als er hinkend daherkam. »Endlich ist die. Baumwolle reif«, sagten sie. »Sie ist reif, ja, aber Halil den Alten hat das vergangene Jahr schwer mitgenommen. Er kann kaum noch gehen, der arme Kerl, und laufen schon gar nicht.« Der Amtmann empfing ihn an der Tür. »Dieses Jahr ist es aber spät geworden mit der Ernte«, bemerkte er, lächelte spitz und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Das hätte ich nicht von dir gedacht, Onkel Halil. Sich mit Ali dem Langen und den anderen gegen mich zu verschwören! Eine Frechheit, eine Frechheit. Das passt ja gar nicht zu dir. Schämst du dich nicht deines weißen Bartes?«
»Pass auf, was du sagst«, murrte Halil der Alte. »So lasse ich mit mir nicht reden.« Früher hätte er jeden zermalmt, der so mit ihm zu sprechen wagte. Aber der alte Geist in ihm war erloschen.
Alle Jahre, wenn er dem Amtmann die Distel überreichte, hatte er freudig gerufen: »Die torkelnde Distel ist wieder da. Ganze Schwärme habe ich gesehen, sie schwebten wie ein Kranichzug über den bleichen Himmel zum Berge Tekeç.« Und dann scherzte jeweils der Amtmann: »Was du nicht sagst, du alter Flunkerer.« Und die Leute ringsherum lachten dröhnend. Dann wurde die Nachricht bekanntgemacht, und die Bauern begannen, sich für die Reise zu rüsten. Aber diesmal kamen Halil dem Alten die Worte nur mit Mühe über die Lippen, der Amtmann scherzte nicht und die Leute lachten nicht. Die Ältesten dachten bei sich, das sei sicher ein böses Zeichen. Selbst die Stimme des Wächters, der die Nachricht verkündete, war freudlos, und nichts war mehr darin vom hellen Klang seiner Worte in früheren Jahren.
»Was geht denn da vor? Warum diese beklemmende Stille?« flüsterten die Bauern einander zu. »Hoffentlich nimmt das kein böses Ende.«
Halil der Alte übergab dem Amtmann die Distel, lief nach Hause, schloss sich ein und ließ sich bis zum Tag der großen Versammlung nicht mehr blicken.
Vom späten August bis zum Oktober färben die torkelnden Disteln sich rot, und bei Sonnenuntergang scheint die Steppe in rötlichen Nebel getaucht. Wie ein langer, gewundener roter Weg, ein Kranichzug oder ein vorüberziehender Vogelschwarm teilen sich die Disteln und schließen sich wieder zusammen, sie wogen und sinken, und der rastlose stürmische Wind, der über die endlose Steppe geht, peitscht sie hin und her.
Die torkelnde Distel ist die wichtigste der Pflanzen, die auf der Steppe wild gedeihen. Im Sommer verleiht sie diesem kargen Land mit ihrem sanften Grün Leben und Farbe. Dann sind ihre Wurzeln und Dornen stark, aber sobald sie verdorrt, verlieren die Wurzeln ihre Kraft, und im Herbst, wenn die mächtigen Winde aufkommen, sind sie so schwach, dass die Distel aus der Erde gerissen und fortgetrieben wird. Hunderte und Tausende von Disteln tanzen dann über die Steppe und schwirren durch die Luft.
Im späten Herbst fegen die Winde immer mächtiger über das Land und mit ihnen die Disteln. Sie haben jetzt eine hellere Färbung, leuchten goldgelb. Zäh klammern sie sich an die Krume, man kann sie nur mit Mühe herausziehen. Doch ihre Wurzeln verlieren zusehends an Kraft. Die rastlosen Herbstwinde brausen so lange über die Disteln hinweg, bis schließlich keine mehr an ihrem Platz steht. Ein einziges Pfeifen und Heulen erfüllt die Lüfte. Hunderte, Tausende von Disteln erheben sich dann mit einem Mal über die Steppe. Die ganze Ebene glitzert und leuchtet, versinkt förmlich in goldgelbem Glanz. Funkensprühend wirbeln die Disteln durch die Luft. Ohne sie wäre die Steppe tot.
»Die torkelnde Distel bringt Glanz und Schönheit in diese finstere Einöde«, pflegte Halil der Alte zu sagen. »Was wäre die leblose Steppe ohne sie!«
Ein Rascheln ertönt von der Steppe herüber. Er legt sein Ohr an die Erde und lauscht dem Gemurmel, das aus der Tiefe aufsteigt. Der Boden der Steppe ist ein guter Geräuschleiter. Man kann die Ameisen in ihren Hügeln krabbeln hören und das Trippeln der Vögel in ihren Nistlöchern. Es gibt einen Vogel mit strahlend blauem Gefieder, der sein Nest tief in die Felswände hinein gräbt. Man hört, wie er in seinem Tunnel arbeitet. An dem leisen Knistern der Wurzeln kann man sogar erkennen, ob die Disteln bald brechen. »Nichts geht über die Steppenerde«, sagt Halil der Alte. »Die ist besser als der Telegraph. Wenn du dein Ohr daran-legst, vernimmst du alle möglichen wunderbaren Laute. Du hörst die Flöte eines Schäfers am anderen Ende der Welt, hörst ein Lied, das noch niemand gesungen hat, und es ist so schön wie manche seltenen Blumen. Ja, leg dein Ohr an den Boden und lausch auf die Hufschläge der Pferde, eine Tagereise weit entfernt. Aber nicht jeder vernimmt die Stimme der Erde. Man braucht ein gutes Ohr, ein feines Ohr wie meines, ihr unwissendes Volk.« Schon in der Jugend war es seine liebste Beschäftigung gewesen, stundenlang diesen Geräuschen zu lauschen.
Mit dem ersten Hauch des Herbstes wandern die Bauern mit Sack und Pack aus den Dörfern jenseits der Tauruskette, aus der öden, versengten, ausgedorrten, baumlosen Hochebene, wo das hügelige Land in langen, sanften Wellen in die Steppe abfällt, zur Arbeit hinunter in die Çukurova-Ebene. Keine Menschenseele bleibt in den Dörfern zurück. Alt und jung, Kranke und Schwache ziehen mit. Nicht einmal einen Wächter lassen sie in den verwaisten Dörfern zurück, obwohl überall Getreide in den Gruben gespeichert ist, das Bettzeug in den Kisten, Kleider in den Truhen liegen, all ihre Kostbarkeiten, einschließlich der Aussteuer für die Bräute. Keiner würde seinen Fuß in so ein verlassenes, ausgestorbenes Dorf setzen, nicht einmal an einem Stück Abfall würde sich ein Dieb vergreifen. Gibt es hier keine Diebe? Natürlich gibt es Diebe. Aber keiner würde sich in ein Dorf wagen, solange es verlassen ist. Doch kaum sind die Bauern zurück, geht es wieder los mit Raufereien, Mädchenentführungen und Diebstählen.
Vor langer Zeit lebte in dieser Gegend ein Räuberhauptmann namens Cötdelek. Er war hier der unumschränkte Herrscher, ein grausamer Bandit, ein mitleidloser Tyrann. Roch er irgendwo Geld, konnte ihn nichts mehr halten; er tötete jeden, der ihm in den Weg kam, mit einem Hieb, schnitt Frauen und Kindern die Kehle durch, nur um an das Geld zu gelangen. Da geschah es einmal, dass der berüchtigte Räuber, als ihm die Gendarmen nachsetzten, seine Verfolger abschütteln konnte, indem er sich weit in den Taurus hinein flüchtete. Dort stieß er zufällig auf eines der verlassenen Dörfer. Er war erschöpft, ausgehungert und durstig, doch er sagte: »Kameraden, in diesem Dorf dürfen wir nicht stehlen.«
»Cötdelek Aga«, erwiderten seine Gefährten, »wir können es uns jetzt nicht leisten, edelmütig zu denken. Wir sterben vor Hunger, wir sind alle mehr tot als lebendig. In diesem Dorf werden wir Nahrung finden. Lasst uns hineingehen und essen. Da sind auch Betten aus weißer Çukurova-Wolle. Lasst uns dort ordentlich ausschlafen.«
Cötdelek stand eine Weile in Gedanken versunken. Dann hob er den Kopf. Allah schütze uns vor seinem Zorn; Flammen schossen aus seinen Augen! »Das darf nicht sein, meine Freunde«, rief er. »Ihr wisst, dass ich vor nichts zurückschrecke. Wir werden eines jener bewohnten Dörfer ausplündern und verwüsten, jede lebende Seele hinschlachten, wenn ihr wollt, die Frauen entführen und alle Butter und allen Honig mit uns nehmen. Aber nie werde ich in ein verlassenes Dorf einbrechen und dort stehlen, so sehr ich auch Hunger leide. Ich bin so müde, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Und hätte ich ein Bett mit weißer
Çukurova-Baumwolle, würde ich mich hineinlegen und eine ganze Woche lang fest schlafen. Aber ich will nicht der erste sein, der gegen die alte Sitte verstößt. In hundert, in zweihundert, in dreihundert Jahren werden die Leute sagen: ›Früher einmal, während der Baumwollernte, waren die verlassenen Dörfer im Taurus für den Wolf ebenso sicher wie für das Lamm. Dann kam ein böser Mann, ein gewisser Cötdelek und dabei werden sie auf meine Gebeine spucken°–, der missachtete den Brauch und plünderte unsere verwaisten Dörfer.‹ Nein, meine Freunde, ich will nicht, dass die Menschen das von mir sagen. Meine Mutter, meine Frau und meine Gebeine sollen nicht bis ans Ende der Zeiten verflucht werden. Wenn wir dieses Dorf aber verschonen, was werden die Leute dann sagen? Sie werden sagen: ›Da war einmal ein großer Aga, Cötdelek hieß er, ein blutdürstiger Räuberhauptmann, aber er starb lieber vor Hunger, hier an der Stelle des einsamen Dorfes, in dem es reichlich Brot, Butter und Honig gab, als dass er den ärmlichsten Lumpen anrührte. Und er tat gut daran, tausend-, zweitausend Mal gepriesen sei der Mann, der gemeinsam mit seinen ritterlichen Gefährten bereit ist, um der Erde willen sein Leben hinzugeben. Möge Licht auf ihre Gräber scheinen!«
»Gehen wir doch in das Dorf und hinterlegen überall, wo wir etwas wegnehmen, Geld«, schlugen die anderen Banditen daraufhin murrend vor. »Wir nehmen uns die Haustüren als Zeugen und feilschen mit den Kaminen, wie viel es kostet. Wenn du meinst, können wir auch mit dem Pflugmesser darüber verhandeln. Es isst und trinkt zwar nichts, hat aber etwas Menschliches an sich. Wer reißt schließlich die Erde auf, pflügt sie uns?«
Cötdelek begann zu schimpfen: »Nein, es geht nicht, Freunde, wie oft soll ich euch das noch sagen? Schluss damit. Müht euch nicht umsonst ab. Was gegen die Menschenwürde verstößt, kann ich nicht tun. Gehen wir lieber in eines der bewohnten Dörfer dort drüben. Wenn ihr wollt, plündern wir es bis auf den letzten Stein aus. Schneiden allen wie Schafen die Kehle durch, bis keiner mehr übrig ist. Wie findet ihr das? Wenn ihr nicht einverstanden seid, weil eure Füße euch den Dienst versagen, müssen wir, wie Moses Beispiel lehrt, hier warten, bis die Bauern aus der
Çukurova zurückkommen. Dann aber lassen wir keinen Stein mehr auf dem anderen. Wir entführen ihre Töchter und Frauen. Auch ihre Butter, ihren Honig nehmen wir mit. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Habt ihr mich verstanden, Kameraden?!«
In diesen Tagen verfluchte Halil der Alte Cötdelek mit aller Kraft. Wenn dieser Hund von einem Banditen doch wenigstens eines der verlassenen Dörfer ausgeraubt hätte, dachte er, dann würden nicht mehr alle Leute in die Çukurova ziehen. Man würde die Alten zurücklassen. Fluch über seine Gebeine …
Die Arbeit auf den Baumwollfeldern dauerte gewöhnlich ein oder zwei Monate. Für die Bewohner der Hochebene von Uzunyayla ist die Çukurova die Haupteinnahmequelle, wichtiger sogar als ihre eigene Ernte oder ihre Schafe und Ziegen.
Alle Bauern auf der Uzunyayla kaufen bei Adil Efendi, dem Krämer in der kleinen Stadt.
»Wie viele seid ihr?« wird Ali Efendi fragen. »Zehn«.
»Und könnt ihr alle Baumwolle pflücken?«
»Wir haben einen Säugling, mein Aga, fünf Tage alt. Ein schwarzäugiges kleines Kind …«
Adil Efendi überschlägt im Geiste die Summe.
Dann gibt er ihnen eine bestimmte Menge Waren und trägt ihr Schulden in sein gelbes Buch ein. Er weiß, nach ihrer Rückkehr aus der Çukurova werden sie auf den Kuruş genau mit ihm abrechnen, und nichts wird sie davon abhalten, es sei denn, sie sterben oder verlassen das Dorf …
Das ganze Dorf war in Bewegung, es war ein Kommen und Gehen, Rufen und Fluchen. Man hörte die Alten und Kranken stöhnen und seufzen, aus manchen Häusern ertönten Wehklagen, in anderen herrschte Freude. Der Wächter lief umher und rief: »Passt auf, ihr Leute! Habt acht auf meine Worte und sagt nicht, ihr habt nichts gehört. Euch bleiben nur noch zwei Tage. Sputet euch! Beeilt euch, denn vielleicht sind die anderen Dörfer inzwischen schon in der Çukurova. Wer trödelt, wird bestraft, auf Befehl des Dorfrates und unseres Amtmanns.«
Aber in diesem Jahr braute sich irgend etwas Ungewöhnliches zusammen. Das zeigte sich deutlich auf den Gesichtern einiger Bauern. »Seht euch vor«, schienen sie sich mit den Augen zu sagen, »dass dieser Wolf im Schafspelz nichts herausfindet. Er darf keinen Wind bekommen, sonst legt er uns nichts als Steine in den Weg.«
Fünf Jahre lang hatten sie vergeblich geredet. Aber dieses Mal war es Ali dem Langen, Taşbaşoğlu aus der Sippe der Steinschädel und Duran dem Waisenkind endlich gelungen, die Mehrheit des Dorfes einschließlich der Drückeberger um sich zu versammeln, um zur Tat zu schreiten. So ist nun einmal das Bauernvolk. Hat es erst einmal begriffen und zugestimmt, braucht es einem nicht mehr bange zu sein.
An jenem Morgen hatten Taşbaşoğlu und Ali der Lange heimlich die Runde im Dorf gemacht und zuverlässige Freunde aufgesucht. »Wir treffen uns im Haus von Duran dem Waisenkind«, hatten sie geflüstert und waren verschwunden.
Duran das Waisenkind wohnte am Rande des Dorfes. Als Taşbaşoğlu und Ali der Lange ankamen, wartete dort schon eine ansehnliche Menge; alle redeten durcheinander. Taşbaşoğlu setzte sich auf die Schwelle und zog seinen gelben Rosenkranz aus der Tasche. Sein langes Gesicht nahm einen mürrischen Ausdruck an, während er die Anwesenden mit scharfem Blick musterte. »Nun, meine Brüder«, begann er, »habt ihr euch entschlossen?«
»Das haben wir«, schrie eine Stimme von hinten, es war Gümüşoglu. »Hier geht es um Leben und Tod.« »Wir dürfen uns nicht länger um unsere Rechte betrügen lassen«, rief ein anderer. »Sie haben ihr Brot in unser Blut getaucht und uns ausgesaugt.«
»Wir müssen alle zusammen zum Amtmann gehen«, fuhr Taşbaşoğlu fort. »Wenn wir nicht wie ein Mann dastehen, wird er uns vernichten. Unsere Front darf nicht brechen.«
»Niemals«, schrien sie alle.
»Schwört ihr bei der Ehre eurer Frauen?«
»Ja, ja«, riefen sie aufgeregt durcheinander.
Dann begann Duran das Waisenkind zu sprechen. Er war stolz, dass man sein Haus für die Versammlung ausgesucht hatte. »Wir müssen zwei Sprecher wählen, die unsere Sache vertreten, wie sichs gehört. ›Ein Amtmann‹, müssen sie sagen, ›sollte den Bauern ein Vater sein, so wie dein Vater, der Vorsteher Hidir. Aber du hast dich mit dem Schurken Bekir dem Krakeeler zusammengetan, und ihr beide lasst euch von den Besitzern der ödesten Baumwollfelder bestechen, damit wir dort arbeiten. Während die Leute aus den anderen Dörfern fünfhundert Kilo am Tag pflücken, bringen wir es kaum auf fünfundzwanzig. Während die anderen Bauern mit Säcken voll Geld nach Hause kommen, können wir nicht mal Adil Efendi unsere Schulden bezahlen. Hast du denn kein Herz, kein Gewissen? wie viel Bestechungsgelder du auch kriegen magst, wir sind bereit, dir ebensoviel zu zahlen. Aber wenn du uns im Stich lässt, suchen wir uns selbst ein Feld aus. Nie wieder setzen wir einen Fuß auf ein Feld, das dieser Bekir der Krakeeler ausgesucht hat … › So müssen sie reden, und wir müssen geschlossen hinter ihnen stehen, damit sie keine Angst haben.«
»Duran hat gut gesprochen«, sagte Taşbaşoğlu. »Lasst uns also zwei Männer wählen. Aber wen? Sie müssen stark und furchtlos sein.«
»Einer von ihnen soll Ali der Lange sein.« Durans Stimme zitterte vor Erregung. »Er hat als erster herausgefunden, dass der Amtmann und Bekir der Krakeeler uns betrügen und sich von den Gutsbesitzern Schmiergelder zustecken lassen. Und er hat sich in den letzten fünf Jahren heiser geredet, um die Wahrheit in unsere hirnlosen Köpfe hineinzutrommeln. Einen besseren Mann könnten wir nicht finden.«
Alle waren einverstanden.