Toni Sender
Autobiographie einer deutschen Rebellin
Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Brinker-Gabler
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein
FISCHER E-Books
Mit zahlreichen Abbildungen
Ihre Lebensgeschichte weist Toni Sender als eine ungewöhnlich mutige und energische Persönlichkeit aus. Schon mit sechzehn befreite sie sich aus der Abhängigkeit ihres wohlhabenden Elternhauses und engagierte sich bald in der Arbeiterbewegung, seit 1910 in Paris. Nach dem Kriegsausbruch kehrte sie nach Deutschland zurück, agitierte gegen die Kriegspolitik, nahm 1915 an dem internationalen Antikriegskongreß der sozialistischen Frauen in Bern teil, trat 1917 der USPD bei, wurde 1919 Mitglied des Frankfurter Stadtrates und zog schließlich 1920 als Abgeordnete in den deutschen Reichstag ein, in dem sie eine der aktivsten Frauen des sozialdemokratischen Flügels war und dem sie bis 1933 ununterbrochen angehörte. Obwohl sie bereits sehr früh »auf der Liste« der Nazis stand, nutzte sie unerschrocken weiter jede Gelegenheit, vor den »neuen Barbaren« zu warnen, bis sie im Frühjahr 1933 fliehen mußte und über die Tschechoslowakei und Belgien nach Amerika gelangte. Auch im Exil war sie weiter politisch aktiv – im Kampf gegen den Faschismus und Krieg, in der Gewerkschaftsbewegung und seit 1949 als Vertreterin des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften bei den Vereinten Nationen.
Gisela Brinker-Gabler ist die Herausgeberin der Reihen »Die Frau in der Gesellschaft – Frühe Texte« und »– Lebensgeschichten« und die Herausgeberin dieses Bandes. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Pädagogik promovierte sie 1973 in Köln. Von 1974–75 war sie Assistant Professor für deutsche Sprache und Literatur an der University of Florida/USA, seit 1976 hat sie einen Lehrauftrag an der Universität Essen (GHS). Sie lebt heute in Bochum.
Im Fischer Taschenbuch Verlag gab sie folgende Bände heraus: ›Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gedichte und Lebensläufe‹ (Bd. 1994), ›Zur Psychologie der Frau‹ (Bd. 2045), ›Frauenarbeit und Beruf‹ (Bd. 2046), ›Frauen gegen den Krieg‹ (Bd. 2048) und ›Fanny Lewald. Meine Lebensgeschichte‹ (Bd. 2047).
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560710-7
Nationalsozialisten
Richtig: Erwin Barth
Sie erhielten es 1945.
Blanquisten = Anhänger von Louis Auguste Blanqui (1805–1881); Blanqui, der erste »révolutionnaire professionnel« (Dommanget) war führend beteiligt an den revolutionären Bewegungen in Frankreich zwischen 1830 und 1880; sein Hauptwerk: Critique sociale (1885, dt. 1886). Die Blanquisten vereinigten sich 1901 mit den Alemanisten und Marxisten zum Parti socialiste de France, der jede Regierungsbeteiligung ablehnte.
Auf deutscher Seite nahmen neben Clara Zetkin und Toni Sender teil: Lore Agnes, Martha Arendsee, Berta Tahlheimer, Margarethe Wengels und Käte Duncker.
Richtig: Wladimir Iljitsch Lenin
Das Flugblatt wurde in über 100 Orten im gesamten Reich verteilt. Toni Senders Aufgabe war vermutlich nur die Verteilung in Frankfurt und Umkreis.
Richard Grelling. J’Accuse! Von einem Deutschen, Lausanne 1915
und Karl Liebknecht
3. März 1918, Friede mit Sowjetrußland in Brest-Litowsk.
Am 21. Dezember 1915 hatte erstmals eine Minderheit von 20 SPD-Abgeordneten im Plenum gegen die Kriegskredite gestimmt. Bei der weiteren Bewilligung von Kriegskrediten durch die Mehrheit am 24. März 1916 stimmten 18 Abgeordnete dagegen (Liebknecht und Rühle waren schon im Januar aus der Fraktion ausgeschieden); sie bildeten die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG) im Reichstag.
Originalrezept nach Eugen Prager, Geschichte der U.S.P.D., Berlin 1921, S. 174.
Aktionsgemeinschaft von SPD und Liberalen, gebildet am 8. 11. 1918
Herausgenommen wurde nicht ein Aufruf des Wohlfahrtsausschusses, sondern Aufruf und Bericht der Mehrheitssozialisten über die Wahl von Soldatenräten am Vorabend.
Die Originalüberschrift lautet: A Member of the Reichstag in my Twenties. Die Altersangabe ist nicht korrekt. Als Toni Sender am 6. Juni 1920 MdR wurde, war sie 31 Jahre alt. Zwei weitere falsche Altersangaben (Originalausgabe S. 25, 204) wurden im vorliegenden Text korrigiert.
Am 22./27. Februar 1921
Am 14. Juli 1922.
Parteitag der USPD in Gera vom 20.–23. Sept. 1922. In der Literatur zitiert als Deklaration der Dißmann-Gruppe. Text in: Protokoll der Sozialdemokratischen Parteitage in Augsburg, Gera und Nürnberg 1922. Berlin 1923; S. 131.
Am 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet.
19. Oktober 1923; 8./9. November Hitler-Putsch in München
Dr. Lohmann
20./21. Oktober 1928
27. März 1930
»Harzburger Front«
Richtig: »Gegen die Sozialdemokraten führen wir den Hauptschlag!« (Zit. n.: Franz Osterroth, Dieter Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Hannover 1963, S. 355)
Richtig: 37,8 %
Rede von Toni Sender auf der Leipziger Frauenkonferenz am 29. November 1919
David W. Morgan, The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party, 1917–1922. Ithaca and London 1975; S. 469f.
Toni Sender gebrauchte beide Schreibweisen. Beispiele: ihre persönliche Eintragung ins Formular für die Stadtverordneten-Versammlung in Frankfurt 1919 lautet Tony S.; Titelblatt des gedruckten Vortrags »Die Frauen und das Rätesystem« (Nov. 1919): Toni S.; Titelblatt der Broschüre »Große Koalition? Gegen ein Bündnis mit der Schwerindustrie« (1923): Tony S.; »Autobiography of a German Rebel« (1939): Toni Sender.
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1971, S. 70–73.
»So wurde ich Sozialistin«; Dossier Toni Sender (Frankfurter Stadtarchiv).
Vgl.: Frauen gegen den Krieg. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt 1980 = Die Frau in der Gesellschaft – Frühe Texte (Fischer Taschenbuch 2048).
Robert F. Wheeler, Curt Geyer und die USPD, in: Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen von Curt Geyer. Hg. von Wolfgang Benz und Hermann Graml. Mit einem Vorwort von Robert F. Wheeler. Stuttgart 1976; S. 10.
Vgl. Erhard Lucas, Frankfurt unter der Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats 1918/19. Frankfurt 1969.
Lore Agnes, Marie Karsch, Anna Nemitz, Marie Wackwitz, Frieda Wulff, Mathilde Wurm, Anna Ziegler, Louise Zietz.
Robert F. Wheeler, Curt Geyer und die USPD (Anm. 6), S. 16.
Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik. Meisenheim am Glan 1965; S. 3, 11f., 18f., 22, 52, 63f., 66.
Das Kapitel, in dem Toni Sender über ihre Reichstagsarbeit berichtet, hat im Original die Überschrift: A Member of the Reichstag in my Twenties. Die Altersangabe ist nicht korrekt. Als Toni Sender am 6. Juni 1920 MdR wurde, war sie 31 Jahre alt. Die Altersangabe wurde in der Kapitelüberschrift der vorliegenden Übersetzung weggelassen. Zwei weitere falsche Altersangaben (Originalausgabe S. 25, 204) wurden im vorliegenden Text korrigiert bzw. weggelassen.
Frauen gegen den Krieg (Anm. 5), S. 272.
Gabriele Bremme, Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den Einfluß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament. Göttingen 1956, S. 131.
»Bildet die deutsche Volksfront! Für Frieden, Freiheit und Brot! Aufruf an das deutsche Volk«, in: Der deutsche antifaschistische Widerstand 1933–1945. 2. Aufl., Frankfurt 1979.
Nachruf auf Toni Sender in der New York Times (June 27, 1964).
Veröffentlichte u.a.: Das Antlitz der britischen Arbeiterpartei, mit einer historischen Einleitung von G.D.H. Cole. Berlin 1929 (engl. Ü. 1929); The International Secretariat, a great experiment in international Administration. Washington 1945. Vgl.: Österreicher der Gegenwart. Bearb. v.R. Teichl. Wien 1959.
Bei den nichtsozialistischen Parteien war das Verhältnis genau umgekehrt. Dabei spielte sicher mit eine Rolle, daß in diesen Parteien zahlreiche Frauen aus der bürgerlichen Frauenbewegung vertreten waren; diese Bewegung war in ihren Anfängen entscheidend von der Bemühung geprägt, ledigen Frauen Berufsmöglichkeiten zu schaffen, während man an der höchsten Bestimmung der Frau als Ehefrau und Mutter festhielt.
Ausführlich zu Bebel, Kautsky und Liebknecht: Heinz Niggemann, Emanzipation zwischen Sozialismus und Feminismus. Die sozialdemokratische Frauenbewegung im Kaiserreich. Diss. Bochum 1979, S. 345ff.
Zitiert nach Niggemann (Anm. 18), S. 342 (Frauenkonferenz 1908).
Auch später legte Toni Sender auf ihre äußere Erscheinung größten Wert, wie die Fotos aus den USA zeigen.
Vgl. Monika Israel (Einleitung zur Neuausgabe, Münster 1977) und das Nachwort Iring Fetschers in: Alexandra Kollontai, Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. Herausgegeben und mit einem Nachwort von I.F., Berlin 1977.
Lily Braun, Frauenarbeit und Hauswirtschaft. Berlin 1901; Entgegnung darauf von Clara Zetkin in der Gleichheit, Nr. 13, 14, 15, 16 (1901). Erwiderungen von Oda Olberg, Emma Ihrer, Wally Zepler auf einen Beitrag Edmund Fischers, in dem er die »natürlichen« Aufgaben der Frau in der Familie sah: Sozialistische Monatshefte 1905f. Ebenso: Clara Zetkin, Sozialdemokratie und Volkserziehung. Referat, abgedruckt in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906. Berlin 1906. Auszüge aus den Beiträgen Lily Brauns, Wally Zeplers, Clara Zetkins und den vollständigen Beitrag von Emma Ihrer in: Frauenarbeit und Beruf. Hg. und eingel. von Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt 1979 = Die Frau in der Gesellschaft – Frühe Texte (Fischer Taschenbuch 2046).
Vorspann zu: Berufsbild Parlamentarierin. Sechzig Jahre Frauenwahlrecht. Von Anke Martiny, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31. März 1979).
Richtig: am 4. November 1918 in Kiel.
24. September 1922.
Die TU, gegr. 1913, gehörte seit 1916 zum Hugenberg-Konzern, einer Gruppe publizist. Unternehmen, deren Medien 1918–1933 auf allen Gebieten des Nachrichten-, Presse- und Filmwesens die nationalen und konservativen Auffassungen formulierten und widerspiegelten. 1934 wurde sie mit »Wolffs Telegraphen-Büro« (WTB) zum »Deutschen Nachrichten-Büro« (DNB) vereinigt.
Angehöriger des Exekutionskommandos des »Freicorps«, einer illegalen militärischen Organisation; wen man des »Verrats« verdächtigte, der wurde ohne Prozeß umgebracht. [Anm. Toni Senders]
Mitte Dezember 1931
Zitat lt. Völkischer Beobachter vom 24. August 1932: »Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich mit Euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre. Der Kampf gegen eine Regierung, unter der dies möglich war, unsere Pflicht!«
Die Frau in der Gesellschaft Lebensgeschichten
Herausgegeben von Gisela Brinker-Gabler
Man wird erst wissen, was die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, was sie sein sollen.
ROSA MAYREDER
In dieser Reihe »Die Frau in der Gesellschaft – Lebensgeschichten« werden Erinnerungen, Tagebücher, Briefe und autobiographische Romane von Frauen aus dem 19. und 20. Jahrhundert vorgestellt, die sich kritisch mit der gesellschaftlich fixierten Rolle der Frau auseinandersetzen und nach neuen Lebensmöglichkeiten suchten. Ihre Selbstzeugnisse berichten von den mutigen Befreiungsversuchen aus traditionellen Mustern und Abhängigkeiten, von dem mühevollen und oft schmerzhaften Prozeß der Selbstbehauptung gegen patriarchalische Vorrechte in Familie und Gesellschaft und von ihrem Willen und ihren Vorschlägen zur Veränderung. Diese Lebensgeschichten, die einen Einblick in das private Leben von Frauen aus der Zeit der ersten Emanzipationsbestrebungen und politisch-sozialen Aktivitäten geben, leisten einen wichtigen Beitrag zur Aufhebung der Geschichtslosigkeit der Frau. Sie sind im Zusammenhang zu sehen mit den parallel erscheinenden Bänden »Frühe Texte«, in denen wiederentdeckte literarische und sachliche Beiträge von Frauen sowohl aus dem bürgerlich-liberalen als auch dem sozialistischen Lager die gegenwärtige Diskussion um Status und Selbstverständnis der Frau auf die historische Tradition zurückführen.
»Nichts halb zu tun ist edler Geister Art.« Dieser Leitspruch stand über dem Leben von Toni Sender, die zur ersten Generation deutscher Politikerinnen gehörte, über die wir noch immer sehr wenig wissen - mit Ausnahme von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg. Wie sie war Toni Sender aktiv in der sozialistischen Bewegung tätig.
Ihre Lebensgeschichte weist Toni Sender als eine ungewöhnlich mutige und energische Persönlichkeit aus. Schon mit sechzehn befreite sie sich aus der Abhängigkeit ihres wohlhabenden Elternhauses und engagierte sich bald in der Arbeiterbewegung, seit 1910 in Paris. Nach dem Kriegsausbruch kehrte sie nach Deutschland zurück, agitierte gegen die Kriegspolitik, nahm 1915 an dem internationalen Antikriegskongreß der sozialistischen Frauen in Bern teil, trat 1917 der USPD bei, wurde 1919 Mitglied des Frankfurter Stadtrates und zog schließlich 1920 als Abgeordnete in den deutschen Reichstag ein, in dem sie eine der aktivsten Frauen des sozialdemokratischen Flügels war und dem sie bis 1933 ununterbrochen angehörte. Obwohl sie bereits sehr früh »auf der Liste« der Nazis stand, nutzte sie unerschrocken weiter jede Gelegenheit, vor den »neuen Barbaren« zu warnen, bis sie im Frühjahr 1933 fliehen mußte und über die Tschechoslowakei und Belgien nach Amerika gelangte. Auch im Exil war sie weiter politisch aktiv – im Kampf gegen den Faschismus und Krieg, in der Gewerkschaftsbewegung und seit 1949 als Vertreterin des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften bei den Vereinten Nationen. Ziele, für die sie sich einsetzte, waren u.a.: freie Handelsbeziehungen, wirtschaftliche Einheit Europas, Vollbeschäftigung, allgemeine international kontrollierte Abrüstung, eine Untersuchung der Zwangsarbeit in kommunistischen Ländern und die Menschenrechte.
Diese sehr lesbar und flüssig geschriebene Autobiographie, die sich nie in Nebensächlichkeiten verliert, ist ein ebenso spannender wie informativer Bericht über das turbulente politische Leben in der Weimarer Republik aus der Sicht einer engagierten Frau, die sich auf einem Gebiet profilierte, das auch heute noch nicht als selbstverständliche »Frauensache« gilt.
›Autobiographie einer deutschen Rebellin‹, 1939 in englischer Sprache in New York erschienen und natürlich im Zuammenhang mit Toni Senders Aktivitäten gegen den Faschismus zu sehen, erscheint hiermit erstmals in deutscher Sprache mit einer Einleitung, Textkommentaren, zahlreichen Abbildungen und einem ausführlichen Anhang versehen.
Außerdem sind erschienen: Gertrud Pfister (Hg.) ›Frau und Sport‹ (Bd. 2052); Eva Rieger (Hg.) ›Frau und Musik‹ (Bd. 2257); Maria Wagner (Hg.) ›Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten‹ (Bd. 2051). In Vorbereitung sind folgende Bände: ›Frau und Sexualität‹, ›Frauenemanzipation und Sozialdemokratie‹, ›Frau und Gewerkschaft‹ und ›Rahel Sanzara. Eine Biographie‹.
Toni Sender
Erinnerungsbücher interessieren als Selbstzeugnisse einer bedeutenden Persönlichkeit oder als Dokumente des Zeitgeschehens. Auf vorliegende Autobiographie trifft beides zu. Sie schildert die Entwicklung eines Mädchens aus jüdisch-bürgerlicher Familie zur kämpferischen Sozialistin und gibt einen Bericht über die revolutionäre Situation während des Ersten Weltkriegs und das turbulente politische Geschehen in der Weimarer Republik aus der Sicht einer der engagierten deutschen Politikerinnen jener Zeit.
Toni Sender gehörte seit der Jahrhundertwende der sozialistischen Bewegung an, war 1918/1919 eine der führenden Persönlichkeiten in der Frankfurter Rätebewegung und von 1920 bis 1933 Mitglied des Deutschen Reichstags, zunächst als Abgeordnete der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), später der SPD. Toni Senders Schilderungen der historischen Ereignisse sind um so wertvoller, als die Geschichte der USPD schlecht dokumentiert ist und auch kaum Erinnerungswerke von führenden Persönlichkeiten der linken Sozialdemokratie vorliegen[1]. Was aber Toni Senders Autobiographie über die Aufzeichnung historischer Ereignisse hinaus zu einer so spannenden Lektüre macht, ist die persönlich gefärbte Schilderung und Beurteilung der Ereignisse und Kämpfe, die Beschreibung der Atmosphäre und des politischen Hintergrunds jener Tage sowie ihre pointierte Charakterisierung bedeutender politischer Persönlichkeiten.
Toni Sender mußte Deutschland 1933 aus rassischen und politischen Gründen verlassen. Ihre Autobiographie erschien 1939 in englischer Sprache in einem New Yorker Verlag. Das einzige bisher veröffentlichte Erinnerungsbuch einer »radikalen« Sozialdemokratin wird hier zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt.
»Ich muß als Kind zu Hause sehr verschlossen gewesen sein«, mit diesen Worten charakterisiert die »Rebellin« Toni Sender ihre frühen Jahre im Elternhaus. Sidonie Zippora Sender, so lautete ihr voller Name, den sie später zu Tony bzw. Toni Senderabkürzte[2], wurde am 29. November 1888 als Tochter des Kaufmanns Moritz Sender und seiner Ehefrau Marie, geborene Dreifuß, in Biebrich am Rhein geboren. Die Familie war strenggläubig; der Vater stand später der jüdischen Gemeinde in Biebrich vor[3]. Den Kindern in der Familie Sender wurde absoluter Gehorsam und strengste Disziplin abverlangt. Obwohl Toni Sender nicht an den guten Absichten der Eltern zweifelte, lebte sie in ständiger innerer Auflehnung und wurde in der Familie zur Außenseiterin. Tatsächlich muß sie ein sehr energisches und früh nach Selbständigkeit drängendes Mädchen gewesen sein; denn bereits mit 13 Jahren, nach Abschluß der Höheren Töchterschule in Biebrich, gelang es ihr, Elternhaus und Heimatstadt zu verlassen. Ihrem Wunsch entsprechend durfte sie im nahe gelegenen Frankfurt die zweijährige Handelsschule besuchen.
Geburtsurkunde Toni Senders (Standesamt Wiesbaden-Biebrich)
Die folgenden Jahre in der Mainmetropole waren bestimmt durch eine nach Abschluß der Handelsschule begonnene ernüchternde Berufstätigkeit, unstillbaren Wissens- und Bildungsdrang, Beginn der Arbeit in der Büroangestellten-Gewerkschaft, die empörende Erfahrung brutaler Polizei-Einsätze gegen Streikende (Frankfurter »Blutnacht«) und schließlich den Eintritt in die Sozialdemokratische Partei. Unter dem Titel »So wurde ich Sozialistin« veröffentlichte Toni Sender 1924 in der Frankfurter Volksstimme ein Resümee jener Jahre. Darin heißt es: »Frankfurt und die dortige sozialistische Bewegung werden mir immer nah und wertvoll bleiben, wohin das Schicksal mich in Zukunft auch werfen mag. Inniger verbunden als meine engere Heimat, denn in Frankfurt verlebte ich nicht nur die entscheidenden Entwicklungsjahre, dort bekam auch mein Leben seine für die ganze Zukunft bestimmende Wende[4].«
Eltern und Angehörige Toni Senders standen ihrer Lebensweise völlig verständnislos gegenüber. Zunächst waren sie gegen ihre Berufstätigkeit; denn noch immer galt Erwerbsarbeit als »nicht standesgemäß« für ein Mädchen aus bürgerlichem Haus. Vollends aber schockierte die traditionell unpolitische Familie das politische, dazu noch sozialistische Engagement der Tochter. Um den ständigen Auseinandersetzungen mit den Angehörigen zu entgehen, nutzte Toni Sender eine günstige berufliche Chance – die französische Niederlassung eines deutschen Metallkonzerns suchte eine Fremdsprachensekretärin – und ging nach Paris.
Dort trat sie sofort der französischen sozialistischen Partei (SFIO) bei, lernte die führenden französischen Sozialisten kennen und war besonders in der Frauenagitation tätig. Trotz harter Arbeit in Beruf und Partei waren es für sie unbeschwerte Jahre, in denen sie auch noch Zeit fand, mit ihren Freunden das Leben in Paris zu genießen. Der Erste Weltkrieg zwang sie, nach Deutschland zurückzukehren.
Für die überzeugte Internationalistin Toni Sender war es eine bittere Enttäuschung, daß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 4. August 1914 für die Kriegskredite stimmte. Sie erwog, aus der Partei auszutreten. Aber erneut waren es Frankfurt und die dortige sozialistische Bewegung, die eine neue Wende bewirkten.
Sie trat in Kontakt mit der innerparteilichen Opposition gegen die Kriegspolitik der SPD und lernte Robert Dißmann kennen, einen der führenden Oppositionellen im südwestdeutschen Raum. Beide waren in den folgenden Jahren in der politischen und gewerkschaftlichen Arbeit wie auch im persönlichen Leben eng verbunden.
Anfang 1915 nahm Toni Sender an der ersten sozialistischen Antikriegskonferenz teil: »Frauen waren die ersten, die einen so wagemutigen Versuch unternahmen.« (S. 77) Gemeint ist die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz in Bern vom 26. bis 28. März 1915[5]. Clara Zetkin, die wesentlichen Anteil am Zustandekommen dieser Konferenz hatte, wurde infolge dieser Aktion am 29. Juli verhaftet. Toni Sender gelang es, trotz fortgesetzter Untergrundarbeit gegen den Krieg, einer Verhaftung zu entgehen.
Die verschiedenen oppositionellen Gruppen in der SPD schlossen sich Ostern 1917 in Gotha zu einer neuen Partei zusammen, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Zu den Mitgliedern zählten u.a. Haase, Kautsky, Ledebour, Zetkin und Eisner. Die USPD war in der folgenden Zeit nicht nur eine Dachorganisation der Kriegsgegner, sondern entwickelte sich zu einer Alternativorganisation zur SPD (jetzt Mehrheitssozialisten genannt). Gegen Bürokratisierung und Zentralisierung der SPD gab sie sich eine weitgehend dezentralisierte und demokratische Organisationsstruktur und erwies sich »sowohl auf innenpolitischem wie internationalem Felde als eine militante und sogar revolutionäre Partei«[6].
Toni Sender gehörte der USPD vom Tag der Parteigründung bis zum Zusammenschluß von USPD und SPD im Jahre 1922 an. Die politischen Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang kurz zu skizzieren. Die Novemberrevolution 1918 kam für die USPD nicht unerwartet. Bereits im September war auf einer Reichskonferenz die revolutionäre Entwicklung für den kommenden Winter vorausgesagt worden. Am 29. Oktober verhinderten Matrosen in Wilhelmshaven und kurz darauf in Kiel das Auslaufen der Hochseeflotte. Am 3. November kam es in Kiel zum blutigen Zusammenstoß von Matrosen und Militär, einen Tag später bildeten die Matrosen die ersten Soldatenräte der Revolution. Die Bewegung breitete sich schnell aus. Am Abend des 7. November erschienen die ersten Matrosen in Frankfurt. Eine dramatische Entwicklung innerhalb der nächsten 24 Stunden führte schließlich auch in Frankfurt zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten.
Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatte die Frankfurter USPD, die sich unter der Führung von Robert Dißmann und Toni Sender zu einer aktiv revolutionären Gruppe entwickelte. Da in Frankfurt die SPD der USPD zahlenmäßig überlegen war, entschlossen sich die Unabhängigen Sozialisten zum Kompromiß mit den Mehrheitssozialisten im entscheidenden Gremium, der Exekutive des Arbeiterrats. Ein Jahr lang, bis zum November 1919, konnte sich die USPD-SPD-Koalition im Frankfurter Arbeiterrat halten[7].
Anders verlief die Entwicklung auf nationaler Ebene. Zunächst kam es ebenfalls zu einer Koalition der Mehrheitssozialisten und Unabhängigen Sozialisten. Beide Parteien stellten je drei Vertreter für den Rat der Volksbeauftragten, die politische Spitze des Reichs. Aber die Abneigung vieler USPD-Mitglieder gegen die Kooperation mit der SPD auf höchster Ebene (im Gegensatz zur örtlichen Zusammenarbeit) und die wachsende Entfremdung zwischen den Koalitionspartnern machten diesem Bündnis nach knapp zwei Monaten, Ende Dezember 1918, ein Ende.
Die zentrale Frage in diesen Monaten war: Rätesystem oder/und Verfassunggebende Nationalversammlung. Die SPD-Führung wünschte sich möglichst schnell die Abdankung der örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte zugunsten demokratisch gewählter Gemeinde- und Länderparlamente und einer Verfassunggebenden Versammlung. Die USPD war in dieser Frage gespalten. Der rechte Flügel war für eine Kombination Rätesystem und Parlamentarismus, wollte aber den Wahltermin zur Verfassunggebenden Versammlung hinausschieben. Der linke Flügel erklärte sich überhaupt gegen eine Einberufung der Versammlung; Arbeiter- und Soldatenräte sollten die Kontrolle über Regierung und Industrie übernehmen und das Reich in eine sozialistische Gesellschaftsordnung hinüberführen.
Mitte Dezember 1919 entschied sich jedoch die in Berlin tagende Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte für die Wahlen zur Nationalversammlung bereits am 19. Januar. Als Anfang Januar ein linker Aufstandsversuch brutal von Regierungstruppen niedergeschlagen wurde (Luxemburg und Liebknecht wurden ermordet), bedeutete dies einen schweren Schlag für die revolutionäre Entwicklung und besiegelte endgültig die Spaltung des rechten und linken Flügels der Arbeiterbewegung.
Die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Januar 1919 ergaben keine sozialistische Mehrheit; die SPD erreichte 37,9 %, die USPD 7,6 %. Die SPD bildete eine Koalition mit Demokraten und Zentrum. Anderthalb Jahre später, bei den Wahlen zum ersten deutschen Reichstag im Juni 1920, fiel der Stimmanteil der SPD auf 21,6 %. Dieses Ergebnis war Ausdruck der Enttäuschung vieler ehemaliger SPD-Wähler über die Bereitschaft der SPD, mit den Institutionen des alten Regimes zusammenzuarbeiten (Armee, Bürokratie und Industrie) und sich zur Unterdrückung von Protest und Unzufriedenheit vor und nach dem Militärputsch vom März 1920 (Kapp-Putsch) der Armee und des Freicorps zu bedienen. Die radikale Alternative zur SPD, die USPD, konnte ihren Stimmanteil auf 18,8 % erhöhen. Ihr Programm hatte inzwischen an Prägnanz gewonnen. Im Dezember 1919 hatte sich der Parteitag der USPD für das Ziel der Diktatur des Proletariats, verwirklicht durch ein Rätesystem, entschieden.
Toni Sender hatte in dieser Frage bereits auf dem Parteitag im März 1919 klar Stellung bezogen und sich zum Rätesystem bekannt. Es war ihr »offizieller Eintritt in die nationale Szene der deutschen Politik« (S. 142). Seit Anfang 1919 widmete sie sich ausschließlich politischer und journalistischer Arbeit. Ihre gut dotierte Position als Büroleiterin bei einem Frankfurter Unternehmen hatte sie aufgegeben, um in die Redaktion des neu gegründeten USPD-Organs für Südwestdeutschland, Volksrecht, überzuwechseln. Im März 1919 wurde sie als USPD-Vertreterin Frankfurter Stadtverordnete. 1920 kandidierte sie »an der Spitze« der nationalen Liste ihrer Partei für den Reichstag. Diese Position verdankte sie innerparteilichen Flügelkämpfen um die Spitzenstellung; sie selbst versuchte stets, zwischen den Flügeln ihre politische Eigenständigkeit zu wahren (S. 179). Nach dem großen Erfolg ihrer Partei bei den Reichstagswahlen im Juni 1920 konnte sie gemeinsam mit 80 Parteikollegen – darunter acht weiteren weiblichen Abgeordneten[8] – in den Reichstag einziehen.
Einige Monate später war von der »vielversprechenden jungen Partei« wenig übrig. Das Problem der Internationale führte zur Parteispaltung. Die Mehrheit der USPD – 45 % – stimmte im Oktober 1920 für den Anschluß an die Kommunistische Internationale, die im März 1919 in Moskau gegründet worden war. Etwa 40 %, zu denen auch Toni Sender gehörte, waren unter den von Moskau gestellten 21 Bedingungen nicht zu diesem Schritt bereit. Die restlichen 15 % blieben unentschieden[9]. Der »Spaltung und Schwächung der einzigen realistischen und unabhängigen revolutionären Partei in Deutschland«, wie Toni Sender schreibt (S. 171), folgte nun der mühsame Neuaufbau. Als sich 1922 USPD und SPD zusammenschlossen, war dies erneut eine Entwicklung, die Toni Sender nicht befürwortete. Ihrer Meinung nach war der Zusammenschluß verfrüht; die Programme beider Parteien stimmten noch zu wenig überein. Aber sie akzeptierte den Mehrheitsbeschluß für die Vereinigung. In der SPD stand Toni Sender fortan dem linken Parteiflügel nahe, der die »opportunistische« Koalitionspolitik der SPD ablehnte[10].
Im Reichstag[11] war Toni Sender bis 1933 Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses, ebenso saß sie in den Ausschüssen für Wirtschafts- bzw. Sozialpolitik. Ziele, für die sie sich einsetzte, waren unter anderem: freie Handelsbeziehungen, wirtschaftliche Einheit Europas, allgemeine internationale, kontrollierte Abrüstung; in diesem Zusammenhang lehnte sie auch jede Dienstverpflichtung von Frauen im Kriegsfall ab[12].
Der Frauenanteil im deutschen Reichstag – die Revolution 1918 hatte den Frauen das allgemeine, gleiche, aktive und passive Wahlrecht gebracht – lag in der Weimarer Republik zwischen 9,6 % (1919) und – als niedrigstem Anteil – 5,7 % (1924)[13]. Anders als Toni Sender konzentrierten sich viele weibliche Abgeordnete auf die Familien- und Sozialpolitik. Das war einmal dadurch bedingt, daß – vor allem Anfang der zwanziger Jahre – die weiblichen Abgeordneten überwiegend aus dem Lehrerinnen- oder Hausfrauenberuf kamen. Nur wenige unter ihnen waren in der Partei- und Gewerkschaftsarbeit geschult. Entsprechend ihrem bisherigen Wirkungsbereich hielten sie sich vor allem auf dem Gebiet der Familien- und Sozialpolitik für kompetent. Darüber hinaus fühlten sich nicht wenige unter ihnen gemäß einer verinnerlichten Weiblichkeitsideologie ausschließlich zum »Mütterlich-Sozialen« berufen.
Tatsächlich bestand aber auch auf seiten vieler männlicher Abgeordneter ein Interesse, die Aktivitäten der Frauen auf dem Gebiet der sozialen Arbeit zu binden. Das äußerte sich unter anderem darin, daß man die Frauen auf diesem Gebiet in ihrer Expertenrolle bestätigte. Auf diese Weise hielt man den durch den Fraueneinzug ins Parlament bewirkten »Schaden« für die Männer – in bezug auf Parteiämter und Mandate – so gering wie möglich. Daher konnten die weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik zwar insgesamt wichtige Leistungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik, der Wohlfahrt vorweisen, aber es gelang ihnen weder auf dem linken noch rechten Flügel in den Bereich politischer Macht vorzudringen. Parteien und Parlamente konnten sich weiterhin erlauben, Frauen als eine Minorität zu behandeln, der man mit kleinen Reformen gefällig war.
Toni Sender schreibt über ihre Erfahrungen als Frau im Parlament: »Eine Frau muß größere Anstrengungen unternehmen, muß mehr Tüchtigkeit beweisen als ein Mann, um als ebenbürtig anerkannt zu werden. Sobald ihre Fähigkeiten jedoch erkannt und anerkannt werden, spielt die Geschlechtszugehörigkeit keine Rolle mehr.« (S. 221) Es hängt sicher mit Toni Senders jahrelanger Parteiroutine und ihrer eigenen Arbeits- und Lebensform zusammen, daß sie sich mit solcher Praxis »gnädiger« Anerkennung nicht kritischer auseinandersetzte.
Toni Sender würdigt in ihrer Autobiographie die Arbeit der weiblichen Reichstagsmitglieder, geht aber kaum auf einzelne Politikerinnen ein. Von ihren USPD- bzw. SPD-Kolleginnen erwähnt sie einzig Louise Zietz, der sie in vieler Hinsicht sehr nahestand. Mit ihr teilte sie die Überzeugung, daß Frauen in allen politischen Bereichen mitarbeiten sollten. Rosa Luxemburg wird mehrmals kurz erwähnt. Über Clara Zetkin schreibt sie ausführlicher im Zusammenhang mit der Antikriegskonferenz in Bern; daß beide seit 1920 gemeinsam im Reichstag saßen, Clara Zetkin allerdings als KPD-Abgeordnete, erwähnt Toni Sender nicht. Hier mag mit eine Rolle gespielt haben, daß Toni Sender während des amerikanischen Exils eine entschieden antikommunistische Haltung entwickelte, die sich insgesamt auf die Autobiographie auswirkte.
Toni Sender blieb neben ihrer Reichstagstätigkeit noch bis 1924 Frankfurter Stadtverordnete. Im November 1927 übernahm sie die Leitung der SPD-Zeitung Frauenwelt. Am wichtigsten jedoch wurde für sie in den zwanziger Jahren die Arbeit in der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialistischen Internationale. Mitverantwortlich dafür mag ihre Enttäuschung über die nationale politische Entwicklung gewesen sein. Von 1920 bis 1933 gab Toni Sender die Betriebsräte-Zeitung der Metallarbeiter-Gewerkschaft heraus. Die »Eiserne Internationale« (Internationale der Metallarbeiter-Gewerkschaft) wurde ihre »zweite Heimat«.
In den zwanziger Jahren unternahm Toni Sender zahlreiche Auslandsreisen, die überwiegend mit ihrer gewerkschaftlichen und politischen Arbeit zusammenhingen. Hinzu kam, daß Toni Sender sehr gerne unterwegs war und es zu den Grundsätzen der überzeugten Internationalistin gehörte, mindestens einmal jährlich ins Ausland zu reisen. Sie nahm an allen Kongressen der Wiener Internationale bzw. Sozialistischen Arbeiter-Internationale teil und an fast allen Tagungen der Internationalen Metallarbeiter-Gewerkschaft und des Internationalen Gewerkschaftsbundes.
Nach dem Beginn der Wirtschaftskrise 1929 und dem Sturz des Kabinetts Müller im Frühjahr 1930, der letzten parlamentarisch legitimierten Regierung der Weimarer Republik, brachten die Reichstagswahlen im September 1930 »einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte«. Die Nazis errangen ihren ersten spektakulären Erfolg und zogen mit 107 Abgeordneten als zweitstärkste Partei in den Reichstag. Toni Sender machte bald darauf persönlich die Erfahrung: »Die aktiven Gegner des Faschismus in Deutschland waren vogelfrei, lange bevor die Nazis die Macht ergriffen.« (S. 262) Mutig nutzte sie jede Gelegenheit, auf öffentlichen Veranstaltungen und Wahlversammlungen – bis 1933 folgten noch vier Reichstagswahlen – vor den »neuen Barbaren« zu warnen. 1932, im bislang stürmischsten Jahr, stellte sie fest: »Unser Leben glich immer mehr einem Tollhaus.« (S. 257) Kurz nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, für viele Gegner des Regimes das Aufbruchssignal, entschloß sich Toni Sender zur Flucht. Am 5. März verließ sie Deutschland und ging über die Tschechoslowakei, Belgien 1935 ins amerikanische Exil. An dieser Stelle endet ihre Lebensbeschreibung.
Im belgischen und später amerikanischen Exil setzte Toni Sender ihre journalistische und politische Tätigkeit fort. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus blieb eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Sie gehörte zu den Unterzeichnern des Aufrufs zur Volksfront gegen Faschismus und Krieg (1936), an dem sich Sozialdemokraten, Kommunisten, Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beteiligten[14]. Auf Vortragsreisen durch die Vereinigten Staaten berichtete sie über die Entwicklung in Deutschland und Europa. Sie arbeitete im Exekutivkomitee der Sozialistischen Demokratischen Emigrantengruppe, »Association of Free Germans, Inc.« (vorher: »American Council for the Liberation of Germany from Nazism«). Die Veröffentlichung ihrer Autobiographie gehört ebenfalls in den Zusammenhang ihrer Widerstandsarbeit. Über Erfolg und Wirkung ihres Buches war sie vermutlich enttäuscht. Im Gegensatz zu den Erinnerungen der russischen Politikerin Angelika Balabanova »My Life as a Rebel« (Toni Senders Buchtitel scheint darauf anzuspielen), die ein Jahr zuvor, 1938, in New York und schon 1927 in Berlin erschienen waren, brachte es Toni Senders Autobiographie nur auf eine englische Lizenzausgabe (1945).
Toni Senders Wohnsitz in den USA war zunächst Washington. 1941 zog sie nach New York, wo sie bis 1944 als Direktorin für europäische Arbeitsforschung im Office of Strategic Services (OSS) arbeitete. In dieser Funktion schrieb sie Berichte über die Arbeitsverhältnisse und die Lage der Arbeiter in Deutschland und einigen besetzten Staaten sowie über die sozialistische Emigration und stellte eine Liste »zuverlässiger« Informationsquellen in Deutschland zusammen. 1943 erhielt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ab 1944 war sie als Wirtschaftsspezialistin bei der »United Nations Relief and Rehabilitation Administration« tätig.
Ende 1947 kam Toni Sender nach Europa, um an einer Tagung der Menschenrechtskommission in Genf teilzunehmen. Sie benutzte diese Gelegenheit zu einem kurzen Abstecher nach Frankfurt; es war ihr erster Nachkriegsbesuch dort. Auf ihre Mitteilung hin, daß die Amerikaner die Schulkinder-Speisung in Deutschland einstellen wollten, konnte in Frankfurt eine Dokumentation zusammengestellt werden, die die Fortsetzung der Schulspeisung bis Anfang der fünfziger Jahre bewirkte.
Was Toni Senders politische Zielsetzung im amerikanischen Exil betrifft, so läßt sie sich – wie in der Weimarer Zeit – weder traditionell links noch rechts einordnen. Offenkundig ist, wie bereits erwähnt, ihr Antikommunismus, der auch in ihrer Autobiographie zum Ausdruck kommt. Er läßt sich in dieser Schärfe nicht durchweg auf die jüngere Toni Sender übertragen. Eine positive Haltung gegenüber dem »revolutionären Rußland« zeigt noch ihre Rede »Die Frauen und das Rätesystem« (1919). Ihre kritischere Einstellung verstärkte sich anläßlich der Spaltung der USPD (1920), später dann in den USA. Mitverantwortlich dafür waren sicher zum einen die Exilsituation, aber vor allem die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion unter der Herrschaft Stalins und schließlich Informationen über Zwangsarbeit in kommunistischen Ländern, deren Untersuchung sie als Gewerkschaftsbeauftragte forderte.
Seit 1947 war Toni Sender Vertreterin (Consultant) der »American Federation of Labour« beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen und seit 1949 – beim selben Gremium – Vertreterin des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften, einer Gegengründung zum (kommunistischen) Weltgewerkschaftsbund. Über sie und ihre Tätigkeit dort schrieb die New York Times:
Toni Sender, Juni 1939
»Sie war ein vertrauter Anblick bei den Vereinten Nationen. Aufgrund ihres politischen Hintergrunds war sie eine großartige Rednerin. Dabei war sie ganz Spitze und Wohlgeruch – trotz des immer präsenten Aktenkoffers. Unsentimental, wie sie war, aber sanft, leidenschaftlich freiheitsliebend, aber herzlich mit Freunden, liebte es Miss Sender – die vor dem Wirtschafts- und Sozialrat (der Vereinten Nationen) sprechen konnte, weil der Internationale Bund Freier Gewerkschaften eine der neun dort zugelassenen regierungsunabhängigen Organisationen war – mit den Kommunisten Sticheleien auszutauschen. Sie erinnerte sich voller Genugtuung daran, wie sie während der Ratssitzung 1951 die polnischen und sowjetischen Delegierten fast zum Fluchen brachte. Sie verlangte eine Untersuchung kommunistischer Zwangsarbeit und trat für Vollbeschäftigung, die Menschenrechte und Abrüstung ein[15].«
1956 mußte Toni Sender ihre Tätigkeit als Vertreterin des Internationalen Gewerkschaftsbundes aufgeben. Sie litt an der Parkinsonschen Krankheit.
Im amerikanischen Exil hatte Toni Sender mit zahlreichen Parteigenossen und ehemaligen Reichstagskollegen Kontakt. Eine enge freundschaftliche Beziehung bestand zu Egon F. Ranshofen-Wertheimer, der beim Völkerbund in Genf und später, während des Krieges, in Washington und New York tätig war[16]. Zu ihrem Bekanntenkreis in New York gehörte nach Kriegsende auch Eleanor Roosevelt, die Witwe des amerikanischen Präsidenten, UNO-Delegierte und von 1947–51 Vorsitzende der UN-Kommission für Menschenrechte. In New York lebten ebenfalls mit ihren Familien die Geschwister Toni Senders, Dr. Benno Sender und Jenny Fink, in London dagegen Rachel Kormis. Toni Sender beschäftigte sich in den letzten Jahren auch mit der orthodox-jüdischen Gedankenwelt; während ihrer Reichstagsjahre hatte sie sich als Dissidentin bezeichnet. Sie starb am 26. Juni 1964 an den Folgen eines Schlaganfalls.
Toni Sender im Gespräch mit Eleanor Roosevelt
Toni Sender, so wie wir sie in ihrer Autobiographie erleben, war revolutionäre Kämpferin, Praktikerin – eine Frau, die ständig aktiv war. Ihr Engagement läßt danach fragen, wie sich solche politisch-revolutionäre Tätigkeit auf das persönliche Leben von Frauen auswirkt. Denn die Gesetze und Formen politischer Arbeit waren – und sind bis heute – auf die männliche Lebenssituation zugeschnitten.
Von den im Deutschen Reichstag vertretenen Frauen waren etwa 58 % verheiratet oder verwitwet. In SPD und KPD war die Zahl der verheirateten Frauen insgesamt doppelt so hoch wie die der unverheirateten[17]. Toni Sender hatte sich nach eigener Aussage schon früh entschlossen, nicht zu heiraten. Später erklärte sie: »Ich glaube … daß wir uns entscheiden müssen, welcher Hauptaufgabe wir unser Leben widmen wollen … Wir leben in einer revolutionären Zeit. Familiäre Bindungen könnten einen früher oder später daran hindern, den Mut und die Selbstlosigkeit aufzubringen, die eine große Sache erfordern – insbesondere im Fall einer jungen Frau.« (S. 229)
Unabhängig davon, daß bei Toni Senders Entscheidung auch andere Gründe mitgespielt haben mögen, nicht zuletzt die frühe Erfahrung familiärer Auseinandersetzungen um ihre politische Arbeit – ihre Befürchtungen bestanden zu Recht. Zwar wurde in der Arbeiterbewegung vielfach das Bild der Familie als »Arbeits- und Kampfgemeinschaft« (Clara Zetkin) beschworen, in der Mann und Frau gleichberechtigt für den Sozialismus stritten, aber die private Praxis – sowohl führender Sozialdemokraten[18] wie auch »der Basis« – sah anders aus. Für Familienpflichten blieben allein die Frauen zuständig, was ihre Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte und ihre politische Mitarbeit erschwerte. Die Sozialdemokratin Käte Duncker berichtete, daß selbst dann in den Versammlungen überwiegend Männer saßen, wenn eine Frau über ein Thema sprach, das vor allem Frauen interessierte; den Vorschlag, ihre Frauen kommen zu lassen und selbst bei den Kindern zu bleiben, empfanden diese Männer als eine »furchtbare Herabwürdigung«[19]. Aber es waren auch die Frauen selbst, die am traditionellen Verständnis der Familie und Frauenrolle festhielten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Möglichkeit, mehr Zeit für die Familie und Kinder zu haben, proletarischen Frauen als Verbesserung ihrer Lage erscheinen mußte.
Toni Sender kannte diese Probleme aus ihrer Tätigkeit in der Frauenagitation. Ihre Überwindung erwartete sie von der sozialistischen Revolution. Vorrang hatten daher für sie die Organisierung der Frauen und die Stärkung der Partei. Allerdings vertraute sie nicht blindlings der ökonomisch-mechanistischen Theorie, dem Versprechen einer automatischen Befreiung der Frauen im Sozialismus. Sie erhoffte sich von der Organisierung der Frauen die Förderung ihres Selbstbewußtseins und ihrer Bereitschaft, die eigene Sache selbst in die Hand zu nehmen. (S. 302) Was die dazu notwendige Entlastung der Frauen im Haushalt und in der Kindererziehung betraf, so plädierte sie – zum Beispiel in ihrer Rede auf der Leipziger Frauenkonferenz 1919 (»Die Frauen und das Rätesystem«) – für die Einführung des Gemeinschaftsprinzips in Haushalt und Erziehung gegen alle »lieb gewordenen und treu gehegten Vorurteile« (S. 307). Daß aber die Hausarbeit und die Gestaltung eines »freundlichen und anmutigen« Heims grundsätzlich Frauenarbeit sind, stellte sie dabei nicht in Frage – möglicherweise mit Rücksicht auf konkrete »alte« Bedürfnisse.
Hervorzuheben ist ihre Forderung, gleichzeitig mit der sozialökonomischen Umwandlung auch die moralische in Angriff zu nehmen: »Und dennoch müssen wir heute bereits darangehen, aufzuräumen mit den überkommenen und fest in uns eingepflanzten bürgerlichen Moralbegriffen; wenn auch vielleicht die Frauen davon am stärksten infiziert sind, so mußten sie doch auf der anderen Seite gerade als Frau am meisten unter der bürgerlichen Doppelmoral, ihrer Unmoral leiden.« (S. 308) Konkrete Überlegungen zu Natur und Inhalt einer neuen Moral äußerte sie hier allerdings nicht.
Wie aber lebte Toni Sender selbst als persönlich unabhängige Politikerin in der Weimarer Zeit angesichts verfestigter Rollenmuster und (Doppel-)Moralvorstellungen? Sie war eine sehr gesellige Persönlichkeit, ging gern aus, interessierte sich für kulturelle Veranstaltungen, war eine leidenschaftliche Tänzerin. Sehr unternehmungslustig zeigt sie eine Fotografie aus den zwanziger Jahren: im modischen Hänger mit tief angesetztem schwingenden Rock, Perlenkette, onduliertem kurzen Haar (S. 156).[20] Ebenso war sie von eiserner Selbstdisziplin und folgte dem Ideal selbstloser Pflichterfüllung. Das bedeutete die Zurückstellung persönlicher Wünsche und sicher auch die Verdrängung menschlicher Konflikte, wie sie alte »vorrevolutionäre« Wünsche oder Phantasien hervorrufen mögen; denn sie lassen sich nicht wie gebrauchte Kleider ablegen. Was ihre Intimsphäre, was zwiespältige Gefühle oder schmerzliche Erfahrungen im Privatbereich betrifft, so wahrt Toni Sender in ihrer Autobiographie weitgehend Diskretion.
In mancher Hinsicht erscheint sie als Vertreterin jenes neuen Frauentyps, den ihre Zeitgenossin, die russische Politikerin Alexandra Kollontai, 1918 in ihrem Buch »Die neue Moral und die Arbeiterklasse« beschreibt (deutsche Ü. 1920). Für diese »neue Frau« steht die eigene Arbeit, die eigene Leistung im Lebensmittelpunkt, während die Liebe eine untergeordnetere Rolle spielt. Denn: »Verliebtsein, Leidenschaft, Liebe: das sind nur vorübergehende Perioden in ihrem Leben. Dessen wahrer Inhalt ist das ›Heilige‹, dem die neue Frau dient: die soziale Idee, die Wissenschaft, der Beruf, das Schaffen.« (S. 36) »Die Frau der Gegenwart«, schreibt Alexandra Kollontai (sie stützte sich vor allem auf zeitgenössische Literatur), »fühlt in der Ehe eine Fessel, selbst wenn keine äußere, formale Bindung besteht. Die Psyche des alten Menschen, die noch in uns lebendig ist, schafft Fesseln moralischer Natur, die selbst den äußeren Fesseln an Stärke nicht nachstehen.« (S. 33) Die Befreiung von diesen »moralischen Fesseln«, die bislang eine Vereinbarung von innerer Freiheit und Selbständigkeit mit der Liebe verhinderten, gehörte zu jener Emanzipation, wie sie durch die sozialistische Gesellschaftsordnung möglich werden sollte.
Alexandra Kollontais Überlegungen und Thesen zur Emanzipation der Frau und der Sexualmoral, die hier nicht ausführlicher dargestellt werden können[21], waren in ihrer Radikalität eine Ausnahme. Zwar hatte es auch in der deutschen sozialistischen Frauenbewegung, sogar schon um die Jahrhundertwende, Ansätze zur Problematisierung der herkömmlichen Moralvorstellungen und radikale Vorschläge zur Änderung der Familienstruktur gegeben[22], aber die Auswirkungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf die Formen der Arbeit, die Formen der menschlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau wurden nicht mit der Gründlichkeit und Schärfe aufgegriffen und diskutiert wie die politischen und wirtschaftlichen Fragen.
Hier bestehen bis heute die Schwierigkeiten, und sie betreffen auch nach wie vor das Problem, das Toni Sender in ihrer Rede »Die Frauen und das Rätesystem« behandelt, nämlich Mitbestimmung und notwendige Integration der Frauen in die politische Arbeit. Auffällig ist, daß heute im Bundesparlament – im Gegensatz zu anderen Bereichen des öffentlichen Lebens – der Frauenanteil mit knapp 8 % (1980) noch so unverändert niedrig ist wie vor 60dieser[23]