Über dieses Buch

Cover

Niemand hat den genialen Schriftsteller Homero Brocca je gesehen, seine Texte existieren nur in unendlichen Varianten. Als der junge Esteban Miró seine erste wissenschaftliche Stelle im labyrinthischen alten Fakultätsgebäude antritt, ahnt er noch nicht, dass er in einen gnadenlosen Kampf um den seltsamen Autor hineingezogen wird.

Pablo De Santis

Pablo De Santis (*1963) wurde in seiner Heimat Argentinien mit Jugendbüchern bekannt. Den internationalen Durchbruch schaffte er mit den Romanen Die Fakultät und Die Übersetzung.

Claudia Wuttke

Claudia Wuttke (*1966) studierte Soziologie, Philosophie und Komparatistik in Hamburg, Madrid und Berlin. Nach vielen Jahren als Lektorin ist sie als freiberufliche Literaturagentin und Übersetzerin tätig.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Pablo De Santis

Die Fakultät

Roman

Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Filosofía y Letras bei Ediciones Destino, Barcelona.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Originaltitel: Filosofía y Letras (1998)

© by Pablo De Santis 1998

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30613-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 30.11.2021, 22:09h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

http://www.unionsverlag.com

mail@unionsverlag.ch

E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Für Ivana

Einleitung

Von dem alten Fakultätsgebäude ist heute nur noch eine von einem Aufseher bewachte Ruine übrig. Viele der Bücher sind in Kisten, Plastiksäcken und Ähnlichem im Keller der Zentralbibliothek verstaut worden, wo sie auf erneute Klassifizierung warten. Niemand weiß genau, wie viele Bände noch unter den Trümmern liegen.

Der eine oder andere Forscher wagt es ab und an, den Palast in Ruinen zu betreten und über die verschütteten Flure und blockierten Treppen zu klettern. Über die Fahrstuhlseile gelangt man noch zu den Instituten. Als sich das Unglück ereignete, waren die Lehrstühle für klassische Philosophie und für Neurolinguistik, das altsprachliche Seminar, das Institut für Nationale Literatur sowie zwei oder drei weitere, an die ich mich nicht erinnere, noch in Betrieb: Auch in meinem Kopf ist viel verschüttet.

Ich bin nach der Katastrophe mehrfach in das Gebäude gegangen, um die Papiere zu suchen, die das Herz dieser Geschichte sind. Auch heute kehrte ich zurück, aber aus anderem Grund: Ich war entschlossen, die ersten Seiten meines Berichts hier zu schreiben. Denn nur an diesem heruntergekommenen Ort kann ich damit beginnen.

Bei meiner Ankunft bekam ich, wie jeder Besucher, eine Zugangsberechtigung (völlig absurd, da es im Gebäude niemanden mehr gibt, dem man sie zeigen könnte), den obligatorischen Mundschutz (es war gerade die Theorie in Mode, Bücherstaub schadete der Gesundheit) und eine Taschenlampe, weil es keinen Strom gab und weite Teile des Gebäudes kein Tageslicht empfangen konnten. Ich unterschrieb die unerlässlichen Dokumente, durchquerte die Halle, und meine Expedition begann. Während ich durch die Flure ging, versicherte ich mir mehrfach laut: »Da ist niemand!« Aber ich glaubte, Geräusche hinter dem Papier zu hören. Die Fantasmen wachsen im Schutz der Säulen, Mauern und Höhlen aus vergessenen Büchern, Dokumenten jeder Art, Rechnungsblöcken und Monografien, die Tausende von Studenten im Verlauf von acht Jahrzehnten angesammelt hatten.

Auf den Überresten der zentralen Treppe ging ich in den ersten Stock. Weil der Zutritt zum zweiten gesperrt war, bahnte ich mir zwischen Wänden aus verblassten Ordnern und Säcken voller Schutt meinen Weg. In diesem Teil des Gebäudes zeigte das Unheil vage Spuren von Organisation: Die Reste des Mauerwerks waren auf eigenwillige Weise in bestimmten Bereichen zusammengekehrt. Nicht, dass das zu irgendetwas dienlich gewesen wäre, der Ort war schließlich bereits vollkommen verlassen, und niemand dachte daran, ihn zu restaurieren (was sowieso unmöglich gewesen wäre) oder ihn abzureißen, aber die aufgestellten Schilder, die bunten Bänder und schwarzen Müllsäcke verliehen ihm doch eine gewisse Rationalität.

Meine Taschenlampe schreckte vor einer Armee Kakerlaken zurück. Von ferne hörte man ein Geräusch – als laufe jemand über Glasscherben –, das mich fürchten ließ, dort sei eines dieser blutrünstigen Frettchen unterwegs, die die Verantwortlichen aus Indien eingeflogen hatten, um die unkontrollierte Vermehrung der Ratten zu verhindern. Die Tür zum Institut für Nationale Literatur war nicht verschlossen. Ich stellte die Underwood 1935 auf den Schreibtisch: Das harte Klackern der Tasten ist das einzige menschliche Geräusch, das man in meiner Nähe hört.

Es kostet mich einiges, zu schreiben, und ich glaube, ich hätte in der Stunde der Wahrheit meinen Wankelmut nicht besiegt, wenn die Verantwortlichen der Fakultät mich nicht mit der Niederschrift meiner Version der Ereignisse beauftragt hätten, verbunden mit dem Versprechen ihrer Publikation im Bulletin der Gesellschaftswissenschaften. Sie wollten ihr, so sagten sie, eine komplette Ausgabe widmen.

Tagelang versuchte ich daraufhin, mein Abenteuer in Worte zu kleiden. Doch ich kam über ein paar unverständliche Zeilen nicht hinaus. Ich unternahm mehrere Anläufe, zu unterschiedlichen Zeiten, mit der Maschine oder per Hand, bis ich herausfand, dass ich nur hier damit anfangen konnte, die Wahrheit aufzuschreiben. Deswegen kehrte ich an diesen kalten, staubigen Ort der Angst zurück.

Wenn ich meinem Freund Grog von der Pilgerschaft über die Gebäudestümpfe erzähle, wird er sagen: »Nicht die Mörder, die Überlebenden sind es, die an den Ort des Verbrechens zurückkehren.«

Erster Teil

Kritik

Das Institut

Meinen ersten Arbeitstag an der Fakultät hatte ich eine Woche nach meinem dreißigsten Geburtstag. Das Gebäude im Bajo-Viertel war eine Außenstelle der Universität, die kaum noch genutzt wurde. Umgeben von den Glaspalästen der Banken, eleganten Restaurants für die Angestellten und anderen schicken Ladenlokalen, wirkte es noch verlassener und heruntergekommener. Es beherbergte noch das Musikseminar (es gab einen Konzertsaal, einen Flügel und eine Tamburinsammlung), die Verwaltungen der Institute und das Seminar für orientalische Sprachen. Die Studenten der Fakultät kamen selten, was den Eindruck erweckte, das Gebäude sei den Studien des Abwesenden vorbehalten. In einer Statistik, die ich mit der tröstenden Gewissheit zur Kenntnis nahm, dass sich unsere finstersten Prophezeiungen über den geistigen Niedergang der Jugend bestätigten, hieß es, siebzig Prozent der Studenten wüssten noch nicht einmal von der Existenz des Gebäudes.

Ich hatte – ein wenig spät, wenn ich meiner Mutter glauben darf – jenen dunklen Moment bereits durchlebt, den der Erhalt eines akademischen Grades mit sich bringt. Mit dreißig Jahren hielt ich das pergamentene Blatt in den Händen und wusste, dass die erste Jugend vorbei war und dass nun, unwiderruflich, der Ernst des Lebens auf mich wartete und von mir forderte, eine Frau und Arbeit zu finden. Schon seit meiner frühesten Kindheit hatte ich Alpträume, man würde mich zwingen, in einer Fabrik, in einer Tischlerei oder als Maurer mein Geld zu verdienen, was zur Folge hatte, dass ich den Zeitpunkt, an dem ich dem so genannten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen würde, möglichst lange hinauszögerte.

Mein materieller Bedarf war gedeckt. Ich lebte mit meiner Mutter in einer spärlich, aber komfortabel eingerichteten Wohnung, die wir uns dank ihrer Pension, die sie als ehemalige Dozentin bezog, und einigen Ersparnissen, die uns mein Vater hinterlassen hatte, leisten konnten. Trotzdem: Ich wollte ausziehen, und dafür brauchte ich Arbeit. Ich bat meine Mutter um Hilfe, ohne ihr den zweiten Teil des Plans zu verraten.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass der vollständige Name meiner Mutter in gelehrten Kreisen wohl bekannt ist: Ich spreche von der Studienprofessorin Estela Korales de Miró, deren Name sowohl auf dem Umschlag des Handbuchs der spanischen Sprache für das dritte Schuljahr als auch auf dem des Handbuchs für den Schüler aus der Provinz Buenos Aires prangt. Als Schuldirektorin verabscheute sie jede Form der Demagogie: Noch heute erinnere ich mich an die nächtlichen Übergriffe von Schülern, die mit ihren Methoden nicht einverstanden waren und Steine gegen unsere Fenster warfen. Nichts davon brachte sie von dem Weg ab, den sie sich für ihr Leben zurechtgelegt hatte. Somit konnte ich mir sicher sein, dass sie Wort halten würde, als sie versprach, mir Arbeit an der Fakultät zu besorgen.

Meine Mutter hatte während ihrer Jahre im Bildungsministerium eine Menge Freundschaften geknüpft. Einer dieser Freunde war der Professor Emiliano Conde, Direktor des Instituts für Nationale Literatur und Mitglied der Academia de Letras. Ich rief ihn an, und er gab mir einen Termin für Ende April, morgens im Institut. Zu meinem ersten Bewerbungsgespräch trug ich einen alten, etwas zu großen Anzug meines Vaters sowie meine einzige Krawatte. Im Institut angekommen, empfing mich die Bibliothekarin, eine blasse Frau mit dicken Brillengläsern, mit der Nachricht, Doktor Conde habe angerufen und ließe sich entschuldigen, aber gern würde er mich in drei Tagen erwarten. Wieder Anzug, Krawatte, polierte Schuhe. Aber auch dieses Mal erschien Doktor Conde nicht.

»Um ehrlich zu sein, er kommt nie«, sagte die Bibliothekarin. »Ich habe ihn schon seit einer ganzen Weile nicht gesehen. Ab und zu ruft er an oder schickt einen Zögling von der Akademie, um seine Post zu holen. Nicht mal in sein Büro kommt man rein, weil er niemandem den Schlüssel gibt. Seit Wochen ist dort weder gefegt noch gelüftet worden.«

Bei meinem dritten Besuch im Institut richtete mir die Bibliothekarin, die Celia hieß, von Conde aus, ich hätte den Job.

»Aber er kennt mich doch gar nicht …«

»Egal, er wird sich deinen Lebenslauf angesehen haben. Heutzutage ist ein clever geschriebener Lebenslauf eine starke Waffe.«

Ich wusste nicht, ob ein Lebenslauf eine starke Waffe war, aber ich war mir sicher, dass meine Mutter ungefähr die Schlagkraft der Roten Armee hatte. Der so lange gefürchtete Moment war eingetreten: Ich hatte Arbeit! Celia gab mir ein paar Papiere, die ich unterschreiben musste, schickte mich zur Vervollständigung weiterer Unterlagen in ein Büro im Erdgeschoss und zeigte mir hinterher die Küche am Ende des Flurs. Als wir zurückkamen, erklärte sie mir die Ordnung des Archivs.

»Mit den Karteikarten musst du gut aufpassen. Doktor Conde besteht darauf, dass jedes neue Buch mit einer kurzen Zusammenfassung katalogisiert wird.«

»Kommen viele?«

»Kein einziges. Aber man weiß ja nie.«

Das Institut für Nationale Literatur umfasste vier Räume: einen Empfangs- und Lesesaal, einen zweiten Lesesaal, einen dahinter gelegenen Raum, der für die Studenten mit spezifischen Forschungsvorhaben reserviert war, sowie das stets verschlossene Büro des Doktor Conde. Celia nannte diese Räume Empfang, Zweiter Saal, Höhle und Krypta. Die Nutzung der einzelnen Räume war nach einem streng hierarchischen Prinzip organisiert, das dem Status des jeweiligen Studenten entsprach. So arbeiteten im Empfangssaal Studenten, die man nicht kannte, im zweiten Lesesaal solche, die regelmäßig kamen oder denen man vertraute, in der Höhle saßen die Spezialisten und in der Krypta niemand. Nur Conde persönlich.

Meine erste Woche verbrachte ich damit, ein voll gestopftes Regal mit vergilbten Feuilletons aus dem letzten Jahrhundert zu sortieren. Danach machte ich es mir zur Aufgabe, Platz für einen Stapel Zeitschriften aus den Zwanzigerjahren zu finden und die ältesten Karteikarten zu erneuern, die einem regelrecht zwischen den Fingern zerbröselten, wenn man sie anfasste. Am Freitag dann verkündete Celia, man hätte ihr eine bessere Stelle angeboten: Ab sofort gehörte das Institut mir allein. In ihren Augen aber hatte sie den Blick derer, die noch einmal voll Mitleid auf das sehen, was sie zurücklassen, und glauben, ein besseres Schicksal erwarte sie.

Nachdem Celia gegangen war, hatte ich eigentlich nichts mehr zu tun. Meine Arbeitszeiten waren Montag bis Freitag, 16 bis 20 Uhr. Während dieser vier Stunden blätterte ich ausgiebig im Politikteil der Zeitung, las gelegentlich einen Roman oder löste Kreuzworträtsel. Ab und an stöberte ich in der Bibliothek nach Material für meine Doktorarbeit, einer Biografie über den Dichter und Psychiater Enzo Tacchi, der vierzig Jahre lang Arzt am Hospiz de la Merced war. Nach einem von ihm entwickelten stenografischen System war es Tacchi gelungen, die oft wirren Aussagen der Patienten zu dokumentieren. Häufig besuchte er auch Gefängnisse, um mit Mördern zu sprechen und die Form ihrer Schädel zu erforschen. Das Ergebnis waren Tausende, mit winzigen Buchstaben voll gekritzelte Karteikarten. Mir war es gelungen, einige von ihnen in Fotokopie zu erhalten, die ich geduldig übersetzte. Weil aber Tacchi seine Beobachtungen ständig nach einem anderen Prinzip zusammengetragen hatte, schritt meine Arbeit nur sehr mühsam voran.

Gestört wurde meine Ruhe nur durch gelegentliches Klopfen an der Tür. Jedes Mal dachte ich, es sei Doktor Conde, doch es kamen lediglich Studenten, die ein Buch suchten, das sie in den anderen Räumen nicht finden konnten. Eines Nachmittags dann – ich war, wie ich es mir angewöhnt hatte, lange vor dem regulären Dienstschluss schon am Zusammenräumen – kam eine große, blasse, mit einem grünen Kostüm bekleidete Frau ins Institut. Um ihren Hals trug sie einen Kettenanhänger mit ägyptischem Motiv.

»Und Celia?«, fragte sie laut, ohne zu grüßen.

»Ist nicht mehr da. Gegangen für immer«, erklärte ich mit der Genugtuung, ihr eine auf ewig gültige Absage erteilt zu haben.

»Ich will sterben.«

Mit leerem Blick ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

»Sind Sie der neue Bibliothekar?«, fragte sie schließlich, als sie ihre Enttäuschung halbwegs überwunden hatte.

»Ja.«

»Hat Celia Ihnen von unserer Abmachung erzählt?«

»Nein.«

»Gut. Auch egal. Lass mich in die Höhle. Ich muss diese Woche arbeiten.« Unvermittelt war sie zum Du übergegangen, und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sie mir einen Befehl erteilte oder weil sie Vertrauen gefasst hatte. »Den Schlüssel zu Condes Büro hast du nicht, oder?«

»Nein. Celia hatte ihn auch nicht.«

»Zu dumm, Conde würde mich hineinlassen. Wir sind seit Jahren befreundet.«

Ich öffnete die Tür zur Höhle. Die Frau gab mir die Hand.

»Professor Selva Granados.«

»Esteban Miró.«

Selva Granados fing an, stoßweise Papiere aus ihrer Nylontasche zu ziehen und sie auf dem ganzen Tisch zu verteilen.

»Was ist Ihr Gebiet?«

»Ich habe mich auf Homero Brocca spezialisiert.« Sie wirkte enttäuscht, als sie merkte, dass mir der Name nichts sagte.

»Ein großer Schriftsteller. Ein echtes Genie. Ein Solitär, ein Verfluchter. Auf der ganzen Welt gibt es nur drei Wissenschaftler, die über sein Werk forschen. Einer von ihnen ist Professor Conde, die andere bin ich.«

»Und der Dritte?«

»Ein Stümper. Sind Sie sicher, dass Conde Ihnen gegenüber Brocca nie erwähnt hat?«

»Ja.«

»Mal ehrlich …«

»Ich habe Conde noch nie gesehen. Ich arbeite erst seit kurzem hier.«

Während der ganzen Zeit, die Selva Granados hinter verschlossener Tür in der Höhle verbrachte, hörte ich sie mit sich selbst sprechen. Als sie wieder herauskam, bat sie mich, ein Buch aus der Bibliothek mit nach Hause nehmen zu dürfen. Kaum hatte ich es ihr gegeben, eilte sie ohne auf den Weg zu achten davon. Zurück blieben ein Hauch von Traurigkeit und ein paar umgestürzte Stühle.

Am nächsten Tag ging ich noch einmal die Übersetzung der Beobachtung Nr. 115 von Enzo Tacchi durch. Antonio Castelli, Häftlingsnummer 459, eingeliefert ins Gefängnis am 12. März 1880; er ist Italiener, 33 Jahre alt, von nervösem Temperament und robuster Konstitution. Seine Brust ist von Abzeichen und Medaillen bedeckt, die er aus Resten alter Hemden seiner Kumpels selbst gefertigt hat; sein Vermögen ist beträchtlich, er ist mit drei Prinzessinnen verlobt, von denen die Prinzessin María Antonia Castelli, Verwandte seines Freundes, des Richters Recobeco, seine Wünsche am besten befriedigt. Dennoch zögert er den Tag seiner Heirat hinaus, da er noch auf die Meinung seiner Freunde wartet, der Senatoren und Abgeordneten des Ehrwürdigen Nationalkongresses, sowie seines Verwandten, des Königs Macabrón.

Ein Tropfen fiel von der Decke, zerplatzte auf dem Blatt und verwischte das M von Macabrón. Ich sah nach oben und entdeckte einen Wasserfleck, der schnell größer wurde. Ich rief bei der Verwaltung an, wo man mir sagte, dass der Klempner gleich kommen würde. Er kam nicht. Auch nicht am nächsten Tag. Ich ging in das Büro des Hausmeisters, der sich jedoch wegen Krankheit einen Tag freigenommen hatte. Die Angestellten, ein dünner Mann in blauem Kittel und eine füllige Frau, die Solitär spielte, sahen sich alarmiert an und meinten, dass nun vielleicht doch kein Weg daran vorbeiführte, den Nachtwächter einzuschalten.

Nachdem ich die Institutstür (aus Furcht, jemand könnte die kostbaren Bücher stehlen) abgeschlossen hatte, ging ich in den vierten Stock. Auf den Fluren stapelten sich von Feuchtigkeit, Licht und Staub zersetzte Ordner. Auf den Rücken standen Namen und Daten aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Seit Jahren war diese Etage völlig verwaist und fungierte nur noch als Lager. Im Internen Bulletin der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Fakultät war einst ein Artikel über die Ursachen der Schließung des vierten Stocks. Wissen besetzt Raum erschienen, in dem von einem Beschluss aus dem Jahr 1957 die Rede war, laut dem alle diese Papiere verbrannt werden sollten. Weil aber die Fakultät nie über ausreichende Mittel verfügte, um die Tonnen von Papier zu verladen und ihrer endgültigen Bestimmung zuzuführen, wurden die Ordner auf immer dort belassen, und ihre Zahl wuchs täglich. Vor Jahren hatte eine Kommission die Papierstapel nach wirklich bedeutsamen Dokumenten durchforstet. Das archäologische Team, bestehend aus Studenten unter der Leitung von Professoren, hatte die Aufgabe, Material zu sammeln und es dann einer Kommission von Honoratioren zu übergeben, die die endgültige Auswahl treffen sollten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden nie veröffentlicht. Ich werde später auf die tragische Geschichte der Expedition zurückkommen.

Die kleine Wohnung des Nachtwächters war auf die Terrasse draufgebaut worden. Um sie herum lagen Berge von Kabeln, zerbrochene Flaschen und tote Tauben. Für den Fall, dass er um diese Zeit schlief, klopfte ich leise an die Tür, um ihn nicht zu wecken. Ich wusste, dass er allein lebte, aber gesehen hatte ich ihn noch nie.

Jemand sah durch den Spion. Sekundenlang herrschte Stille.

»Der Nachtwächter arbeitet nur nach einundzwanzig Uhr«, sagte eine weiche, latent abweisende Stimme.

»Ich bin vom Institut für Nationale Literatur. Ich habe ein Problem mit einem lecken Rohr.«

»Der Nachtwächter kümmert sich nicht um Leitungsschäden. Der Nachtwächter achtet darauf, dass nachts niemand eindringt.«

»An wen kann ich mich wenden?«

»An niemanden.«

»Die Bücher werden verfaulen.«

»Alle Bücher werden so enden. Das ist nicht mein Problem. Müll und Feuchtigkeit und zersetzte Bücher. Etwas anderes gibt es hier nicht. Gehen Sie an Ihren Platz zurück. Kümmern Sie sich nicht weiter darum. Hören Sie dieses Geräusch?« Ich hörte gar nichts. »Das sind die Insekten, die das Holz, den Boden, die Balken zerfressen. Hören Sie, wie das Wasser durch die Wände sickert. Eine Decke ist gerade runtergekommen.«

Die Schritte des Nachtwächters entfernten sich. Ich blickte von außen durch den Spion. Drinnen konnte ich einen Korbstuhl erkennen. Über der Lehne hingen ein altes graues Sakko und eine metallene Dienstmarke mit der Aufschrift: NACHTWÄCHTER. Auf dem Stuhl lag ein Helm mit einer Lampe vorne, wie ihn Bergarbeiter benutzen.

Als ich ins Institut zurückkam, hatte sich die Decke weiter gelöst. Das Wasser tropfte aus verschiedenen Stellen auf den mit Putz verschmierten Tisch, auf die Regale, die Bücher, den Karteikasten. Das gesamte Stockwerk stand unter Wasser. Einen Moment lang blieb ich auf dem Stuhl sitzen und sah mir die Katastrophe hilflos an.