Über dieses Buch

Cover

Als der junge Italiener Silvio Balestri 1914 nach New York auswandert, wird er von einem einzigen Gedanken beherrscht: Er will einen zweiten Turm zu Babel bauen. Als er für ein aufstrebendes Architekturbüro die undichte Stelle im Wettlauf gegen die Konkurrenz finden soll, gerät er in ein unentwirrbares Geflecht aus Intrigen.

Pablo De Santis

Pablo De Santis (*1963) wurde in seiner Heimat Argentinien mit Jugendbüchern bekannt. Den internationalen Durchbruch schaffte er mit den Romanen Die Fakultät und Die Übersetzung.

Claudia Wuttke

Claudia Wuttke (*1966) studierte Soziologie, Philosophie und Komparatistik in Hamburg, Madrid und Berlin. Nach vielen Jahren als Lektorin ist sie als freiberufliche Literaturagentin und Übersetzerin tätig.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Pablo De Santis

Die sechste Laterne

Roman

Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel La sexta lámpara bei Seix Barral, Buenos Aires.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

Originaltitel: La sexta lámpara (Buenos Aires, 2005)

© by Pablo de Santis 2005

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30614-1

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Version vom 30.11.2021, 23:20h

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Für meine Eltern, Ulises und Elvira

Noch immer herrscht vielerorts der Irrglaube, die großen Architekten wären jene, die ihr Leben dem Bauen gewidmet hätten. Wir aber verfolgen die Spuren all derer, die nach ihrem Tod lediglich Pläne und Zeichnungen zurückgelassen haben. Wir haben Jahre damit verbracht, diese verborgenen Geschichten unerfüllter Sehnsüchte ans Licht zu bringen. Wenn wir uns besonders niedergeschlagen fühlen und neue Kraft schöpfen müssen, erinnern wir uns gern an den Tag unseres größten Triumphes: jenen klirrend kalten Nachmittag, an dem wir Balestris Truhe die Treppe hinaufgetragen haben. Alles, was von dem Architekten geblieben war, befand sich in dieser Kiste.

Jahrelang hatten wir fünf – die Mitglieder der Gesellschaft für Utopische Architektur – nach Spuren des Italieners gesucht. Wir wussten, dass er in Rom geboren worden war, in New York gearbeitet hatte und in Buenos Aires gestorben war, obwohl wir sein Grab nie hatten finden können. Auch seine Witwe, Anna Caylus, konnten wir nicht ausfindig machen. Auf der letzten Seite einer Tageszeitung (in die jemand Spinat eingewickelt hatte und die wir heute eingerahmt in Ehren halten) entdeckten wir dann neben den Terminen für Ausstellungseröffnungen, Kirchenkonzerten und dem Hinweis auf einen Dia-Abend über Ägypten durch puren Zufall die Ankündigung eines Vortrages. Dante und Balestri: Bücher und Bauten, so der Titel. Diese Zeile führte uns zu Treviso, einem Italienischprofessor, der seit zwanzig Jahren in Buenos Aires lebte.

Der alte Treviso verstand es, unseren Fanatismus auszunutzen und uns gegen kleinere Geldbeträge Informationen zukommen zu lassen, die niemals eindeutig und oft sogar widersprüchlich waren. Ende der Sechzigerjahre jedoch überließ er uns nach einer Krankheit, die ihn fast einen Monat ans Bett fesselte, die Truhe. Jahrelang hatte sie unbemerkt im Keller des Hotels in der Avenida de Mayo gestanden, in dem Treviso wohnte. Jeder von uns gab seinen Teil, um dieses Vermächtnis bezahlen zu können, ohne zu wissen, ob wir einen Schatz oder einen Haufen alter Zeitungen erstanden hatten.

Schließlich öffneten wir die Truhe im Hinterzimmer unserer bescheidenen Gesellschaft. Als wir den Deckel anhoben, schlug uns der Geruch von feuchtem Papier entgegen. Aus welchen Gründen auch immer kamen jedem von uns dabei andere Erinnerungen aus weit zurückliegenden Zeiten in den Sinn: Schifffahrten auf dem Tigris, ein Haus auf dem Land oder das Versteck im hohlen Stamm eines riesig großen, umgestürzten Baumes. Aber so ist es immer: Wenn man was wiederfindet, das man jahrelang gesucht hat, erscheint einem das wie die Rückkehr in die eigene Kindheit. Schweigend betrachteten wir die Ränder des vergilbten Papiers, die Mottenlöcher und den Schimmel, der sich auf die Deckel der roten Notizhefte gelegt hatte, darauf wartend, dass einer von uns sich traute, die Dokumente zu berühren. Wir hatten die Truhe beinahe die Treppe nach oben geworfen, doch jetzt waren wir beim Anblick der Unterlagen wie gelähmt.

Irgendwann aber machte einer von uns den Anfang, und die anderen taten es ihm nach. Was wir fanden, war viel mehr, als wir erwartet hatten: Aufnahmen von Anna Caylus, Aufzeichnungen von Treviso, bei denen es sich um Übersetzungen von Worten Balestris handelte, Skizzen des Architekten, fünfzehn rote Notizhefte. Wir leerten die Truhe innerhalb einer Stunde, doch es dauerte Jahre, bis wir das gesamte Material gereinigt und katalogisiert hatten und schließlich eine Abhandlung über Balestris Leben schreiben konnten.

Um ehrlich zu sein: Einmal im Jahr, und zwar immer an dem Tag, an dem diese Truhe ihren Besitzer wechselte, holen wir die Dokumente aus dem Archiv und legen sie wieder so in die Kiste, wie wir sie vorgefunden hatten. Stumm gedenken wir dann in unserem Hinterzimmer des Moments, in dem Treviso uns dieses unerschöpfliche papierne Monument vermachte, das sich unserer Träume bemächtigt und all unsere Kraft gefordert hat. Darauf nehmen wir die Unterlagen wieder aus der Truhe, als täten wir dies zum ersten Mal.

Diese Zeremonie rettet uns davor, uns in einer falschen Intimität mit dem Architekten einzurichten. Und sie ermahnt uns: Balestri bleibt ein Unbekannter, und von seinem Turm besitzen wir nichts weiter als den Schatten eines Schattens.

1

Ende der Vierzigerjahre führte der Brand in einem Nachtklub an der Südspitze Manhattans dazu, dass zwei komplette Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht wurden und benachbarte Gebäude einen solchen Schaden nahmen, dass sie abgerissen werden mussten. Eins von den zerstörten Gebäuden war das Museum Caylus. Obwohl bereits seit 1939 geschlossen, barg es in seinem Innern, verborgen unter Schichten von Staub und Spinnweben, noch immer eine Sammlung von Modellen, die das Caylus berühmt gemacht hatten. Die zweiundfünfzig Einzelstücke aus Pappe, Holz und Papier waren dabei keine Abbilder der New Yorker Wolkenkratzer, wie es seinerzeit in den Reiseführern immer wieder gestanden hatte, sondern vielmehr handelte es sich um Modelle von Gebäuden, die niemals gebaut worden waren. Die Grundidee des Caylus war nämlich, dass eine Stadt sich nicht allein dadurch definiert, was ihren Raum sichtbar bestimmt, sondern ebenfalls durch die vereitelten Projekte und unerfüllten Träume.

Auch wenn Caylus sich, von seinen Modellen abgesehen, sonst in keiner Weise mit Architektur beschäftigte, unterhielt er doch rege Korrespondenz mit den großen Meistern seiner Zeit. Sie waren es auch, die ihm ihre Zeichnungen und Pläne überließen, die er dann in seinen winzigen Miniaturgebäuden umsetzte. Den Architekten gefiel die Vorstellung, dass, wenn ihre Entwürfe schon nicht gebaut wurden, sie so doch wenigstens in dieser Form ein Stück mehr an Realität gewannen.

Caylus baute alle seine Modelle selbst, bis auf eines, den Drachenturm, den er von einem auf orientalische Objekte spezialisierten Antiquar gekauft hatte. Gemäß den Unterlagen, die den Turm begleiteten, hatte er ursprünglich in Chinatown errichtet werden sollen. Zur Spitze hin mündete er in einem Drachenkopf mit weit geöffnetem Schlund. Die regelmäßigen Besucher des Museums lud Caylus ein, ihre Wünsche auf ein Stück Papier zu schreiben und sie dem Drachen ins Maul zu stecken.

Wie es sich für ein Museum gehört, das sich dem Unerfüllten widmete, ist auch das bedeutsamste Stück der Sammlung nie gebaut worden. Es handelt sich dabei um Zikkurat, das letzte große Projekt des italienischen Architekten Silvio Balestri. Auf den noch vorhandenen Plänen zeigt sich ein turmartiges Gebäude von rechteckigem Grundriss und terrassenförmig angelegten Stufen, die auf die Ikonografie Babels anspielen, konkret auf die Werke von Brueghel und Piranesi. Der Turm hätte gut dreihundert Meter hoch werden sollen, erreichte jedoch noch nicht mal die Höhe von Caylus’ Modellen.

Von all den Museen der Stadt war das Caylus, obwohl unter Architekten wohlbekannt, das am wenigsten frequentierte. Es gab Nachmittage, an denen nicht ein Besucher kam, und so wanderte der Hausherr allein durch seinen Skulpturenpark. Immer gab es eine Kleinigkeit zu tun: ein Fenster zu reparieren etwa, die Spinnen zu entsorgen, die ihre Netze von einem Gebäude zum nächsten spannen, oder die aus dem Maul des Drachens hervorquellenden Zettel zu entfernen.

Caylus schrieb seine Wünsche nie auf einen Zettel, um sie in den chinesischen Turm zu stecken. Er glaubte nicht an solche Sachen.

2

Silvio Balestri, der Architekt, für den das Herzstück des Museum Caylus vorbehalten war, wurde 1889 in Rom geboren. Sein Vater, ein Bildhauer, hatte versucht, sich seinen Platz im Neoklassizismus zu erobern; als er jedoch erkennen musste, dass er zu den Salons der Akademie nicht würde zugelassen werden, widmete er sich schließlich verzagt der Grabsteinkunst.

Das Unternehmen Eugenio Balestri und Söhne (so eingetragen in das städtische Handelsregister, noch bevor sein Sohn Silvio geboren worden war) erhielt Aufträge aus der gesamten Region. Dabei war der Künstler der Überzeugung, an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen: Die eine war aus Marmor, und die andere bestand aus der Familie, die ihn beauftragte. Und so schwierig die Aufgabe an dem Stein auch war – an der zweiten Front war der Kampf bedeutend härter. Nie kamen seine Kunden ohne eigene Ideen, nie beugten sie sich seinen Kriterien und seiner Erfahrung. Sie zeigten ihm Kataloge aberwitzigster Projekte: rund um die Uhr illuminierte Bauten, Wasserläufe, die den Acheron nachbildeten, und Figuren, die in der Luft zu schweben schienen. Eugenio Balestri musste diese Erwartungen auf das klassische Repertoire von Engeln und mythologischen Figuren herunterbrechen, deren symbolische Bedeutung die Familien dennoch zufriedenstellte.

Der Bildhauer hoffte, dass sein Sohn seine Arbeit fortsetzen würde, und wurde auch nicht müde, ihn in dieser Richtung zu beraten: »Wenn man keine hundertprozentige Übereinstimmung erreichen kann, fängt man besser gar nicht erst an. Das ist Marmor. Unmöglich, einen Fehler zu korrigieren.«

In einem Holzschrank, der aus fünfzig Schubladen bestand, bewahrte Eugenio Balestri die Korrespondenz mit seinen Kunden auf. Ihm schien sie wie der einzigartige Beweis dafür, was die Öffentlichkeit im neuen Jahrhundert von der Bildhauerei erwartete. »Sie wollten, dass ich ihnen versunkene Schiffe nachbaue, dass ich ihnen den letzten Paradies-Gesang aus Dantes Göttlicher Komödie in ein marmornes Buch meißle. Eine Gorgo wollten sie von mir, bei der jede Schlange aus einem anderen Stein gehauen war. Jede Spielart des Unmöglichen haben sie von mir verlangt, und hier sind die Briefe, die das belegen. Nicht ein einziges Mal aber wurde ich um etwas wahrhaft Avantgardistisches gebeten, denn niemand möchte im Namen der Geometrie in die Geschichte eingehen.«

Silvios Mutter starb an Lungenentzündung, als der Junge zehn Jahre alt war. Bei der Büste, die er zu Ehren seiner Frau anfertigte, verzichtete Eugenio Balestri auf jegliches Symbol, auf Schwerter und Engel, und entschied sich stattdessen für ein schlichtes Gesicht mit offenem Haar und geschlossenen Augen. Für Silvio war es das Schönste, was sein Vater geschaffen hatte, doch dieser maß der Arbeit keine Bedeutung bei. »Warum gefällt dir das? Nur weil es deine Mutter darstellt?«

Darauf fand Silvio keine Antwort. Vielleicht war er so bezaubert, weil die Skulptur etwas zu verbergen schien; als hätte sein Vater eine Stille in diese Arbeit gelegt, die er selbst nicht recht zu begreifen schien. Keines seiner anderen Werke nämlich schien etwas verschweigen zu wollen, und Silvio war zwischen Engeln groß geworden, die unter der Last der Körper ächzten, die sie trugen, die mit leuchtenden Fackeln voranschritten oder die Lebenden mit Schwertern bedrohten.

Auf der Suche nach neuen Motiven schickte Eugenio seinen Sohn in Kirchen und auf Friedhöfe. Er lehrte ihn, den Marmor zu schneiden und zu behauen, und mit fünfzehn war Silvio sein wichtigster Schüler.

»Vater, wäre es Ihnen nicht lieber, Ihre Werke in den Häusern der Lebenden zu sehen? In Museen oder Kirchen?«

»Alles, was wir aus der Antike und noch weiter zurückliegenden Zeiten bewahren konnten, war bereits unter der Erde begraben. Sechs der sieben Weltwunder haben wir verloren. Geblieben sind lediglich die Pyramiden, die ebenfalls Grabstätten sind. Schätze, Statuen, heilige Schriften, das alles haben wir den Toten entrissen.«

Nach den langweiligen Stunden im Lyzeum, wo Silvio in keinem Fach besonders glänzte, freute er sich auf die Arbeit an der Seite seines Vaters. Während seine Freunde durch die Stadt streunten, Frauen kennenlernten, Abenteuer erlebten, die in ihren Erzählungen noch fantastischer wurden, hörte Silvio nicht auf, die Flügel eines Engels oder das Antlitz Christi zu polieren.

3

Dank des Einflusses, den sein Vater bei der strengen Friedhofsverwaltung genoss, erhielt Silvio eine Anstellung als Inspektor für Denkmal- und Grabsteinschutz. Diese Tätigkeit erlaubte es ihm, durch das ganze Land zu reisen und so zum Experten für die Architektur der italienischen Renaissance zu avancieren. Obwohl seine Ernennung wie so oft bei einem bürokratischen Posten nicht viel mehr von ihm verlangte, als möglichst unbemerkt zu kommen und wieder zu verschwinden, nahm Silvio seine Arbeit sehr ernst. Gutachten, die seit Jahren in den Archiven geschlummert hatten und die er nun akribisch sichtete, waren die Grundlage für seine Reisen in den Zweite-Klasse-Abteilen der Eisenbahn. Bei sich hatte er eine kleine Reisetasche und ein Fahrrad.

Sein Vater hatte sich ein etwas wichtigeres Betätigungsfeld für ihn vorgestellt: die Mausoleen berühmter Familien, Regierungsaufträge, die Ernennung zum Meisterbildhauer des Vatikans. Nie hatte er sich damit abgefunden, dass Silvio das Familienunternehmen im Stich lassen und sich an der Hochschule für Architektur einschreiben konnte. Da Silvio um die Enttäuschung seines Vaters wusste, malte er auf seinen Reisen ständig Motive ab, die in der heimischen Werkstatt von Nutzen sein könnten.

Silvios Unterkünfte waren bescheiden, einfache Pensionen, manchmal das Haus von Verwandten oder auch die Pförtnerlogen der Friedhöfe. Seine Berichte, stets pünktlich und korrekt, begannen sich auf den Schreibtischen von zweitrangigen Funktionären zu stapeln. Niemand las sie, niemand reagierte auf sie. Lediglich der eine über das rissige Mauerwerk des venezianischen Friedhofes San Michele wurde auf Silvios Beharren hin von den Behörden schließlich erhört. Die Mauer wurde repariert, der Friedhof gerettet und Silvio entlassen.

Obwohl Silvio – gerade bei den etwas komplexeren Arbeiten – auch weiterhin seinem Vater zur Hand ging, übernahm er doch zunehmend eigene Projekte. So entwarf er ein Haus in Palermo und das Schwimmbecken für ein Hotel an der ligurischen Küste. Das rechteckige Bassin war aus weißem Stein, und das Wasser entsprang den Mäulern von acht Seeungeheuern, die von einem – von seinem Vater gefertigten – marmornen Neptun dominiert wurden, der seinen Dreizack schwang.

Auch wenn der Hotelbesitzer mit dem Entwurf nicht recht glücklich war, da Neptun eher bereit schien, die Badenden aufzuspießen, als ihnen die Genüsse des Schwimmens zu vermitteln, machte Silvio Balestri sich bei den Tourismustreibenden an der Küste doch langsam einen Namen. Sofern es sich um Objekte aus Marmor handelte, kümmerte er sich um Häuser und Gärten, Schwimmbäder und Lauben – aber auch nur dann. Das Werk seines Vaters schien ihn zu verfolgen. Er träumte von großartigen Gebäuden und war doch nicht mehr als der Erbauer von Mausoleen.

4

Zur Vorbereitung auf seine Abschlussarbeit an der Fakultät für Architektur ging Silvio häufig in die Bibliothek des Vatikans. Thema der Arbeit war das Werk Giambattista Piranesis, und Silvio hatte sich in den Kopf gesetzt, Zeichnungen zu finden, die der venezianische Künstler Papst Clemens XIII. gewidmet hatte. Während einer seiner Besuche in der Bibliothek lernte Silvio einen Menschen kennen, der sein Leben entscheidend beeinflussen sollte: Oskar Pollak.

Pollak, ein Jude, war in Prag geboren. Nach dem Gymnasium schrieb er sich in Chemie ein, brach das Studium jedoch aufgrund seiner Vorliebe für Kunstgeschichte ab. Gleichwohl aber waren auch seine künstlerischen Arbeiten von einem gewissen wissenschaftlichen Blick geprägt. Eingehend hatte er sich mit der Geschichte Prags befasst, bevor er sich dann der Vergangenheit Roms widmete. Ganz im Gegensatz zu Balestri, der jedwede Sportart rundheraus verabscheute, gehörte er zu den ersten Skifahrern Böhmens.

Das erste Mal traf Silvio Pollak über winzige Buchstaben und unbekannte Zeichen gebeugt. Er hatte sich früh angewöhnt, seine Notizen in Heftchen mit beinahe durchsichtigem Papier zu schreiben. Wenn auch die letzte Seite voll war, schrieb er auf seiner Hand weiter. Er schien wie besessen; kaum war die linke Handfläche zugekritzelt, machte er fieberhaft an einem der Finger weiter, gerade so, als würde er eine Wahrheit niederschreiben, die im Begriff war zu verschwinden. Balestri ging auf ihn zu, um ihm ein paar leere Zettel zu reichen. Gedankenverloren bedankte Pollak sich erst auf Deutsch und dann auf Italienisch.

Balestri fragte ihn, was für Zeichen es seien, die er dort notiere.

»Die Architekten und die Maurer tauschen Nachrichten in einer Art Kurzschrift aus, die sehr schwer zu dechiffrieren ist.« Lächelnd hielt er Balestri seine Hand hin. »Hier finden Sie das Geheimnis der Kathedralen.«

Bei Pollak hatte Balestri zum ersten Mal das Gefühl, einen ebenbürtigen Mitstreiter im hartnäckigen Aufspüren von Dingen gefunden zu haben, die sonst niemanden interessierten. Ebenso wie Balestri vereinigte Pollak in sich einen außergewöhnlichen Wissensdurst mit der Leidenschaft zum Reisen und dem tiefen Wunsch, die Objekte seiner Begierde selbst kennenzulernen. Er sprach von der Vergangenheit, als würde es für alle Welt gerade nichts Wichtigeres geben. Angesichts der Kraft, die Denkmäler und Kirchen in sich bargen, schmolz die Gegenwart geradezu dahin.

Wenn Balestri dagegen die Vergangenheit in sich aufsaugen wollte, bis er randvoll von ihr war, dann nur, um sie ein für alle Mal abzuschließen und in ihrer Vollkommenheit hinter sich zu lassen.

Wenn sich die beiden unterhielten – und das taten sie unablässig, wenngleich zu ihren Debatten lange, provokante Schweigephasen gehörten –, verwandelten sie sich in zwei andere Menschen, in den Archäologen nämlich und den Architekten. Jeder von ihnen brauchte den Widerspruch des anderen, um seine eigenen Ideen zu verfechten, während sie am Flussufer entlangspazierten, versteckt gelegene Kapellen oder die Ruinen des antiken Roms besuchten.

Zu jener Zeit spielte Pollak mit dem Gedanken, Mitglied der Dilettanti zu werden, einer Gemeinschaft, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von englischen Adligen gegründet worden war, deren Begeisterung der Geschichte Roms galt. Er hatte nie herausgefunden, warum jeder seiner Versuche scheiterte, und schließlich gab er den Plan entmutigt auf.

Es dauerte nicht lang, da formierte sich eine Gruppe Studenten um die beiden Forscher, die den Diskussionen lauschten, als handelte es sich dabei um einen Boxkampf. Sie alle waren sehr jung, bis auf einen, Corsini, ein Maler der alten Schule, der später sein Glück mit dem Futurismus versuchte und noch später mit der metaphysischen Malerei. Er lebte von dem bescheidenen Geld, das seine jungen Freunde ihm liehen, vor allem die Neuankömmlinge. Oskar, der die Spielregeln der italienischen Boheme einfach nicht begriff, forderte noch nach Monaten den Betrag zurück, den er Corsini gegeben hatte.

»Wenn es nur an mir läge, würde ich dir das Geld ja zurückgeben«, erklärte Corsini ihm. »Aber was wäre dann mit meinem Ruf? Dann würden die anderen ja auch kommen und die Hand aufhalten.«

Wenn sie vor Publikum sprachen, spitzten Silvio und Oskar ihre Positionen aufs Äußerste zu und verzichteten auf jede rhetorische Finesse, da sie weniger versuchten, die Zuhörer durch Argumente zu überzeugen, als vielmehr, ihre jeweilige Gesinnung in ihrer Vollkommenheit darzustellen. Corsini, der zwar nur mühsam der Debatte folgen konnte, hatte sich dabei selbst zum Schiedsrichter ernannt und gab mal dem einen, mal dem anderen recht. Je länger die beiden jedoch diskutierten, desto mehr Germanismen schlichen sich in Pollaks Italienisch ein, was ihm spürbar mehr Härte verlieh, woraufhin sich Balestri immer weiter verschloss. Am Ende fanden sie sich beide eingesperrt in ihre eigene Sprache wieder.